Nummer 45

Der
Gute Kamerad

Spemanns Illustrierte Knaben-Zeitung.

4. August 1888

Der Geist der Llano estakata.

Von K. May, Verfasser von »Der Sohn des Bärenjägers«.


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»Das glaube ich nicht. Und selbst wenn es so wäre, würde ich von derselben und ihrem Herrn gehört haben. Steckt eure Messer ein und setzt euch ruhig nieder! Ich lasse mir nicht drohen. Ich will euch nicht von meinem Lager treiben, da ihr mit Männern gekommen seid, welche ich für ehrliche Leute halte. Wie ihr euch betragt, so werdet ihr behandelt. Am Rande der Llano kann man nicht vorsichtig genug sein, und jedermann weiß, daß man die Weißen viel mehr zu fürchten hat als die Roten.«

»Haltet Ihr uns vielleicht für Llanogeier?«

»Diese Frage werde ich euch beantworten, wenn wir uns trennen; dann habe ich euch kennen gelernt, während sich mein Urteil jetzt nur auf Vermutungen stützen kann. Seid ihr wirklich brave Leute, was ich allerdings gern wünschen möchte, so werden wir gewiß als Freunde scheiden.«

Die beiden Mexikaner blickten einander fragend an. Zur Förderung ihrer geheimen Absichten war es geraten, sich versöhnlich zu zeigen. Darum sagte Carlos:

»Diese Eure letzten Worte machen das Vorhergehende wieder gut. Da wir ehrliche Leute sind, so können wir uns mit der Ueberzeugung beruhigen, daß Ihr sehr bald einsehen werdet, wie unrecht Ihr uns beurteilt habt.«

Er setzte sich wieder nieder und sein Bruder that dasselbe. Baumann schickte seinen Sohn, den vielbesprochenen »Sohn des Bärenjägers«, nach der Kaktusgruppe, um Früchte dieser Pflanzen zu holen, welche zum Nachtisch gegessen werden sollten.

Während man dieselben genoß, wurde es Nacht, und die Männer brannten ein Feuer an. Material dazu war genug vorhanden.

Außer dem Uebergange des Tages in


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die Nacht war noch eine andere Veränderung vorgegangen. Der Thalkessel war durch die hohen Felsenwände von der Ebene abgeschlossen. Die Luftströmungen, welche draußen ihre volle Macht entfalten konnten, fanden auf drei Seiten den Zugang verschlossen. Nur von der vierten Seite, von welcher die Yankees und Mexikaner gekommen waren, konnte eine atmosphärische Strömung in den Kessel treten, was aber nur dann möglich war, wenn der Wind ganz genau aus dieser Richtung blies und stark genug war, sich nicht im unteren Teile des Thales zu verfangen.

Nun gab sich jetzt seit Eintritt der abendlichen Dunkelheit eine Luftbewegung kund, welche aus der erwähnten Richtung kam. Sie stieg natürlich an den Felswänden empor und nur ein verschwindend kleiner Teil konnte durch die enge Spalte Abzug finden, welche die Neuangekommenen heute bemerkt hatten und die in der That gegen die Llano hin den Ausgang aus dem Thale bildete. Diese Luftströmung kam nicht stoßweise, sondern sie war gleichmäßig; sie wurde deutlich empfunden und wirkte doch nicht bewegend auf die Flamme des Feuers ein. Sie veranlaßte keinen hörbaren Ton, am allerwenigsten das Pfeifen und Heulen des Sturmes, und dennoch wurde sie vom Ohre vernommen. Dabei atmeten die Lungen ganz anders als vorher, ob schwerer oder leichter, das war eigentümlicherweise nicht zu sagen.

Die Kaktusfeigen waren alle geworden und Martin Baumann ging, um neue zu holen. Kaum hatte er die Sträucher hinter sich, so hörten die anderen seine Stimme:

»Was ist das? Kommt einmal her, Mesch-schurs! So etwas habe ich noch nie gesehen!«

Sie folgten seiner Aufforderung. Als sie zwischen dem Wasser und dem Gebüsch hindurch waren, bot sich ihnen ein höchst überraschender Anblick dar. Der ganze Thalkessel lag in tiefem Dunkel, denn der Schein des Feuers, weiches nur klein war, drang nicht durch die Büsche; aber dort, wo die Kaktus standen, sah man zahlreiche Flammenbüschel, welche in eigentümlich bleichem, farblosem Lichte erglänzten. Jeder dieser Pflanzenkandelaber trug mehrere solcher Büschel; jeder Leuchterarm schien ein solches Flämmchen auf seiner Spitze zu haben. Es war eine wunderbare, fast geisterhafte Erscheinung.

»Was mag das sein?« fragte Porter.

»Ich habe es nie gesehen!« antwortete Falser. »Man möchte sich beinahe fürchten.«

Da ließ sich hinter ihnen eine tiefe, klare Stimme hören, hinter ihnen, innerhalb der Sträucher, also am Feuer, wo sie soeben gewesen waren und wo außer ihnen sich doch kein Mensch befinden konnte:

»Das ist Ko-hárstesele-yato, die Flämmchen des großen Geistes, welche er anbrennt, wenn er seine Kinder warnen will.«

»Cáspita! Wer ist da hinter uns?« rief Emilio Cortejo erschrocken. »Befinden wir uns etwa in einem Hinterhalte?«

»Nein,« antwortete der Bärenjäger. »Es ist mein Gefährte, den wir erwarteten. Er ist, wie das so in seiner Weise liegt, angekommen, ohne daß er es uns merken ließ.«

Sie wendeten sich zurück. Und richtig, da hielt gerade neben dem Feuer ein Reiter. Wie hatte er, noch dazu zu Pferde, in das Innere des Gebüschkreises kommen können, ohne gehört zu werden? Er saß auf einem prachtvollen Rappen, welcher auf indianische Weise aufgeschirrt und gesattelt war. Indianisch war auch der Anzug des Mannes, indianisch sein Gesicht, welches keine Spur von Bart zeigte. Dafür aber hing ihm eine Fülle langen, schwarzen Haares weit über den Rücken herab; in der Hand hielt er eine zweiläufige Büchse, deren Holzteile mit silbernen Nägeln beschlagen waren.

Die Yankees und Mexikaner ließen Ausrufe des Erstaunens, der Bewunderung hören.

»Wer ist das?« fragte Porter. »Ein Indianer! Sind noch andere hier?«

»Nein, er ist allein,« antwortete Baumann. »Es ist Winnetou, der Häuptling der Apachen.«

»Winnetou, Winnetou!« ertönte es aus aller Munde.

Er stieg vom Pferde ohne auf die bewundernd auf ihn gerichteten Blicke zu achten, trat aus dem Gebüsche hinaus, deutete auf die Flämmchen und sagte:

»Weil die Bleichgesichter sich in diesem abgeschlossenen Thale befanden, haben sie nicht bemerkt, was außerhalb desselben vorgegangen ist. Damit sie es erfahren, sendet der große Manitou ihnen dieses feurige Totem. Winnetou weiß nicht, ob sie es lesen können.«

»Was ist denn geschehen?« fragte Blount.

»Der 'ntch-kha-n'gul*) ist über die Llano gegangen. Winnetou sah den schwarzen Leib desselben im Norden. Wehe denen, welche ihm begegnet sind; der Tod hat sie gefressen!«

»Ein Tornado, ein Hurricane?« fragte der Bärenjäger. »Hat mein roter Bruder den Lauf desselben genau beachtet?«

»Winnetou berechnet den Lauf des kleinen Käfers, den er erblickt. Wie sollte er vergessen, sich um die Richtung des großen Sturmes zu bekümmern!«

»Welche Richtung war es?«

»Gerade im Osten von hier erhob sich die Llano in die Luft, so daß es dort finster wurde wie mitten in der Nacht. Die Sonne umarmte die Finsternis mit Strahlen roten Blutes. Die Nacht rückte schnell nach Nordosten vor, wo Winnetou sie dann verschwinden sah.«

»So ging der Tornado gerade von Süd nach Nord?«

»Mein Bruder sagt es.«

»God bless my soul! Er wird doch nicht unsere Freunde getroffen haben!«

»Winnetous Ahnungen sind schwarz wie das Angesicht des Sturmes. Unsere Freunde sind klug und erfahren, und Old Shatterhand kennt die Bedeutung jedes Lufthauches; aber der 'ntch-kha-n'gul kommt plötzlich und sendet keinen Boten voraus, welcher ihn verkündet. Kein Pferd ist schnell genug, ihm zu entgehen. Old Shatterhand muß ungefähr heute die Llano erreicht haben, und die Hufe seines Rosses haben den Sand derselben gerade in der Gegend berührt, nach welcher der Geier des Windes flog. Vielleicht liegt er mit seinen Genossen unter den Wogen des Sandes begraben.«

»Das wäre schrecklich! Wir müssen fort. Wir müssen hin, und zwar augenblicklich! Steigen wir schnell zu Pferde!«

Winnetou machte eine abwehrende Handbewegung.

»Mein Bruder mag sich nicht übereilen,« sagte er. »Hat Old Shatterhand sich mitten im Pfade des Sturmes befunden, so ist er tot, und unsere Hilfe kommt zu spät. Befand er sich aber zur Seite dieses Pfades, so blieb er unverletzt, und es droht ihm nur die Gefahr des Verirrens, da der Sturm das Angesicht der Llano so verändert, daß ihr Antlitz; ein ganz anderes wird. Wir müssen ihm entgegen, aber nicht jetzt bei Nacht, denn auch uns blickt die Llano mit anderen Augen an, und nur das Tageslicht darf unser Führer sein. Wer einen Verirrten finden will, muß darauf achten, sich nicht

*) Verheerende Sturm, Tornado.


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selbst zu verirren. Darum mögen meine Brüder sich wieder an das Feuer setzen. Das erste Licht des Morgens wird unseren Aufbruch sehen.«

Er streckte sich am Feuer nieder, und die anderen thaten ebenso. Sie ließen dabei unwillkürlich einen Abstand zwischen sich und ihm, eine Folge der Ehrerbietung für den berühmten Häuptling. Diese letztere war auch der Grund, daß sie sich eine Zeitlang schweigend verhielten. Endlich aber siegte bei Ben New-Moon das Verlangen, etwas über die erwarteten Gefährten des Apachen zu vernehmen. Er wendete sich an Baumann:

»Wie ich höre, ist es gar Old Shatterhand, mit dem Ihr zusammentreffen wollt, Sir?«

»Ja, er ist es, aber nicht allein. Es wollten noch andere mit ihm kommen.«

»Wer sind diese Leute?«

»Der dicke Jemmy und der lange Davy, deren Namen Ihr vielleicht bereits gehört habt.«

»Natürlich kenne ich die beiden famosen Westmänner, wenn auch nur aus den Erzählungen und Berichten anderer. Sind sie es allein, welche Old Shatterhand begleiten?«

»Nein. Es befinden sich noch zwei bei ihnen, welche Ihr vielleicht auch kennt, da Ihr von Old Shatterhands Zug nach dem Nationalpark gehört habt, nämlich Hobble-Frank und der Neger Bob. Frank wollte nicht mit uns, sondern mit Old Shatterhand reiten, um von ihm zu lernen, und Bob schloß sich ihm an. Das ist der Grund, weshalb sich beide nicht bei mir befinden. Es steht zu erwarten, daß auch noch andere die Gelegenheit benutzt haben, unter Führung des berühmten Jägers durch die Llano zu reiten. Vielleicht hat er eine ansehnliche Gesellschaft beisammen, und das beruhigt mich. Je größer der Trupp ist, desto eher und leichter kann einer dem anderen in der Gefahr, welche so ein Tornado mit sich bringt, Hilfe leisten.«

»Schade, jammerschade, daß wir sechs schon morgen früh unseren Weg fortsetzen! Ich hätte diese Eure Freunde so gern gesehen und kennen gelernt!«

»Das ist nicht gut möglich, da Ihr hinüber nach Austin wollt. Uebrigens brechen ja auch wir mit dem frühesten Morgen auf. Aber sagt mir doch einmal, Sir, wie Ihr zu Eurem schwarzen Gesicht und infolgedessen zu Eurem Namen gekommen seid!«

»Beides habe ich einem der größten Schurken zu verdanken, den es im fernen Westen gegeben hat und vielleicht noch gibt, nämlich dem Stealing-Fox.«

»Diesem? Ah! Habe lange Zeit nichts von dem Kerl gehört. Möchte ihm einmal begegnen!«

»Habt auch Ihr schon mit ihm zu schaffen gehabt?«

»Er mit mir. Er stahl meine Kasse und hat mich um alle meine damaligen Ersparnisse gebracht. Damals nannte er sich Weller; aber ich konnte aus Verschiedenem, was ich später hörte, schließen, daß es der berüchtigte Stealing-Fox gewesen sei. Ich konnte nie auf seine Fährte kommen, habe aber erst kürzlich drüben im Neu-Mexikanischen gehört, daß er noch leben soll. Er hat sich Tobias Preisegott Burton genannt und unter der Maske eines frommen Missionars der Mormonen eine Reisegesellschaft in die Llano locken wollen. Einer dieser Leute hat ihn aber erkannt und zur Rede gestellt, worauf er schleunigst verschwunden ist.«

»'s death! Wäre ich dabei gewesen! Er wäre mir nicht verschwunden; ich hätte ihm ein regelrechtes Eisenbahntunnel durch den Kopf geschossen! Fast hätte ich Lust, mich länger hier zu verweilen, da er sich in dieser Gegend befinden soll. Möchte gar zu gern Abrechnung mit ihm halten!«

»War es denn auf Euer Leben abgesehen?«

»Auf mein Leben und mein Eigentum. Das war nämlich droben am Timpa-Fork in Colorado. Ich kam aus Arizona herüber, wo ich als Goldgräber an den Limestone-Springs ein ziemlich gutes Geschäft gemacht hatte, und trug ein hübsches Päckchen Banknoten bei mir, in welche ich den Goldstaub und die Nuggets umgewechselt hatte. Unterwegs stieß ein Fallensteller zu mir, welcher gerade so wie ich nach Fort Abrey wollte, welches am Arkansas liegt. Das Aussehen und Auftreten dieses Mannes war sehr vertrauenerweckend, und da man niemals gern so ganz allein durch den wilden Westen reitet, so war mir seine Gesellschaft sehr willkommen.«

»Ihr sagtet es ihm wohl, daß Ihr Geld bei Euch hättet?«

»Fiel mir gar nicht ein; aber er mochte es erraten haben, denn ich ertappte ihn einmal des Nachts dabei, daß er leise meine Taschen untersuchte, wobei ich glücklicherweise erwachte. Er machte die Ausrede, ich hätte im Schlafe so gestöhnt, daß er auf den Gedanken gekommen sei, mir den Rock aufzuknöpfen, damit ich leichter atmen könne. Natürlich glaubte ich ihm nicht und war von nun an außerordentlich auf meiner Hut. Was das heißt, könnt Ihr Euch denken!«

»Gewiß! Man befindet sich mit einem Spitzbuben ganz allein in der Wildnis. Man will und muß doch schlafen, und soll doch alle Aufmerksamkeit darauf richten, nicht zu Schaden zu kommen. Das ist eine schwierige Aufgabe. Ein Messerstich, eine Kugel - - und Leben und Eigentum sind weg!«

»Was das betrifft, so konnte ich ruhig sein. Ich hatte den Kerl bald durchschaut. Er war im Grunde genommen ein Feigling. Stehlen und betrügen, ja; aber Blut zu vergießen, da fehlte ihm der Mut. Am Timpa-Fork machten wir Kamp. Es war ein heißer Tag, aber der Wind wehte stark und machte die Hitze erträglich. Ich rauche leidenschaftlich und hatte mir die Pfeife neu gestopft, wißt Ihr, eine kurze Pfeife mit einem sehr großen Veinedkopf, welcher einen Viertelbeutel Tabak faßte. Ich hatte einen so großen Kopf gewählt, um nicht immer stopfen zu müssen. Als ich anbrennen wollte, sagte der Mann, er habe die Stimme eines Turkey im Gebüsche gehört. Ich legte sofort die Pfeife weg, griff zum Gewehr und machte mich davon, um den Vogel vielleicht vor den Schuß zu bringen. Aber ich fand keine Spur von ihm, traf aber dafür ein Opossum, welches ich schoß. Als ich mit demselben zurückkam, war wohl eine halbe Stunde ver-


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gangen. Der Kerl machte sich gleich daran, das Tier aufzubrechen und abzuhäuten; ich aber griff nach meiner Pfeife, um den Tabak in Brand zu stecken. Das wollte mir wegen des Windes nicht gelingen. Ich legte mich also lang nieder, mit dem Gesichte gegen die Erde, zog den Hut gegen die Windseite vor und schlug Feuer auf den Schwamm. Diesmal gelang es. Ich drückte den Schwamm auf den Tabak, that einige Züge und - - ein Zischen, ein Knall, Feuer schlug mir ins Gesicht und um den Kopf. Zu gleicher Zeit packte mich der Kerl von hinten im Genick, drückte mir den Kopf nieder und fuhr mir mit der anderen Hand unter die Brust und in die Tasche. Ich war so erschrocken, daß es ihm gelang, mir das Pocketbook zu entreißen. Aber ich erwischte seinen Arm und hielt denselben fest. Ich war stärker als er, aber für den Augenblick geblendet. Er hielt das Buch fest; ich erfaßte es auch; er zog hin und ich her; es zerriß, denn es war aufgegangen; wir kamen auseinander; er hatte die eine Hälfte und ich die andere. Da sprang ich auf und zog das Messer. Glücklicherweise hatte ich die Augen, als der Feuerstrahl mir ins Gesicht zuckte, für einen Moment geschlossen gehabt, sonst wäre ich sofort erblindet. Die Lider waren aber doch verletzt. Ich konnte sie nur ganz wenig öffnen; das genügte aber, den Kerl zu sehen. Ich drang mit dem Messer auf ihn ein. Das gab ihm den Mut, sein Gewehr vom Boden aufzuraffen und auf mich anzulegen.


Ende des siebenundzwanzigsten Teils - Fortsetzung folgt.



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