Psychologische Betrachtungen

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rodger
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Psychologische Betrachtungen

Beitrag von rodger »

Viel ist zu lesen in Publikationen der KMG zur Psyche Mays, von „dissoziativer Identitätsstörung“ und sonst etwas ist die Rede. Ich habe mir heute auch mal so meine Gedanken gemacht, unwissenschaftlich, intuitiv, und gebe sie hier der geneigten Leserschaft zur Kenntnis.

Mir scheint, bei May liegt eine seltsame und ungewöhnliche Mischung aus Geltungsbedürfnis und Scheu vor, beides extrem stark ausgeprägt.

An seinem Schreibtisch, mit der Feder in der Hand, da sprudeln die Ideen, da ist er in seinem Element, jede Sekunde fällt ihm etwas ein, ein Einfall jagt den nächsten, er schreibt und schreibt. Und je origineller, je bunter, desto mehr erfreut er sich daran, türmt Einfall auf Einfall, gelegentlich ignorierend, daß das Gros der Leute ihm nicht immer wird folgen können bei der Flut von Einfällen und Anspielungen, zum Beispiel beim Hobble-Frank, und genießt beim Schreiben schon die Anerkennung, die er sich erhofft, das ist sein Weg, mit Menschen in Beziehung zu treten. So kann er geben, und so kann er empfangen, aus der Distanz. Und nur so.

Später ist es ein bißchen anders, als er berühmt ist, da spricht er vor großem Kreis, vor hunderten oft, aber da kann er ja machen was er will, er spricht und man hört ihm zu, er spielt gleichsam eine Rolle, muß sich nicht einbringen, nicht direkt, nicht von Mensch zu Mensch. Denn das mag er nicht so, das liegt ihm nicht, da ist er ungeschützt, und irritierbar. In Kairo und auch anderswo, da meldet er sich gern unter anderem Namen an, hofft vielleicht klammheimlich doch, daß man ihn erkenne, und anerkenne, aber aus der Ferne, er braucht den schützenden Abstand, ist gern überall dabei, aber als Zuschauer, für sich.

Bei Münchmeyers, oder in geselligen Runden daheim oder auch anderswo, wo er, notgedrungen, manchmal dabei ist, da sitzt er nur dabei, nimmt auf, verarbeitet, kriegt, ach, sehr sehr viel mit, und langweilt sich dabei, sozusagen, zu Tode. Und sehnt sich danach, wieder an seinem Schreibtisch zu sitzen und sein Leben, ihm gemäß, führen zu können. Und läßt alles einfließen in die Kolportageromane, er kennt ja die Pappenheimer. Solange sie ihm Anregung geben für sein Schreiben, solange findet er sie interessant, als Objekte für sein Werk. Darüberhinaus nicht. Er meidet Geselligkeiten, wo er nur kann, aufgenötigte Bekanntschaften sind ihm ein Greuel, er braucht keine Menschen, sie interessieren ihn nicht. Weil er auch alles durschaut, die Motive, die Mechanismen, die Abgründe, die Verlogenheiten und Unbewußtheiten, die Dummheiten, Eitelkeiten und Erbärmlichkeiten. Viele ertragen doch nur ihre innere Leere nicht, und rotten sich zusammen, wo immer sie können, um sich dessen nicht bewußt werden zu müssen. Bei ihm ist es anders, er hat alles in sich, und wenn sie ihn alle in Ruhe lassen, wenn er nichts hören und nichts sehen muß, dann ist es da, das Paradies.

Die zweite Frau, ja, das ist seine Seelenpartnerin, das ist etwas anderes, oder Seyler in Deidesheim, da gibt’s Gemeinsamkeiten, und das ist wohltuend, sich mal auszutauschen, oft sich einig zu sein, eine Handvoll Leute gibt es vielleicht, Dittrich, Fehsenfeld, eine Zeitlang Sascha Schneider. Aber sonst ? Freundschaften ? Nein. Ein Leben lang allein, und durchaus nicht unglücklich dabei. Er hat die Welt in seinem Innern, was braucht es mehr. Bücher und Zeitungen findet er viel interessanter als Menschen, und das oft vorgebrachte Argument, die seien doch auch von Menschen gemacht, ist doch albern, in den Büchern und den Zeitungen ist gleichsam die Essenz, komprimiert, und alles Drumherum, was ihn nicht interessiert, fällt weg.

Ein guter Lehrer hätte er werden können, ein Pädagoge ersten Ranges, er ist schon hochbegabt, da kommt man wohl nicht drum herum, aber er ist nicht geschult und nicht geformt, alles fließt frei, und Disziplin im Sinne der Gesellschaft war seine Sache nie, Unbeholfenheit war dabei, Törichtes, Fehler hat er gemacht, naiv und fremd der Welt, und so ist es nichts geworden mit der bürgerlichen Existenz, da sitzt er wie ein kleiner Schreiber und verdient grad mal das nötigste. Und was braucht es auch mehr.

Das heißt ja alles nicht, daß er ein Trauerkloß und Miesepeter ist, oh nein, Humor hat er, ohne Ende, und Lebenslust, und nichts menschliches ist ihm fremd. Und nimmt Musik und Tanz und Ringelpietz auch schon mal mit, im Verein vielleicht, und kann das alles mal genießen und so schön drüber schreiben, Musik und Tanz und Lebenslust in Damaskus und Istanbul, herrlich. Aber seine Welt ist es letztlich nicht.

Dabei hat ein ganz großes Herz, beantwortet liebevoll Leserzuschriften, kann, gleichwohl, natürlich, auch kalt und grausam sein; die Geschichte aus Gartow spricht doch Bände, da verteilt er Geld und hat Freude daran, und die erbärmliche Welt kann nicht nachvollziehen, daß es so etwas gibt, und so hält man ihn fest, bis die Identität geklärt ist, und dann verläßt er ganz schnell den Ort, einmal mehr bitter enttäuscht, und denkt bei sich, es bringt doch nichts, sich mit den Menschen einzulassen, ich lasse es sein. Und fragt zu den Sternen wohlauf in stiller Nacht.

Und ganz am Ende, da hat er den Sieg. Und sieht, ich glaube es, Wort für Wort, Rosen. Rosenrot. Wohlan.

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Wenn es jetzt dem einen oder anderen vielleicht ein wenig zu feierlich zumute geworden sein sollte, keine Bange, Kuno van Kalau und noch ein paar andere erfreuen sich auch weiterhin bester Stimmung. Alles liegt nah beieinander.
Gast

Beitrag von Gast »

Hallo Rüdiger,

mir stockte der Atem, als ich deinen Text las. Das ist das beste was ich seit Wollschläger über Karl May gelesen habe. Großartig, ganz groß. Das gehört in einem größerem Rahmen veröffentlicht.

Viele Grüße
Kurt
sendador
Beiträge: 2
Registriert: 13.5.2004, 21:35

Beitrag von sendador »

Ein Leben lang allein - und nicht unglücklich dabei?
Glaub ich nicht.
Ich glaube eher, daß Karl May zeitlebens ein unglücklicher Mensch war und gerade deshalb zum Schreiben getrieben wurde, wo er sich ausleben
konnte - seine körperliche und geistige Überlegenheit den anderen gegen-
über auslassen konnte, mit seinen Figuren lachen und weinen konnte,
in seiner von ihm geschaffenen Welt so "leben" konnte, wie er es sich
in seinem realen - ziemlich mickrigen - Leben nur erträumen konnte.
Hatte er denn etwa in seiner Umgebung auch nur einen Menschen,
mit dem er auf einigermaßen gleichem Level kommunizieren konnte?
Seine geistig doch wohl ziemlich beschränkte Frau Emma (Klara war auch nicht viel klüger, auch wenn er es glaubte), die Münchmeyers, die Prinzen
und Prinzessinnen, die ihn nur verehrten, weil sie kindischerweise die
Old-Shatterhand-Legende für bare Münze nahmen - alle waren doch
keine echten Gesprächspartner für ihn. Und das ist m. E. auch der Grund,
warum er sich so oft - manchmal völlig aus dem zusammenhang gerissen - mitten im Text an seine Leser wandte, von denen er wohl hoffte, daß sie ihn besser verständen. Aber seien wir dankbar dafür,
denn sonst wäre sein Werk wohl nicht so geworden, wie wir es heute
lesen dürfen.
sendador
Ralf Grosskurth
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Wohnort: Ein kleiner Ort im Hunsrück...

Beitrag von Ralf Grosskurth »

Hallo alle,

mir scheint die Wahrheit - so es denn in diesem Zusammenhang überhaupt "eine" Wahrheit geben kann - einigermaßen in der Mitte zwischen rodgers und sendadors Stellungnahmen zu liegen.

Viel von der Zurückgezogenheit, ja Scheu, Mays dürfte damit zu erklären sein, daß seine Gefängsnisstrafen ihn stets verfolgten. Mögen wir bitte bedenken, daß sie in der damaligen Gesellschaft um ein vielfaches entwürdigender waren als heutzutage, da wir - mitunter vielleicht allzu gern - bereit sind, auch den ehemals Fehlenden wieder an unser ach so verständnisvolles Gutmenschenherz zu pressen.
Ich bitte, mich nicht falsch zu verstehen: ich bin ein Anhänger der These, daß nahezu ein jeder die zweite, oder meinetwegen auch die dritte und vierte Chance verdient. Doch das führt uns vom Thema weg.

Am Schreibtisch, in der Sicherheit seines häuslichen Duars, da konnte er so sein, wie er sein wollte: klug, besonnen, erfahren schon in jungen Jahren, gewitzt, stark, universal gebildet - im Wortsinne unschlagbar.
Doch wie war er wohl wirklich, von Angesicht zu Angesicht?
Kneifertragend, von nicht überragender Statur - wenngleich für die damalige Zeit wohl auch nicht klein - , mit angelesener, aber kaum dem realen Leben (sprich: dem intensiven Gespräch mit Fachleuten) standhaltender Bildung.
Und doch sie mit der Fülle seiner genialen Phantasie überragend.

Ich stelle mir vor, daß es eine Wohltat für ihn gewesen sein mag, die Augen zu schließen und sich zurückzulehnen, ging dann doch eine ganze Welt vor seinem inneren Auge auf. Berufenere haben bereits darauf hingewiesen, wie sehr das mit seiner Erblindung als Kind korrespondierte.
Und seine Begabung, das innere, so eigene Fabulieren dann in Worte kleiden zu können - und in dieser Hinsicht war er wohl von ganz außerordentlicher Disziplin, betrachtet man den "Ausstoß" an Geschriebenem - ermöglichte es ihm, diese für so viele unüberwindliche Grenze tatsächlich zu überschreiten.
In diesem Sinne hat er wohl tatsächlich die fernsten Gebiete betreten - und uns dabei mitgenommen.

Ich stimme zu, im realen Leben mag er wohl überwiegend unglücklich oder zumindest nicht glücklich gewesen sein. Aber im Schreiben, da war er "er", da konnte er endlich, endlich so sein, wie "er" war - in seinen Augen.
Ich denke wohl, daß er so manchen Glücksmoment genießen durfte, wenn seine Feder den Komantschenhäuptling, den Beduinen mit seinem, ihrem, Jagdhieb traf.

Er war in meinen Augen im besten Sinne ein Wanderer zwischen den Welten - der, die seine Zeitgenossen kannten, und der, die nur er in der Lage war, anderen zu zeigen.
Er war auch im Schreiben ein Hochstapler, man könnte ihn gar einen unverschämten nennen. Seien wir froh darüber.
Er befreite sich wohl vom Zwang (zumindest teilweise) auch im Leben (zu) hochzustapeln, und schenkte uns damit viele, viele Stunden großen Vergnügens, roter Wangen, erfüllter Spiele, mitunter langen Nachdenkens, intensiver Erörterungen, und vielleicht - so hoffe ich für ihn und die Betreffenden - auch der einen oder anderen Nuance dessen, was er selbst Herzensbildung zu nennen pflegte. In diesem Sinne war er zugleich auch Lehrer.
Auch dafür wollen wir dankbar sein.
Mit freundlichen Grüßen,

Ralf Grosskurth
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