Johann Ephraim Gotthelf Beibler (1760 – 1829) hatte sich als Schlosssoldat
zu Dessau verdient gemacht und wurde mit dem Posten des Türmers auf der
Schlosskirche St. Marien belohnt. In luftiger Höhe war er dann Zeuge
großer historischer Ereignisse, beispielsweise 1806, als Napoleon vor dem
Dessauer Schloss eintraf. Der ersten Ehe des Turmwächters entsprossen fünf
Söhne, darunter 1789 Johann Ludwig Heinrich Beibler, der als
Schlossbediensteter und runde 50 Jahre als Kastellan der Amalienstiftung
arbeitete und im Alter von 75 Jahren seine zweite Hochzeit feierte. Die
Auserwählte war »ein frisches, nettes Mädchen vom Lande, Minchen Höhne«,
gerade mal 27 Lenze alt und somit 48 Jahre jünger als Bräutigam Heinrich.
Jene Wilhelmine Höhne, verehelichte Beibler, »wurde meine Mutter, und ich
gesellte mich hinzu. Die Ehe war sehr glücklich«, schreibt später Tochter
Klara Auguste Wilhelmine Beibler, die am 4. Juli 1864 das Licht der Welt
erblickte und sich durch ihren nachmaligen Namen Klara May einen Platz in
den Annalen gesichert hat. Auch aus noch fernerer Vergangenheit lassen
sich Ahnen aufspüren, womit gerechtfertigt scheint, Klara May als eine
›alte Dessauerin‹ zu bezeichnen.
Schlagen wir eine Brücke zum ›Alten Dessauer‹ alias Leopold I., Fürst von Anhalt-Dessau (1676–1747), so auch zu seiner Tochter Amalie Henriette (1720– 1793). Nach einem ›Fehltritt‹ musste sie zunächst jahrzehntelang dem Hof fernbleiben. Nach der Rückkehr gründete sie eine Armenanstalt für Leidensgefährtinnen und alte Frauen, aus der die nach ihr benannte Stiftung hervorging. Bekannt wurde diese Institution jedoch vor allem durch eine rund 600 Kunstwerke umfassende Gemäldesammlung, die im oberen Stock des ehemaligen Dittrich-Palais in der Zerbster Straße präsentiert wurde. In diesem Gebäude wirkte bis 1793 das ›Philanthropinum‹ – die erste deutsche staatliche Schule, die durch Unterricht in Naturwissenschaften, angewandter Mathematik, deutscher Sprache und Sport den Schülern das anbot, was sie später tatsächlich gebrauchen konnten. Hier wirkten berühmte Lehrer wie Basedow und Campe.
Zum Philanthropinum gehörte
ein einstöckiges Gebäude an der Poststraße mit dem philanthropischen
Betsaal, einer kleinen Gemäldegalerie und ein paar Wohnräumen für den
Kastellan. In diesem Betsaalgebäude wurde Klara May geboren – somit in
einem geschichtsträchtigen und bildungsintensiven Umfeld.
Fantasie und Fleischer-Story
In späteren Reflexionen – nach der gemeinsamen Zeit mit Karl May –
spielten diese Aspekte aber keine Rolle. Auffällig vielmehr, dass Klara
gelegentlich gern etwas flunkerte. Das löste ab und an Vorwürfe aus, die
jedoch unangebracht erscheinen: Bei Karl May gehörten Fabeln und
Fabulieren – das heißt Erfundenes fantasievoll erzählen – zum alltäglichen
Erfolgsrezept. Klara lebte über ein Jahrzehnt mit ihm im innigen
Verbundensein, in Seelenverwandtschaft. Da müsste es schon als Wunder
gelten, wenn bei solcher Gleichgesinntheit keine Fantasie geweckt würde.
Ein in die Frühzeit rückdatiertes Flunkerbeispiel ist die 1942
vorgetragene Fleischer-Story (Anhalter Anzeiger, 24. 2. 1942). Die sehr
glückliche Elternehe mit 48 Jahren Altersunterschied habe ihr »schöne
Kinderjahre« beschert: Im Winter habe der Vater in der Ofenecke gesessen,
in einem »großen, alten blauen Backenstuhl«, und »herrliche Geschichten
aus seiner reichen Bibliothek« vorgelesen: »Das Bild war so schön, daß der
berühmte Maler Philipp Fleischer in Begeisterung meinen Vater, in dem
Stuhl sitzend, lebensgroß malte. Dieses Bild kaufte der russische Zar, und
es soll noch heute in Moskau vorhanden sein. Ich selbst habe ein Bild
meines Vaters von demselben Maler.«
Philipp Fleischer, Jahrgang
1850, stammte aus Breslau und lebte in München. 1885 hielt er sich für
einige Monate in Dessau auf. Vater Beibler aber war schon 1880 gestorben.
Von seinen vermeldeten Konterfeis ist weder in einer russischen Galerie
noch im Klara-Nachlass je etwas gesichtet worden. Das sind einfach
Wunschbilder der Fantasie.
Bruder und Schwester
Noch vor Vollendung des 17. Lebensjahres heiratet Klara 1881 den elf Jahre
älteren Unternehmer Richard Plöhn (1853–1901). Die Vermählten und Klaras
Mutter Wilhelmine Beibler leben zuerst in Leipzig und ab 1889 in Radebeul.
Richard Plöhn gründet die ›Sächsische Verbandsstofffabrik R. Plöhn‹.
Schon 1890 oder ein wenig später lernen sich die Ehepaare Emma und Karl May und Klara und Richard Plöhn kennen. Rasch entwickelt sich eine echte Freundschaft: »Wir beiden Familien lebten zusammen, als ob es nur eine einzige sei«, schreibt Karl May 1907 im Manuskript ›Frau Pollmer, eine psychologische Studie‹.
»Wir nannten uns Bruder und Schwester. Andere Leute wußten es gar nicht anders, als daß die beiden Frauen wirkliche Schwestern seien.« Und für Karl ist Richard der beste Freund, den er je hatte.
Ein schönes Zeugnis für
diese Beziehung liefert eine schon mehrfach zitierte Postkarte (unten),
die am 4. Februar 1894 im Dessauer Gasthof ›Drei Kronen‹ an Klara Plöhn
geschrieben wird:
»Es grüßt Dich Deine Heimatstadt, / Mein liebes, gutes Klärchen! / Wir
sitzen hier ganz reisematt, / Als müdes Schwalbenpäärchen. / Bald werden
wir die Flügel schwingen, / Die uns nach Hause zu Dir bringen. / Grüß uns
inzwischen Deine Lieben, / Denn dies ist auch für sie geschrieben!«
»Deine Emma« steht darunter, und am Rande »Und Dein Karl ooch mit!« Gereimt und auch geschrieben, wie die Schriftzüge ausweisen, hat es Karl May.
Hier ist die Welt für alle Vier noch in Ordnung, jede Schlussfolgerung auf neue Konstellationen wäre verfehlt. So bleibt es bis zu Karls Orientreise 1899/1900. Weil sich die exotische Realität so gänzlich anders als in den bisherigen Traumwelten darstellt, ist er schweren seelischen Erschütterungen ausgesetzt. Ehefrau Emma hat Probleme mit einer beginnenden Unterleibserkrankung, und als die Vier ab März 1900 die Reise gemeinsam fortsetzen, verschlimmern die Strapazen ihr Leiden.
Tagtäglich muss Karl Vergleiche ziehen zwischen der angekränkelten und sich deshalb mürrisch gebenden Ehefrau und der acht Jahre jüngeren Klara mit ihrem nimmermüden Interesse.
Reichliche sieben Monate
nach der Rückkehr in die Heimat stirbt Richard Plöhn. Gewissermaßen im
Selbstlauf beginnt nun eine zweite Beziehungsphase zwischen Karl und
Klara.
… fürchte, dass er sich die Kugel gibt
Für die ersten beiden Wochen holt Emma ihre Freundin in die Villa
»Shatterhand.«. Dann kommen Karl und Emma überein, Klara als
Sekretärin arbeiten zu lassen; sie soll vor allem Leserbriefe beantworten.
Karl und Klara finden dabei immer näher zueinander. In einem Tagebuch, das
Klara seit Anfang 1902 führt, stehen von der zweiten Februarhälfte an
klagende und böse Worte über Emma und die Maysche Ehe. Die Lage eskaliert
rasch. Schon am 16. März 1902 notiert Klara: »So kann es nicht lange
weiter gehen, ich fürchte Karl giebt sich eines Tages eine Kugel. Emma
würde nicht trauern um ihn. Sie möchte ihn in den großen Garten schaffen,
er soll dort ein Häuschen für sich bauen.«
Nach dem 19. März bleibt Karl für eine Nacht weg. »Ich bin in Todesangst um ihn«, schreibt Klara, »Emma ist eine Bestie.«
Mitte Juli 1902 treten Karl und die beiden Frauen eine Reise an, die unter anderem nach Berlin, Leipzig und Südtirol führt. Sie soll der Erholung dienen, leitet aber das Ende des Ehedramas ein.
Welche Absichten das
Handeln der Akteure bestimmten, ist nicht eindeutig festzumachen. Klara
etwa habe ihre Mutter nach Leipzig bestellt, berichtet Karl später, um
eine Versöhnung zwischen ihm und Emma herbeizuführen. »In Leipzig begann
die Plöhn«, so hingegen Emma, »auf den Bruch zwischen mir und meinem Mann
hinzuarbeiten.« Was in den Augusttagen 1902 im Leipziger Hotel Hauffe
wirklich geschah und gedacht wurde, muss man dem Spürsinn eines kundigen
Kaffeesatzlesers überlassen.
Jedenfalls fällt hier offensichtlich die Entscheidung zur Ehescheidung.
»Karl soll mich an seiner Seite finden, wenn er mich braucht«, schreibt
Klara am 21. August, »und das werde ich Emma sofort sagen.«
So ist es dann auch
gekommen: Nach dem üblichen Procedere wird die Ehescheidung am 4. März
1903 rechtskräftig, und am 30. März 1903 heiraten Karl und Klara. »Mein
ganzes Leben soll fortan meinem unendlich verehrten Mann geweiht sein ...
Friede soll in und um ihn sein, und treu will ich ihm helfen, wo und wie
ich kann«, steht im Tagebuch.
Historische Verdienste
Der erhoffte Friede aber bleibt aus. Die kommenden Jahre sind durch
Pressehetze und Prozesse geprägt, Karl Mays Gesundheit wird untergraben,
am 30. März 1912 erliegt er der Hetzjagd seiner Gegner.
Dass er jene bösen Jahre
überhaupt durchstehen konnte, noch Beachtliches zu schreiben vermochte –
zum Beispiel ›Ardistan und Dschinnistan‹ 1909 oder ›Winnetou IV‹ 1910 –
ist wohl in erster Linie der Liebe, Fürsorge und dem seelischen Beistand
von Klara zu danken.
Durch das verbindliche Testament vom 8. März 1908 wird Klara als
Universalerbin eingesetzt. Nach ihrem Tode soll alles, was sie geerbt hat,
einer mildtätigen Stiftung zufallen. Für die beiden Schwestern, Wilhelmine
Schöne und Karoline Selbmann, ist eine Auszahlung von je 150 Mark pro
Vierteljahr festgesetzt.
Zur Stiftung heißt es ausdrücklich »erst nach ihrem Tode«. Wohl in der löblichen Absicht, dem Andenken Karl Mays gute Dienste zu erweisen, unterzeichnet Klara aber schon am 15. Februar 1913 die ›Stiftungsurkunde für die Karl-May-Stiftung in Radebeul‹. Am 5. März erfolgt die Genehmigung durch das Kultusministerium. Hätte sich Klara strikt an die Terminvorgabe im Testament gehalten, würde es Karl-May-Stiftung und auch Karl-May-Museum vielleicht gar nicht geben.
Klara May starb am 31. Dezember 1944: Wie hätte in jener Zeit »nach ihrem Tode« das Testament noch erfüllt werden können?
Mutmaßungen bieten sich auch zum Karl-May-Verlag an: Der rasche Weg zur Stiftung beflügelte 1913 den Abschluss des Gesellschaftsvertrages.
Nun mag man spekulieren wie man will: Ohne das entschiedene Handeln von Klara 1913 gäbe es heute mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht die Karl-May-Szene in dieser Breite und Lebendigkeit. Ihr 160. Geburtstag am 4. Juli 2024 und der 80. Todestag am 31. Dezember 2024 sind somit Anlass, auch ihr dafür zu danken, dass bis heute das Werk Karl Mays unser Leben bereichert.
Dafür nehmen wir auch ein paar Schrulligkeiten in Kauf und üben Nachsicht, wenn ihre Fantasie die Grenzen überschreitet, wenn sie beispielsweise von gemeinsamen Ritten mit Karl durch amerikanische Wälder oder orientalische Wüsten fabuliert, wo er alle Strapazen unbeirrt wegsteckte wie auch bei der Atlantiküberquerung: Haushohe Sturzwellen trieben alle Passagiere und Mannschaften unter Deck, nicht jedoch Karl May: »Je toller, […] desto lieber war es ihm«.
Negativ zu werten sind
allerdings die Versuche und Teilerfolge, von Archiven alte Akten aus Mays
dunkler Zeit ausgeliefert zu erhalten, um sie zu vernichten. Und um damit
düstere Flecke aus der Biografie zu tilgen. Dem Dresdner Staatsanwalt
Erich Wulffen (1862–1936) und dem Direktor des Sächsischen
Hauptstaatsarchivs Dresden, Woldemar Lippert (1861 – 1937), ist es zu
danken, dass sie vor Übergabe von Material an Klara Abschriften anfertigen
ließen.
Lügenschmiede und Giftmord
Die beiden noch lebenden Schwestern Mays waren im Testament nicht allzu
üppig bedacht worden. Die einstige Lieblingsschwester Wilhelmine meinte,
noch ein anderes Testament gesehen zu haben. Sie und Sohn Theodor Schöne
versuchten, das Testament von 1908 anzufechten. Sie beauftragten sogar mal
eine Detektei. Alles ohne Erfolg. In ›Mein Leben und Streben‹ erzählt Karl
May von der ›Lügenschmiede‹ und den damit verbundenen Witzen, Späßen und
Unwahrheiten. Über Jahrzehnte hinweg schien Hohenstein-Ardistan ein guter
Boden für Gerüchte geblieben zu sein. Niemand vermochte zu sagen, wer die
Latrinenparolen erfunden hatte, denn noch schneller, als sie aufblühten,
waren sie wieder verschwunden. So auch die Groteske, Klara habe ihren
Gatten Karl vergiftet. Bei einem Briefwechsel zwischen Klara und
Verwandten von 1927 wurde dieses einstige Gerücht nochmals kurz erwähnt.
Über diesen Sachverhalt berichteten im November 1985 die Mitteilungen der
Karl-May-Gesellschaft (Nr. 66).
»Erschütternde Ereignisse«
Klara Mays letzte Lebensjahre waren von Tragik überschattet. Neuere
Erkenntnisse machen nach 24 Jahren ein paar Korrekturen zu meiner
Klara-May-Biografie von 1990 (Karl May, der Alte Dessauer und eine »alte
Dessauerin«, unten im Bild) erforderlich. Beispielsweise zur Exhumierung
von Richard Plöhn und Wilhelmine Beibler von 1942: Das geschah nicht auf
Verlangen von Klara, sondern unter enormem Druck der NS-Behörden. Nach
einer »Aussprache« erklärte sie sich bereit, einen entsprechenden Antrag
zu stellen. Wie es dabei zugegangen sein mag, kann sich jeder vorstellen,
der mal in einem diktatorischen Regime »zu einer Aussprache eingeladen«
war.
Klara May bleibt über die »erschütternden Ereignisse vom 100. Geburtstag
Karl Mays«, wie sie das Geschehen bezeichnet, todunglücklich; es »kam wie
ein Blitz aus heiterem Himmel«.
Die Malerin Marta Uhlig
schuf für Klara May mehrere Aquarelle, unter anderm das unten zu sehende
Bild mit dem Grabmal in verfremdeter Umgebung und einer Birke gleich
nebenan. Im Wurzelbereich eines solchen Baumes waren nach der Exhumierung
und Einäscherung die Urnen von Richard Plöhn und Wilhelmine Beibler
beigesetzt worden.
Auf der Rückseite eines Bildes notierte Klara unter anderem: »Richard
Plöhn, exhumiert am 28. 4. 1942, weil seine Mutter Jüdin war […] meiner
lieben Freundin in Dankbarkeit für dieses Bild.« Die Zeichnung hatte Klara
May bis zu ihrem Tod am 31. Dezember 1944 tagtäglich vor sich.
Wenige Tage vor ihrem Ende schreibt sie an eine Nichte: »Irrtümer und Enttäuschungen brachte mir das Leben reichlich […] Gott sei uns gnädig.«
Der vorliegende Beitrag aus dem Magazin ›Der Beobachter an der Elbe‹ (Nr. 22 / Mai 2014) wurde nach dem Tod von Dr. Christian Heermann (1936–2017) von Ralf Harder aktualisiert.