Lieferung 11

Karl May

25. Oktober 1884

Der verlorne Sohn
oder
Der Fürst des Elends.

Roman aus der Criminal-Geschichte.


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Er wagte es nicht, sich gegen diese Umarmung zu sträuben.

»Aber dichten dürfen Sie nicht, wenigstens nicht auf dem Papier. Sie selbst sind ein Gedicht, ein farbenprächtiges Tropenbild. Die Wogen Ihres Haares sind Reime, wie sie kein Freiligrath und kein Rittershaus volltönender komponiren könnte. Ihre herrlichen Schultern, Ihre entzückenden Arme, Ihr glühender Busen, das sind Strophen, denen kein Leser widerstehen kann. Ihre Augen sind Oden, begeisterte Oden, welche die Liebe auf sich selbst geschaffen hat. Dichten Sie, ja, dichten Sie. Aber dichten Sie nur durch den Klang Ihrer Stimme, durch die Macht Ihres Blickes, durch die anmuthsvollen Bewegungen Ihrer Hände, durch das verlockende Lächeln Ihres Mundes!«

Ihr Gesicht war jetzt plötzlich ein ganz anderes geworden. Es erstrahlte in Glück und Freude.

»Sagen Sie die Wahrheit?« fragte sie, indem ihr Athem ihm heiß und würzig entgegenströmte. »Ist das wirklich Ihre Meinung? Bin ich in Wahrheit ein solches Gedicht?«

»In Wahrheit!« antwortete er.

»O, dann bin ich glücklich! Bin ich ein Gedicht, so muß mich der Dichter lieben! Er muß mein werden, und ich bin sein!«

Sie umschlang ihn so eng, daß er sich kaum zu bewegen vermochte. Er fühlte die Formen ihres Körpers durch die durchsichtigen Hüllen hindurch. Ihre Küsse brannten auf seinen Lippen. Er konnte nicht widerstehen. Das glühende Mädchen war für diesen Augenblick seine Herrin geworden.

Er mußte neben ihr sitzen; er mußte ihren Wein, ihre Blicke, ihre Küsse, ihre Worte trinken. Er wurde von ihnen berauscht; es kam eine Art von Taumel über ihn, so daß es ihm war, als ob er sich im Traume befinde. Er erschrak förmlich, als die alte Dienerin eintrat und meldete, daß zwölf Uhr nahe sei.

»Dann muß ich fort,« sagte er, sich von seinem Sitze erhebend.

»Aber Sie kommen wieder?« fragte sie in dringendem Tone. »Wann? Bald?«

»Ja, bald.«

»Uebermorgen? Oder noch lieber, morgen schon?«

»Vielleicht! Gute Nacht!«

»Gute Nacht, Robert!«

Sie umarmte ihn nochmals, legte ihre vollen Lippen auf seinen Mund und schob ihn dann zur Thüre hinaus.

Die Eltern waren zur Ruhe gegangen; die Dienerin mußte ihm den Ausgang öffnen. Als er auf die Straße trat, fühlte er die Kälte der rauhen Winternacht. Er war in einem Augenblicke ernüchtert. Er blieb stehen, warf einen Blick auf das alte, häßliche Gebäude und auf das erleuchtete Fenster von Judith's Zimmer.

»Hm! Ob ich wiederkomme?« murmelte er. »Ich weiß es nicht.«

Er ging. Daheim angekommen, fand er die Thüre verschlossen. Er hatte zum Glück den Hausschlüssel mitgenommen. Als er an der Thüre vorüber wollte, hinter welcher Felsens wohnten, wurde dieselbe geöffnet. Marie, seine Schwester, war es.


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»Du noch hier?« fragte er verwundert.

»Ja. Denke Dir, der Wilhelm ist noch immer nicht da!«

»Er arbeitet noch.«

»Er würde uns das wissen lassen. Es muß ihm Etwas begegnet sein!«

»Man darf nicht gleich Arges denken! Warten wir noch ein Stündchen! Ist er dann noch nicht da, so gehe ich in sein Atelier und werde da erfahren, was ihn so lange zurückhält.«

Er stieg nach oben. Die kleinen Geschwister schliefen bereits. Der Vater saß im Lehnstuhle und hustete. Er hatte es vorgezogen, in der warmen Stube zu bleiben, anstatt sich in die kalte Kammer zu legen. Dorthin begab sich Robert; aber er konnte nicht schlafen; er war noch zu sehr in Anspruch genommen von dem Erlebnisse der letzten Stunden. Er ging leise auf und ab, in allerlei fremdartige Gedanken versunken.

Dann trat er zum Fenster. Es war mit dichten Eisblumen besetzt, doch eine Stelle gab es, welche völlig frei vom Eise war. Er blickte hindurch und gewahrte das erleuchtete Fenster da drüben, wo im Palaste des Obersten das Nachtlicht brannte.

»Welch ein Unterschied!« flüsterte er. »Beide prächtig und strahlend, wie die Nacht der Tropen; aber die Jüdin leuchtend wie vulkanische Gluth, welche Schlacken und Asche mit sich führt, und die Tochter der Aristokratie glühend in dem reinen, keuschen Glanze des Sternes, der sein Licht einer unbekannten himmlischen Quelle entnimmt. Sie schläft! Oder sollte sie auch noch wach und munter sein?«

Er nahm sein Fernrohr, zog es aus und öffnete das Fenster. Kaum hatte er die Gläser in die richtige Lage gebracht, so stieß er einen Laut der Ueberraschung aus.

»Was ist das? Ihr Fenster ist offen! Gott, dort steht eine männliche Gestalt! Was hat das zu bedeuten?«

Er blickte schärfer durch das Rohr und ließ es vor Schreck fallen.

»Eine Leiter! Man bricht ein! Ich muß hinüber!«

Er handelte in diesem Augenblicke vollständig instinctiv. Er eilte hinaus in die Wohnstube, sagte kein Wort, um den Vater nicht zu ängstigen, riß das Messer, welches auf dem Tische lag, an sich und schoß die Treppen hinab und zur Hinterthür hinaus. Hier erblickte er die angelegte Leiter.

»Die Diebe sind hier hinüber! Schnell nach!«

Im nächsten Augenblicke war er auf der Mauer und auf der anderen Seite wieder hinab. Er sah nur das offene Fenster; er bemerkte nicht, daß man hinter der Thüre lauschte. Der Wein, den er heute genossen hatte, wirkte noch in seinem, eines solchen Trankes ungewohnten Körper. Er nahm das Messer zwischen die Zähne und kletterte an der Leiter empor.

Oben angekommen, sah er die heimlich und fast unbewußt Angebetete gefesselt im Bette liegen; an dem Tischchen stand ein fremder, baumstarker, riesenhafter Kerl. Robert erwog in diesem Augenblicke nicht, daß er einem solchen Menschen unmöglich gewachsen sein könne. Er sprang hinein, packte ihn und rief:


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»Zurück, Bösewicht!«

Er hatte seine Hand erfassen und vom Tischchen zurückziehen wollen, anstatt derselben aber eine Halskette ergriffen. In diesem Augenblicke aber ging die Thür auf, und eine Menge von Polizisten quoll förmlich herein. Der Riese erblickte sie und stieß einen Schrei der Wuth aus. Er sah sich verloren, wenn es ihm nicht gelang, sich durchzuschlagen. Daher zog er den Revolver.

Die Beamten waren ebenso schnell wie er. Zwei warfen sich mit möglichster Eile auf Robert. Dieser stand da, in der Linken die goldene Kette und in der Rechten das Messer. Es hatte ganz den Anschein, als ob er seinen Raub vertheidigen wolle. Der eine Polizist riß den Todtschläger hervor und versetzte ihm einen Hieb, daß er sofort lautlos zusammenbrach.

Nicht so schnell wurde man mit dem Riesen fertig. Er hatte eine wahre Simsonsstärke.

»Kommt her, Ihr Hunde!« brüllte er. »Ihr sollt daran glauben, Alle, Alle mit einander!«

Er kam nicht davon.

Er trat und schlug um sich, in der Absicht, sich Luft zu schaffen. Aber Vier von ihnen hatten sich an seine Arme gehängt, damit er nicht genau zu zielen vermöge. Zwei Schüsse krachten, trafen aber Keinen. Bormann schäumte vor Wuth. Er kam trotz seiner herkulischen Stärke nicht von der Stelle. Die Zwei, welche soeben mit Robert fertig geworden waren, traten hinzu, und nun war es um ihn geschehen. Er wurde niedergerissen und an Händen und Füßen gefesselt.

»Gott sei Dank! Das war eine Arbeit!« sagte der Anführer. »Nun aber zum gnädigen Fräulein!«

Es wurden ihr die Fesseln und auch der Knebel abgenommen. Unterdessen waren die Bewohner des Hauses wach geworden. Sie kamen voller Angst herbei, durften aber nicht eintreten, die Eltern Fanny's ausgenommen, denen der Zutritt nicht verweigert werden konnte.

Die junge Dame hatte ihre Besinnung keinen Augenblick verloren. Sie erzählte in ruhiger Weise, was geschehen war.

»Es ist Einer später gekommen als der Andere?« fragte der Beamte.

»Das weiß ich nicht,« antwortete sie. »Ich habe geschlafen. Als ich erwachte, war ich bereits halb gefesselt. Und dann lag ich so, daß ich die vordere Seite des Zimmers nicht überblicken konnte.«

»Kennen Sie diesen jungen Menschen?«

»Nein.«

»Ist er Einem oder dem Anderen bekannt?«

Auch das war nicht der Fall.

Der Riese wußte am Besten, woran er war. Er sah sich verloren. Zwanzig Jahre Zuchthaus waren ihm jetzt gewiß. Von einer weichen Stimmung seines Gemüthes war jetzt keine Rede mehr, vielmehr kochte es in ihm vor Grimm und Wuth über das Fehlschlagen seines Befreiungsplanes. Konnte er noch auf den 'Hauptmann' rechnen? Besonders zornig war er auf diesen


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jungen Menschen, der es gewagt hatte, ihn zu stören. Er gedachte, sich an ihm zu rächen. Jetzt wurde er gefragt:

»Sie haben Ihr Gesicht entstellt. Aber Sie geben doch zu, Bormann zu sein, den man den Riesen nennt?«

»Der bin ich,« antwortete er stolz. »Diesen Ehrennamen werde ich niemals verleugnen.«

»Aber Sie waren doch gefangen!«

»Ja, freilich.«

»Wie sind Sie herausgekommen?«

War er unglücklich, brauchten Andere nicht glücklicher zu sein! So dachte er, und darum gab er zur Antwort:

»Der Schließer hat mich herausgelassen.«

»Welcher Schließer?«

»Arnold heißt er.«

»Das ist doch unmöglich!«

»Fragen Sie ihn selbst.«

»Er mußte ja wissen, daß er bestraft wird und außerdem seiner Anstellung verlustig geht!«

»Ich machte ihm weiß, daß ich wiederkommen und mit ihm theilen würde!«

»Das ist sehr unwahrscheinlich, wird aber genau untersucht werden. Wer ist dieser Mensch hier?«

Dabei deutete der Beamte auf Robert.

»Fragen Sie ihn selber!«

»Er war Ihr Helfershelfer? Er hat sich am Einbruche betheiligt?«

»Ja.«

»Wie kommen Sie zu ihm?«

»Das ist meine Sache!«

»Woher haben Sie die Leiter, den Revolver und die anderen Sachen?«

»Die hat mir eben Der hier besorgt.«

»So scheint er trotz seiner Jugend ein ganz und gar durchtriebener Kerl zu sein!«

»Er ist gescheidter und gefährlicher als Ihr Alle!«

»Hm! Sie wollen also nicht sagen, wer er ist?«

»Er mag es selber sagen!«

»Ganz wie Sie wollen! Durch ein verstocktes Verhalten verbessern Sie Ihre Lage keineswegs!«

»Und Sie werden sie mir bei all Ihrer Klugheit auch nicht verschlimmern. Darauf können Sie sich verlassen.«

Diese vorläufigen Erörterungen waren also zu Ende. Jetzt wurde der Thatbestand aufgenommen, und dann confiscirte man die Leiter nebst den anderen Gegenständen. Die Familie des Obersten war ganz außer sich vor Freude, daß Alles so gut abgelaufen war, und zeigte sich den Polizisten gegenüber von aufrichtigster Dankbarkeit. Endlich wurden die beiden Gefangenen in festen Gewahrsam gebracht. Man trug sie die Treppe hinab und brachte sie sodann mittels Schlitten nach dem Gefängnisse.


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Der Schlag, welchen Robert erhalten hatte, war ein außerordentlich kräftiger gewesen. Der herbeigeholte Gerichtsarzt erklärte, daß er zwar nicht tödtlich sei, sich vielleicht nicht einmal als sehr nachtheilig erweisen werde, daß aber trotzdem der Kranke wohl einen ganzen Tag liegen könne, ohne aufzuwachen.

Dies war der Grund, daß man nicht eher erfuhr, wer er sei, als bis Pastor Matthesius kam, der ihn kannte. Matthesius war Gefängnißgeistlicher und pflegte darum täglich die Arrestlocale einmal zu durchwandern. Er traf Seidelmann und erzählte es ihm.

Man kann sich denken, welche Sorge in dem Hause Nummer Zehn der Wasserstraße herrschte. Wilhelm Fels fehlte seit gestern Mittag, und seit Mitternacht war Robert verschwunden. Bertram hustete ohne Unterlaß, die Kleinen jammerten, Marie weinte. Die Letztere begab sich mit Tagesanbruch nach dem Atelier, in welchem Fels gearbeitet hatte. Sie mußte unverrichteter Dinge zurückkehren, denn man hatte noch nicht geöffnet.

Sie war kaum eine Viertelstunde zu Hause, so wurde geklopft, und der Vorsteher trat ein. Er stellte sich, ohne einen Gruß auszusprechen, an der Thür auf, erhob den Arm und sagte:

»Wehe Dir, Chorazim, wehe Dir, Bethsaida, wehe Dir, Jerusalem! Ich habe Eure Kinder unter mir versammeln wollen, wie eine Henne versammelt ihre Küchlein unter ihre Flügel, Ihr aber habt es nicht gewollt!«

Der Vater und Marie ahnten sogleich, daß sein Erscheinen mit den Verschwundenen in Verbindung stehe. Darum fragte der Erstere, indem er vor Husten kaum reden konnte:

»Warum rufen Sie Wehe? Was ist geschehen?«

»Das will ich Euch sagen, alter, unverbesserlicher Sünder! Eure Wohnung ist nichts gewesen, als eine Diebes- und Räuberhöhle!«

»Herr Seidelmann,« hustete der Auszehrende. »Das ist nicht wahr! Wir sind ehrliche Leute, was kann man uns nach sagen?«

»Hat Euer Sohn Euch nicht gestern Abend eine Miethzinsquittung gebracht, Bertram?«

»Ja. Er hat Ihnen doch den Zins bezahlt?«

»Ja, das hat er. Aber wißt Ihr, wer ihm das Geld gegeben hat?«

»Ja.«

»Ah! Wer denn?«

»Ein Jude hier in der Straße.«

»Lüge, teuflische Lüge! Höllischer Trug! Ein Jude giebt niemals Geld. Die Anhänger der Lehre Mosis haben kein christliches Gemüth. Nein, kein Mensch hat ihm das Geld gegeben, sondern er hat es sich genommen.«

»Genommen? Was soll das heißen?« keuchte der Alte, der jetzt vor Schreck zu zittern begann. »Er hat gesagt, daß er es erhalten hat, und was er sagt, das ist wahr. Robert hat mir niemals eine Lüge gesagt!«

»Euch nicht, weil Ihr sein Verbündeter, sein Lehrmeister im Verbrechen seid. Mich aber täuscht Ihr nicht. Er hat das Geld genommen.«


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»Gott der Herr! Soll das etwa heißen, daß er es gestohlen hat?«

»Ja!«

Da fuhr der Alte von seinem Stuhle auf und rief:

»Herr Vorsteher, ich bitte Sie, um Gottes willen, seien Sie doch nicht mein Mörder! Das wäre mein Tod!«

»Ich muß die Wahrheit sagen, denn die Bibel sagt: Die Lüge ist ein häßlicher Schandfleck an dem Menschen und ist gemein bei ungezogenen Leuten. Ihr Sohn hat das Geld, wovon er die Miethe bezahlte, gestohlen. Und dann, nach Mitternacht, hat er sogar eingebrochen.«

Marie stieß einen herzzerreißenden Schrei aus. Die Kleinen wimmerten. Der Alte warf die beiden Hände in die Luft und griff umher, als ob er nach einem Halt suche.

»Ein - ge - bro - chen!« stöhnte er. »Das - das ist eine - eine - Lüge! Das - das thut mein - mein Robert - nicht!«

Die Worte hatten einen Klang, als wären sie mit Hilfe eines Quirls aus dem Munde geholt worden.

»Es ist keine Lüge!« fuhr der Vorsteher fort. »Haben Sie nicht nach Mitternacht da drüben zwei Schüsse gehört?«

»Ja - aaa!«

»Nun, Euer Sohn hat mit dem Riesen Bormann dort eingebrochen, um aus der Schublade des gnädigen Fräuleins die Juwelen zu stehlen. Man hat sie erwischt und festgenommen und nun stecken sie im Gefängniß, wo die Strafe ihrer wartet.«

Die Augen des alten, braven Mannes wurden stier; aus seinen Lippen wich alle Röthe, und sein eingefallenes Gesicht war aschfahl geworden. Seine Brust arbeitete wie ein Vulkan, bei welchem eine Eruption bevorsteht.

»Riese - Bormann - ein - ge - brochen! Gefäng - niß! Gott - mein Gott! - ich - ich ersticke! Es - es - kann nicht sein! Es - ist - ein Lüge!«

»Lästere nicht, Alter!« rief der Fromme. »Ich komme aus dem Gefängnisse. Ich habe ihn gesehen. Er liegt noch wie todt da von dem Schlag, den er mit dem Todtschläger erhalten hat, als er den Polizisten mit einem Messer erstechen wollte.«

»Todt -! Mess - sser! Er - er - er - stech -«

Mehr brachte er nicht heraus, wenigstens keine Worte mehr. Es begann ganz eigenthümlich in seiner Kehle zu gurgeln; es gab ihm einige Stöße; dann war es, als ob Jemand ihn packe und mit aller Macht zur Erde schmettere. Er stürzte mit fürchterlicher Wucht nieder, und ein dicker, beinahe armesstarker Blutstrom quoll aus seinem Munde. Der Schreck hatte seine Adern zerschnitten und seine Lunge zerrissen: ein Blutsturz machte ihn zur Leiche. -

Marie stieß abermals einen Schrei aus. Er klang, als wenn er gar nicht aus einer menschlichen Kehle komme. Sie warf sich auf den Vater, mitten in die rauchende Blutlache hinein. Die Kleinen kamen auch herbei, voller Angst und Entsetzen über den grausigen Anblick.


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»Gott! Gott! Erbarme Dich!« rief Marie. »Der Vater stirbt. Unser guter Vater stirbt! Helft, helft! Wir müssen ihn aufrichten!«

Die schwachen Geschwister konnten nicht helfen. Sie schleppte den Todten zur Wand, um ihn an derselben aufzurichten. Der Vorsteher stand dabei, ohne ihr zu helfen.

Da wurde die Thür geöffnet. Die Blinde erschien. Sie hatte den Lärm über sich gehört und dann einen schweren Fall. Nachher war ihr Wasser von oben durch die halbfaule Decke in das Gesicht getropft; sie dachte, Wasser, es war aber Blut. Sie hatte es mit den Händen breitgewischt und sah nun schrecklich aus. Sie hatte sehen wollen, was hier oben vorgehe und sich heraufgetappt.

»Was ist's denn? Was jammerst Du, Marie?«

»Der Vater stirbt! Der Vater stirbt!« jammerte die Gefragte. »Gott, mein Gott! Kann mir denn niemand helfen?«

»Er stirbt? O, Du mein Heiland! Und ich kann nicht sehen!« klagte die Blinde. »Ist denn weiter niemand da?«

»Ja, es ist Jemand hier,« ertönte die Stimme des frommen Mannes. »Gott läßt selbst den Unbußfertigen nicht allein in seiner letzten Stunde.«

»Sie, Herr Seidelmann? So haben Sie ihn gewiß wieder einmal bis auf's Blut geärgert. Kein Mensch kann das so gut wie Sie!«

»Weib, zügle Deine Zunge! Hier hat Gott gerichtet. Der Sohn dieses Mannes sitzt als Einbrecher im Gefängnisse. Der Vater trägt die Schuld an den Thaten dieses ungerathenen Buben; darum wurde er von Gott mit dem Tode bestraft. Und doch ist die ewige Gerechtigkeit nicht ganz ohne Barmherzigkeit. Die Gnade des ewig Langmüthigen hat den Alten abgerufen, damit er die Verurtheilung seines Sohnes nicht erleben möge.«

Die Blinde hatte sich ihm genähert. Es war, als ob ihr die Augen aus dem Kopfe treten wollten, so waren dieselben dahin gerichtet, wo der Vorsteher stand.

»Wie?« fragte sie mit bebender Stimme. »Robert soll ein Einbrecher sein? Er soll im Gefängnisse sitzen?«

»Ja. Ich war bei ihm.«

»Sie haben ihn im Gefängnisse gesehen?«

»Mit diesen meinen Augen!«

»Und Sie sind dann hierher geeilt, um seinem Vater die Kunde zu überbringen?«

»Wie lieblich sind die Füße der Boten, welche Frieden predigen und das Heil verkündigen!«

»Den Frieden und das Heil?« fragte sie mit erhobener Stimme. »Herr Seidelmann, wenn Sie wirklich die Wahrheit reden, wenn Robert wirklich im Gefängnisse steckt, so ist er sicher unschuldig! Sie selbst aber gehören hinein. Sie sind der Mörder, der vorsätzliche Mörder dieses braven Mannes, dessen Familie nur den einen Fehler begangen hat, ein Logis zu bewohnen, dessen Administrator Sie sind. Die weltliche Obrigkeit kann Ihnen wohl nichts anhaben, aber Gott wird Sie richten!«


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Da rief er ihr zornig entgegen:

»Was höre ich? Ist denn der Antichrist in Gestalt einer blinden Frau auf die Erde gekommen? Diese Menschen sind allzumal Sünder, Einer wie der Andere. Und in diesem Hause ist das Verderben größer als zur Zeit Noah, da die Sündfluth hereinbrach. Weiß denn die Frau Fels bereits, warum ihr Sohn seit gestern nicht nach Hause gekommen ist?«

»Jedenfalls, weil er zu arbeiten hat!«

»Jetzt nicht. Aber später wird er zu arbeiten haben. Wolle zu zupfen und Flachs zu spinnen im Zuchthause!«

»Im Zuchthause?« rief sie. »Was soll das bedeuten?«

»Nun, ist gestern nicht sein Principal hier gewesen, um die Maschine des Engländers zu sehen? Ist diese Maschine nicht von der Polizei abgeholt worden? Wilhelm Fels hat Arbeitsmaterial unterschlagen und ist gestern Mittag arretirt worden.«

»Arretirt!« kreischte die Blinde auf.

»Arretirt!« schrie auch Marie, indem sie sich entsetzt von der Leiche wegwendete und zur Mutter des Geliebten herüberwankte. »Frau Fels, glauben Sie das nicht, glauben Sie das nicht!« jammerte sie.

»Glaubt es oder glaubt es nicht!« sagte der Vorsteher. »Ich habe vorhin mit ihm gesprochen, er aber in seiner Verstocktheit hat den Boten der Gnade und des Friedens von sich gewiesen. Er wird dahin kommen, wo Heulen und Zähneklappern ist.«

»Marie - Marie - mir wird - mir wird so schlimm - so sehr schlimm - so sehr schlimm,« klagte die Blinde.

Das arme Mädchen wollte die alte Frau stützen und aufrecht halten; aber es gelang ihr nicht. Schwer wie Eisen glitt die Blinde zu Boden nieder, mitten in das Blut hinein.

»Der Herr ist ein gerechter und eifriger Gott, der da heimsuchet die Sünden der Väter an den Kindern bis in's dritte und vierte Glied! Denen aber, welche seine Wege wandeln, läßt er seine Gnade leuchten bis in alle Ewigkeit.«

Mit diesen Worten entfernte sich der fromme Bote des Friedens. Er, dessen Beruf es war, Segen zu spenden, hatte den Fluch gebracht. Er, der Bote und Verkündiger des Lebens, hatte den Tod gegeben. Er ließ eine Leiche zurück und eine Ohnmächtige, Beide im Blute liegend, und um sie jammerten und klagten ein reines unschuldiges Mädchen und die nun zu Waisen gewordenen Kleinen.

Bald darauf betraten Polizisten das Haus, um im Auftrage des öffentlichen Anklägers in den Wohnungen der Gefangenen eine strenge Haussuchung zu halten. Diese Letztere war natürlich resultatlos. Aber das Elend, welches sie fanden, flößte ihnen das tiefste Mitleid ein. Die Leiche Bertram's war bereits starr geworden. Die Kinder hockten, leise schluchzend, in der Ecke, Marie saß, in starren, wortlosen Schmerz versunken, bei dem todten Vater, und auf einem alten Scheuerkissen saß Frau Fels. Als die Beamten den Versuch mit ihr machten, sie zum Sprechen zu bringen, gab sie nur unarticulirte


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Töne von sich, welche wie »eingebrochen«, »arretirt« und »im Zuchthause« klangen und kaum verstanden werden konnten. Der Armenarzt, welcher schnell geholt wurde, erklärte, daß sie irrsinnig geworden sei. Der Todte wurde in das Leichenhaus, die Blinde in die städtische Anstalt für Geisteskranke und die Kleinen in das Waisenhaus gebracht. Marie erhielt die Weisung, das Logis zu reinigen und daselbst zu verbleiben, bis der Vormund, welcher den Kindern gegeben werden mußte, anderweite Maßregeln getroffen habe.

Sie nahm diesen Befehl hin, ohne zu antworten, und ließ auch die Entfernung des Todten und der Lebendigen geschehen, ohne sich vom Platze zu rühren. Es hatte ganz und gar den Anschein, als ob auch sie irrsinnig geworden sei.

Der Vorsteher hatte sich nicht in seine Wohnung, sondern zur Vormundschaftsbehörde begeben, um zu melden, was geschehen sei, und in welcher geistlichen Verwahrlosung er die Hinterlassenen getroffen habe. Er wurde darauf gefragt, ob er sich der Sorge der Vormundschaft unterziehen wolle, und er antwortete:

»Es ist Gottes Wille, in welchem ich mich füge. Ich werde wachen und beten, damit mir die Freude werde, die Verirrten auf den Pfad des Heiles zurückzuführen!«

Von da begab er sich zum Baron von Helfenstein, der ihn auch sofort bei sich vorließ. Er grüßte in seiner gewöhnlichen, salbungsvoll-unterthänigen Weise und sagte:

»Heute bringe ich Euer Gnaden wichtigere Botschaften, als bei meinem letzten Besuche. Darf ich Sie mit denselben behelligen?«

»Setzen Sie sich und sprechen Sie!« antwortete der Baron, auf einen Sessel deutend.

Herr Seidelmann folgte diesem Gebote und begann:

»Zunächst habe ich zu melden, daß die Bertram's die Miethe bezahlt haben!«

»Wirklich?« erklang es verwundert. »Woher mögen sie das Geld erhalten haben?«

»Von einem Juden aus der Wasserstraße, sagte der alte Schwindsüchtige.«

»Das könnte nur Salomon Levi sein. Vielleicht haben sie etwas versetzt!«

»Wohl schwerlich. Sie hatten nichts mehr, was einen Werth hatte. Und ich schätze, daß der Robert Bertram, welcher mir das Geld brachte, sich im Besitze von wenigstens fünfzig Thalern befand.«

»Alle Wetter! Das wäre allerdings viel! Was könnte den Juden vermocht haben, der Familie diese Summe zu opfern?«

»Zu opfern?« fragte der Vorsteher, indem er überlegend die Achsel zuckte. »Salomon Levi bringt niemals ein Opfer. Was er thut, das hat sicher seine Berechnung. Er unternimmt niemals Etwas, was ihm nicht Vortheil bringt.«

»Um so neugieriger wäre ich, die Gründe seiner Großmuth zu erfahren.«

»Wollen Sie mich mit dieser Angelegenheit betrauen?«


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»Sehr gern. Ich würde Ihnen dankbar sein. Aber der Jude ist ein schlauer Fuchs. Man müßte sehr vorsichtig sein.«

»Meinen Sie etwa, daß er dem Vorsteher der Schwestern- und Brüdergemeinde an Klugheit überlegen sei?«

»Hm, wer kann das entscheiden?«

»Herr Baron, ich bin ein Verkünder der heiligen Schrift, und diese sagt: Seid klug wie die Schlangen und ohne Falsch wie die Tauben!«

»Das Letztere kann wegfallen, das Erstere aber will ich von Ihnen erwarten!« lachte der Baron. »Wissen Sie vielleicht, wer das Geld von dem Juden geholt hat?«

»Der Robert jedenfalls.«

»So müßte es gerade nur seine Person sein, auf welche sich das Interesse des Juden bezieht.«

»Vermuthlich!«

»Forschen Sie, forschen Sie! Aber, wie gesagt, vorsichtig, höchst vorsichtig! Da Geld vorhanden ist, so vermuthe ich, daß die Noth bei Bertram's einstweilen gewichen ist?«

»Grad das Gegentheil. Sie ist in erneutem und allerhöchstem Maße eingetreten.«

»Wieso?«

»Haben Sie denn noch nichts von den neuesten Neuigkeiten, welche die ganze Bewohnerschaft der Residenz aufregen, vernommen?«

»Nein.«

»Das ist kaum glaublich!«

»Es ist aber sehr leicht erklärlich. Ich war sehr spät noch zu einer Soiree und bin daher erst vor einer Viertelstunde erwacht. Was giebt es denn?«

»Nun, zunächst ist gestern der Mechanikus Wilhelm Fels arretirt worden. Er sitzt in Untersuchung.«

Es gelang dem Baron, ein höchst überraschtes Gesicht zu machen. Er fragte:

»Arretirt und in Untersuchung? Weshalb denn?«

»Wegen Unterschlagung und Veruntreuung von Arbeitsmaterial.«

»Ist ihm recht geschehen! Was sagt seine Geliebte dazu?«

»Seine Geliebte? Wen meinen Sie, gnädiger Herr?«

»Nun, Marie Bertram!«

»Ah, das ist seine Geliebte? Drum, drum schrie sie so auf, als sie hörte, daß er gefangen sei! Aber sie kann nicht sehr an ihn denken, denn sie hat jetzt mit ihren eigenen Angelegenheiten genug zu thun. Ihr Vater ist todt.«

»Der alte Bertram? Endlich, endlich!«

Es blitzte einen Augenblick lang wie ein schadenfroher Triumph über das Gesicht des Barons. Der Vorsteher bemerkte es. Er ließ ein verschmitztes ironisches Lächeln sehen und antwortete:


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»Endlich, sagen Sie? Die Auflösung des Schwindsüchtigen ließ sich allerdings in Bälde erwarten. Vielleicht haben Sie sich darauf gefreut, der Versorger seiner Waisen zu werden?«

Der Gefragte wußte, daß er durchschaut sei, aber er nahm eine möglichst unbefangene Miene an und sagte in ernstem Tone:

»Wollen Sie vergessen, daß der Todte in meinem Hause gewohnt hat und auch da gestorben ist?«

»Ja, ja!« nickte der Administrator. »Das legt Ihnen gewisse moralische, humanitaire und auch christliche Verpflichtungen auf. Vielleicht überlasse ich es Ihnen, dem Drange Ihres wohlthätigen, weichen Herzens Folge zu leisten.«

»Sie, mir? Wieso?«

»Ich werde Vormund sein.«

»Das ist recht! Das ist gut!« rief der Baron im Tone der Genugthuung. »Was haben Sie beschlossen?«

Herr Seidelmann zupfte nachdenklich an seinen Handschuhen herum. Er machte in diesem Augenblicke ganz das Gesicht des Fuchses in der Fabel, als dieser der Henne erzählte, daß der Marder weder Fleisch noch Ei vertragen könne. Dann nickte er vor sich hin und sagte langsam:

»Euer Gnaden wissen, daß ich ein treuer und eifriger Arbeiter im Weinberge des Herrn bin?«

»Ja, ja,« antwortete der Baron ungeduldig. »Wir wissen Beide, was wir von einander zu halten haben, denn wir haben uns ja zur Genüge kennengelernt.«

»Ich hoffe das, ich hoffe das! Wird mir das Amt des Vormundes übergeben - definitiv ist es nämlich noch nicht geschehen - so werde ich es ebenso treu und eifrig verwalten. Vor allen Dingen habe ich darauf zu sehen, daß die mir anvertrauten Seelen in eine christlich fromme Umgebung kommen.«

»Ja doch, ja! Aber weiter!«

»Die Kleinen befinden sich bereits im Waisenhause. Sie sind da am Besten aufgehoben, und ihre Erziehung macht mir keine Sorge; sie ist eine sehr streng religiöse. Was aber Marie, die Tochter betrifft, die ja das Alter der Mündigkeit noch nicht erreicht hat, so ist sie ein äußerlich keineswegs unansehnliches Mädchen. Ich möchte sie nicht in niederen Verhältnissen verkümmern lassen und habe daher - hm, ich weiß nicht, ob ich unbescheiden erscheinen werde, Herr Baron!«

Der Baron hatte ihm mit allen Zeichen der Ungeduld zugehört. Jetzt rief er, ein wenig mit dem Fuße stampfend:

»Was denn? Was denn? So reden Sie doch, beim Teufel! Seien Sie so unbescheiden, wie Sie wollen! Nur bringen Sie nichts, was gegen meinen Geschmack sein würde!«

»Hm! Wir wollen sehen! Es ist sehr viel verlangt von mir, und ich würde in meinem eigenen Interesse sicherlich keine so zudringliche Frage aussprechen, aber da ich die heilige Verpflichtung des Vormundes auf mir lasten


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fühle, so möchte ich fragen, ob Sie nicht vielleicht in Ihrem Hause eine Stellung, eine Verwendung für Marie Bertram finden könnten. Das würde mir das Angenehmste sein. Ich hätte die innerliche Beruhigung, meine Mündel in einer Umgebung zu wissen, in welcher ihre Tugend und das Heil ihrer Seele niemals in Gefahr gerathen kann.«

Jetzt, jetzt endlich verstand der Baron den Vorsteher. Er hätte ihn vor Freude umarmen mögen; aber er beherrschte sich und antwortete:

»Gern nicht, mein Lieber! Die Tochter eines Schneiders, eines Musikanten paßt nicht in ein vornehmes, hocharistokratisches Haus; aber Ihnen zu Liebe will ich doch einmal mit meiner Frau sprechen.«

Herr Seidelmann blinzelte pfiffig vor sich hin und wagte zu fragen:

»Sind Ihre Entschließungen in solchen Angelegenheiten von der Einwilligung der Frau Baronin abhängig?«

Der Baron verstand ihn und antwortete, leicht die Achsel zuckend:

»Pah! Die Convenienz erfordert, daß man gegenseitige Höflichkeiten beobachte!«

»Würde es mir vielleicht erlaubt sein, in dieser Angelegenheit mit der gnädigen Frau zu verhandeln?«

»Warum nicht? Das ist mir sogar lieber!«

»So werde ich -«

»Halt!« unterbrach ihn der Baron, welcher glaubte, er habe die Absicht, sofort zur Baronin zu gehen. »Ich muß vorher sehen, ob meine Frau zu sprechen ist.«

»Warum nachsehen? Ein Diener könnte -«

»Nein, nein! Sie hat Besuch.« Und im Tone einer eigenartigen, aber sehr leicht herauszuhörenden Bedeutung fügte er hinzu: »Der Fürst von Befour macht ihr nämlich seine Morgenvisite.«

Der Vorsteher verneigte sich unter einem ebenso eigenthümlichen Lächeln und sagte:

»Ich gratulire, Herr Baron! Der Fürst ist eine Person von ausgezeichneter Distinction. Es wird ihm nicht schwer fallen, das Wohlwollen der Herrin dieses Hauses zu erlangen, und darum hoffe ich, glauben zu dürfen, daß sie auch unserem Projecte, betreffs Marie Bertram nicht entgegen sein werde.«

»Ich bin überzeugt davon. Also, ich werde einmal nachsehen, ob der Fürst noch zugegen ist.«

»O bitte, jetzt noch nicht, gnädiger Herr! Ich habe noch einige andere Neuigkeiten, welche Sie interessiren werden.«

»Sie stecken ja heute ganz voll von ihnen! Was giebt es noch?«

»Ist Ihnen vielleicht ein Subject bekannt, welches man den Riesen Bormann zu nennen pflegt?«

»Vom Hörensagen,« antwortete der Baron im gleichgiltigsten Tone der Welt.

»Der Mensch ist ein höchst gefährlicher Verbrecher. Er war eingesperrt.«

»Ich habe gehört, daß er sich in Untersuchungshaft befindet.«


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»Ganz richtig! Aber denken Sie sich, der Kerl ist gestern Abend oder heute Nacht frei in der Stadt herum gelaufen!«

»Unmöglich!«

»Wahr, sogar sehr wahr! Und wie ist er herausgekommen -?«

»Doch wohl ausgebrochen?«

»Nein, nein! Er hat den Schließer zu beschwatzen gewußt. Er hat ihm gesagt, daß er einbrechen werde, um ein kostbares Geschmeide zu stehlen; die Hälfte desselben hat sollen der Schließer bekommen.«

»Romantisch! Fürwahr, sehr romantisch! Und auf dieses Versprechen hin hat ihn der Schließer herausgelassen?«

»Ja.«

»Welche Verrücktheit! Welch ein Wahnsinn!«

»Allerdings der reine Wahnsinn! Uebrigens ist der Streich mißlungen, wie vorauszusehen war.«

»Der Einbruch wurde wohl wirklich unternommen?«

»Freilich! Natürlich! Solchen Menschen, welche von Gott abgefallen sind, fällt keine Missethat zu schwer.«

»Und bei wem geschah der Einbruch?«

»Beim Obersten von Hellen Bach.«

»Alle Wetter! Also bei einem Bekannten von mir?«

»Ja. Es war auf den Schmuck des Fräuleins von Hellenbach abgesehen. Aber die Vorsehung hat den Plan vereitelt, und zwar auf eine Weise, welche lebhaft an das Schriftwort erinnert: Gottes Wege sind wunderbar, und er führt Alles herrlich hinaus!«

»Man hat den Einbrecher wohl zufällig beobachtet?«

»O nein! Es giebt einen Menschen, welchen Gott extra beauftragt zu haben scheint, das Elend zu beschützen und das Verbrechen an das Licht zu bringen.«

»Meinen Sie etwa jenen mysteriösen Fürsten des Elendes?«

»Ja.«

»Was kann der mit dem Einbruche zu thun haben?«

»Sehr viel! Er hat gestern einen Boten mit seinem Zeichen zur Polizei gesandt und da melden lassen, daß bei Fräulein von Hellenbach eingebrochen werden solle.«

Das Gesicht des Barons war plötzlich bleich geworden.

»Außerordentlich!« rief er. »Woher hat er es wissen können?«

»Das ist ein Geheimniß. Ja, er hat sogar sagen lassen, wer der Einbrecher sein wird!«

»Sie wollen doch nicht etwa sagen, daß er den Namen des Riesen Bormann hat nennen lassen?«

»Nichts Anderes!«

»Alle Wetter! Ist dieser Fürst denn allwissend?«

»Fast hat es den Anschein.«

Die Gedanken des Barons waren in diesem Augenblicke höchst unruhige. Gestern und heute hatte der Fürst die Anschläge zu Nichte gemacht. Hatte er


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Spione? War er selbst Mitglied? Der Baron beschloß im Stillen, von jetzt an mit der äußersten Vorsicht zu verfahren. Er sagte:

»Aber von dem ganzen Anschlage konnten doch nur Zwei wissen?«

»Sie meinen den Riesen und den Schließer?«

»Ja. Wie hat der Fürst davon erfahren können?«

»Das ist nicht zu beantworten. Vielleicht klärt es die Zukunft auf. Ich bin sehr begierig, es zu erfahren.«

»Ich ebenso. Also hat man den Riesen ergriffen?«

»Natürlich.«

»Wo?«

»Während des Einbruches. Er hatte Fräulein von Hellenbach gebunden und geknebelt und sich bereits ihres Geschmeides bemächtigt, als die Polizei eindrang.«

»Hm, hm! Was ist mit ihm geschehen?«

»Man hat ihn natürlich, fürchterlich gefesselt, in das Gefängniß zurückgebracht.«

»Und der Schließer?«

»Der sitzt nun selbst in Gewahrsam.«

»Hat er ein Geständniß abgelegt?«

»Nein. Er leugnet ganz entschieden. Unter den Kindern der Menschen ist alle Treue und Wahrheitsliebe abhanden gekommen.«

»Leider, mein lieber Seidelmann. Ich danke Ihnen für Ihre interessanten Mittheilungen. Ich werde nachher dem Obersten von Hellenbach und seiner Familie meinen Beileidsbesuch machen.«

»O, gnädiger Herr, ich bin noch nicht fertig!«

»Noch Etwas? Was denn?«

»Der Riese ist nicht allein ergriffen worden. Er hat einen Verbündeten gehabt.«

»Meinen Sie den Schließer?«

»Nein, einen Anderen, einen ganz und gar Anderen, den auch Sie kennen.«

Der Baron verfärbte sich. Was war geschehen? Gab es noch einen Nebenumstand, welcher die Gefahr verdoppelte?

»Nun, wer denn?« stieß er beinahe stotternd hervor.

»Hören Sie, und staunen Sie: Robert Bertram!«

»Ro -!«

Das Wort blieb dem Baron in der Kehle stecken. Er hatte den Mund weit offen, und sein Gesicht zeigte in diesem Augenblicke maßlosen Erstaunens eine ungeheure Ähnlichkeit mit dem Kopfe jenes Thieres, dessen Fleisch wir genießen und dessen Wolle uns den Stoff zu unserer Kleidung giebt. Der Vorsteher weidete sich einen Augenblick lang an diesem Erstaunen. Dann fragte er:

»Nicht wahr, Herr Baron, das ist ebenso interessant, wie unbegreiflich?«

»Unbegreiflich! Ganz und gar unbegreiflich! Ich bin ganz starr!«

»Ich war es auch, als ich davon hörte.«


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»Wie kommt Bertram zu dem Riesen?«

»Das wird die Untersuchung lehren.«

»Hat man ihn denn noch nicht gefragt?«

»Man konnte nicht. Er hat sich Messer gewehrt und dabei einen Hieb mit dem Todtschläger erhalten. Er liegt noch jetzt in tiefer Betäubung.«

»Eigenthümlich! Eigenthümlich! Was sagt denn der Riese von Bertram?«

»Er gesteht ein, daß sie Verbündete sind.«

»Ich kann nicht daran glauben. Es muß da Umstände geben, welche man noch nicht entdeckt und erörtert hat.«

»Was mich betrifft, so glaube ich ganz gern daran!«

»Pah! Dieser Bertram war kein Einbrecher! Doch, streiten wir uns nicht! Ich werde jetzt zu meiner Frau sehen. Oder haben Sie noch weitere Neuigkeiten?«

»Nein; ich bin zu Ende!« -

Nur wenige Augenblicke vor dem Vorsteher hatte auch der Fürst von Befour das Palais des Barons betreten, sich aber zur gnädigen Frau melden lassen. Es schien, als ob sie die heutige Wiederholung seines gestrigen Besuches geahnt habe. Sie hatte sich geschmückt wie eine Braut, welche am Abende des Hochzeitstages im Boudoir den Bräutigam erwartet.

Sie war wirklich schön; sie war ganz geeignet, sogar einen Mann zu verführen, der weit jünger war, als sie. Der Fürst wurde natürlich sofort vorgelassen. Sie empfing ihn mit einem freudigen Lächeln, welches ihm sagte, daß er hier Erfüllung jedes seiner Wünsche finden werde.

»Darf ich stören?« fragte er nach der ersten Verbeugung.

»Ein Schüler stört nie!« antwortete sie.

»Ach, wie glücklich bin ich, daß Sie sich dieses Verhältnisses erinnern!«

Er nahm ungenirt neben ihr auf dem Divan Platz.

»Wie steht es mit dem Befinden, lieber Fürst?«

»Mille grace! Sie machen mich auf den Fehler aufmerksam, Sie nicht nach dem Ihrigen gefragt zu haben. Ich that es nicht, weil ich Sie so reizend vor mir sehe! Ihr Befinden kann kein schlimmes sein?«

»O wehe!« sagte sie seufzend.

»Also doch ein Leiden?«

»Vielleicht!«

»Wäre ich ein Arzt!«

»Giebt es nicht Leiden, welche auch von Laien geheilt werden können?« fragte sie kokett.

»Glücklicher Weise, ja!«

»Welche wären das?«

»Hm! Zahnweh!«

»Pfui! Womit?«

»Mit einem Kusse!«

»Das scheint mir Sympathie.«


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»Allerdings. Ich bin nämlich so glücklich, zu jenen Laien zu gehören, denen bereits gar manche Kur gelungen ist.«

»Bei Herren?«

»Sehr oft, gnädige Frau!«

»Aber bei Damen nie?«

»Fast noch öfter als bei Herren. Ich curire nämlich weder ollo- noch homöo-, noch hydropathisch. Ich mache es wie Christus, der Heiland. Ich lege die Hand auf und sage einige Worte.«

»Ah!« lachte sie. »Wollen Sie mit Hilfe dieser Wunder eine neue Secte gründen?«

»O nein. Das überlasse ich dem Schuster Seidelmann. Es genügt mir vollständig, wenn es mir gelingt, eine Einzige zu meinem Glauben zu bekehren.«

»Darf man fragen, wer diese Eine ist?«

»Nur Sie können es sein, meine Theure!«

Sie versetzte ihm einen liebkosenden Schlag auf die Wange und fragte weiter:

»Und welches ist der Glaube, zu dem ich bekehrt werden soll?«

»Der Glaube, daß ich im Stande bin, das Leiden zu heilen, über welches Sie vorhin einen so interessanten Seufzer ausstießen.«

»Sie machen mich wirklich neugierig, Durchlaucht! Mein Leiden ist nämlich schwer zu erkennen.«

»O, ich bin ein guter Patholog!«

»Nun gut! Versuchen wir es!«

»Ich werde Sie aber einer sehr strengen Prüfung unterwerfen!«

»Ich bin geduldig, Herr Doctor!«

»Nun gut! Bitte, Ihren Puls!«

»Hier!«

Sie reichte ihm die Hand. Er nahm dieselbe, fühlte eine Weile aufmerksam und sagte dann:

»Und nun den anderen.«

»Hier!«

Sie gab ihm die andere Hand. Er aber schüttelte den Kopf und sprach:

»Ich sehe, daß Sie es bisher noch nie mit einem erfahrenen Arzte zu thun gehabt haben. Man muß wissen, wie viele Sekunden das Blut braucht, um von einem äußersten Ende des Körpers zum anderen zu gelangen.«

»Interessant!« lachte sie. »Welche Enden meinen Sie?«

»Diejenigen Stellen des Körpers, welche am weitesten von einander entfernt sind, also Hand und Fuß.«

»Allerliebst, allerliebst! Das heißt, Sie wollen mir den Puls auch am Fuße befühlen?«

»Ja. Das heißt über dem Fußgelenk, wie man es ja auch hinter dem Handgelenk macht.«

»Ich muß gehorchen. Aber Sie werden leider gezwungen sein, sich ein Wenig zu bücken.«


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»Kommen Sie mir zu Hilfe. Hier ist ein Tabouret.«

Sie legte gehorsam den einen Fuß auf das Tabouret. Er legte seine Finger decent um das Gelenk desselben, ergriff dann ihre Hand und begann mit der ernsthaftesten Miene zu horchen.

»Hm!« brummte er dann. »Das ist vielsagend!«

»Was?«

»Ärztliches Geheimniß! Jetzt werden wir nun den Mittelpunkt des Pulses zu recognosciren haben.«

»Den Mittelpunkt? Wo befindet sich derselbe?«

»Ich meine natürlich das Herz.«

»Wie wollen Sie das finden?«

»Ich werde es mir suchen. Erlauben Sie?«

»Eigentlich nicht!«

»Ja, dem Arzte niemals! Aber weil ich ein Laie bin, so -«

»So -? Was denn, Durchlaucht? Ah, ich glaube aus dem gestrigen Schüler ist ein kühner Virtuos geworden!«

»Nur um Sie von Ihrer Krankheit zu befreien!«

Er hatte den linken Arm um ihre Taille gelegt und suchte nun mit der rechten Hand nach ihrem Herzen. Sie ließ es geschehen; doch dauerte es eine geraume Zeit, ehe er den Schlag desselben deutlich fühlte.

»Haben Sie es?« fragte sie.

»Ja, endlich!«

»Was werden Sie damit thun?«

»Der Schlag ist heiß, innig und verheißungsvoll. Ich möchte es am Allerliebsten behalten!«

»Auf wie lange, Durchlaucht?«

»Für immer, natürlich, liebe Ella!«

Sie fuhr rasch mit ihrem Blicke zu ihm empor.

»Ella? Sie kennen meinen Namen?«

»Ist das ein großes Wunder? Ich habe nach demselben gefragt, bis ich ihn erfahren habe.«

»Nach dem Namen einer so gleichgiltigen Person?«

»Nach dem Namen meiner Patientin!«

»Die Sie wohl nicht so leicht heilen werden.«

»Pah! Warum?«

»Weil es Ihnen sehr schwer fallen wird, die Krankheit zu erkennen.«

»O, ich kenne sie bereits, auch ihren Sitz, ihre Ursachen und das Medicament zu Ihrer Heilung.«

»Und das Alles haben Ihnen die drei Pulse gesagt?«

»Ja. Ueberzeugen Sie sich.«

»Gut! Antworten Sie! Ich muß wissen, an welcher Krankheit ich im Begriffe stehe, zu Grunde zu gehen. Also zunächst: Der Name der Krankheit, lieber Doctor?«

»Sehnsucht.«

»Hm! Der Sitz derselben?«


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»Im Herzen.«

»Die Ursachen?«

»Ihrer sind zwei, nämlich zwei ganz entgegengesetzte.«

»Darf man sie erfahren?«

»Gewiß. Siedendes Temperament und eingefrorenes Eheglück.«

Sie erröthete doch. Er hatte sie durchschaut. Aber daraus machte sie sich nichts. Sie fragte weiter:

»Und das Medicament?«

»Vorher ist es mir nöthig, zu hören, ob ich in meiner Diagnose irre gegangen bin oder nicht. Ich bitte um aufrichtige Auskunft!«

»Ist das nicht ein Wenig zu viel verlangt, lieber Doctor?«

»Nein. Der Arzt hat nicht nur das Recht sondern sogar die Pflicht, Wahrheit zu fordern. Also, meine schöne Kranke, wie steht es?«

»Sie haben richtig gerathen.«

Das war mehr als aufrichtig. Das Blut stieg ihr dabei aber auch hochroth in das Gesicht, so daß sie den Kopf neigte, um es nicht so sehr bemerken zu lassen. Aber bereits nach einem Weilchen wiederholte sie:

»Also, das Medicament?«

Er deutete mit dem Finger auf sich und sagte:

»Hier sitzt es.«

»Sie? Ah! Arzt und Medicin zugleich?«

»Freilich!«

»Aber in welchen Dosen könnte man Sie genießen?«

»Das werde ich verschreiben, und Sie haben zu gehorchen! Zunächst werde ich mich Ihnen als Doppelkataplasma verordnen.«

Sie stieß ein heiteres Lachen aus.

»Das heißt als Doppelpflaster? Wie wollen wir das arrangiren?«

»Eins auf das Herz und eins auf den Mund. So!«

Er legte ihr die rechte Hand wieder auf das Herz, dessen Schlag er bei der Fülle ihrer Büste kaum zu fühlen vermochte, schlang den linken Arm um sie, so daß er sie an sich zu ziehen vermochte, und drückte dann seinen Mund auf ihre Lippen, welche sie ihm fest und ohne Widerstreben hinreichte.

So blieben sie eine ganze Weile sitzen, in einem innigen Kusse verschlungen, dann entzog sie sich seiner Umarmung, sah ihm lange forschend in die Augen und sagte dann:

»Durchlaucht, haben Sie wohl eine Ahnung meines Characters?«

»Ja, gnädige Frau,« antwortete er sofort.

»Nun, wie bin ich? Ich zweifle sehr, ob Sie mich kennen. Wir sehen uns heute erst zum dritten Male. Sie müßten ein ausgezeichneter Psycholog sein, wenn Sie mich richtig beurtheilten!«

»So werde ich Ihnen sogleich Gelegenheit geben, meinen psychologischen Scharfblick kennen zu lernen: Sie haben außerordentlich werthvolle seelische und körperliche Anlagen für die Liebe.«

»Das gebe ich zu.«

»Aber die Liebe ist bei Ihnen ein Selbstzweck. Sie haben die Gabe


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glücklich zu sein und auch glücklich zu machen; aber Sie gebrauchen diese Gabe nur dann, wenn Sie wollen.«

»Auch das ist wahr.«

»Und wenn Sie Liebe geben und Liebe finden wollen, so fühlen Sie sich als Feldherr.«

»Was soll das heißen?«

»Sie kommandiren. Sie warten nicht wie andere Damen, bis der Erwählte kommt, sonder Sie gehen zum Angriffe über, mit fliegenden Fahnen und siegenden Waffen.«

»Halten Sie das für falsch?«

»Nein, sondern im Gegentheile für sehr richtig. Die Liebe giebt gleiche Rechte und gleiche Pflichten. Warum soll das Weib warten, wenn der Mann vielleicht zu zaghaft ist?«

»Ganz recht! Wir verstehen uns, mein lieber Fürst. Sie haben mich wirklich bis tief hinab durchschaut. Wissen Sie auch noch das Weitere?«

»Gewiß!«

»Nun?«

»Sie wollen mir sagen, daß Sie mich lieb haben!«

Sie sah ihm ganz begeistert entgegen. Sie hatte noch Keinen gefunden, der in dieser so ganz selbstverständlichen Weise mit ihr gesprochen hatte.

»So ist es!« antwortete sie.

»Aber diese Liebe ist nicht eine willenlose Gluth?«

»Nein.«

»Sie hätten genug Macht über sich, mich nicht zu lieben. Aber Ihr Herz ist mir nicht abgeneigt, und da Ihr Verstand dabei auch seine Rechnung findet, so haben Sie Ihrer Liebe gestattet, sich mit jener Rapidität zu entwickeln, welche allen Ihren Seelenstimmungen eigen ist.«

»Wahrhaftig, Sie kennen mich ganz und gar! Aber denken Sie nicht, daß meine Liebe so gar sehr von meinem Willen abhängig ist. Ich bringe Ihnen eine hochlodernde Gluth, eine schrankenlose Hingebung und eine unverbrüchliche Treue entgegen. Was bieten Sie mir dafür?«

»Nichts!«

Sie fuhr zurück und erbleichte. Das hatte sie nicht erwartet.

»Nichts?« fragte sie beinahe tonlos.

»Ja, gar nichts!«

»Mein Gott, ist es denn möglich, daß ich Sie recht verstehe?«

Er las eine förmliche Herzens- oder Seelenangst aus dem schwimmenden Blicke, den sie auf ihn gerichtet hielt. Er hatte seine Absicht erreicht. Er las auf dem Grunde ihrer Seele, daß sie seit heute, seit gestern nicht mehr so war, wie sie früher gewesen war. Sie liebte ihn wirklich; sie liebte ihn so, wie sie wohl noch nie geliebt hatte; sie konnte ohne seine Gegenliebe sich wohl nie, nie wieder glücklich fühlen.

»Sie verstehen mich allerdings nicht recht, beste Baronin,« antwortete er. »Sie reden von einer lodernden Gluth, einer schrankenlosen Hingebung und einer unverbrüchlichen Treue, welche Sie mir entgegenbringen; Sie fragen


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mich, was ich Ihnen dafür biete, und ich bin gezwungen, mit ›Nichts, gar nichts‹ zu antworten, denn diese Gluth, diese Hingebung, diese Treue, sie können nicht schrankenlos und unverbrüchlich sein, wie Sie sagen, sondern sie haben ihre, und zwar höchst engere Grenzen.«

»Nein.«

»O, doch!«

»Nein, sage ich!« wiederholte sie in erhobenem Tone, indem ihre Augen in einem Feuer glühten, welches man nicht nur ein vulkanisches, sondern ein plutonisches hätte nennen mögen. Es war ein tief und still zehrendes Feuer, welches leicht den Tod bringen konnte.

»Sie sind - -!«

Er sah ihr mit jenem starren Blick in die Augen, welcher auf eine unterirdische oder vielmehr unterseelische Gefühlsrevolution schließen läßt, die unter dieser starren, ausdruckslosen Irisdecke wüthet. Sie schlang die Arme fester um ihn, drückte ihn inniger an sich und mahnte:

»Sprechen Sie, sprechen Sie weiter!«

»Darf ich denn?« fragte er.

»Ja, ich wünsche es! Ich bitte Sie darum!«

»Sie gehören einem - einem anderen Manne. Sie sind verheirathet!«

»Aber ich liebe diesen Mann nicht!«

»Wenn ich liebe, will ich glücklich machen und glücklich sein. Welche Garantien des Glückes aber bietet mir die Liebe zu einem Weibe, welche das ganze, persönliche, ausschließliche Eigenthum eines Andern ist, dem das Gesetz das Recht giebt, ihre Seele, ihr Herz, ihr Leben, ihren Körper zu besitzen, wo und wann es ihm beliebt?«

Da sanken ihre Arme langsam von ihm nieder. Sie erhob sich und schritt einige Male im Zimmer auf und ab. Dann blieb sie vor ihm stehen und fragte, indem die tiefste Erregung aus allen ihren Zügen sprach:

»Durchlaucht, wollen wir ohne Rücksicht mit einander sprechen? Darf ich rückhaltslos und unumwunden mit Ihnen reden?«

»Sie dürfen es. Es ist sogar mein inniger Wunsch, daß dies geschehe!«

Da sank sie langsam vor ihm in die Kniee, schlang die Hände um seinen Leib und sagte:

»Ich liebe Sie! Ich liebe Sie namenlos und unaussprechlich! Ich habe einst eine Jugendliebe gehabt, heiß, innig, aber verborgen. Das Herz Dessen, für den ich lebte und von dem ich träumte, gehörte einer Anderen. Er sah mich nicht; er beachtete mich nicht. Meine Liebe war eine verschwiegene und unglückliche. Jetzt ist es mir, als sei jene Liebe vom Tode erstanden und tausend, tausend Mal mächtiger und gewaltiger geworden! Ich habe ihr widerstehen wollen, aber ich bin zu schwach dazu. Ich fühle mich Ihnen gegenüber als ein ohnmächtiges Weib, welches kein größeres Glück auf Erden kennen und haben möchte, als Ihre Dienerin, Ihre Sclavin zu sein.«

»Und dabei sind Sie die Sclavin eines Anderen, die Sclavin Dessen, dessen Weib Sie sich nennen!«

»Ja, Sie haben Recht. Ich fühle mich als Sclavin, als armselige


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Sclavin der Verhältnisse, welche mir früher so glänzend erschienen. Wären Sie ein armer Mann, so würde ich Sie auffordern, mit mir fortzugehen, zu fliehen, weit weg, wo uns Niemand kennt, und dann sollte mein ganzes Leben, all mein Denken und Wollen, Ihnen gehören, und Sie würden so glücklich sein, wie ein Mann durch die aufopferndste Liebe seines Weibes nur immer und jemals werden kann!«

Jetzt gab es keine Spur von Berechnung mehr bei ihr. Sie war von einer verzehrenden, flammenden Leidenschaft erfaßt worden, gegen die sie keinen Widerstand zu finden vermochte. Er beugte sich zu ihr nieder, legte ihr die Hand unter das Kinn, hob ihren Kopf zu sich empor und sagte:

»Beichten Sie mir, Ella!«

»Was?« flüsterte sie.

»Von jener Jugendliebe. Wer war Der, den Sie liebten?«

»Ein Försterssohn, bei der Polizei angestellt.«

»Wie hieß er?«

»Gustav Brandt.«

»Wo ist er jetzt?«

»Ich weiß es nicht.«

»Sie werden es wissen. Sie müssen es wissen, denn so eine Liebe, wie die ist, welche Sie gefühlt haben, läßt ihren Gegenstand niemals aus den Augen.«

»Und dennoch würde ich ihn nicht zu finden wissen, wenn ich ihn zu suchen hätte. Er ging in alle Welt. Er war ein Flüchtling und mußte verschwinden.«

»Verschwinden? Fliehen? Warum?«

»Er war als Mörder verurtheilt worden; es gelang ihm aber, grad an dem Tage zu entkommen, an welchem er eine lebenslängliche Gefangenschaft antreten sollte.«

»War er schuldig oder unschuldig?«

Seine Augen flammten mit unwiderstehlicher Gewalt auf sie nieder. So ein gewaltiger Blick war ihren Augen noch nie begegnet. Sie wollte antworten; aber sie konnte, unter dem Einflusse dieses Blickes stehend, nicht lügen, wollte und durfte jedoch auch nicht die Wahrheit sagen.

»Antworten Sie!« bat er.

»Ich weiß es nicht,« sagte sie, die Augen niederschlagend.

Da hob er ihr Gesicht wieder zu sich empor und sprach:

»Ich habe Ihnen bereits bewiesen, daß ich Menschenkenner bin. Ich lese in ihnen, daß jener Flüchtling schuldlos war, daß Sie mit Theil an seinem Unglück hatten, und daß - ah, Ihr damaliger Verbündeter Derjenige ist, dem Sie jetzt als Weib gehören. Ich will nicht in Sie dringen; ich habe kein Recht dazu; aber soll Derjenige, welcher Sie dazu brachte, einen Schuldlosen in Schande und Elend zu stürzen, so glücklich sein, ein Weib von Ihrer Schönheit, Ihrem Geiste und Ihrem Temperamente zu besitzen?«

»Durchlaucht, ich bin bereit, ihn zu verlassen!«

Sie zitterte am ganzen Körper vor seelischer Aufregung; ihr Busen


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wogte auf und nieder, und ihr Athem strömte hörbar zwischen ihren Lippen hervor. Er erkannte, daß er es wirklich in der Hand habe, sie zu seiner Dienerin, seiner Sclavin zu machen. Es wallte in ihm auf wie eine tiefe, gewaltige Genugthuung. Er hätte laut aufjubeln mögen; aber er blieb äußerlich ruhig und fragte im Tone des Glückes:

»Ihn verlassen? Ist das wahr?«

»Ja; gewiß und wahrhaftig ist es wahr!«

»Um wessen willen wollen Sie ihn verlassen?«

»Um Ihretwillen!«

»Sie würden dennoch mit tausend Banden an ihn gekettet sein!«

»Durch kein Band, keinen Faden, und sei er auch nur so dünn wie der Faden, welchen eine Spinne zieht!«

»Sie Beide sind durch Ihr Leben, Ihre Thaten, Ihr Zusammenwirken mit einander verbunden und bleiben es auch!«

»Nein, nein! Ich reiße alle Bande entzwei, alle, alle, alle!«

Sie hob die Hand wie zum Schwure empor.

»Und was erhoffen Sie als Lohn für solch eine Entsagung, für solch ein Opfer?«

»Ihre Liebe, Durchlaucht, weiter nichts als Ihre Liebe!«

Da bog er sich zu der Knieenden nieder, schlang die Arme um sie und zog sie zu sich empor, so daß sie Brust an Brust und Lippe an Lippe lagen. Sie fühlte sich fast wahnsinnig vor Glück; sie küßte, küßte und küßte ihn wieder und immer wieder; sie liebkoste ihn; sie streichelte ihm die Wangen, als ob sie ein heißgeliebtes Kind vor sich habe, dem sie ihre ganze Seele hingeben müsse. Dabei flüsterte und fragte sie immer und immer wieder:

»Lieben Sie mich? Lieben Sie mich? Ist es wahr, daß Sie mich lieben können?«

»Ja,« antwortete er, sie an sich pressend. »Ich liebe Sie! Jetzt freilich nur wie ein herrliches, entzückendes Bild, welches die Sinne begeistert. Aber dann, wenn ich erst die Tiefen Ihrer Seele erforscht und erkannt habe, dann wird meine Liebe so sein, wie sie zu dem unaussprechlichen Glücke, welches ich mir ersehne, erforderlich ist.«

»Forschen Sie in mir; forschen Sie! Sie werden finden, daß in meinem Herzen nichts wohnt und lebt, als nur Sie, Sie, Sie allein!«

Sie schmiegte und drängte sich in heißer Liebesgluth an ihn, als ob es ihr möglich sei, ganz in ihn einzudringen. Und grad als sie so eng umschlungen bei einander saßen, wurde die Thüre geöffnet und der Baron trat ein.

Ella erschrak nicht im Geringsten. Sie gab sich kaum die Mühe, ihre Arme von dem Fürsten fortzunehmen. Dieser letztere wurde ebensowenig verlegen. Er erhob sich gleichmüthig von seinem Sitze, um dem Baron eine Verbeugung zu machen.

»Verzeihung, Durchlaucht!« sagte Dieser. »Ich trete nur für einen Augenblick hier ein!«

»Du willst zu mir?« fragte sie.


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Ihre Stimme klang sogar eher abweisend, abwehrend, als blos kalt und gleichgiltig.

»Allerdings zu Dir.«

»Ist es so notwendig?«

»Wahrscheinlich.«

»Wahrscheinlich? Also Du weißt es nicht gewiß? Dann konntest Du warten, bis ich besser disponibel bin, als grad in diesem Augenblick.«

»Verzeihe! Der Vorsteher will nicht gern länger warten.«

»Der Vorsteher? Wohl der fromme Schuster Seidelmann?« fragte sie ironisch.

»Ja. Er wünscht eine Unterredung mit Dir.«

»In welcher Angelegenheit?«

»In Betreff eines Waisenkindes. Du weißt, daß ich als Leiter des Armenwesens gewisse Verpflichtungen habe, denen selbst Du Dich nicht gut zu entziehen vermagst.«

»Er mag später wiederkommen!«

Sie wollte sich abwenden, um anzudeuten, daß in den letzteren Worten ihre endgiltige Resolution enthalten sei; aber schon hatte der Fürst seine Handschuhe angelegt. Er sagte:

»Bitte, gnädige Frau! Die Angelegenheiten eines Waisenkindes müssen für Jedermann, besonders aber für eine Dame, stets wichtig und unaufschiebbar sein. Meine Zeit ist abgelaufen. Lassen Sie meine Anwesenheit nicht die Ursache sein, den Herrn Vorsteher auf Wartezeit zu stellen. Ich empfehle mich Ihnen, Frau Baronin! Ich grüße Sie, Herr Baron!«

Er küßte ihr die Hand, verneigte sich leicht vor ihrem Manne und ging. Die beiden Gatten standen einander beinahe zornig gegenüber, sie wegen des gestörten tête-à-tête und er der Abweisung wegen, die er von ihr hatte hinnehmen sollen.

»Kannst Du diesen Herrn nicht anderweit bestellen?« sagte sie.

»Nein,« antwortete er kurz.

»Du wußtest doch, daß der Fürst bei mir war!«

»Allerdings wußte ich das.«

»Und um eines solchen Mannes willen zwingst Du diesen Cavalier, mich zu verlassen?«

»Der Besuch des Vorstehers hat für mich ganz dieselbe Wichtigkeit, wie für Dich die Visite des Fürsten.«

»Aber Du wußtest, daß ich noch nicht Toilette gemacht habe!«

»Empfängst Du einen Herrn, der erst zum dritten Male Zutritt nimmt, in dieser allerdings fast mehr als leichten Kleidung, so brauchst Du Dich derselben vor meinem Administrator noch viel weniger zu schämen.«

»Ich hasse diesen Scheinheiligen!«

»Und ich liebe ihn!« höhnte er.

»Leider scheinst Du in neuester Zeit Alles zu lieben, was ich hasse!«

»Ganz dasselbe habe ich Dir zu sagen. Dieser Fürst ist mir ganz und gar nicht sympathisch, ganz und gar nicht willkommen!«


// 264 //

»Ah! Warum?«

»Er ist eine Schlange!«

»Pah! Du bist ein Krokodil!«

»Unsinn!« meinte er sehr ernsthaft. »Glaube nicht, daß ich scherze! Dieser Mann ist so gewandt, so glatt, so kalt, so wenig zu fassen, grad wie eine Schlange. Er macht auf mich den Eindruck, als ob er uns nur deshalb besuche, um einen Biß seiner Giftzähne anzubringen.«

»Du irrst!« antwortete sie. »Er kommt nur meinetwegen!«

Er zuckte die Achsel, schüttelte den Kopf und fragte:

»Meinst Du wirklich, daß er in Dich verliebt ist?«

»Ganz und gar! Du hast es ja gesehen!«

»Ja. Ich überraschte Euch in einer außerordentlich innigen Umarmung! Na, ich will es glauben. Hübsch bist Du!«

"Hübsch bist Du!"

Er überflog ihre Gestalt mit einem prüfenden Blicke. Sie aber zog die schöne Schulter empor, machte ein Mäulchen und sagte:

»Hübsch? Pah!«

»Nun, meinetwegen sogar schön! Einen Mann zu verführen, dazu hast Du das Zeug. Uebrigens gebe ich es zu, daß der Fürst ein schöner, und, was noch mehr bedeutet, ein interessanter Mann ist.«

»Ich hoffe, Du gönnst ihn mir!«

»Ja, sobald Du mir auch meine kleinen Vergnügungen gönnst. Uebrigens habe ich in Betreff seiner ein Wort mit Dir zu sprechen.«

»Doch jetzt nicht gleich, sondern wann?«

»Warum jetzt nicht?«

»Ich denke Dein würdiger Vorsteher hat keine Zeit?«

»Für mich ist er stets zu warten bereit. Ich habe gehört, daß der Fürst die Ankunft von ungeheuren Summen erwartet -«

»Ah!« fiel sie ein. »Willst Du etwa -«

»Warum nicht?«

»Es dürfte Dir nicht gelingen!«

»Welchen Grund hast Du, dies zu glauben?«

»Den einzigen, daß der Fürst ein ungewöhnlicher Mann ist. Mit ihm darf man nicht nach gewöhnlichen Factoren rechnen.«

»Meine Factoren passen auf jeden gewöhnlichen und ungewöhnlichen Mann: Bekanntschaft anknüpfen, um zu recognosciren, die Schliche kennen lernen, um zu dem Gelde zu kommen, und dann wird eines schönen Nachts das Werk vollbracht.«

»Du meinst also, daß ich bei ihm recognosciren soll?«

»Gewiß.«

»Dann müßte er mich in seine Wohnung laden!«

»Das ist es, was ich meine. Oder hältst Du es nicht für möglich, ihn soweit zu bringen?«

»Es wird schwierig sein!«

»Ich halte es im Gegentheile für sehr leicht, sobald Du überzeugt bist, ihn in Deinen Netzen gefangen zu haben.«


Ende der elften Lieferung - Fortsetzung folgt.



Karl May: Der verlorne Sohn

Karl May – Forschung und Werk