Lieber Herr Wick,
Sie empfinden es als "eher unangenehm", wenn Karl May "als Moralist mit erhobenem Zeigefinger" daherkommt, und im Falle des Aufsatzes "Ein wohlgemeintes Wort" sogar als "etwas albern". Ich muß gestehen, daß ich dagegen in Ihren verschiedenen Stellungnahmen viel mehr immer wieder den erhobenen Zeigefinger entdecke. Was immer Karl May gesagt oder geschrieben hat, es wird mit moralischen Zensuren versehen.
Den Text "Ein wohlgemeintes Wort" empfinden Sie als Heuchelei, da Karl May gleichzeitig begonnen hatte, selbst Kolportageromane zu schreiben. Nun gibt es ja überzeugende Gründe zu der Annahme, May habe diesen Aufsatz schon um 1875/76 geschrieben, parallel zu den "Geographischen Predigten" und den belehrenden Aufsätzen für "Schacht und Hütte" (vgl. Wohlgschaft, Bd. I, S. 534 ff.), und er wurde dann erst im Stolpener Kalender 1883 abgedruckt. Dann könnte man sagen, May habe damals hehre literarische Ziele verfolgt, denen er später nicht immer treu geblieben sei. Aber ist das wirklich der Fall?
Was Karl May in seinem Aufsatz vor allem anprangert, das sind die Gefahren, die von Lektüre dieser Art ausgehen könnten, wenn deren Inhalt geeignet ist, das Rechtsempfinden des Lesers zu verwirren, wenn er durch die massenhafte Lektüre solcher Romane viele "falsche Lebensanschauungen eingesogen" habe und deshalb in Gefahr komme, auf die schiefe Bahn zu geraten. Aber gerade diese Gefahr erblicke ich in keiner Weise in Karl Mays Münchmeyerromanen. Vielmehr meine ich, Mays Kolportageromane waren in vieler Hinsicht durchaus geeignet, für das ganze Genre neue Maßstäbe zu setzen. Sicher findet sich bei ihm auch einiges von dem wieder, was er in seinem Aufsatz angeprangert hat, etwa die überragenden Heldengestalten. Obwohl sie gar so überragend bei näherem Hinsehen auch wieder nicht sind. Immerhin ist Karl Sternau mit seinen Freunden zweimal tollpatschig in die Falle getappt und ist jahrelang seinen schlimmsten Feinden ausgeliefert; nur mit Hilfe von außen kann er befreit werden. Und Gebhardt von Königsau ist 16 Jahre lang im unterirdischen Kerker seines Todfeindes Richemonte eingesperrt.
Was das literarische Niveau dieser Romane betrifft, so erübrigt sich jede Diskussion. Sie sind auf ihre bestimmte Lesergruppe zugeschnitten. Aber vom Inhalt her ragen Sie über viele vergleichbare Erzeugnisse dieses Genres hinaus. Ich habe mal zwei andere Kolportageromane aus jener Zeit gelesen: "Die Waldmühle an der Tschernaja" von Gustav Berthold, ebenfalls aus dem Münchmeyer-Verlag, sowie "Goldröschen oder Das Geheimnis der Kartenlegerin" von Otto Freitag (ein Name, der uns ja in Zusammenhang mit Karl May geläufig ist), erschienen 1888 bei O. Schmidt, New York. Wer sich durch solche Romane hindruchgeackert hat, weiß Karl Mays Münchmeyerromane zu schätzen. Und diese waren ja schließlich auch der Hauptgrund für Adalbert Fischer, 1899 den Verlag zu erwerben. Karl Mays Fortsetzungsromane verraten bei allem Kitsch und mancherlei unfreiwilligem Humor beachtliches Erzähltalent. May hat sich bemüht, Wissen zu vermitteln, etwa in Zusammenhang mit dem mexikanischen Aufstand unter Benito Juarez oder auch mit dem deutsch-französischen Krieg, die durchaus intensives Quellenstudium verraten.
Ihren Versuch, den Lebius-Satz "Wer am meisten bezahlt, der bekommt uns" auf Karl May und seine Schriftstellerei übertragen zu wollen, halte ich für völlig abwegig. Ich meine, May ist sich bei seinen literarischen Zielen nie untreu geworden. Natürlich mußte er sich in seiner Schreibweise jeweils dem betreffenden Lesepublikum anpassen. Für die Leser aus dem gehobenen Bürgertum des "Deutschen Hausschatz" gab's die spannend-belehrenden Reiseerzählungen, auf die Gymnasiasten waren die "Kamerad"-Erzählungen zugeschnitten, in denen sich Hobble-Frank austoben konnte mit seinem prahlerischen Halbwissen, den verdrehten lateinischen Sprichwörtern und Zitaten aus klassischen Balladen. Solche Wortspielereien wären dagegen für die Leser der Kolportageromane völlig sinnlos gewesen; die hätten sie niemals kapiert. Für sie gab er Geschichten, in denen sich die Wünsche und Sehnsüchte der einfachen Bevölkerungsschichten widerspiegelten (nicht nur "Mord und Totschlag", wie Sie behaupten). Und aus heutiger Sicht kann man sogar erkennen, wie diese Romane ein gehöriges Maß an revolutionärem Potential enthalten, einem Aufbegehren "von unten" -: wenn etwa der bürgerliche Lieutenant Kurt Helmers den adelsstolzen Offizieren die Leviten liest oder wenn Trapper Geierschnabel seine Späße mit deutschen Beamten treibt. Und der "Verlorene Sohn", den ich für den beachtenswertesten der fünf Romane halte, ist ja eine einzige Anklage gegen soziale Mißstände der Zeit. Selbst das, was zu Lebzeiten Mays als "abgrundtief unsittlich" angeprangert wurde, wenn etwa die Dienstmädchen in den herrschaftlichen Häusern sozusagen als Freiwild für die jungen Herren betrachtet wurden (Gustel Beyer), kann man aus heutiger Sicht als massive Sozialkritik betrachten. Und wenn der Autor durchaus auch Mitgefühl zeigt für Menschen, die durch unglückliche Umstände auf die schiefe Bahn geraten sind, etwa der junge Wilhelm Fels oder der Graveur Herold im "Verlorenen Sohn", so sieht man hinter solchen Personen auch immer den Menschen Karl May, der ein Stück der eigenen Biographie aufarbeitet.
Jedenfalls kann ich nicht feststellen, Karl Mays Glaubwürdigkeit habe gelitten, nur weil er sich in seiner Schreibweise den verschiedenen "Zielgruppen", wie es heute - etwas abgeschmackt - in der Werbebranche heißt, angepaßt hat. Und der Aufsatz "Ein wohlgemeintes Wort" ist zwar hier und da durchaus mit augezwinkerndem Humor geschrieben, aber nicht von einem "Hallodri", der sich darüber freut, einen Zeitungsredakteur hereingelegt zu haben (denn wenn's wirklich ursprünglich für "Schacht und Hütte" gedacht war, da war er der Redakteur ja selbst). Die Forderungen und Warnungen waren durchaus ernst gemeint.
Ach, lieber Herr Wick, was sollen denn zum Schluß noch diese Seitenhiebe auf den "guten, lieben, frommen, sich läuternden, edel aufstrebenden Karl May"? Sie bringen da als Beweis für Karl Mays Unglaubwürdigkeit ein Zitat von Walther Ilmer aus dem Jahrbuch der KMG 2002, aus Ilmers Rigi-Vortrag vom 22. September 2001. Ich war bei dem Vortrag auf der Rigi, und ich wünschte, alle Zuhörer hätten die erregte Diskussion auf der Bus-Rückfahrt nach Luzern miterlebt, als Ilmer sich sehr mühsam mit den Gegenargumenten von Zuhörern und besonders von Zuhörerinnen seines Vortrags auseinanderzusetzen versuchte.
Ich kannte Walther Ilmer seit vielen Jahren und schätzte ihn immer als sehr liebenswürdigen und geistvollen Menschen. Auch seine Jahrbuch-Aufsätze sind stets anregend zu lesen, auch wenn man bei den Werkinterpretationen nicht immer seinen bunten Assoziationen folgen kann. Seine Sicht des Themas Emma / Klara freilich hatte sich bei ihm im Laufe der Zeit regelrecht zu einer fixen Idee ausgeprägt, die ihren extremsten Ausdruck im Rigi-Vortrag fand. Die erwähnte Diskussion auf der Bus-Rückfahrt bestärkte mich dann in meinen Vorbehalten gegen Ilmers Darstellung, und mittlerweile gibt es ja diverse andere, sehr differenzierte Untersuchungen zu dem Thema. Immerhin meine ich, die Tatsache, daß Ilmers Vortrag ins Jahrbuch 2002 aufgenommen wurde, kann als Zeichen für Toleranz der Jb.-Redaktion auch gegenüber extremen Ansichten gewertet werden (in der Vergangenheit wurden da ja verschiedentlich Vorwürfe wegen angeblichen Meinungs-Monopols laut).
Aber wie auch immer Ilmers Betrachtung des Themas Emma / Klara zu bewerten ist, geradezu aberwitzig finde ich den von Ihnen zitierten Schlusssatz Walther Ilmers. Karl May sei nicht berechtigt, im Jahre 1901 Liebe und Völkerversöhnung zu predigen, denn immer wenn er in den Spiegel schaue, blicke ihm der Mann entgegen, der 1865 in der Rolle des Kupferstechers Hermes arglosen Menschen übel mitgespielt habe. Das würde ja bedeuten: wer irgendwann mal im Leben straffällig geworden ist, hat für alle Zeit das Recht verspielt, moralische Forderungen zu stellen. Eltern, Lehrer, Erzieher dürften dann Kindern niemals ethische Werte wie Ehrlichkeit, Zuverlässigkeit und Treue beibringen, wenn sie beim Blick in den Spiegel sich jedesmal sagen müßten, daß sie als Jugendliche vielleicht auch gelegentlich über die Stränge schlugen...
Mit dem Ilmer-Zitat haben Sie ja im Hinblick auf das Thema "Glaubwürdigkeit" den großen Sprung gemacht vom frühen Karl May der 70er und 80er Jahre zum Altersjahrzehnt. Zu jenen Jahren, als er ernsthaft versuchte, die Old-Shatterhand-Legende zu überwinden und einen neuen Weg zu sich und seinem literarischen Schaffen zu finden. Vieles war und ist widersprüchlich bei diesem Mann, und er war gewiß kein Säulenheiliger. In einem früheren Beitrag schrieben Sie mal:
Ich sage ja auch nicht, dass Karl May grundsätzlich lügt, aber ich sage, dass man bei ihm leider nie weiß, ob er gerade die Wahrheit spricht oder eben nicht.
Das ist ja nun eine Binsenweisheit. Denn bei welchem anderen Menschen wissen Sie das denn sonst mit absoluter Sicherheit? Gewiß hat Karl May, wenn es um autobiographische Äußerungen geht, manches verschleiert, hat sich zum Beispiel nur mühsam und in einem quälenden Prozeß dazu durchringen können, die Vorstrafen zuzugeben. Wer breitet schon etwas, das er für längst überwunden hielt, gern vor einer breiten Öffentlichkeit aus? Richtungweisend für die Behandlung dieses Themas war für mich ja immer der Aufsatz von Karl-Hans Strobl "Scham und Maske", erstmals abgedruckt im Karl-May-Jahrbuch 1921 und dann später von 1958 bis 1991 enthalten im Anhang zu Bd. 34 "Ich". Auch was Ludwig Gurlitt in seinem Buch zu dem Thema "Lüge" sagt, ist bedenkenswert und überzeugend.
Karl May befand sich in den Jahren ab 1901 in einer regelrechten Notwehr-Situation. Alles Gute und Edle, nach dem er strebte und das er seinen Lesern vermitteln wollte, wurde ihm in hämischen Zeitungsartikeln abgesprochen. Leider war er in der Abwehr dieser Angriffe nicht immer sehr geschickt. Mißgriffe wurden ihm erneut zum Verhängnis, er verrannte sich mehr und mehr in eine verzweifelte Verteidigungs-Position, die manches, was er in dieser Zeit zu Papier brachte, schief und unglaubwürdig wirken läßt. Es ist leicht, heute aus dem Abstand von hundert Jahren und aus einem Kenntnisstand über Mays Biographie heraus, den er selbst vielleicht gar nicht so in allen Einzelheiten besaß, ihm diverse Lügen und unrichtige Darstellungen nachweisen zu wollen. Aber die grad in diesem Forum vorgebrachte Behauptung, Karl May habe grundsätzlich gelogen, nur hier und da könne man mal ein Körnchen Wahrheit herausfischen, halte ich für falsch und ungerecht.
Es lebt niemand mehr, der Karl May persönlich kennengelernt hat. Wir sind heute auf schriftliche Zeugnisse angewiesen. Und da gibt es ja nun etliche Zeugnisse von Menschen, die Karl May besucht haben, die einen Eindruck von seiner Persönlichkeit gewonnen haben. Sie alle legen Zeugnis ab von seiner Glaubwürdigkeit als Mensch, auch im Hinblick auf sein Denken und Wollen, auf seine idealistischen Ziele (so weltfremd sie aus heutiger Sicht manchmal auch erscheinen mögen). Den Erlebnisbericht von Euchar Albrecht Schmid haben Sie ja neulich bereits als "altbacken-bieder-kitschige Schriften" abgetan. Aber da ist zum Beispiel noch der spätere Wiener Burgschauspieler Amand von Ozoroczy, der als junger Mann von 22 Jahren im August 1907 Karl May besuchte. In seinem Aufsatz "Karl May und der Friede" (Karl-May-Jahrbuch 1928) erzählt er (S. 68) von dem Spaziergang mit Karl May durch die Radebeuler Lößnitzberge und von den Gesprächen mit dem Schriftsteller. Und in Karl Mays Gästebuch trug er sich ein mit den Worten:
Mit Karl May zwei Tage zu leben, ist mehr, bringt mehr und macht größer als ebensoviele Jahre des gewöhnlichen Lebens! Ich bringe viel nach Hause mit; wollte Gott, ist könnte es wiedervergelten.
(zitiert nach "Mitteilungen der Arbeitsgemeinschaft Karl-May-Biographie", Nr. 12/1966).
Und wenn Karl Mays Rechtsanwalt, Justizrat Erich Sello, der wirklich auch mit den Schattenseiten Mays vertraut war, mit der Bitte an Ludwig Gurlitt herantrat, sich publizistisch für den Schriftsteller einzusetzen, so hatte das sicherlich nicht nur prozessuale Gründe. Dies gilt noch mehr für den gegnerischen Anwalt Oskar Gerlach, der nach Mays Tod in seinem viel zitierten Gedicht bekannte: "Doch schlug mein Herz dir heimlich hundertfach...". Waren das alles wirklich nur Ignoranten, die einem geschickten Schwindler auf den Leim gegangen sind? Die "Glaubwürdigkeit" Karl Mays, um auf Ihren Forum-Eintrag zurückzukommen, war den Zeitgenossen doch wohl überzeugender als manchem, der sein Wissen heute nur aus schriftlichen Quellen schöpft. Gewiß läßt sich vieles in Karl Mays Selbstdarstellungen korrigieren und präzisieren, was sicher auch für die Autobiographie "Mein Leben und Streben" gilt. Aber sie in Bausch und Bogen als Quellenwerk von nur zweifelhaftem Wert abzutun, wäre sicher der falsche Weg zur Wahrheitsfindung.
Mit besten Grüßen
Ekkehard Bartsch