Lieferung 20

Karl May

27. Dezember 1884

Der verlorne Sohn
oder
Der Fürst des Elends.

Roman aus der Criminal-Geschichte.


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junger Freund, Sie werden jedenfalls eines Sekundanten bedürfen. Denken Sie dabei an mich!«

»Ich lege mein Veto ein,« sagte da der Fürst. »Ich hoffe, daß Herr Bertram dabei zunächst an mich denkt.«

»Ein Duell!« sagte Fanny erschrocken. »Mein Gott, wie entsetzlich! Ist das nicht zu umgehen?«

»Auf keinen Fall,« antwortete ihr Vater. »Wäre Helfenstein so feig, Herrn Bertram nicht zu fordern, so würde ich ihm meine Forderung senden. Er hat Dich geschlagen, Kind; das muß unbedingt bestraft werden.«

»Aber, Herr Bertram ist noch krank und schwach!«

»Bitte, sorgen Sie sich nicht um mich!« bat Robert lächelnd. »Lassen wir jetzt lieber dieses Thema fallen. Freilich ist es für mich im höchsten Grade peinlich, daß gerade ich es bin, dessen Anwesenheit die Veranlassung dieses Ereignisses geworden ist.«

»Lassen Sie sich das nicht bedrücken, mein Lieber,« sagte der Oberst. »Ich habe Sie geladen, der Baron kam ohne Einladung. Ich versichere Ihnen, daß Sie gar nicht anders handeln konnten. Ich sage Ihnen sogar in aller Aufrichtigkeit, daß ich mit Ihnen sehr zufrieden bin. Ich hätte Ihnen ein so braves, ehren- und herzhaftes Benehmen wohl kaum zugetraut. Bisher besaßen Sie meine Theilnahme, jetzt haben Sie mir meine Hochachtung abgerungen. Aber, Sie haben Recht: Lassen wir dieses Thema fallen, es ist zu unerquicklich!«

Man blieb noch einige Zeit beisammen. Fanny hatte die Nähe des Fensters aufgesucht. Es war ihr bange um Bertram. Er, der unerfahrene, junge Mann - und ein Duell!

Da trat er zu ihr. Sie hatte sich von den Anderen zurückgezogen, und er glaubte, daß dies seinetwegen geschehe.

»Gnädiges Fräulein, Sie zürnen mir?« fragte er.

»Ich Ihnen? Welche Veranlassung könnte ich dazu haben?«

»Verzeihen Sie mir! Ich konnte nicht gut anders handeln!«

»Sie haben sich als Ehrenmann benommen! Aber, bitte, sagen Sie mir aufrichtig: Sind Sie in der Führung der Waffen so erfahren, daß Sie einen Gegner nicht zu fürchten brauchen?«

Er zuckte leichthin die Achsel und antwortete:

»Ich bin nicht bange, halte übrigens diesen Baron für einen feigen Bramarbas. In diesem Augenblicke geht mein höchster Wunsch nur dahin, daß dieses unangenehme Ereigniß mich Ihnen gegenüber nicht schädigen möge.«

Er sagte dies in einem so aufrichtigen und dringlichen Tone, daß sie, ihm die Hand auf die Achsel legend, antwortete:

»Was denken Sie! Schädigen! Es scheint, daß Sie gar nicht in unsere Nähe kommen dürfen, ohne Unheil davon zu tragen. Ich hoffe, daß Sie sich dadurch nicht veranlaßt sehen mögen, unser Haus zu meiden. Werden wir Sie wiedersehen?«

»Befehlen Sie es, gnädiges Fräulein?«


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»Befehlen? Nein! Ich wünsche es.«

Das Herz klopfte ihm fast hörbar laut. Sie wünschte, ihn wieder zu sehen! Welch eine Seligkeit für ihn!

»Darf ich Sie bitten, wiederzukommen?« fuhr sie fort.

»Ich werde kommen,« antwortete er mit vor innerer Bewegung ganz leiser Stimme.

»Und zwar oft?«

»So oft, als es geschehen kann, ohne Ihnen unangenehm zu werden.«

»O, das wird niemals geschehen!«

Sie hatte bis zum letzten Augenblicke ihre Hand auf seiner Achsel ruhen lassen. Beide standen eng nebeneinander. Ein fremder Beobachter hätte glauben können, daß es sich um eine sehr intime Scene handle. Da fiel Fanny's Blick durch das Fenster auf die Straße hinüber. Im ersten Stock des gegenüber liegenden Hauses waren einige Fenster hell erleuchtet. An einem derselben standen, ganz deutlich sichtbar, zwei Mädchen, welche mit scharfer Aufmerksamkeit herüber zu blicken schienen. Schnell zog Fanny die Hand von ihm zurück und trat vom Fenster weg. Er folgte ihr, ohne bemerkt zu haben, daß er von jenseits der Straße beobachtet worden war.

Nach einiger Zeit meldete der Diener, daß die Equipage des Fürsten vorgefahren sei. Dieser wendete sich an Bertram.

»Wir werden uns empfehlen müssen. Hoffentlich gestattet die gnädige Baronesse von Helfenstein, ihr einen Platz bei uns offeriren zu dürfen!«

»Ich acceptire, Durchlaucht,« antwortete Alma. »Man kann sich nie lange genug in liebenswerther Gesellschaft befinden.«

Der Oberst erklärte dem jungen Dichter, daß er sich ja als stets willkommen betrachten möge, und begleitete die Drei bis an den Wagen. Noch während des Einsteigens wiederholte er:

»Also, Herr Bertram, vergessen Sie ja nicht, daß Sie zu jeder Zeit bei mir offenen Zutritt haben. Betrachten Sie sich ganz als in mein Haus gehörig!«

Die Equipage setzte sich in Bewegung. Der Oberst sah drüben an der Hausthür zwei Frauengestalten stehen, dachte aber nicht, daß diese ein höchst reges Interesse an seiner Einladung nehmen könnten.

Jetzt war es Robert Bertram mehr als weihnachtlich zu Muthe. Er hatte den Band seiner Gedichte mit dem reichen Honorar in der Tasche. Er saß mit einem Fürsten und einer Baronesse in der Equipage; es war ihm, als ob er träume.

Ganz eigenthümlich war auch Alma von Helfenstein gestimmt. Der junge Mann hatte einen tiefen Eindruck auf sie gemacht, einen Eindruck, über den sie sich jetzt gar nicht klar zu werden vermochte. Es war ihr, als ob sie sein Gesicht schon oft, sehr oft gesehen habe und als ob er zu ihr gehöre seit langer Zeit.

Als der Wagen vor ihrer Wohnung hielt und der Fürst ihr beim Aussteigen behilflich war, fragte sie:


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»Durchlaucht, darf ich hoffen, Sie bald einmal bei mir zu sehen?«

»Ihr Wunsch ist mir Gebot, meine Gnädige!«

»So bitte ich, mir unseren jungen Freund mitzubringen. Ich möchte nicht, daß wir uns heute zum ersten und auch zugleich zum letzten Male gesehen haben!«

Als sie dann bei sich eingetreten war und die Equipage sich wieder in Bewegung setzte, fragte der Fürst:

»Bitte, lieber Herr Bertram, haben Sie vielleicht in letzter Zeit über Ihre Zukunft nachgedacht?«

»Sogar sehr eifrig.«

»Was haben Sie beschlossen?«

»Es war mir unmöglich, zu einem Entschlusse zu gelangen. Ich mußte Gott walten lassen. Und siehe, er hat geholfen!«

»Wieso?«

»Das Honorar, welches ich heute durch Ihre freundliche Vermittlung erhielt, macht mir vielleicht die Erfüllung meines Herzenswunsches möglich: Ich will studiren!«

»Recht so! Das ist brav. Ich habe es erwartet.«

»Ich sage mir zwar, daß die Summe, welche ich jetzt besitze, durch die Verpflichtungen meinen Geschwistern gegenüber sehr vermindert werden wird; aber der zweite Band, welcher bald erscheinen kann, wird das wohl einigermaßen ausgleichen.«

»Ach! Sie wollen einen Theil des Geldes an Ihre Geschwister wenden?«

»Ganz gewiß, Durchlaucht!«

»Es sind Stiefgeschwister, gehen Ihnen also eigentlich gar nichts an. Sogar der Ausdruck Stiefgeschwister ist falsch, da Sie ja doch nur Pflegekind waren.«

»Desto größer ist meine Schuld. Mein Pflegevater hat mich nie fühlen lassen, daß ich aus dem Waisenhause stamme. Jetzt befinden sich die Kleinen dort, wie ich höre, und ich muß meine Pflicht erfüllen.«

»Brav! Wir werden sehen!«

Der Kutscher hatte jetzt in die Siegesstraße eingelenkt und hielt vor dem kleinen Hause, in welchem jetzt der alte Förster Brandt wohnte.

»Hier sind wir am Ziele,« sagte der Fürst, indem er aus dem Wagen sprang.

Bertram folgte ihm, und der Kutscher fuhr fort. Er wußte bereits, daß er jetzt nicht mehr gebraucht wurde. Der Fürst klopfte an die Thür, und der alte Brandt öffnete. Als er die Beiden erblickte, sagte er:

»Ah, Durchlaucht! Bringen Sie ihn? Bitte, näher zu treten!«

Er führte sie in das Zimmer. Dort trat ihnen die Försterin entgegen und reichte Bertram die Hand.

»Willkommen, Herr!« sagte sie mit gewinnender Freundlichkeit. »Hat Ihnen Durchlaucht bereits gesagt, weshalb wir Sie hier erwarten?«

»Nein,« antwortete er, ganz wohlthuend von diesen alten Leuten angemuthet.


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»Nun, ich denke, daß Sie jetzt keine Wohnung haben?«

»Leider allerdings noch nicht.«

»Nun, da wollte ich Sie fragen, ob Sie mit uns fürlieb nehmen würden. Sie werden übrigens bereits erwartet.«

»Von wem?« fragte er, erstaunt und zugleich beglückt von diesem Entgegenkommen.

»Von wem? Vermuthen Sie das nicht? Nun, Sie sollen es gleich sehen. Kommen Sie!«

Sie öffnete die Thür des Nebenzimmers. Ein heller Lichtschein strahlte ihnen entgegen. Ein Weihnachtsbaum brannte, und bei demselben standen, bereits mit zahlreichen Geschenken versehen - seine kleinen Geschwister.

»Robert, Robert, lieber Robert!« jauchzten sie, als sie ihn erblickten.

Sie sprangen ihm entgegen und streckten die Arme und die Händchen nach ihm aus. Er hatte sie seit jenem unglücklichen Abende des Einbruches nicht wieder gesehen. Er kniete sich zu ihnen nieder, zog sie an sich und schluchzte laut vor Freude und vor - Schmerz. Er dachte des Pflegevaters; er dachte - - doch nein, er hatte keine Zeit, sich diesen trüben Gedanken weiter hinzugeben, denn die Kleinen brachten ihm alle ihre Geschenke, die er betrachten und über welche er sich mit freuen mußte.

»Und von wem habt Ihr das Alles?« fragte er.

»Vom Vater!« antwortete das Eine.

»Von der Mutter!« sagte das Andere.

»Vom Vater und von der Mutter?« sagte er erstaunt.

»Ja, vom neuen Vater und der neuen Mutter hier!«

Dabei zeigten sie jubelnd auf die braven Förstersleute, welche mit inniger Rührung an diesem Wiedersehen theilnahmen. Er blickte Beide an und fragte dann:

»Verstehe ich recht? Sie haben - -«

»Die Kinder angenommen? Ja,« nickte der alte Brandt. »Sind Sie damit zufrieden, junger Herr?«

»Angenommen, wirklich angenommen? Sie brauchen nicht wieder in das Waisenhaus zurück?«

»O, nein! Sie wohnen bei uns schon seit Sie sich im Krankenhause befunden haben.«

»Herrgott, welch' eine Ueberraschung! Welch' eine Freude! Und das habe ich doch nur Ihnen, Durchl - -«

Er hielt inne. Er hatte sich umgedreht, um seine Worte an den Fürsten zu richten; dieser aber war verschwunden.

»Ah! Er ist in das vordere Zimmer zurückgekehrt!« sagte er. »Ich muß sogleich zu ihm, um -«

»Halt, Herr Bertram!« meinte der Förster, indem er ihn beim Arme ergriff. »Sie finden ihn nicht. Er ist jedenfalls fort.«

»Fort? Warum?«

»Er ist kein Freund von großen Danksagungen.«


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»Aber - hm,« meinte er, doch einigermaßen verlegen. »Ich bin mir doch noch ganz im Unklaren über mich selbst!«

»Sie werden gleich in's Klare kommen. Wollen Sie so gut sein und mir folgen?«

Er griff zum Lichte und führte ihn durch das vordere Zimmer und dann die Treppe empor. Dort war an einer Thür ein Porzellanschild angebracht.

»Bitte, lesen Sie!« sagte der Alte.

»Robert Bertram!« las er. »Das soll heißen -?«

»Das soll heißen, daß Sie hier in diesen zwei Giebelzimmerchen wohnen werden. Treten Sie ein!«

Er öffnete die Thür. Robert stand in einem allerliebsten Zimmer, an welches ein Schlafcabinet stieß. Es gab da einen Schreibtisch, eine Bibliothek auf Regalen. Es sah ganz so aus, als ob man sich in der Wohnung eines fleißigen Studenten befinde. Er betrachtete Alles und fragte dann:

»Das wurde veranstaltet vom Fürsten von Befour?«

»Ja.«

»Welch ein Mann! Wie dankbar muß ich ihm sein! Aber, Eins liegt mir am Herzen: Ich habe eine Schwester. Wissen Sie, wo sich dieselbe befindet?«

»Ja. Sie sollte heute hier mit zugegen sein; aber das war unmöglich, da sie verreist ist.«

»Verreist? Wo wohnt sie eigentlich?«

»In der Ufergasse. Sie hat eine Stellung bei einer Dame, welche Groh heißt und Rentière ist.«

»Ist die Stellung eine gute?«

»Jedenfalls. Die Dame ist als hochachtbar und sogar als fromm bekannt. Sie ist Mitbegründerin der Gesellschaft der 'Brüder und Schwestern der Seligkeit', eine Gesellschaft, welche für die Zwecke der Wohlthätigkeit und inneren Mission arbeitet. Also dürfen Sie um Ihre Schwester nicht bange sein. Meine Frau ging nach der Ufergasse, um sie für heute Abend einzuladen, hörte aber, daß Madame Groh für einige Zeit verreist ist.« -

Der Fürst hatte sich heimlich entfernt, um sich den Danksagungen des jungen Mannes zu entziehen; er ging durch den Garten nach seinem Palais, verließ dasselbe aber bereits nach kurzer Zeit verkleidet wieder. Er begab sich nach der Mauerstraße, zog dort einen Schlüssel hervor, öffnete eine Hausthür und stieg zwei Treppen empor, wo er dann leise an eine Stubenthüre klopfte. Es wurde geöffnet. In dem Zimmer war es finster.

»Sie, gnädiger Herr?« fragte Jemand leise.

»Ja, ich, Adolf.«

»Bitte, kommen Sie herein!«

»Willst Du nicht Licht anbrennen?«

»Nein. Im Finstern kann ich beobachten, ohne selbst beobachtet zu werden.«

»Ganz recht! Bist Du vorwärts gekommen?«


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»Ja.«

»Gut, sehr gut!« meinte der Fürst, indem er sich nach einem Stuhle tappte, auf welchem er Platz nahm. »Was hast Du weiter erfahren?«

»Der Hauptmann geht nicht durch den Eingang in das Haus, sondern er steigt über die Mauer.«

»Doch nicht etwa hier auf dieser Seite?«

»Ja, gerade vis-à-vis von meiner Wohnung. Ich habe es genau beobachtet.«

»Die Mauer ist ja viel zu hoch!«

»Das sagte ich mir auch. Man kann ohne Leiter nicht hinüber. Ich stellte mich also auf die Lauer, und siehe da! Ich entdeckte eine geheime Vorrichtung, deren sich der Hauptmann bedient, um in den Garten zu kommen.«

»Was wäre das?«

»Einer der Steine in der Mauer kann herausgenommen werden. In dem Loche sind Eisen verwahrt, welche in die Mauer gesteckt werden und dann als Stufen dienen.«

»So, so! Hast Du das selbst gesehen?«

»Ja. Ich habe es sogar probirt.«

»Sapperment! Du warst etwa in dem Garten?«

»Freilich! Ich bin hinter dem Hauptmanne her. Das heißt, ich habe mir ähnliche Eisen besorgt und bin in den Garten gestiegen. Dort habe ich auf den Hauptmann gewartet. Als er kam, bin ich hinter ihm hergeschlichen.«

»Verwegener Kerl! Wann war das?«

»Gestern.«

»Bist Du ihm bis in das Gebäude gefolgt?«

»Nein. Aber ich weiß, wie er in dasselbe gelangt.«

Er erzählte nun dem Fürsten von dem Fenster, durch welches der Hauptmann einzusteigen pflegte.

»Kam er da auch wieder heraus?« fragte der Fürst.

»Ja. Er verließ den Garten ganz in derselben Weise, wie er in denselben gestiegen war.«

»Du folgtest ihm dann weiter?«

»Das war leider nicht möglich. Um auch über die Mauer zu kommen, mußte ich warten, bis er fort war, und dann konnte ich ihn nicht einholen, weil ich nicht wußte, um welche Ecke er gebogen war.«

»War es der Baron?«

»Seine Gestalt war es. Heute habe ich nun gehört, daß das alte Gebäude vermiethet werden soll.«

»An wen?«

»An die Gesellschaft der Brüder und Schwestern der Seligkeit. Das giebt Einem natürlich zu denken!«

»Freilich! Freilich! Hm! Da darf man nicht zögern. Was meinst Du? Wollen wir sehen, was hinter dem Fenster verborgen ist, durch welches der Hauptmann einsteigt?«


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»Ich bin bereit.«

»Nimm Deine Laterne und den Revolver, und komm. Vielleicht gelingt es uns, das ganze Nest nächstens auszunehmen.«

Als der Baron von Helfenstein vorhin die Wohnung des Obersten von Hellenbach verlassen hatte, war er zunächst nach seinem Palais gegangen, hatte es aber bald darauf in Verkleidung durch das Pförtchen wieder verlassen. Er hatte die Richtung nach der Mauerstraße eingeschlagen, war dieselbe aber umgangen und von der anderen Seite an dem geheimnißvollen Gebäude angelangt. Dort öffnete er die Gartenpforte, schloß sie hinter sich wieder zu und schlich sich nach dem Hause. Er hatte die Thür desselben noch nicht erreicht, so hörte er sich angerufen.

»Pst!«

Er blieb stehen. Eine Gestalt kam von der Seite her auf ihn zu. Sie hatte keine Maske vor dem Gesicht, wie er selbst. Bei der Helligkeit, welche der Schnee verbreitete, konnte man das Gesicht des frommen Herrn - August Seidelmann erkennen.

»Ah! Auf dem Posten!« sagte der Baron. »Wie steht es?«

»Kommen Sie!«

Er führte ihn um das Haus herum nach dem hinteren Theile des Gartens. Dort war an der Innenseite der Mauer der Schnee aufgeworfen worden.

»Warum das?« fragte der Baron.

»Darum,« antwortete der Fromme, indem er auf eine Oeffnung deutete. »Kriechen wir hinein.«

Der Schneehaufen, welcher sich an die Mauer lehnte, war hohl. Beide krochen hinein. Der Baron fand einen ganz bequemen Sitz, auf welchem zwei Personen Platz hatten.

»Wessen Erfindung ist das?« fragte er.

»Die meinige. Ich habe diesen Beobachtungsposten extra für uns Beide selbst hergestellt. Jetzt sind wir hier, machen das Eingangsloch von innen zu, daß nur so viel bleibt, daß wir hinaussehen können. So wird kein Mensch, der selbst ganz in die Nähe kommt, denken, daß wir hier beobachten.«

»Sie haben also Grund, zu denken, daß der Mensch heute wieder kommt?«

»Sicher! Gestern, als Sie gingen, sah ich, daß er nach Ihnen über die Mauer sprang. Er war bis am Fenster gewesen.«

»So wird er heute vielleicht durch dasselbe einsteigen!«

»Ich vermuthe das.«

»Ist die Treppe fortgenommen?«

»Ja. Er kann nicht das Mindeste entdecken.«

»So wird es Zeit, daß wir räumen. Morgen wird Alles fortgeschafft.«

»Ich halte das nicht für unbedingt nothwendig. Wie nun, wenn dieser Mensch - hm!«

»Ich verstehe! Sein Verschwinden kann uns nichts nützen. Er arbeitet nicht allein. Er ist Polizist und hat Verbündete. Er gehorcht jedenfalls diesem


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verdammten Fürsten des Elendes. Es bleibt uns nichts übrig, als auszuräumen und das Geschäft für einige Zeit ganz liegen zu lassen.«

»Ganz? Wie schade!«

»Wenigstens müssen wir hier in der Residenz Ferien halten. Desto thätiger aber wird der Waldkönig sein.«

»Ich kann mir dennoch nicht denken, daß wir hier in gar so großer Gefahr schweben!«

»Doch! Der Fürst des Elendes spannt ein Netz nach dem anderen um uns. Sogar diesen Apotheker hat er engagirt.«

»Den alten Horn?«

»Ja. Dieser hat ihm versprechen müssen, ihm zu dienen. Der Alte ist aber doch so ehrlich gewesen, es mir zu sagen. Doch, à propos, wie steht es denn mit dieser Marie Bertram?«

Der Fromme ließ ein leises Kichern hören.

»Sehr gut,« antwortete er.

»Ist sie noch gestört?«

»Nein. Ihr Geist ist wieder aufgetaut.«

»Und ihr - ihr Gefühl?«

»Läßt kaum Etwas zu wünschen übrig. Sie hat von der Frucht gekostet und Wohlgefallen an ihr gefunden. Sie ist jetzt ein appetitlicher Bissen geworden.«

»Ich werde mir diesen Bissen betrachten, denke aber, daß er sich nicht lange im Besitze unserer frommen Madame Groh befinden wird.«

»Warum?«

»Ihr Bruder wird sich nach ihr erkundigen und sie zurückverlangen.«

»O, ich habe gesorgt! Einstweilen ist sie verreist.«

»In Wirklichkeit?«

»Nein; aber er wird es glauben. Horch!«

Jenseits der Mauer ließen sich Schritte vernehmen. Man hörte das Klirren von Eisen.

»Hören Sie!« flüsterte der Fromme. »Er kommt. Er hat die Eisen entdeckt. Ein schlauer Patron!«

Einige Sekunden später kam Adolf über die Mauer gesprungen; der Fürst folgte ihm. Beide entfernten sich vorsichtig nach dem Gebäude zu.

»Zwei!« meinte der Baron. »Er hat noch Einen mit. Ich hatte also Recht: Er arbeitet nicht allein und auf sein eigenes Risico. Man kann sie von hier aus sehr gut sehen.«

»Ja. Ich habe diesen Lauscherposten so angelegt, daß man Alles beobachten kann. Sehen Sie, daß der Eine jetzt durch das Fenster steigt?«

»Ja. Der Andere folgt.«

»Sie werden sehr enttäuscht sein, wenn sie sich in einem Loche sehen, zu welchem es keinen anderen Aus- und Eingang als durch eben das Fenster giebt.«

»Welch ein Glück, daß unser Posten diesen Kerl beobachtete. Wäre das nicht gewesen, so würden diese bEiden jetzt die Treppe und das Katheder finden,


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und eines schönen Tages würde die Polizei über uns herfallen. Sehen Sie, daß sie Licht gemacht haben?«

»Ja. Sie suchen. Na, gratulire!«

Nach längerer Zeit verlöschte das Licht, und die Beiden kamen wieder zurück. Hart neben dem Verstecke blieben sie stehen. Die beiden Lauscher hörten Folgendes:

»Ich glaube es nicht. Das Loch muß weiter führen.«

»Mir scheint es auch so. Du mußt Deinen Posten wieder einnehmen und dem Hauptmann auf dem Fuße folgen, sobald er über die Mauer kommt. Nur auf diese Weise ist es zu entdecken. Was sollte dieser Baron in dem Loche wollen, wenn es eben nur - ein leeres Loch ist! Doch, vorwärts jetzt! Hinüber!«

Sie stiegen über die Mauer. Der Baron stieß seinen Nachbarn an und flüsterte:

»Haben Sie es gehört?«

»Jedes Wort.«

»Auch das vom Hauptmanne?«

»Ja.«

»Und vom Baron?«

»Ja.«

»Donnerwetter! Wissen Sie, was das zu bedeuten hat?«

»Hm! Fast scheint es, als wenn -«

Er stockte verlegen.

»Nun, weiter! Als wenn -?«

»Als wenn dieser Mensch ahnte, daß der geheimnißvolle Hauptmann eigentlich ein Baron ist.«

»So ist es! Es ist wirklich so! Er ist mir auf der Spur.«

»Das wäre allerdings schlimm!«

»Gut, daß wir es erfahren haben! Es bleibt dabei: Morgen wird hier ausgeräumt, und in der Residenz halten wir für einige Monate Ferien.«

»Hm! Schade um das herrliche Geschäft!«

»Was wir hier verlieren, werden wir mit der Schmuggelei einbringen. Ich werde diese Letztere ganz anders einrichten. Es muß mehr Schwung hinein kommen. Glauben Sie, daß man sich auf Ihren Bruder auch verlassen kann?«

»Auf ihn und seinen Sohn? Vollständig! Ich übernehme für Beide die vollste Garantie!«

»Gut! So wird sich Etwas machen lassen. Uebrigens, wenn wir hier nichts thun, so haben wir Zeit, nach diesem Fürsten des Elendes zu forschen. Es müßte denn geradezu mit dem Teufel zugehen, wenn wir nicht erführen, wer er ist.«

»Und dann?«

»Und dann? Nun, dann soll er uns Alles bezahlen, Alles, was er an uns verschuldet hat! Jetzt sind die Beiden fort, und ich denke, daß wir nun auch gehen können!« -


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Als Robert Bertram heute das Krankenhaus verlassen hatte, war nur sehr kurze Zeit vergangen, so stellte sich Judith Levi dort ein. Sie war fast täglich gekommen, hatte aber den Erfolg nicht erreicht, den sie beabsichtigte. Heute traf sie zufälligerweise auf die Wärterin, welche Bertram gepflegt hatte. Von ihr erfuhr sie, daß er nicht mehr da sei. Sie freute sich, daß er genesen war, erschrak aber auch zugleich darüber. Dann fragte sie rasch:

»Wissen Sie vielleicht, wo er wohnt?«

»Nein, mein Fräulein.«

»Vielleicht könnte man es erfahren.«

»Jedenfalls. Man müßte sich an Seine Durchlaucht, den Fürsten von Befour wenden.«

»Warum an diesen?«

»Der Fürst ist es, der ihn abgeholt hat, noch dazu in seiner eigenen Equipage.«

»So hat er ihn mit sich genommen«

»Zunächst nicht. Ich erfuhr durch den Diener, daß der Fürst Herrn Bertram zu dem Obersten von Hellenbach bringen wollte.«

»Hellenbach?« Judith erbleichte. »Wissen Sie das genau?«

»Ja. Es wird heute Abend dort Bescheerung sein.«

»Ich danke! Gute Nacht!«

Sie eilte davon. Sie hatte am Begräbnißtage Fanny von Hellenbach gesehen; sie wußte, welch ein schönes Mädchen diese war. Die Eifersucht flammte in ihr auf. Sie ging nicht, sondern sie rannte förmlich nach Hause. Dort trat sie, roth und erhitzt vom schnellen Gehen, vor ihre Eltern.

»Er ist fort!« rief sie erregt.

»Fort? Wer?« fragte der alte Jude.

»Wer? Wer denn anders als Bertram!«

»Bertram der Dichter? Er ist nicht mehr im Hause der Kranken?«

»Nein. Er ist beim Obersten von Hellenbach.«

»Bei diesem, wegen dem er ist genommen geworden in Gefangenschaft? Dieser Oberst wird ihn haben kommen lassen, um ihm zu geben Schadenersatz für seine Verluste.«

»Ja, das wird er thun. Und ich weiß, was er ihm wird geben für einen Ersatz.«

»Er wird ihm geben einige hundert Gulden und zum Andenken einen Ring, zu stecken an seinen Finger.«

»Das Eine ist falsch und das Andere richtig. Er wird ihm geben seine Tochter und einen Ring, zu stecken denselben als Zeichen der Verlobung an den Finger.«

Der Jude machte ein erschrockenes Gesicht.

»Seine Tochter?« fragte er.

»Ja.«

»Wer hat das gesagt, daß mein Eidam soll heirathen die Tochter dieses Obersten von Hellenbach?«


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»Ich weiß es! Diese Tochter liebt ihn.«

»Sie liebt den Dichter? Hast Du ihn nicht geliebt viel eher? Hast Du ihn nicht gespeist und getränkt und ihm geborgt viel Geld? Hast Du nicht ein viel größeres Recht an ihn als sie?«

»Das habe ich! Jetzt ist er bei ihr. Jetzt wird brennen der Weihnachtsbaum im Salon, und der Dichter wird erhalten das Fräulein als Christgeschenk!«

»Gott Abrahams! Wird er Sie nehmen?«

»Weiß ich es? Ah, könnte ich es erfahren? Könnte ich dabei sein! Könnte ich sehen, was sie thun, und hören, was sie sprechen!«

Da schnippste der Alte mit den Fingern und rief:

»Das kannst Du; das kannst Du ganz gut, Judith, mein Tochterleben!«

»Alles hören?«

»Nein; aber Alles sehen kannst Du.«

»Wenn das möglich wäre! Aber wie sollte es möglich sein!«

»Was bist Du dumm, und hast doch einen so klugen Vater! Hast Du nicht eine Freundin, welche heißt Sarah Rubinenthal?«

»Die habe ich. Aber was soll die?«

»Ist nicht der Vater dieser Freundin ein Mann, welcher verkauft und verleiht Möbels und Meublements?«

»Ja, ja! Weiter!«

»Wohnt dieser Rubinenthal nicht gerade gegenüber von dem Hause, in welchem wohnt der Oberst von Hellenbach?«

»Herr Zebaoth! Daran habe ich nicht gedacht!«

»Du wirst gehen, um zu besuchen Deine Freundin Sarah Rubinenthal -«

»Das werde ich, sofort!«

»Und wirst Dich stellen an das Fenster, um zu belauschen Alles, was zu sehen ist drüben hinter den Fenstern. Wenn er nicht mag die Tochter des Obersten, so soll er werden mein Eidam. Nimmt er aber diese Tochter, so -«

Er hielt inne. Er wollte eine Drohung aussprechen, es fiel ihm aber leider keine ein.

»Nun?« fragte Judith. »Was willst Du dann mit ihm thun, wenn er wird untreu Deiner Tochter?«

»Weiß ich's? Ich weiß es nicht!«

Ihr Gesicht hatte einen ganz anderen Ausdruck bekommen. Ihre Augen leuchteten rachgierig auf.

»Aber ich weiß es,« sagte sie.

»Nun, was sollen wir thun?«

»Will er nicht haben meine Hand, so soll er auch nicht bekommen seinen Adel!«

Da schlug der Alte die Hände zusammen. Er sagte:

»Gott der Gerechte! Habe ich Dich vorhin geheißen dumm, und bist Du doch gescheiter zehnmal mehr als Dein Vater! Ja, wir haben ja seine Kette!«


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»Wir geben sie ihm nicht wieder!«

»Er wird sie verlangen! Können wir sie ihm verweigern?«

»Nein; aber er muß vorher bezahlen!«

»Er kann bezahlen, wenn er wird der Schwiegersohn des reichen Obersten von Hellenbach. Dann müssen wir ihm zurückgeben die Kette.«

»Geben wir ihm eine andere!«

Der alte Wucherer machte eine Geberde der Ueberraschung.

»Eine andere?« fragte er. »Judithleben, was bist Du geworden ganz plötzlich doch so klug und weise.«

»Habe ich nicht recht?«

»Ja, sehr recht hast Du, meine Tochter! Soll ich verlieren den berühmten Eidam; soll ich nicht werden ausgehauen in Stein mit Rebecca, meinem Weibe, so soll er auch verlieren die Kette und den Adel. Die Tochter des Obersten darf nur heirathen Einen, welcher hat den Adel.«

»Ja. Sie darf ihn ohne Adel nicht nehmen, und dann wird er kommen dennoch zu mir. Und nachher, wenn er ist geworden mein Mann, werde ich ihm geben die Kette und den Adel!«

»Das muß aber gemacht werden sehr geschickt. Die Kette ist zu verwechseln sehr leicht. Ich habe Ketten, welche sind unecht und dennoch aussehen grad wie die seinige. Aber das andere, das Herz, das Medaillon, worauf ist gravirt die Krone des Barons und die Buchstaben R.v.H., das ist schwer, denn es muß gemacht werden anders und dennoch sein ganz ähnlich wie vorher.«

»Hast Du nicht Jacob Simeon, den Goldarbeiter?«

»Ja, den habe ich.«

»Ist er nicht gegeben ganz und gar in Deine Hände? Kannst Du ihn nicht zwingen, zu machen Alles, was Du willst?«

»Ich kann ihn zwingen. Aber was soll er machen?«

»Ein anderes Herz, welches ist ähnlich dem richtigen.«

»Gut! Ich werde ihm befehlen, es zu machen. Aber die Krone?«

»Laß ihm machen eine Krone, welche ist auch ähnlich, aber nicht eine Adelskrone!«

»Auch das soll er machen. Aber die Buchstaben?«

»Er soll machen ganz dieselben zwei großen Buchstaben, damit es ist ganz ähnlich, aber er soll nicht machen zwischen sie hinein ein v. sondern ein u.«

»Warum soll er machen ein u?«

»Das heißt 'und'. Dann steht nicht da ein adeliger Name, sondern es stehen da die Anfangsbuchstaben von zwei Namen. Das giebt eine ganz andere Bedeutung.«

»Gott Israels! Habe ich doch nicht geahnt, welcher Scharfsinn wohnt in dem Kopfe meiner Tochter.«

»So thue, was ich Dir gesagt habe!«

»Ich werde gehen morgen zu Jacob Simeon.«

»Nein; Du wirst gehen gleich heute noch. Wenn der Dichter sich verlobt mit der Tochter des Obersten, wird er gleich haben Geld und morgen


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schon kommen, zu bezahlen seine Schuld. Dann muß bereits fertig sein die Änderung.«

»Schön! Ich werde gehen sofort und sogleich.«

»Und ich werde eilen zu meiner Freundin Sarah Rubinenthal.«

Sie ging und fand die Freundin daheim. Das Mädchen hatte ein eigenes Zimmer; dorthin zogen sich die Beiden zurück. Von hier aus konnten sie, ganz wie der alte Jude gesagt hatte, grad in die Fenster des Obersten blicken.

Judith machte die Freundin mit dem Zwecke ihres Besuches bekannt und Beide nahmen am Fenster Platz, um ihre Beobachtung zu beginnen.

Drüben war Alles hell erleuchtet. So kam es, daß die Mädchen bis in das Innere der Zimmer zu sehen vermochten. Sie ließen sich nichts entgehen.

»Siehst Du ihn?« sagte Judith. »Siehst Du, was er macht?«

Die kleine Bucklige antwortete:

»Ich sehe ihn. Er steht da und schlägt mit den Armen in die Luft.«

»Er declamirt. Er wird machen ein Gedicht gleich aus dem Kopfe, wie er bei mir hat gleich gemacht das Gedicht von der Frau des Meeres.«

Sie ließen den Declamirenden nicht aus den Augen. Sie sahen, daß er dann an das Fenster trat, bald aber rasch in das Innere des Zimmers zurückkehrte. Einige Zeit später kam Fanny von Hellenbach an das Fenster. Sie stand halb gegen das Licht gewendet, so daß man ihre Gesichtszüge sehen konnte.

»Das ist sie!« stieß Judith hervor. »Kennst Du sie?«

»Ich sehe sie alle Tage.«

»So sage einmal, ob sie schön ist, Sarahleben!«

»Sie ist schön, sehr schön!«

»Ja, sie ist schön; aber ist sie schöner als ich?«

Die Gefragte kam in Verlegenheit. Sie antwortete:

»Sie ist schön, und Du bist schön. Die Schönheiten sind ja ganz verschiedener Art.«

»Das will ich nicht wissen! Wenn Du wärst dieser Robert Bertram, welche würdest Du schöner finden, sie oder mich?«

»Dich!« antwortete Sarah.

Sie konnte unter diesen Umständen ganz natürlich keine andere Antwort geben. Da aber stieß Judith einen scharfen, zischenden Laut aus, wie eine Natter, die einen Feind sieht.

»Ah, er kommt! Er stellt sich zu ihr!« sagte sie. »Jetzt werden wir sehen, ob sie freundlich mit ihm ist. Siehst Du seine Augen?«

»Nein.«

»Ich auch nicht. Gott meiner Väter! Seine Augen möchte ich sehen! An den Augen merkt man es, ob sie sich lieben. Aber jetzt, jetzt! Sie berührt ihn! Sie greift ihn an! Sie legt ihm den Arm auf die Schulter! Was sagst Du dazu, Sarah Rubinenthal?«

Judith befand sich in größter Aufregung. Sie stampfte mit dem Fuße,


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sie trommelte mit den Fingern an die Fensterscheibe. In ihren Adern rollte orientalisches Blut. Sie wäre am liebsten hinüber geeilt, um der Rivalin die Augen auszukratzen. Da die Freundin nicht antwortete, wiederholte sie:

»Ob Du es siehst, frage ich?«

»Ja, ich sehe es!«

»Was sagst Du dazu? Jetzt wird sie ihm erklären ihre Liebe!«

»Wird sie das wirklich? Kann sie das?«

»Warum nicht? Du siehst es ja! Wenn sie wären allein mit einander, würde sie ihm legen die Arme um den Hals und ihn küssen mit den Lippen auf seinen Mund!«

»Er geht!«

»Ja, er geht, aber zu spät. Sie liebt ihn, und er liebt sie. Ich weiß, was ich zu thun habe!«

Der Freundin wurde es angst und bange.

»Was wirst Du thun?« fragte sie. »Du weißt ja kein Wort von dem, was die Beiden mit einander gesprochen haben.«

»Ich brauche kein Wort zu wissen. Ich weiß dennoch Alles. Schau, da kommt ein Wagen. Er gehört dem Fürsten von Befour. Jetzt werden sie aufbrechen, und wir müssen hinab gehen, um zu sehen, was geschehen wird mit Bertram.«

»Was soll geschehen mit ihm?«

»Ich muß wissen, ob er mit fortfährt oder ob er bleibt bei dem Obersten von Hellenbach!«

Sie begaben sich vor die Thür und brauchten nicht lange zu warten. Drüben stieg der Fürst mit Bertram und der Baronesse von Helfenstein ein. Dabei hörten sie die laut gesprochenen Worte des Obersten:

»Also, Herr Bertram, vergessen Sie ja nicht, daß Sie zu jeder Zeit bei mir offenen Zutritt haben. Betrachten Sie sich ganz als in mein Haus gehörig!«

Der Wagen rollte fort. Judith hatte Sarah's Hand ergriffen. Sie drückte dieselbe mit aller Macht und fragte:

»Hast Du es gehört? Deutlich gehört? Er hat offenen Zutritt! Nicht?«

»Ja.«

»Und gehört in das Haus des Obersten! Weißt Du, was das bedeutet? Er gehört zum Hause, er gehört zur Familie! Er ist der Verlobte der Tochter!«

»Vielleicht irrst Du Dich!«

»Nein, nein, ich irre mich nicht! Er ist mir untreu geworden! Er liebt mich nicht! Er liebt eine Andere! Aber ich kenne ein Mittel, ihn zu zwingen, zu mir zu kommen! Gute Nacht! Ich muß nach Hause!«

Sie ließ die Freundin stehen und eilte fort. Sie konnte lieben, und sie konnte hassen, Beides als echte Tochter des Orients. Sie haßte nicht Bertram, aber sie haßte Diejenige, von der sie glaubte, daß sie ihn ihr abtrünnig gemacht habe.

Ihr Vater war bereits wieder von dem Goldarbeiter zurück. Sie erzählte


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ihm, was sie gesehen und gehört hatte, und begab sich dann zur Ruhe, doch vergebens. Sie konnte keinen Schlaf finden und warf sich, an Rache und Vergeltung denkend, ruhelos von einer Seite auf die andere.

Derjenige aber, an den sie dachte, lag unterdessen im tiefsten Schlafe. Als er erwachte, war es längst Tag geworden. Er begab sich hinab und wurde von den beiden Alten und den Geschwistern freudig bewillkommnet. Nachdem der Kaffee eingenommen worden war, nahm der alte Förster den Jüngling beiseite.

»Ich habe heute bereits mit dem Fürsten gesprochen,« sagte er. »Ich weiß, was gestern passirt ist. Sind Sie ein guter Fechter?«

»Nein,« gestand Bertram. »Ich hatte weder die Zeit noch die Mittel, mich mit solchen Künsten zu befassen.«

»Hm! Das werden Sie nachzuholen haben. Und wie steht es mit dem Schießen?«

»Nicht viel besser.«

»Sapperment! Und Sie erwarten eine Forderung!«

»Ich denke doch, ein Pistol abdrücken zu können!«

»Hm! Schießen und schießen ist ein Unterschied, und hier handelt es sich um das Leben. Haben Sie bereits einen Blick in Ihren Schrank droben geworfen?«

»Nein.«

»Sie finden Kleider darin, welche Ihnen passen werden. Ziehen Sie sich warm an. Wir gehen jetzt in den Wald.«

»Wozu?«

»Wir schießen.«

»Ah! Auf Befehl des Fürsten?«

»Ja. Sie sollen wenigstens einigermaßen in Uebung sein.«

Nach kurzer Zeit wanderten Beide zur Residenz hinaus, und dann konnte man im Walde den Schall zahlreicher Schüsse hören. Es war bereits nach Mittag, als sie zurückkehrten.

Nachdem sie das Mittagsmahl eingenommen hatten, ging Bertram allein aus. Er begab sich zunächst nach der Ufergasse, um zu sehen, ob seine Schwester noch nicht zurückgekehrt sei. Er stieg die erste Treppe des betreffenden Hauses empor. Droben öffnete sich eine Thür, und vor ihm stand - eine sehr vornehme Dame, dachte er. Sie war noch jung und scheinbar sehr schön. Sie hatte ein kostbares, seidenes Schleppenkleid an und duftete nach Odeurs. Das Kleid war so tief ausgeschnitten, daß sich seine Wangen rötheten. Aber er hatte gehört, daß die Damen der höchsten Aristokratie sich in dieser Weise zu kleiden pflegten.

Daß das Gesicht dieses Mädchens voller Puder war, daß das scheinbar kostbare Kleid aus dem schlechtesten und billigsten Stoffe bestand, das wußte er nicht. Er begrüßte sie mit einer tiefen, ehrfurchtsvollen Verneigung und wollte weiter gehen, nach der nächsten Etage hinauf. Sie lächelte überlegen und fragte ihn:


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»Wo wollen Sie hin?«

»Zu Madame Groh.«

»Was wollen Sie dort?«

»Ich will mit meiner Schwester sprechen.«

»Ah! Wer sind Sie?«

»Ich heiße Bertram.«

»Dann bemühen Sie sich nicht umsonst. Madame Groh ist mit Ihrer Schwester verreist und kehrt vor zwei Wochen nicht zurück.«

»Ich danke sehr, meine Dame!«

Er stieg die Treppe wieder hinab. Das Mädchen trat wieder zurück. Hinter ihr fragte die Stimme einer Zweiten:

»Wer war der hübsche Junge?«

»Der Bruder von Marie, der Neuen. Wo ist sie?«

»Mit dem Lieutenant im Salon.«

»Das ist gut! Sie darf es nicht wissen, daß nach ihr gefragt wird.«

»Warum nicht? Die reißt uns nun nicht mehr aus. Der Bär, welcher Honig geleckt hat, geht nicht vom Baume weg!«

Von diesem Gespräche hatte Bertram keine Ahnung. Er ging von da nach der Wasserstraße zu dem Juden Salomon Levi. Er wurde mit größter Freundlichkeit empfangen und in das zweite Stübchen geführt.

»Kommt der Herr Bertram, wieder zu besuchen Judith, meine Tochter?« fragte der Alte.

»Nein,« antwortete der Gefragte. »Ich komme, um meine Schuld abzutragen.«

»Ist geworden der Herr so plötzlich reich? Aber ich muß dennoch rufen meine Tochter. Sie ist es, welche geborgt hat das Geld; sie soll es auch nehmen in Empfang.«

Das war Bertram keineswegs lieb, doch konnte er nichts dagegen thun. Als Judith eintrat, grüßte sie ihn mit ausgesuchter Freundlichkeit und streckte ihm die Hand entgegen. Er erwiderte diesen Gruß ebenso freundlich, ging aber auf kein Gespräch ein, obgleich sie sich Mühe gab, ein solches anzuknüpfen, sondern blieb bei dem einfachen Zwecke seiner Gegenwart.

»Aber, mein Herr,« sagte sie, sichtlich enttäuscht, »ist das denn gar so eilig? Ich brauche das Geld nicht!«

»Und dennoch bitte ich, es zurückzunehmen. Schulden drücken.«

Es ging wie ein Blitz über ihr Gesicht. Sie zuckte gleichmüthig die Achsel und antwortete:

»Ganz wie Sie wollen. Ich hatte gedacht, daß Sie das kleine Darlehen anders betrachten würden; ich hatte auch geglaubt, Sie öfters bei uns zu sehen - -«

»Entschuldigung! Meine Zeit wird von meinen Studien so in Anspruch genommen sein, daß ich wohl nicht in die Lage kommen werde, Sie zu belästigen.«

»So! Dann zählen Sie auf!«


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Er legte das Geld hin. Sie zählte nach und sagte dann zu ihrem Vater:

»Die Kette! Du hast sie doch gut verschlossen gehabt?«

»Sie liegt noch so, wie ich sie in das Pult gelegt habe. Hier, Herr Bertram. Es ist doch die Ihrige?«

Bertram öffnete das Schächtelchen, in welcher sie ihm hingereicht wurde, warf einen kurzen Blick darauf und sagte:

»Ja, sie ist es. Nehmen Sie meinen Dank!«

Er verabschiedete sich und ging, um sich nach dem Hause Nummer Elf zu begeben.

Draußen vor der Thür wäre er fast von einem riesengroßen Menschen umgerannt worden, welcher vorübertaumelte. Dieser war der Bruder des Riesen Bormann; er befand sich im Zustande ziemlicher Betrunkenheit und hatte seine Richtung nach dem offenen Platze zu genommen, auf welchem der Circus stand. Dort angekommen, blieb er stehen und horchte. Aus der Manége erklang das laute Klatschen von Peitschen.

»Sie arbeiten,« brummte er. »Will doch einmal hinein!«

Er war als Künstler, als 'College' bekannt und fand ungehindert dort Zutritt. Er sah einige Zeit den Uebungen zu, ging dann in den Stall, um sich die Pferde anzusehen, und wollte sich dann entfernen, als er dem Director in den Weg lief.

»Bormann!« sagte dieser. »Alle Teufel, Sie? Wie geht es?«

»Gut!« lautete die Antwort.

»Hm! Das ist eine Seltenheit! Ihre Verwandtschaft ist sonst nicht sehr vom Glück begünstigt!«

»Zielen Sie auf meinen Bruder?«

»Auch mit. Wie steht es mit dem?«

»Irrenhaus! Er ist verrückt.«

»Ich hörte es. Und Sie? Was treiben Sie?«

»Jetzt noch nichts; aber ich fange nun an, zu arbeiten.«

»Unter welcher Direction?«

»Unter meiner eigenen.«

»Sie wollen wieder einmal selbst dirigiren?«

»Ja.«

»Und eine Truppe bilden? Haben Sie denn Geld dazu?«

»Wem geht das etwas an?«

»Richtig! Mich nicht. Aber, da fällt mir ein: Brauchen Sie vielleicht Personal?«

»Nein.«

»Schade. Ich hätte etwas für Sie.«

»Was?«

»Einen Jungen. Habe ihn erst kürzlich bekommen und ein Heidengeld bezahlt. Da stürzt mir der Bengel vom Pferde und bricht ein Bein. Er wird zwar wieder gesund, aber bis dahin habe ich ihn doch daliegen. Ich mag ihn nicht mehr sehen?«


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»Wer sind seine Eltern?«

»Das geht Sie nichts an!«

»Zeigen Sie!«

»Kommen Sie!«

Er führte den Betrunkenen nach der hintersten Ecke des Stalles; dort lag auf Stroh der hübsche Knabe, den er durch den frommen Seidelmann erhalten hatte. Das Kind sah schrecklich bleich aus und wimmerte leise.

»Nun, wie gefällt er Ihnen?« fragte der Director.

»Will sehen!«

Bormann bückte sich nieder, um die Muskulatur des Knaben zu untersuchen. Dieser schrie vor Schmerz laut auf.

»Halte das Maul, Bube, sonst stopfe ich es Dir!« drohte der Betrunkene.

»Vater! Mutter!« wimmerte der Kleine in sich hinein.

»Hier hast Du eins!«

Die Hand des starken Mannes fuhr hernieder - das Kind war von jetzt an still.

»Nun?« fragte der Director.

»Nicht übel! Wie ist der Preis?«

»Ich habe ein Heidengeld gegeben; ich mag gar nicht daran denken. Es ist verloren. Was geben Sie?«

»Zehn Gulden.«

»Das ist doch ein Schundpreis! Nein!«

Bormann dachte nach.

»Hm!« brummte er. »Es ist mir lieb, daß der Junge das Bein gebrochen hat. Ich wollte, alle beide wären entzwei. Ich kann es nach meiner Weise kuriren; freilich, den Verband muß ich aufreißen. Man kann einen Kautschukmann aus ihm machen. Ich will zwanzig Gulden geben, aber keinen Kreuzer mehr!«

»Zwanzig Gulden? Wenig, verflucht wenig!«

»Der Teufel hole mich, wenn ich einen Heller mehr biete!«

»Na, ehe ich ihn so lange hier liegen habe und das Jammern anhöre, dann fort mit Schaden! Topp! Nehmen Sie ihn!«

»Topp! Heut Abend hole ich ihn ab. Das Wimmern will ich ihm schon abgewöhnen. Ich leide so etwas nicht. Bei mir heißt es arbeiten, aber nicht jammern!«

So war also dieser Handel abgeschlossen.

Unterdessen war Robert Bertram in das Haus Wasserstraße Nummer elf getreten und die Treppen empor gestiegen. Die Thür zu seiner früheren Wohnung war verschlossen. Er ging eine Treppe tiefer. Dort wohnte ja Wilhelm Fels, der Geliebte seiner Schwester Marie. Der Name stand nicht mehr an der Thür. Bertram klopfte. Es wurde geöffnet. Ein fremder Mann sah heraus und fragte:

»Was wollen Sie?«

»Ich suche den Mechanicus Fels.«


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»Kenne ich nicht.«

»Er wohnte ja hier!«

»Geht mich nichts an.«

Damit machte der Mann die Thüre zu und schob den Riegel vor.

Bertram schüttelte den Kopf. Er wußte ja noch nicht, was hier geschehen war. Er stieg in das Parterre hinab zu dem Holzhacker Schubert. Das Bein desselben war noch immer nicht heil, und seine Frau, die Wäscherin, lag noch immer mit gelähmten Gliedern darnieder. Beide erkannten ihn sofort.

»Herr Bertram!« rief der Mann. »Ist's möglich? Was führt Sie denn in dieses Unglückshaus? Herrgott! Wer hätte das gedacht? Nicht wahr? Aber nun ist Ihre Unschuld erwiesen. Wir haben es gleich gesagt!«

»Ich suche Felsens.«

»Felsens? Lieber Gott! Wissen Sie das nicht?«

»Was?«

»Der Wilhelm hat gestohlen. Er hat sechs Wochen Gefängniß erhalten. Das hat er davon!«

»Gestohlen? Unmöglich! Er muß unschuldig sein!«

»Unschuldig? Man hat ja die Sachen bei ihm gefunden.«

Bertram bedurfte seiner ganzen Selbstbeherrschung.

»Wo ist denn da seine Mutter?«

»Die haben sie in das Bezirkshaus geschafft. Sie soll nicht recht bei Sinnen sein.«

»Gott erbarme Dich! Ist das wahr?«

»Ja. Wir wissen es genau. Nämlich zu uns kommt sehr oft der ehrwürdige Herr Seidelm - - - ah, da kommt er gleich! Da können Sie ihn selber fragen!«

Bertram blickte sich um. Seidelmann, der gerade jetzt eingetreten war, stand vor ihm.

»Herr, behüte mich vor unzüchtigem Gelichte!« sagte er im Tone des Abscheues. »Herr Schubert, was haben Sie da für Besuch!«

»Herr Bertram ist's!«

»Das weiß ich. Aber haben Sie noch nicht gehört, daß böse Buben gute Sitten verderben?«

Bertram blickte den Sprecher ruhig an. Dann sagte er:

»Mit dem Ausdruck Bube bezeichnen Sie doch wohl nur sich selbst; denn ein Bube sind Sie, und zwar der allerschlimmste, den ich jemals kennen gelernt habe. Ihre fromme Maske kann nur Blinde täuschen, mich aber nicht. Es kommt die Zeit, in welcher wir miteinander zusammenrechnen! Zur Seite! Machen Sie Platz!«

Er wollte gehen; aber Seidelmann stellte sich breitspurig vor die Thür und antwortete:

»O, Du gottloses Gezücht! Bereits schwebt Gottes Strafgericht über Dir! Du sollst hier bleiben und nicht eher gehen, als bis ich Dir gesagt habe, daß - - -«

»Machen Sie Platz!« unterbrach ihn der Jüngling drohend.


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»Willst Du mich bange machen, Du Kind Belials? Einmal noch bist Du dem Grimme der Gerechtigkeit entgangen, doch hoffe nicht, daß dies zum zweiten Male geschehe. Das Gesetz hat bereits die Wurfschaufel in der Hand und wird - - Herr, mein Heiland - Himmelheiligesdonnerwetter!!!«

Bertram hatte ihm nämlich, um sich endlich den Weg frei zu machen, die Faust derart von unten herauf an die Nase gestoßen, daß aus derselben sofort das Blut herniederströmte und der Getroffene eine ganze Strecke zur Seite flog. Der junge Mann entfernte sich, während hinter ihm die Stimme des Heuchlers laut ertönte.

Er wollte nun nach Hause, nach der Siegesstraße, und benutzte diese Gelegenheit, das Haus des Obersten von Hellenbach zu passiren. Er ging auf der anderen Seite, um einen Blick nach den Fenstern werfen zu können. Er bemerkte Niemand, schien aber selbst bemerkt worden zu sein, denn es wurde ein Fenster geöffnet, und er hörte hinter sich seinen Namen rufen. Sich umdrehend, erkannte er den Obersten, welcher ihm winkte, hinaufzukommen.

Die erste Frage des alten Soldaten war:

»Haben Sie eine Forderung erhalten?«

»Nein.«

»Feigling, der! Man wird ihm zeigen, was man von ihm zu denken hat!«

Eine halbe Stunde später erhielt der Baron Franz von Helfenstein folgende Zeilen:

»Wenn Sie bis morgen Mittag zwölf Uhr Herrn Bertram nicht gefordert haben, veröffentliche ich Ihr Verhalten in den Blättern und haue Sie außerdem bei erster Gelegenheit mit dem Stocke durch!

v. Hellenbach, Oberst.«

Am nächsten Vormittag bat ein Herr, dessen Karte hinter dem Namen die Bezeichnung Lieutenant trug, den Fürsten von Befour sprechen zu dürfen. Er wurde vorgelassen.

»Verzeihung, Durchlaucht, daß ich wegen einer Bagatelle es wage, Sie zu incommodiren!« sagte er. »Ich habe mit einem Herrn Bertram zu sprechen, und es wurde mir gesagt, daß ich die Adresse desselben nur bei Eurer Hoheit erfahren könne.«

Der Fürst musterte den Mann mit kaltem Blicke und fragte:

»Sind Sie vielleicht Abgesandter des Barons von Helfenstein?«

»Allerdings.«

»So befinden Sie sich am richtigen Orte. Herr Bertram hat die Freundlichkeit gehabt, mich mit seiner Vollmacht zu beehren.«

Der Lieutenant in Civil horchte ganz erstaunt auf.

»Wie?« fragte er. »Euer Durchlaucht sind Secundant dieses, dieses - hm, dieses bürgerlichen Mannes?«

»Ja. Finden Sie darin etwas so Wunderbares?«

»Wenigstens etwas Ungewöhnliches!«

»Die Vollmacht eines Bürgerlichen, der sich wie ein Adeliger benimmt, ehrt jedenfalls mehr als das Mandat eines Adeligen, dessen Betragen ein gemeines ist!«


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»Ah! Soll sich das vielleicht auf meinen Auftraggeber beziehen, Hoheit?«

»Schweifen wir nicht ab! Was haben Sie mir zu sagen?«

»Der Herr Baron fordert Herrn Bertram, ohne zu untersuchen, ob derselbe auch satisfactionsfähig ist.«

»Schön!« lächelte der Fürst. »Herr Bertram hat die Güte, die Forderung zu aceptiren, ohne seinerseits die Ehrenhaftigkeit des Barones einer Untersuchung zu unterwerfen. Nehmen Sie Platz, und lassen Sie uns das Nähere bestimmen!«

Als nach einiger Zeit der Lieutenant zu dem Baron zurückkehrte, zeigte er sich bei höchst schlechter Laune. Er warf den Hut von sich und fragte:

»Sagen Sie, Baron, haben Sie mir das Ereigniß wirklich der Wahrheit nach erzählt?«

»Natürlich!«

»Dann kann ich das Benehmen dieses Fürsten von Befour wahrlich nicht begreifen! Fast hätte ich Lust, ihn nun meinerseits zu fordern!«

»Ich habe Sie ja bereits auf diese Arroganz vorbereitet. Welche Vereinbarungen haben Sie getroffen?«

»Pistolen, zwanzig Schritt Distance.«

»Verdammt nahe!« meinte der Baron.

Der Offizier blickte überrascht auf und fragte:

»Fürchten Sie sich etwa, Baron?«

Franz von Helfenstein fühlte sich getroffen. Er antwortete daher schnell:

»Sie haben mich vollständig falsch verstanden. Wenn ich die angegebene Distance sehr nahe nannte, so that ich es vor Freude, weil mir dadurch Sicherheit wird, daß mein Gegner nicht, ohne Blut zu lassen, vom Platze kommen wird! Wann wird das Rencontre stattfinden?«

»Morgen früh acht Uhr im Birkenthale. - Arzt, Waffen und den Unpartheiischen wird der Fürst besorgen.«

»So ist der Fürst Sekundant des Gegners?«

»Zu meiner Verwunderung, ja.«

»Er ist also mehr als ein Sonderling, wofür ich ihn bisher gehalten habe. Nur ein Dummkopf kann einem Schreiber sekundiren! Darf ich hoffen, daß Sie sieben Uhr bei mir sein werden?«

»Gewiß. Haben Sie für den Fall, welchen ich allerdings nicht erwarte, mir irgend eine Anweisung zu geben?«

»Nein. Ich kann Sie nicht noch mehr belästigen, als es bereits jetzt geschieht, und werde meine Maßnahmen anderweit treffen.«

Der Offizier entfernte sich und ließ den Baron nicht in der besten Stimmung zurück. Er war keineswegs als Held angelegt, obgleich er der Dirigent einer zahlreichen Diebesbande war. Sich dem Laufe einer geladenen Pistole gegenüber zu stellen, das war ganz und gar nicht nach seinem Geschmacke. Er sah ein, daß die Beleidigung des Jünglings eine Unüberlegtheit von ihm gewesen sei. Er hätte Bertram ganz ignoriren sollen. Ein Schreiber


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durfte für ihn, den Baron, gar nicht anwesend sein. Und indem er sich das sagte, wurde er auf sich selbst zornig.

So traf ihn Herr August Seidelmann, welcher kam, um sich in Betreff des geheimen Auszuges, der für heute Abend beschlossen war, zu verabreden. Diesem theilte er mit, daß er für morgen einen Zweikampf zu erwarten habe, und nannte ihm auch die Personen, um welche es sich handelte.

»Aber, gnädiger Herr Baron,« sagte der Schuster, »ich muß Ihnen sagen, daß ich ganz starr vor Verwunderung bin!«

»Schweigen Sie! Was Sie mir sagen wollen, habe ich mir bereits selbst gesagt. Dieser verdammte Oberst zwingt mich zu diesem Duelle!«

»Wenn die Kugel trifft, nämlich wenn Sie getroffen werden, was wird dann aus unserem Unternehmen?«

»Hm, nicht jede Kugel trifft. Sie kennen die Bertram'sche Familie. Wissen Sie vielleicht, ob dieser Knabe schießen kann?«

»Ich glaube kaum. Er war zwar Gymnasiast, hat sich aber von allem Allotria fern gehalten.«

»Nun, so darf ich annehmen, daß er mich nicht treffen, sondern nur ein Loch in die Luft schießen kann. Da man aber auf alle Fälle gefaßt sein muß, so werde ich heute mein Testament aufsetzen und außerdem für Sie eine Schrift verfassen, welche ich Ihnen noch heute Abend gebe. Sie wird versiegelt sein und Alles enthalten, was Sie im Falle, daß ich getödtet werde, zu thun haben. Sie öffnen sie natürlich erst dann, wenn Sie ganz sicher sind, daß ich todt bin.« -

Am anderen Morgen fuhr ein Schlitten aus der Residenz, in welchem der Fürst, Bertram, ein Arzt und noch ein Herr, der Unpartheiische, saßen. Diese vier Personen stiegen aus, als sie das wohl eine halbe Stunde von der Stadt gelegene Birkenthal erreichten. Dort stand bereits ein anderer, leerer Schlitten.

»Ah!« sagte der Fürst. »Der Baron hat sich zeitig eingefunden. Er will zeigen, daß er tapfer ist. Kommen Sie, meine Herren.«

Bertram war weder bleich, noch zeigte sich sonst Etwas an ihm, welches hätte schließen lassen, daß er Furcht oder etwas Ähnliches fühle. Er nahm ein kleines Packetchen aus der Tasche, reichte es dem Fürsten und sagte:

»Durchlaucht, sollte mir etwas Menschliches passiren, so bitte ich, dieses Päckchen zu öffnen. Es enthält nebst meinen letzten Wünschen einen Gegenstand, mit dessen Hilfe ich meine mir jetzt noch unbekannte Abstammung zu ergründen hoffte.«

Sie gingen den Fußspuren nach, welche im Schnee zu sehen waren. Die beiden Kutscher, welche zurückblieben, wußten nun, um was es sich handle. Sie sprachen nicht mit einander, da ihre Herren sich ja als Feinde gegenüberstanden; aber sie lauschten.

Nach vielleicht zehn Minuten fielen zwei Schüsse, und dann nach einem kleinen Weilchen noch zwei. Dann kamen drei Personen zurück - Bertram, der Unpartheiische und der Fürst. Dieser Letztere wendete sich an den Kutscher des Barons:


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»Fahren Sie unseren Spuren nach. Sie werden gebraucht. Ihr Herr ist verwundet worden!«

Die Drei stiegen ein und fuhren nach der Stadt zurück. Der Unpartheiische wohnte in einer der ersten Straßen. Er stieg vor seiner Wohnung aus und verabschiedete sich. Indem sich dann der Schlitten in Bewegung setzte, sagte der Fürst zu Bertram:

»Mein lieber, junger Freund, ich muß Ihnen das Geständniß machen, daß ich ein wenig indiscret gewesen bin. Ich war gestern bei der Baronesse Alma von Helfenstein. Sie interessirt sich für Sie und ist meine Freundin. Ich erzählte ihr von dem Duell, und sie wird um den Ausgang desselben besorgt sein. Fahren wir zu ihr, um ihr zu zeigen, daß Sie Sieger sind!«

Dies geschah. Als der Fürst sich melden ließ, kam Alma ihnen bis in das Vorzimmer entgegen. Als sie Bertram erblickte, sagte sie im Tone freudiger Genugthuung:

»Gott sei Dank! Herr Bertram ist unverwundet?«

»Ja,« antwortete der Fürst. »Er hat sich wie ein alter Soldat benommen. Der Baron aber hat einen Schuß in den Oberarm bekommen.«

»So treten Sie ein, und erzählen Sie!«

Robert Bertram sah im Laufe der Unterhaltung, daß er die aufrichtigste Theilnahme der Baronesse besaß. Da schien sich der Fürst zu besinnen. Er griff in die Tasche und gab Bertram das Packet zurück.

»Hier, mein Lieber,« sagte er. »Das ist nun glücklicher Weise nicht mehr nothwendig. Aber, sprachen Sie nicht von einem Gegenstande, welcher mit Ihrer Abstammung in Beziehung steht?«

»Ja. Ich wurde als Kind auf der Drehscheibe des Waisenhauses abgegeben. Man fand bei mir einen Zettel mit der Bemerkung, daß ich auf den Namen Robert getauft sei, und dabei eine Kette von Gold. Den Zettel behielt man, als mein Pflegevater sich meiner annahm, im Waisenhause bei den Acten zurück; die Kette aber gab man mir mit.«

»Eine goldene Kette?« fragte da Alma. »Robert heißen Sie? Gott! Beschreiben Sie mir die Kette!«

»Sie ist sehr dünn. An ihr ist ein Herz befestigt mit einer Freiherrnkrone und den Buchstaben R.v.H. darunter.«

Da stieß Alma einen Schrei aus. Sie sprang auf und rief:

»Herr Gott! Wäre es möglich! Sie haben die Kette in diesem Packetchen? Zeigen Sie, zeigen Sie!«

»Ja, öffnen Sie! Schnell, schnell!« sagte auch der Fürst, welcher ganz dieselbe Aufregung zeigte, wie die Baronesse.

Bertram konnte die Beiden nicht begreifen. Er öffnete den kleinen Karton, nahm die Kette hervor und gab sie ihnen. Beide betrachteten sie und machten dann gleiche enttäuschte Gesichter.

»Sie irren,« sagte der Fürst. »Das ist keine Freiherrn-, sondern eine Phantasiekrone. Und hier steht nicht R.v.H., sondern R.u.H. Das sind jedenfalls die Anfangsbuchstaben von den beiden Vornamen Ihrer Eltern.«


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»Nein,« sagte Robert. »Es ist kein u, sondern ein v.«

»Da, bitte, sehen Sie selbst!«

Er gab ihm die Kette zurück. Robert betrachtete sie genauer, als es bei dem Juden geschehen war.

»Das ist meine Kette nicht,« behauptete er dann. »Das ist eine andere, die allerdings der meinigen ganz ähnlich sieht. Und das Herz ist ganz täuschend nachgemacht.«

»Wirklich, wirklich?« fragte Alma. »Also eine Fälschung? Wer ist es, der einen solchen Betrug unternommen hat?«

»Der Jude Salomon muß es gewesen sein. Der Vater und die Geschwister hungerten, und ich ging zu dem Juden, um die Kette zu versetzen. Es war das einzige Mittel, den Hunger zu stillen.«

»Und wie alt sind Sie, wie alt?« fragte sie, indem sie ihre Erregung kaum zu meistern vermochte.

»Genau weiß ich das nicht. Zwanzig Jahre habe ich hinter mir.«

»Es stimmt! Es stimmt! Durchlaucht, was sagen Sie dazu. Da sendet uns der Herrgott einen -«

Der Fürst winkte abwehrend und unterbrach sie schnell:

»Bitte, bitte, meine Gnädige! Wir stehen hier vor einer Lösung und doch wieder vor einem Räthsel. Geben wir uns also noch nicht einer vielleicht ungerechtfertigten Freude hin!«

»O, doch! Wollen wir es ihm mittheilen?«

»Noch nicht! Seien wir zunächst vorsichtig! Herr Bertram, sind Sie von dem Juden nach Ihrer Abstammung gefragt worden?«

»Ja.«

Er erzählte das Gespräch, soweit er sich auf dasselbe besinnen konnte, und dann auch die letzte Unterredung, als er sein Pfand wieder eingelöst hatte. Dann fragte der Fürst:

»Kennen Sie den Grund, welcher den Juden bewogen haben könnte, die Fälschung der Krone und der Buchstaben vorzunehmen?«

»Nein. Ich kann mir keinen Grund denken!«

»Nun, dann kommen Sie. Es gilt, keinen Augenblick zu verlieren. Wir werden sofort zu diesem Salomon Levi fahren!«

Er nahm Bertram, der das Verhalten der Beiden gar nicht begreifen konnte, bei der Hand und zog ihn mit sich fort. Alma rief ihnen noch nach:

»Ja, eilen Sie! Aber kehren Sie dann zu mir zurück, um mir Nachricht zu bringen.«

Und dann, als sich die Thüre hinter den Beiden geschlossen hatte, faltete sie die Hände und flehte wie im Gebete:

»Herr Gott, Du lieber, himmlischer Vater, erbarme Dich meiner! Ist es mein Bruder, an welchem eine so schreckliche Missethat verübt wurde, so wirf Dein helles Licht in das Dunkel, damit mein Herz endlich Frieden finde, Frieden und das Glück, eine Seele zu besitzen, die mein Eigen sein darf!« -

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Ende der zwanzigsten Lieferung - Fortsetzung folgt.



Karl May: Der verlorne Sohn

Karl May – Forschung und Werk