Lieferung 32

Karl May

21. März 1885

Der verlorne Sohn
oder
Der Fürst des Elends.

Roman aus der Criminal-Geschichte.


// 745 //

»Nun, so denken Sie es jetzt.«

Und sich wieder zu dem Pfarrer wendend, fuhr er fort:

»Ich bin überzeugt, daß irgend Wer unseren Eduard Hauser mit den Papieren nach Langenberg in das Verderben hat schicken wollen.«

»Diesen braven Menschen! Der Keinem ein Leid thut!«

»Und daß man ihm zu diesem Zwecke heimlich die Spitzen in den Rock genäht hat.«

»Das müßte er ja wissen?« meinte der Gensd'arm.

»Ich sagte: heimlich.«

»Das geht nicht an. Er muß doch sehen, was andere Leute mit seinem Rocke vornehmen.«

»Auch des Nachts?«

»Da ist er ja zu Hause und nicht bei fremden Menschen, die ihm gefährlich werden wollen.«

»Aber so ein Mensch kann zu ihm kommen.«

»Ah! So meinen Sie es?«

»Allerdings.«

»Hm! Das wäre freilich ein grundschlechter Streich!«

»Darnach frägt so ein Mensch doch nicht.«

»Wer könnte das gewesen sein?«

»Ich weiß es.«

»Ah, wirklich?« fragte der Pfarrer schnell.

»Ja. Ich war sogar dabei; ich habe Alles beobachtet.«

»So sagen Sie schnell, wer ist es gewesen?«

»Gestatten Sie mir jetzt noch, schweigsam zu sein. Ich habe nämlich den Zweck, diesen schlechten Menschen zu entlarven, indem ich einen Anderen fange, nämlich den - Waldkönig.«

Dieses Wort machte einen großen Eindruck auf die beiden Zuhörer. Der Pfarrer sprang auf und rief:

»Den Waldkönig wollen Sie fangen?«

»Ja.«

»Bitte, bitte, nehmen Sie sich da recht sehr in Acht, damit Ihnen nicht ein Unglück geschieht.«

Auch der Gensd'arm hatte eine Bewegung der Ueberraschung gemacht. Er richtete seinen Blick im höchsten Erstaunen auf Arndt und fragte:

»Den? Den wollen Sie fangen?«

»Ja.«

»Hm! Das ist Hunderten nicht gelungen!«

»So kann es dem Ersten nach diesen Hunderten gelingen. Dabei ist es keineswegs meine Absicht, die hiesigen Polizeiorgane um ihre Ehre zu schmälern, indem ich auf Ihre Mitwirkung verzichte.«

»Ah! Das ist's! Daher kommen Sie zu mir?«

»Ja, daher!«


// 746 //

Da legte der Gensd'arm mit sichtbarem Wohlgefallen die Hand an sein Kinn und sagte:

»Das ist sehr recht von Ihnen! Sie werden sich auf mich verlassen können. Aber schwierig wird es sein, sehr schwierig und außerordentlich gefährlich.«

»Pah! Sie fürchten den Waldkönig?«

»Ich? O nein! Aber Jedermann fürchtet ihn.«

»Ihn, der bei einem einfachen Schusse bereits in Ohnmacht fällt!«

»Der Waldkönig? Wo wäre das geschehen und wann?«

»Heute Abend, bei Hausers.«

Da machte der Gensd'arm ein geradezu unbeschreiblich hilfloses Gesicht und fragte stockend:

»Bei Hausers? Heute Abend?«

»Ja.«

»Da ist ja Fritz Seidelmann in Ohnmacht gefallen.«

»Nun ja.«

Der Polizist vergaß vor Entsetzen ganz und gar, daß er sich in der Wohnung eines frommen Mannes befand.

»Himmeldonnerwetter!« fluchte er. »Sie wollen doch nicht vielleicht sagen, daß Fritz Seidelmann der Waldkönig ist?«

»Gerade das will ich sagen: Er und sein Vater!«

»Da bleibt mir der Verstand stehen!«

»Reiben Sie ihn schnell mit Kampferspiritus oder Opodeltoc ein, sonst kommt er nie wieder in Bewegung.«

»Seidelmann der Pascherkönig? Nein!«

»Warum nicht? Seidelmann machte die Familie des Schreibers unglücklich - Sie selbst haben Vater und Tochter arretirt, und doch war die Letztere unschuldig. Seidelmann zeigt Eduard Hauser an, nachdem er ihm die Spitzen in den Rock genäht hat. Seidelmann verlangt - -«

»Seidelmann hat dem Hauser die Spitzen beigesteckt?« fiel der Gensdarm ein.

»Ja.«

»Wie kann man das beweisen?«

»Ich kann es beschwören, denn ich habe es belauscht. Und sodann kann ich den Ort zeigen, wo sich die Spitzen befinden, von denen der heute confiscirte Theil abgeschnitten worden ist. Die Schnittflächen werden genau aneinander passen.«

»Das wäre allerdings ein schlagender Beweis!«

»Und doch genügt er mir noch nicht. Ich will ihm noch Weiteres beifügen, und dabei können Sie mir helfen.«

»Ich stehe zu Diensten!«

»Und Sie, Hochwürden?«

Der Pfarrer hatte in letzter Zeit ganz still dagesessen. Was er hörte, wirkte so mächtig auf ihn ein, daß er es vorzog, zu schweigen. Jetzt aber antwortete er:


// 747 //

»Diese Seidelmanns! Ah, meine Ahnung!«

»Wie? Sie ahnten - -?«

»Nicht das, was Sie wissen, verehrter Herr; aber ich war überzeugt, daß die Seidelmanns nicht die Leute sind, für welche sie sich ausgeben. Ich bin noch am letzten Sonntag arg mit ihnen zusammen gerathen. Bedürfen Sie auch meiner Mitwirkung?«

»Ich möchte Sie allerdings um dieselbe ersuchen.«

»Ich stehe zu Diensten.«

»Schön! So habe ich Ihnen mitzutheilen, daß ich heute noch mit dem Waldkönige sprechen werde - -«

»Donnerwetter!« fiel der Gensdarm ein.

»Sie sollen heimlich dabei sein - -«

»Warum nur heimlich?«

»Sie sollen nur hören, ob seine Stimme die Stimme Seidelmanns ist.«

»Das wird nicht schwer und auch nicht gefährlich sein. Verlangen Sie nur dieses Eine?«

»Weiter nichts!«

»Warum ihn nicht gleich festnehmen?«

»Nicht jeder Gewinn ist auch ein Vortheil zu nennen. Der Waldkönig wird auch für einen Pascher gehalten. Ich bespreche ein Geschäft mit ihm. Wir einigen uns über einen bedeutenden Schmuggelzug, und dann, dann erst nehmen wir ihn gefangen.«

Der Gensdarm fühlte sich von dem Plane förmlich begeistert.

»Sakkerment, ist das schlau, ist das pfiffig!« sagte er. »Wo wird die Unterredung stattfinden?«

»Draußen auf dem Schachte.«

»Warum da?«

»Darüber später. Haben die beiden Herren die Güte, sich mir anzuschließen?«

»Ja, sogleich!« antwortete der Gensdarm; indem er aufstand.

»Gern,« sagte auch der Pfarrer. »Wenn Ihnen an meinem Zeugnisse gelegen ist, mein Herr, so - -«

»Gewiß, gewiß! Das Zeugniß eines Pfarrers pflegt mehr Gewicht zu haben als jedes andere.«

»Aber haben wir nicht vorher noch über die Summe zu sprechen, welche sie die Güte hatten, mir - -«

»Heute nicht, heute nicht,« fiel ihm Arndt in die Rede. »Dieses Geld befindet sich in guten Händen. Verfügen Sie ganz nach Belieben darüber, und vergessen Sie nicht, daß Sie keinem Menschen Rechenschaft abzulegen haben!«

Nach kurzer Zeit waren die Drei unterwegs.

Als sie das Kohlenbergwerk erreichten, meinte Arndt:

»Bitte, warten Sie! Ich will erst rocognosciren.«

»Soll ich es nicht thun?« fragte der Gensdarm. »Unsereiner hat so seine Uebung und Erfahrung.«

»Danke! Ich bringe das auch fertig.«


// 748 //

Er schlich davon, und die Beiden blieben leise flüsternd mit einander zurück. Nach einer Weile tauchte er hart bei ihnen aus dem Schnee empor, so daß sie über sein plötzliches Erscheinen beinahe erschreckten.

»Es steht Alles gut,« sagte er. »Treten Sie so leise wie möglich auf; lassen Sie sich nicht sehen, und beobachten Sie überhaupt alle mögliche Vorsicht!«

Er führte sie nach dem Schuppen, in welchem er mit dem frommen Schuster gesprochen hatte. Als sie ihn glücklich und unbemerkt erreichten, sagte er:

»Hier liegt Stroh. Klettern Sie hinauf, und beobachten Sie scharf. In einiger Zeit wird der Waldkönig erscheinen. Ich werde ihn sogar einmal mit meinem chemischen Laternchen anleuchten. Diesen Augenblick müssen Sie erfassen. Wenn Sie auch sein belarvtes Gesicht nicht erblicken werden, so wird es Ihnen doch wenigstens gelingen, seine Gestalt zu erkennen.«

Er ging fort und klopfte an Laube's Thür. Dieser Letztere erschien sogleich und fragte laut:

»Was giebt es?«

Arndt griff mit der rechten Hand nach dem rechten Auge und sagte:

»Ich werde erwartet.«

»Ah, Sie sind es! Sie waren gestern bereits da?«

»Ja.«

»Ich soll Sie melden.«

»Dauert es lange?«

»Nein, da man Sie erwartet.«

»Klingeln Sie heute fünfmal anstatt nur vier Mal!«

»Ist das besprochen worden?«

»Ja.«

»Gut. Haben Sie sich den Strohschuppen gemerkt?«

»Ja. Soll ich dort warten?«

»Bitte, ja. Der Betreffende wird dort hinkommen.«

Jetzt kehrte Arndt nach dem Schuppen zurück. Er zog sein Laternchen hervor und bemerkte beim Scheine derselben, daß seine beiden Gefährten sich so versteckt hatten, daß sie gar nicht bemerkt werden konnten.

»Haben Sie ihn bestellt?« flüsterte der Gensdarm.

»Ja.«

»Bitte, sprechen Sie so laut wie möglich mit ihm, damit uns nichts entgehen kann.«

»Ihren Wunsch in allen Ehren, aber Sie sehen doch ein, daß man bei derartigen geheimen Zusammenkünften nicht geradezu zu schreien pflegt!«

Es verging wohl eine halbe Stunde. Da öffnete sich die nur angelehnte Thür, und es trat Jemand ein.

»Pst!« machte es.

»Pst!« antwortete Arndt.

»Wer ist hier?«

»Der Gestrige.«


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»Gut! Sie hatten nicht für bestimmt zugesagt.«

»Ich habe auch wirklich großen Schaden, indem ich noch einmal kommen muß. Sind wir hier sicher?«

»Vollkommen! Der, welcher mich geholt hat, steht Wache.«

»So gilt zunächst eine Frage: Sie sind der hiesige Waldkönig?«

»Ja. Und Sie sind der Pascherkönig, welcher Gegend?«

»Lassen wir das! Man muß jetzt vorsichtig sein. Kommen Sie in Geschäften zu mir, habe natürlich ich mich zu legitimiren.«

»Richtig! Auch der Hauptmann mahnte zur Vorsicht. Er schrieb, daß er jetzt nicht mehr correspondiren könne; ich solle der Weisung eines Jeden folgen, der im Besitze des Zeichens ist.«

»Nun, das habe ich.«

»Ich weiß es. Waren Sie auch an der Eiche?«

»Natürlich. Wie hätte ich sonst wissen können, daß Laube es ist, an den man sich zu wenden hat.«

»Richtig! Also, Sie haben mir ein Geschäft in Vorschlag zu bringen?«

»Ein bedeutendes sogar.«

»Ich hörte es. Wollen Sie liefern oder empfangen?«

»Liefern.«

»Was für Gegenstände?«

»Persische Seide und Smyrnatücher.«

»Donnerwetter! Das wäre ein Geschäft!«

»Zwanzigtausend Gulden!«

»Umsatz natürlich?«

»Nein, sondern zu verdienen!«

»Reiner Gewinn? Tausend Teufel! Das wäre! Davon hat mir mein - der, mit welchem Sie gestern gesprochen haben, nichts gesagt.«

»Immer sprechen Sie sich vollständig und genau aus! Gestern sprach ich mit ihrem Bruder. Sie sehen also, daß ich Sie kenne.«

Es trat ein Schweigen ein, welches bewies, daß der Waldkönig sich entweder in Verlegenheit befand oder überrascht war. Endlich sagte er:

»So sind Sie der Hauptmann selbst! Nur dieser allein kennt die persönlichen Verhältnisse seiner Könige.«

»Wer ich bin, ist jetzt ganz gleichgültig. Ich demaskire mich Ihnen nicht, und so haben Sie mit mir wie mit Ihresgleichen zu verfahren.«

»Gut! Es scheint, Sie wollen mich einer Prüfung unterziehen. Ich hoffe, sie zu bestehen. Wann gedenken Sie zu liefern?«

»Sobald wie möglich.«

»Hm, so bietet sich für morgen eine passende Gelegenheit. Wissen Sie, Winkler war gestern - -«

Er hielt doch inne. Arndt war ein Genie an Scharfsinn und Combinationsgabe. Er errieth sofort, daß Winkler ein Schmuggelunternehmer sei. Der Hauptmann wollte nicht mehr direct correspondiren; er hatte trotzdem an den Waldkönig geschrieben. Wer konnte diesem den Brief gebracht haben?


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Kein anderer, als dieser jetzt so zaghaft erwähnte Winkler! Arndt war von der Wahrheit seiner Vermuthung so fest überzeugt, daß er gar nicht annahm, ein Wagniß zu begehen, wenn er schnell bemerkte:

»Winkler! Nun, was ist mit ihm?«

»Ich weiß nicht - ob - ob ich davon sprechen darf!«

»Warum nicht. Hat er meine Befehle ausgeführt?«

»Welche Befehle?«

»Nun, hat er Ihnen mein Schreiben gegeben?«

»Ah! Also doch! Sie sind es selbst, wirklich selbst! Ah, nun kann ich freilich offen sprechen! Ich habe Ihren Brief erhalten und mein Bruder den seinen auch, der ihn so schnell abrief.«

»Und was trug Winkler Ihnen an?«

»Eine höchst ansehnliche Lieferung.«

»Für wann!«

»Zwei Uhr nach Mitternacht.«

»Wohin?«

»An das diesseitige Ende des Haingrundes.«

»Wo wir jetzt solches Pech gehabt haben?«

»Ja; aber gerade deshalb.«

»Sie denken, die Grenzer meinen, daß wir uns nicht sogleich wieder dahin wagen werden?«

»Gewiß haben Sie diese Ueberzeugung, zumal - -«

»Zumal - - -? Nun, was?«

»Zumal sie denken werden, daß wir jetzt überhaupt ganz und gar nichts unternehmen werden.«

»Ah! Warum sollten sie das denken?«

»Weil - hahaha! - weil sie den Pascherkönig gefangen haben! Darum!«

»Ah! Sie meinen diesen albernen Hauser?«

»Ja.«

»Ich bin stets von Allem, was mich interessiren kann, gut unterrichtet. Ihr Sohn hat ihm die Spitzen in den Rock geflickt?«

»Ja.«

»Das heißt, er hat sich in Hauser's Stube geschlichen?«

»Das war nicht schwer.«

»Die Spitzen sind aus Ihrer hinteren Stube. Sie wissen den verborgenen Ort!«

»Alle Teufel! Sind Sie allwissend?«

»So sehr, als es mir vortheilhaft ist. Sie sehen hieraus, daß es sehr gerathen ist, mir treu zu dienen. Uebrigens bin ich mit dem zwischen Ihnen und Winklern besprochenen Plan einverstanden. Ich halte den Haingrund jetzt für sehr sicher.«

»Ich auch. Ah, wenn wir zu gleicher Zeit auch Ihre Sendung erhalten könnten! Welch' ein Fang!«

»Wie viele Leute sendet Winkler?«

»Zwanzig Mann.«


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»Ich bringe ebenso viele. Sie hätten also für vierzig Mann zu sorgen, um die Pakete aufzunehmen.«

»Die bringe ich gut zusammen.«

»Das sind achtzig Personen. Ist denn der Ausgang des Haingrundes groß genug, um diese Leute zu fassen?«

»O, ganz gewiß!«

»Schön! Wie steht es mit einer Parole?«

»Wir haben sie in letzter Zeit nicht für nöthig gehalten.«

»Warum nicht? Man kann die Vorsicht nie zu weit treiben. Meine Träger werden den Ihrigen ihre Pakete nur gegen Parole übergeben.«

»Wie lautet sie?«

»Gottfried von Bouillon.«

»Gut Ich werde diese Parole austheilen.«

»An der Eiche?«

»Ja. Eine andere Gelegenheit bleibt mir bei dieser Kürze der Zeit nicht zur Verfügung.«

»So gehen Ihre Leute einzeln zur Eiche und kommen also auch einzeln dann nach dem Haingrund.«

»Ja. Ist das nicht besser, als wenn sie sich vorher versammeln und von den Grenzern um so leichter bemerkt werden?«

»Gewiß! Sie haben Recht. Wie operiren Sie denn mit Wolf in Helfenstein?«

»Mit dem Schmiede? Hm! Er ist unzuverlässig.«

»Wieso?«

»Früher war er ein ganz anderer Kerl, ganz Feuer und Flamme. Jetzt ist er nicht mehr so.«

»Daran ist das Alter schuld!«

»O, nicht dieses allein. Er ist trübsinnig geworden. Er spricht mit sich selbst; er macht allerhand andere Dummheiten. Es hat fast den Anschein, als ob er sich jetzt in dem Besitze jenes ebenso dummen, wie überflüssigen Dinges befinde, welches von gewissen Leuten Gewissen genannt wird.«

»Dann wäre er allerdings ein großer Dummkopf geworden und man hat sich mit ihm vorzusehen.«

»Sicher! Er ist unzuverlässig geworden. Bei unserem letzten Unternehmen ist er gar nicht erschienen, obgleich er mit seinem Sohne den ganzen Nachmittag in der Schänke zugebracht hat. Was soll man davon denken!«

»Ich werde den Kerl einmal in's Gebet nehmen. Also, morgen zwei Uhr nach Mitternacht am diesseitigen Ausgange des Haingrundes. Vierzig Personen bestellen. Kommen Sie selbst?«

»Natürlich!«

»Auch ich bin mit da.«

»Desto besser! Erlauben Sie mir, meinen Sohn mitzubringen?«

»Ja. Ich möchte mit ihm sprechen. Bringen Sie ihn! Haben Sie sonst eine Frage?«


// 752 //

»Sie sprachen von zwanzigtausend Gulden Gewinn. Wie kommt diese Summe zur Vertheilung?«

»Wie gewöhnlich. Brauchen Sie Geld?«

»Ja. Wir haben in letzter Zeit so ungeheures Pech gehabt.«

»So werde ich morgen Einiges mitbringen. Also Ihr Bruder ist abgereist?«

»Heute früh.«

»Hat er Ihnen gesagt, wohin?«

»Nein. Er ist verschwiegen, selbst gegen mich.«

»So sind wir heute also zu Ende? Nicht?«

»Ja. Ich wenigstens habe weiter nichts zu bemerken.«

»So entfernen Sie sich zuerst. Ihre Zeit ist am Meisten in Anspruch genommen. Gute Nacht!«

»Gute Nacht!«

Der Waldkönig ging. Sein Schritt war langsam. Er sprach mit Laube, welcher Wache gestanden hatte. Als Beide um die nächste Ecke verschwunden waren, flüsterte Arndt den beiden Lauschern halblaut zu:

»Kommen Sie! Wir gehen jetzt. Später könnten wir sehr leicht beobachtet werden.«

Es raschelte im Stroh. Die Zwei standen bei ihm. Er trat zur Thür hinaus, und sie folgten ihm. Sie wollten dieselbe Richtung einschlagen, aus der sie gekommen waren; er aber hielt sie zurück, indem er warnte:

»Nicht dahin! Das dürfen wir nicht.«

»Warum denn nicht?« fragte der Gensd'arm. »Das ist ja unsere Richtung?«

»Dorthin ist auch der Pascherkönig gegangen. Er steht da irgendwo und kann uns leicht bemerken. Dann wäre Alles verdorben. Wir müssen auf der anderen Seite der Halde hinab.«

Er wandte sich der entgegengesetzten Richtung zu, wo sie die steile Halde langsam hinabkletterten und dann den eigentlichen Weg erst aufsuchten. Sie schwiegen, bis sie sich in der Nähe der Stadt befanden, dann fragte Arndt:

»Nun, meine Herren, was sagen Sie dazu?«

»Das war die interessanteste Unterhaltung, welche ich in meinem Leben gehört habe,« versicherte der Pfarrer.

»Und Sie?« fragte Arndt den Gensd'arm.

Da stellte der Polizist sich breitspurig vor Arndt hin, legte ihm die beiden Hände auf die Achseln und sagte:

»Ich sage dazu, daß ich am Liebsten Sie arretiren möchte!«

»Mich? Hm! Warum?«

»Wer sind Sie denn eigentlich?«

»Das wissen Sie!«

»Nein, das weiß ich eben nicht! Der Herr Pfarrer hat zwar gesagt, daß Sie der Fürst des Elendes seien - aber -«

»Nun, aber -?«


// 753 //

»Nach Ihrem Gespräche mit dem Waldkönige, welches ich Wort für Wort gehört habe, muß ich etwas ganz Anderes vermuthen.«

»Nun, was vermuthen Sie?«

»Daß es mehrere Waldkönige giebt.«

»Das war leicht zu bemerken.«

»Daß diese verschiedenen Waldkönige ein Oberhaupt haben, welches sie Hauptmann nennen.«

»Schön! Weiter!«

»Und daß Sie dieser Hauptmann sind!«

»Das ist allerdings höchst interessant!«

»Kann ich anders? Sie wußten ja Alles! Sie wußten mehr, als der Waldkönig selbst!«

»Aber wie oft ich dabei doch nur bloße Vermuthungen und Combinationen ausgesprochen habe, das wissen Sie nicht.«

»Auch haben Sie uns den Mann ja gar nicht angeleuchtet, wie Sie uns doch versprochen hatten.«

»Ich hielt das nicht für nöthig. Sie haben, wie Sie bereits sagten, jedes Wort unserer Unterhaltung verstanden?«

»Ja.«

»Nun, so haben Sie auch gehört, daß von einem Sohne gesprochen wurde, welcher morgen mitkommen wird, und von einem Bruder, welcher heute früh abgereist ist. Bedarf es da etwa einer chemischen Laterne, um zu wissen, wen man vor sich hat?«

»Ganz gewiß nicht,« antwortete der Pfarrer.

»Haben Sie die Stimme erkannt, Hochwürden?«

»Ja, obgleich sie durch die Maske einigermaßen verändert wurde, was leicht begreiflich ist.«

»Nun, wessen Stimme war es?«

»Diejenige vom Seidelmann Vater.«

»Auch ich habe sie erkannt,« bemerkte der Gensd'arm. »Aber, Herr, Sie sind ein wahrer Teufel, alles so heraus zu locken!«

»Ich bin Polizist!« lachte Arndt.

»Es fällt Ihnen natürlich ganz und gar nicht ein, morgen nach Mitternacht zwanzig Träger mit persischen Seidenzeugen nach dem Haingrunde zu senden?«

»Warum nicht? Träger werde ich senden, aber nicht mit persischer Seide, sondern um die Pakete dieses sogenannten Winkler zu confisziren.«

»Sie thaten doch, als ob dieser Winkler Ihnen bekannt sei!«

»Freilich that ich so; aber ich habe noch nie von ihm gehört.«

»Donnerwetter! Das ist kühn!«

»Nein, sondern nur gut combinirt. Ich vermuthe sogar weiter, daß gerade dieser Winkler der Fremde ist, welcher Eduard Hauser die Briefschaften zur Besorgung übergeben hat.«

»Das ist allerdings eine Idee!«


// 754 //

Da klopfte Arndt dem Gensd'arm auf die Achsel und sagte unter einem lustigen Lachen:

»Ja, mein Lieber, wenn man Polizist ist, so ist es sogar nothwendig, zuweilen eine Idee zu haben!«

»Was werden Sie beschließen?«

»Das werden Sie morgen hören. Für heute kam es mir nur darauf an, giltige Zeugen meiner Unterredung mit dem Waldkönige zu besitzen. Ich kann nun auf alle Fälle nachweisen, wer dieser Mann ist. Morgen wird er mit seinen Leuten natürlich gefangen genommen. In welcher Weise das geschehen soll, das werden Sie durch Ihren Vorgesetzten erfahren. Für heute sage ich meinen besten Dank. Gehen wir jetzt weiter!«

Sie setzten ihren Weg fort. Arndt ging hinter den Beiden her. Er zog unter der Weste das weiße Betttuch hervor, warf es über und duckte sich nieder. Die Beiden bemerkten es gar nicht. Als sie einige Schritte gethan hatten, kroch er vom betretenen Pfade ab zur Seite hinüber und legte sich nieder. Sie waren noch gar nicht weit entfernt. Er sah, daß der Gensd'arm stehen blieb, und hörte dessen Worte:

»Aber noch Eins, mein Verehrtester! Ich glaube nämlich, daß wir morgen - Himmeldonnerwetter!«

Er blickte ganz erstaunt umher. Der Pfarrer war vor Ueberraschung wortlos.

»Verzeihung, daß ich fluche, Herr Pfarrer!« sagte der Gensd'arm. »Aber was sagen Sie dazu? Der Kerl ist fort!«

»Allerdings!«

»Der Schnee leuchtet. Man kann sehr weit sehen. Aber, bemerken Sie eine einzige Menschenseele?«

»Ich sehe nichts!«

»Und ich gar nichts! Soeben war er noch hier, dahier, dicht hinter uns. Ich hörte, wie er leise hustete. Hören Sie, dieser Kerl ist nicht der Fürst des Elendes!«

»Nicht?«

»Nein. Auch nicht der Waldkönig!«

»Aber - wer ist er denn sonst?«

»Der Teufel, der leibhaftige Teufel! Gott sei meiner armen Seele gnädig!«

»Scherzen Sie nicht!«

»Ich scherze ganz und gar nicht! Er ist der Satan, der Beelzebub - alle guten Geister loben ihren Meister! Haben Sie nicht gehört, daß er Alles wußte?«

»Freilich, freilich! Aber das ist noch kein Grund, ihn geradezu für den Teufel zu halten.«

»Nun, was soll er denn sonst sein?«

»Das, was er selbst von sich sagte: ein guter Polizist.«

»Pah! Unsichtbar machen kann sich selbst der beste Polizist nicht.«


// 755 //

»Er steckt wohl hinter einer Schneewehe!«

»So konnte er Abschied nehmen, wie es sich schickt und gehört!«

»Er wolle Ihren Fragen entgehen.«

»Ah so, hm! Ich habe ihm allerdings einige Male ganz bedeutend auf das Leder gekniet!«

»Das schien ihm aber nicht zu behagen. Uebrigens versteht es sich ganz von selbst, daß wir Beide von unserem Erlebnisse kein Wort verrathen!«

»Das braucht nicht erst erwähnt zu werden! Kommen Sie, Herr Pfarrer, machen wir uns aus dem Staube!«

Sie gingen. Arndt ließ noch eine kurze Zeit verstreichen, dann erhob er sich und ging nach Hause.

In der Stube des Försters brannte noch Licht. Als Arndt die Hausthür wieder zuschloß, trat der Förster zu ihm heraus und rief ihm zu:

»Herein! Sofort!«

»Aber, Alter!« ertönte drin die beruhigende Stimme der Försterin. »Herr Arndt kann doch gar nichts dafür!«

»Das verstehst Du nicht! Er mag fein zu Hause bleiben!«

Die beiden Männer traten ein, und der Förster fragte zornig:

»Haben Sie es gehört, Sie Herr Vetter, Sie Herr Arndt?«

»Was?«

»Zu Hause bleiben sollen Sie und nicht so herumlaufen!«

»Warum denn?«

»Damit man Sie hat, wenn man sie braucht!«

»Ah! Ich bin gebraucht worden?«

»Welch ein Ton! Ich glaube gar, der Kerl wundert sich darüber, daß er gebraucht worden ist!«

»Nun, wer hat meiner bedurft?«

»Ich, meine Frau, das Bärbchen, alle Leute im Forsthause, alle Menschen in der Stadt haben Sie gebraucht.«

»Wozu?«

»Fragt der Mensch auch noch dieses! Wissen Sie denn noch nicht, was geschehen ist?«

»Nun, was denn?«

»Der Hausers Eduard ist futsch!«

»Ah!«

»Und die Engelchen ist futsch!«

»Oh!«

»Ja! Da steht er und schreit Ah! und Oh! Aber zu Hause ist er nicht gewesen! Die beiden sind nämlich in die Gefangenschaft geschleppt worden. Verstanden?«

»Ja. Ich weiß es!«

»Was? Sie wissen es?«

»Ja.«

»Und Sie sagen das so ruhig!«


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»Wie soll ich es denn sagen?«

»Brüllen müssen Sie es, hinausschreien müssen Sie es, daß man es oben auf dem Chimborasso hört! Aus der Haut fahren müssen Sie vor Grimm! Den Ofen müssen Sie einreißen vor Wuth -«

»Ausfahren werde ich allerdings, aber nicht aus der Haut.«

»Wo denn hinaus?«

»Aus dem Forsthause hinaus.«

»Also schon wieder fort!«

»Seien Sie doch ruhig, mein lieber Vetter Wunderlich!«

»Was? Ruhig sein? Der Teufel mag da ruhig sein«

»Aber ich habe die Sache ja eher gewußt als Sie!«

»So! Auch noch!«

»Und ich habe bereits das Meinige gethan!«

»Ah, wirklich?«

»Ja.«

»Nun, was denn?«

»Ich werde beweisen, daß Hauser unschuldig ist.«

»Das läßt sich hören!«

»Ich werde beweisen, wer ihm die Spitzen in den Rock gesteckt hat.«

»Den Kerl soll der Satan reiten!«

»Wir werden den eigentlichen Schuldigen morgen ergreifen.«

»Und aufhängen! Wer ist es?«

»Der Waldkönig.«

»Donnerwetter!«

»Ja, gewiß! Den werden wir fangen.«

»Wann?«

»Morgen Nachts zwei Uhr.«

»Wo?«

»Im Haingrunde.«

»Schon wieder dort? Ist der Kerl denn verrückt geworden?«

»Nein, sondern ich habe ihn zu dieser Dummheit verleitet.«

»Sie haben mit ihm gesprochen?«

»Gewiß!«

»Was man so des Abends um diese Zeit zu hören bekommt! Da, setzen Sie sich her, und erzählen Sie! Wort für Wort! Alles! Deutlich und genau!«

Er faßte Arndt am Arme, um ihn auf das Sopha nieder zu ziehen. Dieser aber wehrte sich und sagte:

»Jetzt nicht, jetzt nicht, morgen erst!«

»Was? Morgen erst? Meinen Sie, daß ich so lange warte? Und dabei wollen Sie mein Vetter sein! Ich danke ganz gehorsamst für so eine Vetterschaft!«

Arndt mußte über die komische Wuth des Alten laut auflachen. Er antwortete:


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»So lassen Sie doch nur mit sich reden! Wenn ich den Hauser und die Engelchen frei haben will, darf ich meine kostbare Zeit nicht hier mit ewigen Erzählungen verlieren, sondern ich muß fort.«

»Wohin?«

»Nach der Amtsstadt.«

»Zu wem?«

»Zu dem Staatsanwalt.«

Da sprang der alte Wunderlich vom Sopha auf und fragte:

»Um die Beiden frei zu machen?«

»Ja.«

»Nun ja; nun gut! So machen Sie doch! Was stehen Sie denn noch da und halten Maulaffen feil! Packen Sie sich doch, daß Sie hinaus und fort kommen.«

»Aber Alter!« bat die Försterin.

»Du bist stille, ganz stille, Barbara! Die beiden Gefangenen müssen heraus aus dem Loche! Und wer das fertig bringen kann, der mag sich sputen, sonst werfe ich ihn hinaus!«

»Das geht natürlich auf mich!« sagte Arndt.

»Ja! Oder soll ich es Ihnen noch schriftlich geben, oder gar als Arie componirt und in Noten gesetzt?«

»Danke! Wenn Sie es für so sehr eilig halten, so laufen Sie, mir einen Schlitten zu besorgen. Ich habe Einiges einzupacken, was ich mitnehmen muß.«

»Ist es viel? Nimmt es großen Platz weg?«

»Nein.«

»Brauchen Sie lange?«

»Fünf Minuten. Ehe Sie aber in die Stadt kommen und den Schlitten bringen, vergeht weit über eine Stunde.«

»Das wollen wir doch sehen! Wenn es sich um Eduard Hauser und das Engelchen handelt, da bin ich mit dem Schlitten gerade so schnell da, wie Sie mit dem Einpacken fertig sind. Sputen Sie sich also!«

Er zog die Pelzstiefel an und ging hinaus.

Arndt begab sich nach seinem Stübchen. Was er einpackte, das waren nur kleine Gegenstände, welche bei einer vielleicht nothwendigen Verkleidung gebraucht wurden. Er war aber noch nicht ganz fertig, so klopfte es an die Thür.

»Wer draußen?« fragte er.

»Ich!« ertönte Wunderlichs Stimme.

»Was! Doch nicht etwa bereits aus der Stadt?«

»Das geht Niemanden etwas an! Der Schlitten steht bereit!«

Arndt war neugierig. Als er herunterkam, standen die alten Eheleute im Hausflur, und er hörte die gute Barbara in mißbilligendem Tone sagen:

»Aber Vater, Alter! Das geht denn doch nicht!«


// 758 //

»Nicht? Warum nicht, he? Wenn Du nämlich so freundlich bist, mir diese Frage zu gestatten.«

»Du selbst hast es ja noch nie gemacht!«

»Aber die Burschen!«

»Doch Du nicht!«

»Nun, so mache ich es heute!«

»Aber unserem lieben Herrn Arndt darfst Du es doch ganz unmöglich zumuthen!«

»Nicht? Warum nicht, he?«

»So einem feinen Manne!«

»Papperlapapp! Er ist um keinen Deut feiner als wir. Er ist kein Juxverderber. Paß auf! Wenn er meine Equipage sieht, ist er ganz vernarrt in sie.«

»Wo steht sie denn?« fragte Arndt.

Die Beiden, welche sich ganz allein geglaubt hatten, fuhren rasch zu ihm herum.

»Sapperment! Der Kerl hat uns belauscht!« rief der Förster.

»Konnte ich anders? Ihr schreit ja, daß man es von Ostern bis zu den Adventen hört! Also, wo ist die Equipage?«

»Hier! Da, gucken Sie her!«

Er öffnete die Hausthür und zeigte hinaus. Arndt mußte wirklich laut auflachen. Draußen stand ein ziemlich großer Handschlitten, mit Stroh und Pelzen belegt und mit zwei riesigen Bullenbeißern bespannt, welche vor Lust und Erwartung laut aufheulten.

»Nun, wie steht es? Ist das nicht schön?«

"Ist das nicht schön?"

»Sehr interessant!« nickte Arndt, noch immer lachend.

»Denken Sie etwa, daß es zu langsam gehen wird?«

»O nein. Ich kenne diese Art der Passagierbeförderung. Ich wette, daß wir eher ankommen als mit Pferden.«

»Das ist auch meine Meinung, Herr.«

»Aber so große Eile ist denn doch nicht nöthig. Wenn wir ankommen, liegen noch alle Leute im Schlafe.«

»Schadet nichts! Wen wir brauchen, der wird aufgeweckt!«

»Den Staatsanwalt doch nicht!«

»O, gerade dieser ist der Erste, den ich wecke! Die Herren vom Gerichte sollen einmal den alten Wunderlich kennen lernen!«

»Also Sie wollen auch mit?«

»Natürlich! Freilich! Ich gehe dem Staatsanwalte nicht eher vom Camisole, als bis er mich wenigstens den Hauser mitnehmen läßt.«

»Na, wie Sie denken! Steigen wir also auf!«

»Siehst Du es, Alte! Dieser Kerl hat Verstand. Er ist mit unserem Hundeeilzug einverstanden. Wir werden dahin saußen wie der Hase über das Ackerfeld.«

Sie stiegen Beide auf den Schlitten, fanden aber nicht Zeit, es sich in


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dem Stroh bequem zu machen und sich mit den Pelzen zuzudecken, so schnell schossen die starken Rüden mit ihnen davon. Es ging wie im Fluge die Waldstraße hinab und durch das Städtchen hindurch. Als sie dasselbe hinter sich hatten, meinte der Förster, welcher bisher schweigsam gewesen war:

»Nun, Vetter, was sagen Sie zu dieser Extrapost?«

»Sie ist exquisit!«

»Ja, zwei solche Hunde laufen Etwas weg! Es könnte uns wohl kein Pferdegeschirr ausstechen. Ich setze meinen Kopf zum Pfande, daß wir in einer halben Stunde am Ziele sind!«

Seine Behauptung erwies sich als ganz richtig. Die Straße flog förmlich unter ihnen hinweg, und noch ehe die angegebene Zeit vergangen war, hatten sie die Amtsstadt erreicht.

»Wissen Sie denn, wo der Herr Staatsanwalt wohnt?« fragte Arndt.

»Das versteht sich ganz von selbst. Unsereiner hat auch zuweilen mit dieser Art von Leuten zu thun. Man muß also wissen, wo der Vogel sein Nest hat.«

Es ging langsamer durch einige Gassen, und dann hielt der Förster an der Thür eines Hauses an.

»Hier ist es,« sagte er.

»O weh!« meinte Arndt, indem er die Fenster der Front musterte. »Alles dunkel. Es ist kein Mensch mehr wach!«

»Meinen Sie etwa, daß man unsertwegen illuminiren soll?«

»Das nicht; aber man stört doch nicht gern die Leute aus dem Schlaf!«

»So! Ah! Und Unsereiner muß es sich gefallen lassen, wenn man gezwungen ist, im Walde bei Nacht und Nebel herumzustreifen! Es wird geweckt. Und wer nicht gutwillig aufstehen will, den werfe ich aus den Federn. Zunächst aber wollen wir die Hunde versorgen. Sie haben sich heiß gelaufen und können leicht verschlagen.«

Er spannte die Tiere aus und plazirte sie auf den Schlitten, wo er sie mit dem Stroh und den Pelzen zudeckte.

»So! Nun aber wird geklopft.«

Eine Klingel gab es nicht, und so schlug der Alte mit der Faust an die Hausthür, erst ziemlich manierlich, dann aber, als sich Niemand sehen ließ, mit größerer Kraftaufwendung. Endlich wurde im ersten Stocke ein Fenster geöffnet.

»Wer ist unten?« fragte eine weibliche Stimme.

»Wir!« antwortete Wunderlich.

»Wer sind denn diese 'Wir', he?«

»Na, Wir, wer denn sonst anders! Ist der Herr Staatsanwalt zu Hause?«

»Ja. Denken Sie etwa, daß er jetzt spazieren geht?«

»Warum nicht? So ein Herr kann auch seine Mucken haben. Wecken Sie ihn gleich einmal.«


// 760 //

»Ich darf nicht!«

»Warum nicht?«

»Sonderbare Frage! Weil er schläft!«

»Sakkerment! Eben weil er schläft, sollen Sie ihn wecken. Wenn er noch nicht zu Bette wäre, brauchte man ihn ja gar nicht zu wecken!«

»Was wollen Sie denn von ihm?«

»Das werden wir ihm schon selbst sagen, liebe Liese! Melden Sie ihm nur, das zwei Männer da sind, die ganz nothwendig mit ihm zu sprechen haben.«

»Können Sie denn nicht warten?«

»Nein. Wir haben nicht genug Platz dazu.«

»So ist es sehr nothwendig?«

»Ja. Also machen Sie rasch!«

»Na, meinetwegen! Ich will es versuchen! Aber wehe Euch, wenn es nicht nöthig ist!«

»Nein! Wehe Dir, alte Plaudertasche, wenn Du nicht sofort machst, daß Du vom Fenster fortkommst!«

Der Kopf verschwand, kam aber im nächsten Augenblicke wieder zum Vorscheine und die Stimme sagte:

»Jetzt weiß ich, wen ich zu melden habe. So grob giebt es in der ganzen Gegend nur einen einzigen. Guten Morgen, Herr Wunderlich!«

Jetzt endlich zog sich die Sprecherin ganz zurück.

»Ja, wirklich, sie hat mich erkannt!« lachte der alte Förster.

»Wer war es?«

»Es ist eine alte Magd, welche schon seit Jahren beim Anwalte in Diensten steht. Das Weibsbild scheint mich gar studirt zu haben.«

Nach einiger Zeit erhellte sich ein Fenster, und dann hörte man im Hausflur Schritte erklingen. Die Thür wurde geöffnet, und es erschien die Frau, mit einer Laterne in der Hand.

»Na, endlich!« meinte der Förster. »Woher wissen Sie denn eigentlich, daß ich so ein Grobian bin?«

»Das weiß ein jedes Kind?«

»So? Ah!«

»Also, was wollen Sie beim Herrn Anwalt? Ich soll Sie fragen!«

»Ich komme, um Sie arretiren zu lassen, weil Sie mich grob genannt haben! Gehen Sie zur Seite! Wir haben mehr zu thun, als Ihre Schönheit zu bewundern!«

Er schob sie zur Seite und trat mit Arndt ein. Sie schloß leise brummend die Thür von innen zu und führte die Beiden in eine Stube des ersten Stockwerkes.

»So!« sagte sie. »Hier warten Sie, bis ich Sie hole!«

»Schön! Aber wenn es uns zu lange dauert, so werden Sie auch geholt!«

»Ah! Von wem denn?«


// 761 //

»Vom Teufel natürlich, alte Hexe!«

Sie machte ihm, scherzhaft drohend, eine Faust, kam aber bereits nach kurzer Zeit wieder und öffnete ihnen ein Zimmer, in welchem Sie vom Staatsanwalte erwartet wurden. Dieser zeigte ihnen ein Gesicht, welches nicht eben sehr freundlich genannt werden konnte.

»Herr Förster!« sagte er. »Es muß etwas ganz außerordentlich Nothwendiges sein, was Sie veranlaßt hat, mich in meiner nächtlichen Ruhe zu stören.«

»Das ist es auch, Herr Staatsanwalt,« antwortete der Alte.

»So machen Sie mich allerdings sehr wißbegierig. Bitte, setzen Sie sich nieder!«

Er deutete auf zwei Stühle und nahm selbst auch Platz. Wunderlich zeigte auf seinen Begleiter und sagte:

»Erlauben Sie vorher, Ihnen hier diesen Herrn vorzustellen! Er heißt Arndt und ist mein Vetter mütterlicher Seits.«

Der Staatsanwalt horchte verwundert auf.

»Mütterlicher Seits?« fragte er.

»Ja.«

»Hm! Ich denke, Sie sind ein Findelkind! Wenigstens glaube ich, das einmal gehört zu haben!«

»Das ist auch wahr. Man hat Ihnen das Richtige gesagt.«

»Hm! Wie kommen Sie denn als Findelkind zu einem Vetter mütterlicher Seits?«

»Ah! Donnerwetter! Das ist dumm! Ja! So ist es! Ein Findelkind hat ja gar keine Mutter! Na, ich habe mich versprochen. Herr Arndt ist mein Vetter väterlicher Seits.«

Der Beamte konnte ein Lächeln nicht verbergen.

»Kennen Sie denn Ihren Vater, oder vielmehr, haben Sie ihn vielleicht gekannt?«

»Nein.«

»Sie wissen nicht, wie er hieß?«

»Nein.«

»Wer er war, und wo er wohnte?«

»Nein. Wie habe ich als Findelkind das denn wissen können!«

»Und doch haben Sie hier einen Vetter väterlicher Seits. Wie geht das zu?«

»Sakkerment! Das ist wieder dumm! Hm, wenn ich es mir richtig überlege, so wird die Verwandtschaft wohl von der Seite meiner Frau herkommen.«

Er hatte sich vergaloppirt und blickte Arndt wie hilfesuchend an. Dieser erhörte diesen bittenden Blick und sagte:

»Verzeihung, Herr Staatsanwalt, daß der Herr Förster durch die Eigenthümlichkeit der Verhältnisse zu einer kleinen Unwahrheit gezwungen wurde. Ich bin gar nicht sein Vetter.«


// 762 //

Der Anwalt runzelte die Stirn und sagte:

»Nicht? Wie kommt Herr Wunderlich denn dazu, Sie als etwas zu bezeichnen, was Sie gar nicht sind?«

»Darum.«

Bei diesem Worte griff Arndt in die Tasche und zog eine große, an einer Kette hängende Medaille hervor, welche er dem Staatsanwalte zeigte.

»Ach so!« sagte dieser schnell. »Sie sind Detective?«

»Ja.«

»Und zwar in höherer Stellung, wie ich aus der Art der Münze ersehe. Sie wohnen wohl vorübergehend in dieser Gegend?«

»Ja, hier beim Herrn Förster Wunderlich.«

»Dann begreife ich! Sie gelten als sein Vetter und lassen sich Arndt nennen?«

»So ist es, Herr Anwalt.«

»Es läßt sich vermuthen, daß nur ein wichtiger Auftrag der Grund zu Ihrer Anwesenheit sein kann, und daraus schließe ich, daß auch die Ursache Ihres gegenwärtigen Besuches eine wichtige ist.«

»Sie täuschen sich nicht. Ich bin hier, um einen höchst gefährlichen Menschen zu fangen.«

»Doch nicht etwa den Waldkönig?«

»Gerade diesen.«

»Ah! Höchst interessant! Seit wann befinden Sie sich denn auf der Försterei?«

»Seit einigen Tagen!«

»Bereits? Und das erfahre ich erst jetzt!«

Diese Worte waren in dem Tone gesprochen, welchen ein Vorgesetzter anzuschlagen pflegt, wenn er im Begriffe steht, einem Untergebenen einen Verweis zu ertheilen. Arndt lächelte leise vor sich hin und fragte:

»Sie meinen, daß es meine Pflicht gewesen wäre, mich bei Ihnen zu melden?«

»Gewiß. Dann hätten Sie wohl nicht nöthig gehabt, mich bei Ihrem ersten Besuche aus dem Schlafe zu stören.«

»Dann erlauben Sie mir, zu meiner Entschuldigung noch ein Zweites zu meiner Legitimation beizutragen. Hier, bitte!«

Er zog sein Notizbuch hervor und nahm aus demselben ein mit einem großen Siegel versehenes Schreiben, welches er auseinander faltete und dem Beamten entgegen hielt. Dieser nahm es und las Folgendes:

»An sämtliche Civil- und Criminalbehörden des Landes.

Inhaber gegenwärtiger Legitimation ist mit einer Aufgabe höchst secreter Natur betraut. Es werden hiermit sämmtliche Behörden angehalten, ihm alle Hilfe und jedweden Beistand, den er begehrt, zu leisten, ohne weitere Fragen an ihn zu stellen. Vielmehr ist ihm in der Weise zu begegnen, wie man mir selbst begegnen würde!«


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Nun folgte der Name der Residenzstadt, das Datum und die Unterschrift des Justizministers.

Der Staatsanwalt machte ein höchst erstauntes Gesicht. Er erhob sich ehrerbietig von seinem Stuhle, machte eine Verbeugung und entschuldigte sich:

»Verzeihung, mein Herr! Das habe ich natürlich nicht ahnen können.«

»Ich weiß das recht wohl,« antwortete Arndt. »Ich wollte Ihnen nur beweisen, daß Sie es mit keiner Person zu thun haben, welche Sie vielleicht einer Bagatelle wegen Ihres so kostbaren Schlafes beraubt.«

Der Beamte fühlte die Ironie. Er erröthete vor Verlegenheit und antwortete:

»Ich bin jeden Augenblick bereit, meine Pflicht zu thun. Aber bitte, wenn ich auch keine Erkundigung aussprechen darf, so ist es doch vielleicht nöthig, den Namen zu wissen, mit welchem bezeichnet zu sein Sie wünschen.«

»Ich gelte als der Vetter Arndt unseres guten Försters hier. Nennen also auch Sie mich immerhin bei diesem Namen!«

»Ganz wie Sie befehlen, Herr Arndt. Wir scheinen uns in einer eigenthümlichen Zeit zu befinden. Sie sind nicht die einzige geheimnißvolle Person, welche hier auftaucht.«

»Wer noch?«

»Nun, zunächst der Waldkönig -«

»Ich hoffe, daß dessen Geheimniß bald durchschaut sein wird.«

»Auch ich hoffe das, zumal ich glaube, bereits einen Zipfel des Vorhanges ergriffen zu haben.«

»Wirklich? Dann gratulire ich und wünsche, daß wir Hand in Hand gehen mögen. Aber, wen meinen Sie unter der zweiten geheimnißvollen Person?«

»Den Fürsten des Elendes!«

»Den! Kennen Sie ihn?«

»Nein. Aber er ist hier gesehen worden.«

»Von wem?«

»Vom Gerichtsdirector, von einem Actuar und vom Pfarrer unseres Nachbarstädtchens.«

»Nur von diesen Dreien?«

»Ja. Ich weiß keinem Vierten.«

»Ich weiß sogar einen Vierten und Fünften. Der Vierte nämlich ist hier Freund Wunderlich, und der Fünfte sind Sie selbst, Herr Staatsanwalt.«

»Ich?« fragte dieser verwundert.

»Jawohl.«

»Wie? Ich sollte den Fürsten des Elendes gesehen haben?«

»Ja. Aber sprechen wir nicht in der vergangenen Form, sondern in der gegenwärtigen: Sie sehen den Fürsten.«


// 764 //

Da machte der Beamte eine Bewegung des allergrößten Erstaunens und rief:

»Wäre es möglich! Sie selbst sind es?«

»Ja,« antwortete Arndt einfach.

»Ah! Nun begreife ich auch die ganz außerordentliche Vollmacht, welche Sie von Seiner Excellenz besitzen. Herr Arndt, ich stelle mich Ihnen natürlich in jeder Weise zur Verfügung.«

»Danke! Ich werde mich Ihres freundlichen Anerbietens gern bedienen. Und da fällt mir sogleich ein, was Sie vorhin in Beziehung auf den Vorhang sagten: Sie glauben, einen Zipfel desselben bereits in den Händen zu haben?«

»Ja. Freilich ist es auch sehr leicht möglich, daß ich mich irre.«

»Darf ich etwas über diesen interessanten Zipfel erfahren?«

»Gewiß! Zumal ich vorhin von Ihnen hörte, daß Sie sich hier befinden, um den Waldkönig zu fangen. Ich habe nämlich so eine kleine Ahnung, wer die Rolle des Pascherkönigs spielt.«

»Wirklich? Das wäre entweder ein Beweis Ihres Scharfsinns oder ein Fingerzeig, daß Sie mit dem Zufalle glücklich gespielt haben.«

Der Beamte zuckte einigermaßen stolz die Achsel, antwortete aber doch in möglichst bescheidenem Tone:

»Es wird wohl das Letztere sein.«

»Also Zufall?«

»Ja, obgleich es nicht einem Jeden gegeben ist, einen glücklichen Zufall schnell und vollständig auszunützen.«

»Da stimme ich Ihnen bei, bin aber auch überzeugt, daß Sie der Mann sind, einen guten Zufall energisch bei den Hörnern zu fassen.«

»Das habe ich allerdings gethan, oder vielmehr, ich stehe noch im Begriffe, es zu thun.«

»So zögern Sie ja nicht! Aber, wollten wir nicht von dem erwähnten Zipfel sprechen?«

Der Anwalt warf einen bezeichnenden Blick auf den alten Förster Wunderlich und antwortete:

»Ist das nicht auch eine secrete Angelegenheit?«

»Allerdings. Aber vor meinem alten, guten Vetter hier brauchen wir uns nicht zu geniren. Er ist mit in das Geheimniß gezogen und darf Alles hören, was wir zu besprechen haben.«

»Auch in Beziehung auf den Waldkönig?«

»Ja. Gerade in dieser Beziehung ist er meine rechte Hand gewesen, er und der Weber Eduard Hauser.«

»Dieser? Der Hauser?« fragte der Staatsanwalt erstaunt.

»Ja.«

»Eigenthümlich!«

»Wundert Sie das?«

»Gewiß! Haben Sie gehört, daß dieser Hauser arretirt worden ist?«


// 765 //

»Ja.«

»Kennen Sie auch den Grund dieser Arretur?«

»Ich hörte davon sprechen.«

»Und dennoch sagen Sie, daß er Ihr Verbündeter sei!«

»Er war es und ist es noch. Gerade seinetwegen sind wir Beide mitten in der Nacht zu Ihnen gekommen.«

»Ja, nur seinetwegen!« fiel der Förster mit seinem kräftigen Basse ein. »Wissen Sie, mit welcher Gelegenheit wir gekommen sind, Herr Staatsanwalt?«

»Nein.«

»Mit Extrapost.«

»Ah! Warum?«

»Weil wir den Hausers Eduard gleich mitnehmen wollen.«

»Gleich mitnehmen? Das ist doch wohl ein etwas sanguinischer Vorsatz, mein lieber Herr Wunderlich!«

»Das Sanguinische geht mich den Teufel an. Ich weiß auch gar nicht, was dieses Wort zu bedeuten hat; aber mitgenommen wird der Hauser, das versteht sich ganz von selbst.«

»Sie werden sich aber doch noch für einige Zeit in Geduld fassen müssen, lieber Freund!«

»In Geduld? Der Kukuk hole die Geduld! Es giebt in allen Sprachen der Welt keinen so dummen Ausdruck wie das Wort Geduld! Der Hauser ist unschuldig!«

Der Beamte machte eine halb abwehrende Handbewegung und fragte, zu Arndt gewendet:

»Sind auch Sie dieser Meinung, mein Herr!«

»Ehe ich die meinige ausspreche, möchte ich zuvor die Ihrige kennen, Herr Staatsanwalt. Es ist mir in dieser Angelegenheit so Manches unklar geblieben, daß ich erst von Ihnen den Zusammenhang hören muß. Hatten Sie Verdacht auf Hauser in Beziehung auf Schmuggelei oder auf den Waldkönig?«

»Nein. Ich kannte den jungen Mann ja gar nicht.«

»So hat man Ihre Aufmerksamkeit auf ihn gelenkt?«

»Ja, so ist es.«

»Wann?«

»Heute - oder vielmehr schon gestern, da Mitternacht jetzt bereits vorüber ist.«

»Wer hat das gethan?«

»Fritz Seidelmann.«

»Also doch! Ich hörte davon.«

»Er kam kurz nach Mittag zu mir und zeigte mir einen Brief, welchen Hauser unter dem Namen des Waldkönigs an den hiesigen Kaufmann Strauch geschrieben hat.«

»Ich wußte von diesem Briefe.«


// 766 //

»Ah, das ist nicht nur interessant, sondern sogar sehr wichtig. Wie haben Sie davon erfahren?«

»Hauser selbst hat es mir erzählt.«

»Wirklich? Und Sie haben ihn nicht gewarnt?«

»Es war bereits geschehen. Er hatte Sorge, daß dieser Brief ihm Ungelegenheiten bereiten könne, ich aber habe ihn beruhigt.«

»Hm! Die Ungelegenheiten haben sich doch eingestellt!«

»Sie sind vorübergehend. Man wird nicht im Stande sein, amtlicher Seits ein großes Gewicht auf den Brief zu legen.«

»Ich für meine Person lege allerdings keines darauf.«

»Man muß nur wissen, daß er ihn in einer gewissen Herzensangst geschrieben hat!«

»Ich weiß das.«

»Wie? Sie kennen sein Verhältniß zu Angelica Hofmann?«

»Ja. Sein Vater hat mir davon erzählt, und dann, als ich mit dem Liebespaare nach hier unterwegs war, haben mir Beide genug erzählt, um mich zu der Ueberzeugung zu bringen, daß Eduard Hauser ein braver Bursche ist.«

»Na, endlich!« rief da der Förster. »Sie sehen also ein, daß er brav ist?«

»Ja.«

»Und unschuldig?«

»Ich bin davon überzeugt.«

»So werden Sie ihn augenblicklich aus dem Loche lassen! Der Schlitten, in dem wir ihn holen wollen, wartet unten an der Hausthür.«

Arndt lächelte, und der Staatsanwalt meinte:

»Langsam, mein Lieber! Ich meinerseits bin zwar von seiner Unschuld vollständig überzeugt, aber das genügt doch noch nicht, ihn frei zu lassen.«

»Donnerwetter! Was genügt denn?«

»Beweise.«

»Die stehen hier! Da! Hier sind sie!«

Dabei schlug er sich mit den Fäusten auf die breite Brust, daß es ordentlich tönte.

»Das Gesetz verlangt andere Beweise, mein Bester!«

»Andere? Was für welche denn?«

»Positive!«

»Positive? Was heißt das? Was ist positiv? Bin ich nicht auch positiv? Bin ich etwa ein negativer alter Wunderlich?«

»O nein!« lachte der Staatsanwalt. »Gerade in diesem Augenblicke sind Sie ganz außerordentlich positiv!«

»Das will ich mir auch ausgebeten haben!«

»Aber selbst die positivste Persönlichkeit kann nicht als ein Beweis gelten. Ein Beweis ist etwas ganz Anderes.«

»Nun, was ist ein Beweis denn sonst?«

»Ein Beweis ist die logische und unwiderlegbare Begründung der Wahrheit dessen, was man behauptet hat.«


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»Nun, bin ich etwa unlogisch?«

»Nein.«

»Können Sie mir meine Meinung widerlegen?«

»Nein.«

»Also bin ich ein Beweis, ein ganz und gar logischer und unwiderlegbarer Beweis von der Wahrheit meiner Behauptung.«

»Ah, gerade jetzt aber werden Sie unlogisch!«

»Wieso?«

»Eine Behauptung kann sich doch nicht selbst beweisen?«

»Der Teufel mag dieses philosophische Gerede verstehen. Ich weiß, was ich weiß: Der Hauser ist unschuldig und muß aus dem Loche heraus, und sollte ich selbst mich an seiner Stelle hineinstecken lassen! Verstanden?«

»Was würde Mutter Bärbchen dazu sagen?« fragte da Arndt.

»Pah! Die würde sagen: Alter, das hast Du sehr recht gemacht! Ich glaube gar, daß sie mir dann einen Kuß geben würde!«

»Im Loche?«

»Donnerwetter! Wollen Sie mich etwa foppen?«

»Nein, sondern ich will Ihnen nur sagen, daß wir doch wohl gezwungen sein werden, allein nach Hause zurückzukehren.«

»Also ohne den Eduard?«

»Ja. Er muß verhört und abgeurtheilt werden. Das Gesetz schreibt eben gewisse Wege vor.«

»So hole der Teufel Euer Gesetz! Das meinige ist besser! Ich handle schnell und augenblicklich. Warum habe ich den Hauser nicht arretirt? Warum habe ich ihn in Freiheit gelassen?«

»Wie?« fragte der Anwalt. »Hatten Sie denn Veranlassung oder Gelegenheit gehabt, ihn zu arretiren?«

»Er hat sich ja selbst bei mir angezeigt!«

»Als was?«

»Als Holzspitzbube.«

»Ah, das wirft ein sehr zweifelhaftes Licht auf ihn!«

»Zweifelhaft? Von zweifelhaft kann da auf keinem Fall die Rede sein. Das Licht, welches da auf ihn fällt, ist so hell und rein wie der liebe Sonnenstrahl!«

»Aber Holzdieb!«

»Verstehen Sie nicht falsch! Er wollte mausen!«

»Wollte?«

»Ja, aber er hat nicht gemaust!«

»Nun, dann konnten Sie ihn ja auch nicht arretiren?«

»O doch! In meiner Instruction steht, daß ich einen Jeden, der sich mit einer Säge im Walde blicken läßt, festnehmen soll.«

»So hatte er also eine Säge mit?«

»Ja. Er hatte Wochen lang gearbeitet, Tag und Nacht, ohne sich nur halb satt zu essen. Als er zu dem Seidelmann kam, gab ihm dieser keinen


// 768 //

Lohn. Zu Hause gab es Hunger und Kummer, Kälte und Elend, kein Essen, kein Trinken, kein Oel, kein Holz, keine Kohlen. Das wandte sein Herz um. Er griff zur Säge und ging in den Wald, um sich ein abgestorbenes Stämmchen zu holen, an dem sich seine alten Eltern und seine kleinen, frierenden Geschwister erwärmen könnten. Das war des Abends.«

»Der Ärmste!« entfuhr es dem Anwalte.

»Ja, der Ärmste! Und dann aber, als die Säge das Holz berührte, war es ihm, als ob die Zähne des Sägeblattes ihm durch die innerste Seele gingen - er konnte nicht; er wollte lieber verhungern und erfrieren als ein Holzdieb werden. Was sagen Sie dazu, Herr Staatsanwalt?«

»Daß er ein zartes Rechtsgefühl, ein sehr sensitives Gewissen hat.«

»Ob sein Gewissen sensitiv ist, das weiß ich nicht, denn ich bin kein Thierarzt oder sonst ein Quacksalber; aber daß er ein braver Kerl ist, das weiß ich.«

»Aber was that er dann?«

»Hm! Er traf auf mich. Ich fragte ihn, und er erzählte mir ganz aufrichtig, in welcher Versuchung er sich befunden habe.«

»Nun, da ahne ich, daß Sie ihm geholfen haben.«

»Na, ich weniger als hier der Vetter! Aber das ist einerlei. Die Hauptsache ist, ob Sie zugeben, daß er brav gewesen ist.«

»Das leugne ich nicht.«

»Halten Sie einen so braven Jungen für einen Schmuggler?«

»Hm!«

»Donnerwetter! Hier wird gar nicht ge-hmt! Hier wird fein ordentlich gesprochen! Glauben Sie, daß so ein Kerl, dem der Klang der Säge tief in die Seele schneidet, der Waldkönig sein kann?«

»Nein, das glaube ich nicht!«

»Das wollte ich wissen.«

Der Anwalt schüttelte leise den Kopf und bemerkte in beruhigendem Tone:

»Aber, mein Lieber, sie ereifern sich wirklich zuviel!«

»Soll ich das etwa nicht, wenn ich sehe, daß ein braver Kerl so unschuldig eingesteckt und eingesponnen wird? Ist Ihnen etwa oder vielleicht ein Ding bekannt, welches man die Criminalprozeßordnung nennt?«

»Ich sollte meinen,« antwortete der Anwalt lächelnd.

»Nun, ich habe dieses Ding zwar nicht studirt, aber ich muß Sie auf einen Punct aufmerksam machen, den Sie in diesem verwickelten Dinge ganz gewiß finden werden.«

»Welcher Punct wäre das?«

»Nun, nicht wahr, Eduard Hauser ist verdächtigt worden, der Waldkönig zu sein?«

»Ja.«

»Na, dann ist es Ihre Sache, ihm zu beweisen, daß er es wirklich ist; aber nicht seine Sache ist es, zu beweisen, daß er es nicht ist! Verstanden?«

»O, Sie sprechen laut genug, um verstanden zu werden!«


Ende der zweiunddreißigsten Lieferung - Fortsetzung folgt.



Karl May: Der verlorne Sohn

Karl May – Forschung und Werk