Marie Versini – Für immer
Nscho-tschi
– Ein Nachruf –
Wer sie kannte oder wer sie gar persönlich erlebt hatte, der war von
der Nachricht ihres Todes tief getroffen. Man wusste schon länger um
ihren Zustand, man hatte sich darauf einstellen können, soweit das geht
– und doch war es ein heftiger Schmerz.
Marie Versini hat die Herzen der Menschen berührt. Die zarte
und dennoch starke Korsin war in den 1960er Jahren die wohl
einflussreichste Botschafterin Frankreichs nach dem Krieg in
Deutschland, Österreich und in der Schweiz. Wer es nicht selbst erlebt
hat, mag es heute kaum glauben: Die kapriziöse Schauspielerin war seit
ihrer Rolle als schöne Indianerprinzessin Nscho-tschi in dem Film
„Winnetou 1. Teil“ das Vorbild einer ganzen Jugendgeneration. Die
Mädchen wollten so sein wie sie und sogen auf, was sie über das Leben
und die Liebe zu sagen hatte. Die Buben schwärmten für sie, auch wenn
sie das nie zugegeben hätten.
Marie Versini verkörperte mit ihrer ganzen Erscheinung ein
neues Frauenbild im deutschen Kino: Nicht mehr verzopft, schwermütig
und etwas angestaubt wie manche ihrer Vorgängerinnen, sondern
lebenslustig à la française, mit starkem Willen bis hin zur
Aufmüpfigkeit, aber auch sensibel und – im besten Sinne – voll
kindlichem Zutrauen in die Kraft der Liebe. So wie sie wollten die
Mädchen in Deutschland sein, so wie sie, tagträumten die Jungen, dürfte
die erste Freundin aussehen. „Bravo“, in heute unvorstellbarem Maße
damals das Zentralorgan der deutschen Jugendkultur, stellte das
Bindeglied zwischen Star und jugendlichen Fans dar. Bis weit
in die
1970er Jahre wurde die junge Frau von den halbwüchsigen Lesern und
Leserinnen Jahr für Jahr zur beliebtesten Schauspielerin gewählt, sie
gehört zu den erfolgreichsten „Bravo“-Stars aller Zeiten.
Auf dem Weg nach oben
Marie Versini wurde am 10. August 1939 in Paris geboren,
ein Jahr vor ihrem in den Biografien verzeichneten „offiziellen“
Geburtsdatum. Ihre Vorfahren stammen von der Insel Korsika, der Heimat
von Napoleon Bonaparte. Der Vater war Gymnasiallehrer für Literatur und
Latein. Ein Gefühl für Sprache ist ihr gleichsam in die Wiege gelegt.
Sie wächst in behüteten Verhältnissen auf, die Atmosphäre im Hause
Versini ist geprägt von Literatur und Kunst. Doch das junge Mädchen hat
seinen eigenen Kopf. Schon mit 14 Jahren will Marie die Schule
verlassen, um ihrem Idol Gérard Philipe nachzueifern und
Schauspielunterricht zu nehmen. Mit 16 steht sie zum ersten Mal auf der
Bühne, mit durchschlagendem Erfolg. In einer Zeitungskritik heißt es,
sie würde Brigitte Bardot und Marina Vlady Konkurrenz machen – und zwar
„ohne Dekolleté“.
Der große Erfolg mit Karl May
Mit 17 wird sie jüngstes Mitglied der legendären
„Comédie-Française“. Beim Festival von Carcassonne spielt sie die Julia
in Shakespeares „Romeo und Julia“. Der Film wird auf sie aufmerksam. An
der Seite von Dirk Bogarde spielt sie eine berührende Rolle in „A Tale
of two Cities“. Der Film wird ein großer Erfolg. Danach geht es Schlag
auf Schlag, sie reist durch die Welt und wirkt in amerikanischen,
italienischen und französischen Produktionen mit. Mit 21 Jahren kann
sie bereits auf eine atemberaubende Karriere zurückblicken. 1962 spielt
sie in dem deutschen Film „Das schwarz-weiß-rote Himmelbett“ mit. Der
Regisseur Harald Reinl sieht sie und schlägt sie für die Rolle von
Winnetous Schwester in dem Karl-May-Film „Winnetou 1. Teil“ vor. Der im
Dezember 1963 uraufgeführte Film wird ein überragender Erfolg. Seitdem
ist Marie Versinis Name für alle Zeiten mit dem von Nscho-tschi
verknüpft.
Anschließend ist die Schauspielerin auf Karl May
„abonniert“. Sie spielt in „Der Schut“ die Tschita, in „Durchs wilde
Kurdistan“ und „Im Reiche des silbernen Löwen“ die Ingdscha und im Jahr
1966 abermals Nscho-tschi in der missglückten Produktion „Winnetou und
sein Freund Old Firehand“. Ein Jahr später feiert sie noch einmal einen
großen Publikumserfolg mit der Konsalik-Verfilmung “Liebesnächte in der
Taiga“, die zum Teil an den Schauplätzen des Winnetou-Films entsteht.
Ende einer glanzvollen Karriere
Danach ist ihre Filmkarriere schlagartig beendet. Marie
Versini ist jetzt 28, ein Alter, in dem andere Schauspielerinnen ihre
besten Rollen spielen – aber es folgt kein einziger Kinofilm mehr. Sie
wirkt in einigen zumeist belanglosen TV-Produktionen mit. Auch damit
ist 1984 Schluss. Auftritte in Groschenroman-TV-Serien, wie sie ihr
Filmbruder Pierre Brice unternimmt, bleiben ihr erspart, auch wenn man
vermuten darf, dass sie nicht nein gesagt hätte, wenn sie gefragt
worden wäre. 2016 hat sie noch einmal einen kleinen Cameo-Auftritt in
der RTL-Produktion „Winnetou – Der Mythos lebt“.
Ihr Glück findet sie an der Seite ihres Mannes, dem
Regisseur und Autor Pierre Viallet. Mit dem deutlich älteren Viallet,
der aus einer vermögenden Familie stammt, lebt sie in Paris und in
ihrem Landhaus auf der Atlantikinsel Ré. Kennengelernt hatte sie ihn
bereits 1961 während der Dreharbeiten zu einem Dokumentarfilm über die
Begegnung von Robert Schumann mit der jungen Clara Wieck.
1964 schrieb
Viallet – speziell auf seine zukünftige Frau zugeschnitten – das
Drehbuch zu dem dänischen Film „2 x 2 im Himmelbett“ (mit Marie Versini
und Thomas Fritsch in den Hauptrollen). Die Klaviervirtuosin und
Komponistin Clara Wieck hatte für Marie Versini eine besondere
Bedeutung. Lebenslang bildete das einstige Wunderkind, die spätere
Ehefrau Schumanns, eine Projektionsfläche für ihre eigene
Persönlichkeit.
Das zweite Leben
1992 erscheint Marie Versini erstmals auf dem Karl-May-Fest,
das zu diesem Zeitpunkt in Bad Segeberg stattfindet. Die Veranstaltung
wird in gewisser Weise zu einem Wendepunkt in ihrem Leben. Fast
dreißig Jahre nach ihrem immensen Filmerfolg in „Winnetou 1. Teil“
erlebt sie hautnah, wie intensiv die Zuneigung ihrer älter gewordenen
Fans immer noch ist. Und auf einer anderen Ebene entfaltet sich der
Zauber, den einst die junge Nscho-tschi bewirkt hatte, erneut: Marie
Versini berührt auch jenseits der Kinoleinwand die Herzen der Menschen.
Sie ist offen, herzlich, authentisch und völlig ohne Allüren. Auch als
inzwischen gereifter Mensch wirkt sie verletzlich, und wenn sie ihr
Gegenüber mit großen Augen anschaut, scheint es, als liege ihre Seele
offen zutage. Jedem Fan wendet sie sich zu, viele kennt sie mit Namen,
kein Brief bleibt unbeantwortet, sogar zum Telefon greift sie häufig.
Sie schreibt ihre Memoiren und über ihr Lieblingsthema: Pferde. Auf
Fanreisen kehrt sie zu den Drehorten ihrer Filme in Kroatien zurück. Es
ist geradezu ein zweites Leben für sie, das überwiegend aus
Erinnerungen, aber auch aus vielen neuen menschlichen Kontakten
besteht. Nur im Geheimen stöhnt sie manchmal über den einen oder
anderen enervierenden Hardcore-Fan. Aber selbst das tut sie mit einem
Anflug von schlechtem Gewissen. Sie ist die Aufrichtigkeit in Person.
Der Tod ihres Mannes, der 2013 im Alter von 94 Jahren stirbt, trifft
sie ins Mark. Es scheint, als sei ihr der Boden unter den Füßen
weggezogen. Marie Versini ist jetzt 73 Jahre alt, aber man hat den
Eindruck, als habe das Leben für sie seinen Sinn verloren. Weiterhin
ist sie für ihre Fans da, aber man kann sehen, wie sie zunehmend zum
Schatten ihrer selbst wird. Ihre geistige Leistungsfähigkeit geht
verloren. Nach einem häuslichen Sturz muss sie ins Krankenhaus und wird
anschließend in ein Pflegeheim in Guingamp in der Bretagne eingewiesen.
Der Welt um sie herum ist sie entrückt. Marie Versini stirbt am 22.
November 2021. Sie wurde 82 Jahre alt.
Bilanz eines Lebens
War es ein glückliches Leben, das Marie Versini geführt
hat?
Wer könnte sich anmaßen, diese Frage als Außenstehender zu
beurteilen?
Marie Versini war ein dem Leben und den Menschen
zugewandter Mensch. Ihrer Ausstrahlung konnte sich kaum jemand
entziehen, ihre menschliche Wärme war für jedermann spürbar. Und wenn
es nicht so banal klänge, möchte man sagen: Sie war ein Mensch voller
Liebe.
Und doch bleibt der Eindruck zurück, dass das Leben bei
ihr Narben hinterlassen hatte, gerade bei ihr. Gerne hätte sie Kinder
gehabt. Und dass ihre Liebe nicht nur zu Old Shatterhand, sondern auch
zu dem echten Lex Barker keine Zukunft gehabt hatte, war ein
tiefsitzender Schmerz. 1963 bei den Dreharbeiten zum Winnetou-Film
hatte sie seinetwegen einen Suizidversuch unternommen. 1992 trifft sie
auf dem Karl-May-Fest unvorbereitet auf Barkers Sohn Christopher. Der
junge Mann, als Opernsänger ausgebildet, singt für sie eine
Liebesballade. Von Gefühlen überwältigt liegt sie in seinen
Armen.
Und noch einen Gedanken könnte man haben. Ein
Gedankenspiel:
Mit „Winnetou 1. Teil“ erlebte Marie Versini eine
ungeahnte Woge der Popularität. Nie zuvor hatte sie eine derartige
Begeisterung der Menschen erlebt. Ihre künstlerische Heimat wurde
daraufhin das deutsche Kino. Ihr Höhenflug währte vier lange, kurze
Jahre. Danach war Schluss. Für immer.
Was aber wäre gewesen, wenn Marie Versini nicht
Nscho-tschi geworden wäre? Die junge Schauspielerin stand am Beginn
einer internationalen Karriere. Sie hatte zuvor mit Stars wie Paul
Newman, Jean-Paul Belmondo, Eddie Constantine und Alida Valli gedreht.
Die Welt stand ihr offen. Vielleicht sogar eine Weltkarriere.
Nach „Winnetou“ kam kein einziger internationaler Film
mehr. Marie Versini hatte sich für Deutschland entschieden. Die Filme,
die sie nach Winnetou drehte, waren höchstens Mittelmaß. Mehr konnte
ihr das deutsche Kino nicht bieten.
Immer geliebt
Vielleicht ist das das Drama der unvollendeten
Schauspielerin Marie Versini, dem Mitglied der hochangesehenen
„Comédie-Française“: Dass sie nie mehr im Leben die Chance bekam, einen
wirklich guten Film zu drehen.
Doch was ist höher zu bewerten: Eine internationale
Karriere – oder die Gewissheit, das Leben unendlich vieler Menschen
bereichert zu haben, in deren Erinnerung Marie Versini für Jahrzehnte
weiterleben würde?
„Anika … ti … matan – – es war … eine große … Freude.“
Ja, so ist es, geliebte Nscho-tschi: Es war eine große
Freude, dass Du uns alle berührt hast.
Wir haben Dich in unser Herz geschlossen, und wir werden
Dich nicht vergessen.
Michael
Petzel
(Der Autor ist Kurator der Karl-May-Stiftung und Verfasser einer
Bildbiographie über Marie Versini.)
Im Gästebuch von Marie Versini sind Worte des Abschieds zu lesen, die eine tiefe Verbundenheit erkennen lassen.
Zur Eröffnung der „Villa Nscho-tschi“ im Karl-May-Museum Radebeul
