Dr. William E. Thomas MD

Karl Mays letzte Erkrankung und Todesursache

 

Im Jahre 1910 begann Karl May, über starke körperliche Schmerzen, Schlaflosigkeit und Appetitlosigkeit zu klagen. Die Schmerzen waren heftig genug, um Depressionen auszulösen:

»Außerdem verhindern mich brutale Körperschmerzen, in der Weise zu schreiben, wie ich möchte. … meinen Körper, den früher so unverwüstlich scheinenden, hat es endlich doch gepackt. Er will zusammenbrechen. Seit einem Jahre ist mir der natürliche Schlaf versagt. Will ich einmal einige Stunden ruhen, so muß ich zu künstlichen Mitteln greifen, die nur betäuben, nicht aber unschädlich wirken. Auch essen kann ich nicht. Täglich nur einige Bissen, zu denen meine arme, gute Frau mich zwingt. Dafür aber Schmerzen, unaufhörliche, fürchterliche Nervenschmerzen, die des Nachts mich emporzerren und am Tage mir die Feder hundertmal aus der Hand reißen! Mir ist, als müsse ich ohne Unterlaß brüllen, um Hilfe schreien. Ich kann nicht liegen, nicht sitzen, nicht gehen und nicht stehen, und doch muß ich das alles. Ich möchte am liebsten sterben, sterben, sterben, und doch will ich das nicht und darf ich das nicht, weil meine Zeit noch nicht zu Ende ist. Ich muß meine Aufgabe lösen.«[1]

Im Dezember 1910 erkrankte Karl May an einer Lungenentzündung. Die Heilung verlief langsam und der Entzündungsherd war noch im Februar 1911 vorhanden. Dr. med. Johannes Leopold Curt Mickel (1858–1939) verfasste ein Attest, vermutlich Mitte des Jahres 1911:

»Der Schriftsteller Herr Karl May in Radebeul hat um Weihnachten herum bis nahezu Ende Februar eine schwere katarrhalische Lungenentzündung durchgemacht, nach deren Abheilung ich demselben dringend angeraten hatte, eine Erholungsreise nach dem Süden vorzunehmen. Leider ist dies damals unterblieben, da derselbe durch seine Prozesse in vollem Maße wieder in Anspruch genommen wurde und er sich keine Zeit dazu nahm. Wie sehr begründet damals jedoch mein Vorschlag war, beweist jetzt die Tatsache, daß bei Herrn Karl May, der sich noch nicht von der damaligen Krankheit erholt hatte, infolge der Häufung der Termine und der damit verbundenen Aufregungen, ein Nervenleiden ausgebrochen ist, wodurch derselbe geistig ganz unsagbar heruntergekommen und angegriffen ist. Es ist ganz unmöglich – so bestätigt auch noch ein anderer Arzt, Spezialarzt für Nervenkrankheiten in Dresden, den ich, um sicher zu gehen, mit hatte consultieren lassen, – daß bei den in Aussicht stehenden Verhandlungen, seine Kraft bei den zu erwartenden Häufungen und langer Dauer derselben genugsam aushalten wird. Es ist ferner ganz ausgeschlossen, daß er dieses aufreibende Leben mit seinen Reise- und anderen Strapazen fortsetzen kann, ohne vorher etwas getan zu haben, was nicht nur Einhalt tut, sondern auch Besserung des jetzigen Leidens ergibt. Ich rate daher dringend an, – auf wie lange ist von der Hand noch nicht abzusehen – auf etliche Wochen eine ernstliche Kur vorzunehmen, wenn er nicht rapid verfallen soll« [2]

Dr. E. A. Schmid besuchte Karl May im Sommer 1911 und schrieb seine Eindrücke nieder:

»Im Sommer 1911 habe ich den Dichter zum letztenmal gesehen und gesprochen. … Karl May war unter den unsäglichen Drangsalen der letzten Jahre sehr gealtert, und sein vordem kräftiger Körper schien den unaufhörlichen Kämpfen nicht mehr widerstehen zu können. Doch sein Geist war rege und hell geblieben, und sein Auge leuchtete stolz und feurig.«[3]

Karl May verbrachte fünf Wochen – vom achten Mai bis zum siebzehnten Juni 1911 – im Kurort Joachimsthal (Jachymov), wo die Behandlung die ernsten Schmerzen linderte. Bevor er zu dem Heilbad aufbrach, schrieb er in einem Brief:

»Von Neuem schwer krank, schreibe ich Ihnen heut nur sehr kurz. Ich habe meine Kräfte überschätzt, Lungenentzündung und physische Aufregung bei den Zeugenvernehmungen haben mich ganz kaput gemacht. … Ich muß ins Bad; ich reise schon Donnerstag.«[4]

Im Badekurort Joachimsthal schrieb der Arzt, der sich um ihn kümmerte, Dr. Gottlieb, gegen Ende Mai 1911 das folgende offizielle Attest:

»Der Gefertigte bestätigt hiermit, daß sich der Schriftsteller Herr Karl May, wegen eines nervösen und neuralgischen Leidens, zum Kurgebrauch hier aufhält. Derzeit bestehen in Folge der Einwirkungen der radioaktiven Bäder Reaktionserscheinungen, welche dem Kranken das Reisen unmöglich machen. Es kann auch im gegenwärtigen Stadium eine Unterbrechung der Kur nicht stattfinden, weil hierdurch der ganze Erfolg derselben illusorisch gemacht würde. Der Kranke kann daher zu der im Monat Juli anberaumten Verhandlung nicht zu Gericht erscheinen, und da die Kur den Organismus sehr angreift, so bedarf derselbe nach Absolvierung derselben noch vollständiger Ruhe und Schonung und einer Nachkur von mindestens 8 Wochen in einem Luftkurort.«[5]

Im März 1912 reiste Karl May nach Wien, wo er am 22. März einen zweieinhalbstündigen Vortrag hielt. Während dieses Vortrags entschuldigte er sich, daß er krank sei; und er wurde dabei beobachtet, wie er eine Tablette nahm.[6]

Karl May starb zu Hause in Radebeul am 30. März 1912. Seine Ehefrau, Klara May, war die einzige Person, die an seinem Totenbett anwesend war. Sie beschreibt die letzten Augenblicke in Karl Mays Leben mit diesen Worten:

»Er hatte sich bei dem Vortrag in Wien leicht erkältet und mußte nach der Heimfahrt das Haus hüten, ohne indes bettlägerig zu sein. Am Samstag, dem 30 März [1912], fühlte er sich wieder etwas kräftiger und beauftragte mich, für die kommende Woche Zimmer im schlesischen Bad Salzbrunn zu bestellen. Aus Besorgnis hielt ich mich aber während des ganzen Tages in seiner Nähe auf, wenngleich ich nicht etwa einen tödlichen Ausgang der Erkrankung vermutete.
   Ich war die einzige, die zur Todesstunde an seiner Seite weilte. Da dieser Tag unser Hochzeitstag war, sprach er mancherlei mit mir über die Vergangenheit und auch über die Zukunft. Er war heiter und trug sich mit neuen Plänen: ein Drama wollte er schreiben, das sein eignes Leben schildern und erst lange nach seinem Ableben an die Öffentlichkeit kommen solle. Dann werde man sein Wollen und Wirken begreifen.
   Nachmittags verfiel er in ein eigenartiges waches Träumen und unterhielt sich, wie er das häufig zu tun pflegte, viel mit den Gestalten seiner Phantasie.
   Um sieben Uhr abends legte er sich schlafen, setzte aber seine Selbstgespräche in einem undeutlichen Murmeln fort. Gegen acht Uhr richtete er sich plötzlich im Bett auf, sah mit leuchtenden Augen, die nichts von seiner Umgebung zu fassen schienen, in die Ferne und sagte mit klarer Stimme: ›Sieg, großer Sieg! Ich sehe alles rosenrot!‹
   Dann sank er mit unendlich freudigem, verklärtem Ausdruck zurück; sein Atem wurde schwächer, bis er nach wenigen Minuten erlosch. –«[7] 

  
Bis jetzt haben wir verschiedene wichtige Tatsachen erfahren:

  1. Karl Mays eigene Beschreibung seiner Symptome von 1910.
  2. Zwei ärztliche Atteste von 1911.
  3. Eine Beobachtung zu Karl Mays Gesundheitszustand vom Sommer 1911 von Dr. E. A. Schmid.
  4. Die Tatsache von 1912, dass Karl May während seines Vortrags in Wien eine Tablette genommen hat.
  5. Die Beschreibung von Karl Mays letztem Lebenstag und seines Todes.
  6. Außerdem stehen unsFotos von Karl May von 1911 und 1912 zur Verfügung.

 
Karl May war sein Leben lang ein starker Raucher. Er wurde sogar ein Experte für die verschiedenen Tabaksorten:

»Ich wurde Zigarrenmacher. … die Arbeit wurde mir lieb. Sie war mir hochinteressant. Ich lernte alle Arten von Tabak kennen und alle Sorten von Zigarren fertigen, von der billigsten bis zur teuersten.«[8]

Ein weiterer direkter Verweis auf das Rauchen aus Karl Mays Feder:

»Ich rauche sehr gern, und mir ist nie im Leben eine Cigarre zu stark gewesen. … Ich konnte also erwarten, daß mich auch diese indianische Friedensröhre nicht über den Haufen werfen werde.«[9]

Das Rauchen von Zigaretten ist für die meisten Fälle von Lungenkrebs verantwortlich, und das erhöhte Risiko ist direkt proportional zu der gerauchten Menge und dem Teergehalt der Zigaretten. Es besteht am häufigsten im Alter zwischen fünfzig und fünfundsiebzig Jahren. Die Sterberate durch Lungenkrebs liegt bei starken Zigarettenrauchern vierzigmal höher als bei Nichtrauchern.

Der Ausbruch des Krebses geschieht gewöhnlich schleichend. Husten ist das häufigste erste Anzeichen, Dyspnoea [Kurzatmigkeit] kann auftreten, wie auch wiederholte Haemoptysis [Abhusten von Blut]. Atemwegsinfektionen lösen fieberhafte Erkrankungen aus, begleitet von den klinischen Merkmalen einer Lungenentzündung. Die Krankheit reagiert ungewöhnlich langsam auf eine Behandlung, ist nicht zum Rückgang zu bringen und heilt nicht vollständig aus. Schmerzen im Brustkorb oder in einem oder beiden Oberarmen mit einer Ausdehnung auf die Nervenwurzeln können vorhanden sein, wenn der Tumor interkostale [zwischen den Rippen liegende – Anm. d. Ü.] Nerven oder den Brachial Plexus [Armnervengeflecht] mitbetrifft. Schwäche, Magersucht und Gewichtsabnahme sind späte Symptome, normalerweise ein Hinweis auf extensive Metastasenverbreitung. Die durchschnittliche Lebenserwartung, nachdem die Diagnose gestellt wurde, beträgt weniger als ein Jahr.[10]

Die Diagnose, die Dr. med. J. Mickel bei Karl May 1911 stellte, lautete »eine schwere katarrhalische Lungenentzündung«. Dr. Mickel erwähnte außerdem in seinem Attest, dass der Patient »sich noch nicht von seiner damaligen Krankheit erholt hatte.«

Welche diagnostischen Hilfsmittel waren für Dr. Mickel 1911 außer Abklopfen und Abhorchen des Patienten verfügbar? Selbst wenn die Röntgenstrahlung zu dieser Zeit bekannt war (Wilhelm Conrad Röntgen, (1845–1923) beschrieb die Prinzipien 1895), wurde sie hauptsächlich zur Untersuchung der Knochen angewendet. Eines der medizinischen Standardnachschlagewerke beschreibt die klinischen Anzeichen 1897 wie folgt:

»Die Symptome eines Lungenkarzinoms sind unterschiedlich. Ziemlich oft erkennen wir die Krankheit nicht, hauptsächlich weil sie keine typischen Symptome verursacht. Besonders kleine Tumore, die tief im Lungenflügel sitzen und einer ärztlichen Untersuchung nicht zugänglich sind, entgehen der Aufmerksamkeit des Arztes. Andererseits sind die Symptome irgendeiner anderen Lungenerkrankung ähnlich: Husten, Brustschmerzen, besonders auf der befallenen Seite sowie auf verschiedene entfernte Orte ausstrahlend, manchmal ein bißchen Kurzatmigkeit, katarrhalischer Auswurf, selten Hämoptysis [Abhusten von Blut] … Die Patienten sind während der Krankheit angeblich nicht so sehr erschöpft wie bei anderen örtlichen Begrenzungen von Krebs. Die Krankheit ist von langer Dauer, in der Regel viele Monate … Hieraus wird deutlich, daß es oftmals eine unlösbare Aufgabe ist, einen Lungenkrebs zu erkennen … schwer zu diagnostizieren.«[11]

Es gibt Fotos von Karl May von 1911. Diese Fotos sind sehr wichtig für unsere Suche nach der Diagnose, weil sie ein Symptom enthüllen, das in Verbindung mit fortgeschrittenem Lungenkrebs steht. Es ist das Horner-Syndrom, auch Syndrom des Claude Bernard-Horner genannt.

Das Horner-Syndrom besteht aus einer Pupillenverengung, einem Enophthalmos (eingesunkenen Augäpfeln) und Ptosis (einem Absinken des Oberlids durch Lähmung). Wenn wir uns Karl Mays Foto von 1911 ansehen, können wir zwei Merkmale erkennen: die tief in ihre Höhlen eingesunkenen Augäpfel und die halbgeschlossenen Augen, weil die Lider so abgesunken sind, dass sie die Augen fast schließen. Karl Mays Gesicht ist sichtbar abgemagert.

Das Horner-Syndrom entsteht als Folge einer Lähmung der zervikalen Nervenfasern des sympathischen Systems. Es wird durch Druck auf das sympathische Nervensystem im Bereich von C7-Th1 vertebrae (siebenter zervikaler und erster thoraxischer Körper der vertebrae) verursacht. Lungenkrebs, der von den Lungenspitzen ausgeht, ist einer der bekannten Gründe für dieses Syndrom. Der Tumor breitet sich früh entlang der bereits bestehenden Verbindungen der Lungenspitzen aus, um den Plexus brachialis [Nervengeflecht am Schlüsselbein, von dem u. a. die Armnerven ausgehen], das sympathische Nervensystem, die oberen Rippen und die angrenzenden Wirbelknochen einzunehmen. Die Verletzung ist besonders besorgniserregend wegen der frühzeitigen Verursachung von hartnäckigem Schmerz, welcher schwer zu lindern ist, verbunden mit einem verhältnismäßig langsamen Fortschreiten.[12]

Der Horner-Symptomenkomplex kann auf nur einer Gesichtshälfte auftreten oder beidseitig vorhanden sein. Der Druck des Tumors auf interkostale Nerven oder auf das Armnervengeflecht ruft ständige Schmerzen im Brustkorb und stechenden Schmerz die Arme herab hervor, die sogenannte Neuralgia brachialis. Dieser Zustand (Neuritis brachialis = Nervenentzündung der Arme) ist vergleichbar mit Ischias in den Beinen.[13]

Karl May klagte bereits 1910 über anhaltende »brutale Körperschmerzen«, die ihm »die Feder hundertmal aus der Hand reißen!« Dies ist die Folge der oben genannten Belastung des Armnervengeflechts. Karl May wurde von drei Ärzten untersucht, die alle eine Beteiligung peripherer Nerven an seiner Krankheit bestätigten und nicht bloß einen »nervösen« Zustand. Dr. Mickel schickte May zu einem Nervenspezialisten. Dr. Gottlieb vom Jachimov-Kurbad bestätigte ein »nervöses und neuralgisches Leiden».

Die Lungenentzündung von Weihnachten 1910 heilte nie aus. Bis Sommer 1911 hat Karl May viel Gewicht verloren, wie wir auf den Bildern sehen können. Im Mai 1911 schrieb er »Von Neuem schwer krank … Lungenentzündung und physische Aufregung … haben mich ganz kaput gemacht.« Die Symptome eines fortgeschrittenen Krebsleidens – Erschöpfung und Gewichtsverlust – begannen sich einzustellen. Karl May wusste, dass er eine ernste Krankheit hatte – und suchte nach einer Kur im modernsten Kurbad – Joachimsthal.

Joachimsthal ist ein Kurort inmitten der Wälder in (Krusne Hory) in Böhmen. Es wurde berühmt durch die einzigartige Heilbehandlung mit radioaktiven Quellen. Das Baden in Thermalwasser mit einer hohen Radonkonzentration trägt wesentlich dazu bei, dass sich das Wohlbefinden von Menschen, die an Erkrankungen des Bewegungsapparates, des Nervensystems und – wie heutige Erkenntnisse besagen – Stoffwechselstörungen leiden.

Das große Interesse des Pariser Physikers Antoine Henri Becquerel an Röntgens neuen Strahlen führte 1896 zu seiner Entdeckung der natürlichen Radioaktivität, die aus Uransalzen freigesetzt wird. Marie und Pierre Curie isolierten die Elemente, die Becquerels natürliche Radioaktivität ausstrahlen. Im Laufe des Jahres 1898 gaben sie ihre Entdeckung zweier solcher Elemente bekannt, Polonium und Radium. Sie extrahierten kleinste Mengen von Radium aus Tonnen von Erz, das ein Abfallprodukt der Silbermine in Joachimsthal war, und ›Pechblende‹ genannt wurde.[14]

1864 entsprang in einer der Silberminen von Joachimsthal eine Quelle, deren Wasser mehrere Ebenen überstieg. Die Ortsansässigen entdeckten bald, daß das Baden in diesem Wasser stimulierende Wirkungen hat. Nach der Isolation des ersten Gramms Radium durch die Curies im Jahre 1904 glaubte man, dass radioaktive Strahlung in geringen Dosen gut für die Gesundheit wäre. Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts wurde das erste radioaktive Kurbad in der Nähe der Joachimsthal-Quellen erbaut.

Nach 1904 wurden medizinische Anwendungen mit Radium entwickelt und zogen eine beträchtliche Werbekampagne nach sich. Die ›Curie-Therapie‹ wurde, zusammen mit der Chirurgie, die einzige Behandlung für tiefsitzenden Krebs. Dünne Nadeln, die Radium oder sein Nebenprodukt enthielten, wurden meistens zu diesem Zweck benutzt.

Friedrich Ernst Dorn entdeckte Radon im Jahre 1900. Radon sondert Alfapartikel ab. Die größte Gefahr geht von der Inhalation des Elements und seiner radioaktiven Spaltprodukte aus, die sich im Staub der Luft sammeln. Radon findet man in einigen Mineralwässern. Es wird gemessen in Picocuries pro Liter Luft (pCi/L), und ein Wert unter 4 pCi/L wird als ungefährlich angesehen. Es gibt viele Orte, die eine gefährlich hohe Konzentration an Radon besitzen sollen. Ein Indianerreservat in Wisconsin, USA, zum Beispiel weist eine Radonkonzentration der Raumluft von 5,8 pCi/L auf, und das Grundwasser hat sogar einen noch höheren Gehalt an Radon.[15]

Ionisierte Radioaktivität durchdringt den Körper und reagiert mit dem Gewebe, das Energie zu zellulären und anderen Bestandteilen transportiert, in dem es seine Atome ionisiert. Dieses Phänomen wurde umfassend erforscht. In geringen Dosen kann der Zelltod angepasst werden an den normalen Prozess, der die Zellerneuerung steuert. Jedoch kann bei einer hohen Dosierung die Reparatur und Erneuerung unzulänglich sein, so dass eine große Anzahl von Zellen zerstört werden kann, was zu fehlerhaften Organfunktionen führt.

Wie hoch die Dosis der ionisierten Radioaktivität und der Radongehalt waren, als Karl May vom 22. Mai bis zum 17. Juni 1911 in Joachimsthal war, wissen wir nicht. Karl May diktierte seiner Frau einen Brief während des Aufenthalts:

»Wir befinden uns hier, im stärksten Radiumbad der Welt, zu Kur. Die Reaktion der Bäder ist so stark, daß ich die Feder nicht halten und auch nicht schreiben kann … Mein hiesiger Arzt, ein Kaiserlicher Rat und Bezirksarzt, wird mich vor Juni kaum freigeben, die Nachkur nicht gerechnet …«[16]

Klara May erwarb außerdem »ein Paket Radium« und berichtete, dass es Wunder gewirkt habe bei Karl Mays Nervenentzündung.[17] Was Klara kaufte, war höchstwahrscheinlich nur die ›Pechblende‹, unbearbeitet oder ähnlich dem, was Madam Curie ursprünglich erhielt. Nur bei der Urangewinnung, die 1911 in Joachimsthal noch nicht durchgeführt wurde, wird Uran aus dem Erz freigesetzt. Dieses Urankonzentrat wird heute als ›Yellowcake‹ bezeichnet und enthält mehr als 60 % Uran. Eine radioaktive Bestrahlung mit niedrigen Dosen und von kurzer Dauer verursacht keine akuten Beschwerden. Ein akutes Strahlungssyndrom (das akute Strahlenkrankheit verursacht) benötigt eine Strahlenbelastung von 6 bis 16 Gy , ein Extremwert, der uns heute von Nagasaki, Hiroshima und Tschernobyl bekannt ist.

Karl Mays extremer Gewichtsverlust während seines Aufenthaltes im Kurbad Joachimsthal war ganz offensichtlich eine Kombination der Auswirkungen des Reisens und der täglichen Badeanwendungen, möglicherweise eine Belastung mit einer unbekannten Dosis Radon. Sicherlich nicht wegen der Anwendungen mit dem »Paket Radium«. Die Schwäche wurde hauptsächlich durch seinen Allgemeinzustand verursacht: Die metastatische Ausbreitung des Lungenkrebses.

Welche anderen Behandlungsmöglichkeiten – abgesehen von den Kurbädern – gab es für Karl May zwischen 1910 und 1912? Karl May stand an der Schwelle zu den modernen medizinischen Entdeckungen. Obwohl es Röntgenbestrahlung gab, wurde sie nicht zur Diagnose des Lungenzustands benutzt. Die Radiumtherapie war noch in der Versuchsphase. Auch die Chirurgie, mit der man Tumore aus dem Brustkorb entfernen konnte, befand sich noch im Anfangsstadium.[18]

Auszehrung und Schmerz waren die Hauptsymptome, mit denen ein praktizierender Arzt konfrontiert wurde. Den Allgemeinzustand zu verbessern stand hinter dem Vorschlag, dass Karl May sich einer Kurbehandlung unterziehen sollte. Gegen Schmerzen standen drei wesentliche Medikamente zur Verfügung:

  1. Aspirin (Acetylsalicylsäure): In der zweiten Hälfte des 19ten Jahrhunderts wurde zum ersten Mal Natriumsalicylat zur Behandlung des akuten Rheumatismus verwendet. Die schmerzlindernde Wirkung von Aspirin ist schonend, weniger aggressiv als Kodein.[19]
  2. Morphiumpastille: Morphiumhydrochlorid, 1/36 Gran (0,0018 Gramm). Zu mischen mit Tolubasis, um eine Pastille zu formen. Dosierung: 1 bis 6 Pastillen. Eine oder zwei bei Bedarf gegen Husten.
  3. Morphium- und Ipecacuanhapastille: Morphiumhydrochlorid, 1/36 Gran (0,0018 Gramm); Ipecacuanhawurzel, pulverisiert, 1/12 Gran (0,0054 Gramm). Zu mischen mit Tolubasis, um eine Pastille zu formen. Dosierung: 1 bis 6 Pastillen. Eine oder zwei bei Bedarf gegen Husten.
  4. Heroin (Diacetylester von Morphium): Ein feines weißes Pulver, nicht wasserlöslich. Eingeführt als ein Ersatzstoff für Morphium. Dosis: 1/14 bis 1/7 Gran in Tabletten- oder Pulverform.[20]

Bayer Pharmazeutische Produkte bewarben Heroin 1900. Synthetisch hergestellt von C. R. Wright im Jahre 1874, wurde es 1898 als das ideale, nicht süchtig machende Ersatzprodukt für Morphium und Kodein angesehen.[21]

Heroin wurde hauptsächlich eingesetzt, um starke Schmerzen und Husten unter Kontrolle zu halten. Es war angezeigt in Karl Mays Zustand. Es ist von Interesse, was Dr. E. A. Schmid im Sommer 1911 schrieb, als er Karl May getroffen hatte. Er bemerkte, dass im Gegensatz zu Mays gesundheitlicher Verschlechterung »sein Geist rege war und klar blieb und seine Augen stolz und feurig leuchteten». Es ist schwer vorstellbar, dass Karl May in seinem gesundheitlichen Zustand einen zweieinhalbstündigen öffentlichen Vortrag halten konnte ohne irgendeine Medikation. Er wurde dabei beobachtet, dass er eine Tablette nahm. Was es war, können wir nur mutmaßen aus dem, was damals erhältlich war und anhand Karl Mays Verhalten während des Vortrags und während seines letzten Interviews.[22]

»Schmächtig, dürr, aber unglaublich zäh», lautete die Beschreibung Karl Mays von einem der österreichischen Journalisten, mit »scharfem Profil und blitzenden, jungen Augen.« »Ein etwas hagerer Greis …« war der Eindruck eines anderen Journalisten, der bei Mays Vortrag anwesend war.[23]

Eine weitere Beobachtung: »Karl May sieht trotz seiner siebzig Jahren rüstig aus. … bleiches Gesicht … sein Organ hat eine überraschende Kraft, es beherrschte den weiten Saal … [über] mehr als zwei Stunden … [ließ] keine Ermüdung spüren.«[24]

Jedoch war der Eindruck eines weiteren Reporters »ein alter, müder Herr mit den strengen Gesichtszügen.«[25]

»Karl May ist erst vor kurzem von schwerer Krankheit genesen und wurde ungefähr in der Mitte seines Vortrages von Schwäche befallen, welche jedoch erfreulicherweise ebenso rasch, als sie gekommen, wieder verschwand.«[26]

»Einen Augenblick Pause. Karl May bittet um Entschuldigung, er ist krank. Er nimmt eine Pille und dann spricht er weiter.«[27]

»Karl May ist ein Siebzigjähriger, der für sein Alter und trotz einer eben bestandenen Krankheit außerordentlich rüstig ist und sehr gut spricht« … »Und wie er nun hier auf dem Podium im Sophiensaale erschien, totenbleich und fassungslos, …«[28]

Während seines letzten Interviews bemerkten die Reporter, dass Karl May »aufstand und unruhig im Zimmer auf- und abging.«

Es gibt ein Foto von Karl May vom Tag seines Vortrags in Wien am 22. März 1912, acht Tage vor seinem Tod. Er sieht wirklich sehr ausgezehrt und erschöpft aus. Eine Herointablette zu nehmen würde ziemlich übereinstimmen mit der Beschreibung seiner Lebendigkeit, dem Ausdruck in seinen Augen und der Fähigkeit, einen Vortrag über mehr als zwei Stunden zu halten.

Klara May berichtet, dass May sich eine leichte Erkältung in Wien zugezogen hatte. Ob es eine gewöhnliche Erkältung war oder die Verschlimmerung einer alten, chronischen Erkrankung verstopfter Atemwege (chronische Bronchitis mit einem Lungenemphysem), Grippe oder ein Aufflackern seiner schleichenden Lungenentzündung, ist schwer zu sagen. Auf jeden Fall waren es die Atemwege, die bei einem Patienten mit einem metastatischen Lungenkrebs angegriffen waren.

Wenn ein Patient mit Bronchitis und einem Emphysem eine Lungenentzündung bekommt, machen ihn Fieber und Sauerstoffmangel zyanotisch ( = bläulich verfärbt), müde und orientierungslos. Eine Untersuchung des arteriellen Blutes würde zeigen, daß er einen CO2-Stau, Übersäuerung und Sauerstoffmangel hat – das charakteristische Trio von Atmungsversagen. Ein solcher Patient kann plötzlich und unerwartet sterben.[29]

Dies stimmt ebenfalls ziemlich genau mit der Beschreibung der letzten Stunden des Autors überein, wie sie von seiner Frau wiedergegeben werden. Die Müdigkeit, Orientierungslosigkeit und das langsame Hinschwinden in ein Koma und endgültigem Versagen der Atmung.

Hat Karl May sein eigenes Kurzgedicht zitiert als er seine letzten Worte »Sieg! Großer Sieg! Ich sehe alles rosenrot!« ausstieß?
 

Das Leben ist ein Kampf;
Der Tod ist der Sieg;
Ich lebe, um zu kämpfen,
Und ich sterbe, um zu siegen.
[30]
 

Es scheint deshalb schlüssig, die Todesursache Karl Mays wie folgt zusammenzufassen:
 

Die unmittelbare Todesursache
(Art des Sterbens):
Atmungsversagen
Krankheit oder Gesundheitszustand,
der direkt zum Tode geführt hat:
Bronchialkarzinom
Pathologischer Befund: Metastasen in der Lunge
(Carcinoma apicis pulmonum),
Kachexie (Kräfteverfall mit allgemeiner Schwäche und Blutarmut)
Andere bedeutsame Beschwerden,
die den Tod verursacht haben:
Chronische, die Atemwege verstopfende Erkrankung
(Chronische Bronchitis und Lungenemphysem),
Tabakraucher

 

Dieser Beitrag entstand in den 1990er Jahren. Im Oktober 2014 wurden die sterblichen Überreste Karl Mays in seiner Gruft von Dr. Benjamin Ondruschka und Dr. Carsten Babian vom Institut für Rechtsmedizin der Universität Leipzig obduziert: »An den Knochen fanden sich keine Hinweise für Absiedlungen eines Tumors, wie sie z. B. regelmäßig bei Lungen-, Magen-/Darm- oder Prostatakarzinomen auftreten. … Final lässt sich resümieren, dass beim fehlenden Nachweis von konkurrierenden Todesursachen und bei Übereinstimmung der bei Karl May angegebenen Beschwerden mit den typischen Symptomen einer Schwermetallbelastung sowie beim Nachweis toxischer Blei- und Cadmiumkonzentrationen in Zähnen und Knochen von Karl May eine chronische Blei/Cadmium-Vergiftung als Todesursache in Betracht zu ziehen ist.« – Nicht immer stimmen Ärzte mit ihren Diagnosen überein. Und neue Untersuchungsmöglichkeiten führen zu weiteren, aber nicht grundsätzlich eindeutigen Erkenntnissen. Es ist unerlässlich, auch ältere Forschungsbeiträge weiterhin als Diskussionsgrundlage zu veröffentlichen.

 


  

Anmerkungen

 
[1] Karl May: ›Mein Leben und Streben‹, Freiburg [1910]. Reprint: Hildesheim – New York 1997, S. 299f.

[2] Zitiert nach Manfred Hecker: ›Karl Mays Kuraufenthalt 1911‹, in: Mitteilungen der Karl-May-Gesellschaft, Nr. 44, Juni 1980, S. 10.

[3] Karl May: »Ich«, Radebeul 1916, S. 531.

[4] Karl May in einem Brief vom 8. Mai 1911 an den Rechtsanwalt Haubold. Zitiert nach Manfred Hecker, wie Anm. 2, S. 10.

[5] Karl Mays Kuraufenthalt 1911, wie Anm. 2, S. 14.

[6] In: ›Kleine Österreichische Volkszeitung‹ vom 23.3.1912.

[7] Klara May: ›Karl May zwischen Morgen und Abend‹, in: Karl-May-Jahrbuch 1933, Radebeul 1933, S. 29f.

[8] Karl May: ›Mein Leben und Streben‹, wie Anm. 1, S. 170.

[9] Karl May: ›Winnetou‹, Karl-May-Verlag Radebeul bei Dresden, Band 7. (336. Bis 360 Tausend); No date, p.184. This passage has been translated into English for the US edition (Karl May: ›Winnetou‹, Translated by Michael Shaw; The Seabury Press 1977, New York, USA, p.121): »I enjoy smoking very much, have never found a cigar too strong for my taste, and have no reason to believe that this Indian peace pipe would bowl me over.«

[10] Davidson, S.: ›The Principles and Practice of Medicine‹, E&S. Livingstone Ltd., London 1969, pp. 375; 377-8.
Davidson’s Principle & Practice of Medicine. 15th Edition, Churchill Livingstone, London 1987, pp. 252-253.

[11] Thomayer, Josef, Professor at Czech University in Prague: ›Pathologie a Therapie Nemoci Vnitrnich‹. [Pathology and Therapy of Internal Diseases.] Bursik & Kohout Publ., Prague 1897, p.477.

[12] ›Bailey & Love’s Short Practice of Surgery‹, 14th Edition, London 1968, p.665.

[13] Clain, A.: ›Hamilton Bailey’s Demonstration of Physical Signs‹, John Wright & Sons Ltd., Bristol 1967, p.207.

[14] Pechblende ( im Tschechischen »Smolinec», abgeleitet von dem Wort »Smula« = Pech), erhielt seine Bezeichnung durch die Tatsache, dass immer, wenn es auftauchte, das Silber – das die Bergleute suchten – verschwand.

[15] John F. DeWild – James T. Krohelski: ›Radon-222 Concentration in Ground Water and Soil Gas on Indian Reservations in Wisconsin‹, US Environmental Protection Agency, Washington 1988.

[16] Karl Mays Kuraufenthalt 1911, wie Anm. 2, S. 14.

[17] Karl Mays Kuraufenthalt 1911, wie Anm. 2, S.13.

[18] Dr. Ferdinand Sauerbruch (1875–1951) entdeckte 1904 eine Methode, mit der man chirurgische Eingriffe im Brustkorb des Menschen vornehmen kann. Damit setzte Sauerbruch einer jahrhundertealten medizinischen Lehre ein Ende, dass Krankheiten im Brustkorb nicht chirurgisch behandelt werden könnten. Dies gestattete Operationen an der Lunge, am Herzen und der Speiseröhre. Von diesem Zeitpunkt an begannen große Fortschritte in der Behandlung von Tuberkolose und Krebs.

[19] Laurence, D.R.: ›Clinical Pharmacology‹, Third Edition. J. & A. Churchill Ltd., London 1966, p.238.

[20] ›Squires Companion to the British Pharmacopoeia‹, 17th Edition 1899,J. & A. Churchill, London, pp. 428 and 432.

[21] Lyons, A. & Petrucelli, R.: ›Medicine – An Illustrated History‹, New York 1979, p.587.

[22] Vgl. Adolf Gerber / Wilhelm Nhil / Paul Wilhelm: ›Karl May in Wien – Letzte Interviews (1912)‹, in: Jb-KMG 1970, Hamburg 1970, S. 81ff.

[23] ›Neues Wiener Journal‹ vom 23.3.1912.

[24] ›Neues Wiener Tagblatt‹ vom 23.3.1912.

[25] ›Kleine Österreichische Volkszeitung« und »Illustriertes Wiener Extrablatt« vom 23.3.1912.

[26] ›Wiener Montags-Journal‹ vom 25.3.1912.

[27] ›Kleine Österreichische Volkszeitung‹ vom 23.3.1912.

[28] ›Die Zeit‹, Wien, vom 23.3.1912 und ›Neue Wiener Tagblatt‹ vom 2.4.1912.

[29] Birch, C.A.: ›Emergencies in Medical Practice‹, 5th Edition, E. &S. Livingstone Ltd., London 1956, p.141.

[30] Eintragung in das Gästebuch der Familie Wolf-Malm, Wiesbaden am 31. Mai 1897. Zitiert nach Volker Griese: ›Karl May. Stationen eines Lebens – Eine Chronologie seiner Reisen‹, Sonderheft der KMG 104/1995, S. 31f.

  


  

Karl May aus medizinischer Sicht

Karl May – Forschung und Werk