Lieferung 34

Karl May

4. April 1885

Der verlorne Sohn
oder
Der Fürst des Elends.

Roman aus der Criminal-Geschichte.


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niedrigen Loche hereinblickten, welches hier Fenster genannt wurde, schauten auf ein Menschenkind, welches sich ruhelos auf dem Strohsacke hin und her wälzte, und dessen Inneres so vom Schmerz erschüttert und zerrissen wurde, daß die Gestalt sich dann plötzlich erhob und sich vor das andere Lager niederkauerte.

»Engelchen!«

Die Angerufene erwachte. Sie konnte sich nicht sofort orientiren, wo sie sich befand. Sie erschrak. Der Schein der Sterne fiel auf eine Gestalt, welche vor ihr hockte.

»Mein Gott! Wer ist das?« fragte sie.

»Ich, Beyers Gustel!«

Jetzt erst erinnerte sich Engelchen, daß sie nicht zu Hause sei, sondern sich bei der Freundin in der Zelle befinde.

»Was willst Du?« fragte sie.

»Du hast ihn nicht ermordet?«

»Ermordet? Wen denn?«

»Seidelmann!«

»Ach so! Nein. Ich habe Dir ja bereits gesagt, daß ihn der Schuß nur gestreift hat.«

»Nur gestreift! Warum hast Du nicht besser gezielt?«

Diese Worte wurden zischend zwischen den Zähnen hervorgestoßen. Engelchen fühlte eine wachsende Bangigkeit. Sie sagte:

»Gustel, mir wird es angst vor Dir!«

»Angst? Warum?«

»Du bist so eigenthümlich, so ganz anders als immer.«

»O, Dir werde ich nichts thun! Weißt Du, wer die Schuld trägt, daß ich hier bin?«

»Seidelmann.«

»Ja, er! Und wer ist schuld daran, daß meine armen Eltern sterben mußten?«

»Auch Seidelmann!«

»Ja, er, er! Und Du hast ihn nicht erschossen!«

»Das wollte ich ja auch gar nicht!«

»Aber ich will es!«

»Mein Gott! Sprich nicht solche Worte!«

»O, ich werde nicht nur sprechen, sondern handeln! Mag man mich verurtheilen oder nicht, einmal werde ich doch wohl wieder frei. Meinst Du nicht?«

»Ganz gewiß!«

»Dann gehe ich hier fort, nach Hause. Und weißt Du, was ich thun werde?«

»Nein«

»Ich werde mir eine Waffe verschaffen, ein scharfes Messer, ein Gewehr - und wenn ich es stehlen soll! Und dann, o, dann wird dieser Teufel


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nicht blos wieder gestreift werden, sondern die Kugel oder die Klinge soll ihn in das Herz treffen!«

»Gustel, willst Du mich zum Fürchten machen? Mir graut fast vor Dir!«

»Ah! Graut Dir vor mir? Wirklich?«

»Ja; sehr!«

»Nun, sei ruhig! Dir werde ich nichts thun; aber ihm soll noch viel mehr vor mir grauen, ihm, dem Mörder meiner Jugend, meiner Ehre, meines Lebens und meiner Eltern! Das mußte herunter vom Herzen; das mußte ich Dir noch sagen! Nun aber werde ich Dich nicht mehr belästigen. Schlaf wohl!«

»Nein, nein! So schlafe ich nicht wieder ein! Gustel, Du mußt mir versprechen, von diesem Gedanken zu lassen!«

»Kann ich, wenn der Gedanke nicht von mir läßt?«

»Bete, o bete: Führe uns nicht in Versuchung!«

»Vielleicht hast Du Recht! Es ist ein Teufel, welcher in Gestalt dieses Gedankens mich erfassen will. Ich werde mit ihm ringen. Ich werde bis morgen keine Ruhe mehr finden. Du aber, schlafe ruhig, Engelchen! Gute Nacht!«

»Gute Nacht, Du Arme, Arme!« - - -

- - - Kurz nach dem Mittage des verflossenen Tages, also ungefähr um die Zeit, in welcher Fritz Seidelmann mit dem Kaufmann Winkler im Gasthofe zum grauen Wolf gesessen hatte, ging der Knappschaftsarzt durch das kleine Gebirgsstädtchen. Er trat in ein armseliges Häuschen, stieg eine Treppe empor und öffnete eine Thür, ohne vorher angeklopft zu haben. Ein geradezu dick zu nennender, fürchterlicher Dunst schlug ihm entgegen, so daß er zurückfuhr und nur nach augenblicklicher Ueberwindung seines Wiederstrebens einzutreten vermochte.

»Guten Tag,« sagte er.

»Guten Tag, Herr Doctor! Willkommen!«

Der das sagte, war ein bleicher, fahlwangiger Mann, welcher an einem Tische gesessen hatte, auf welchem ein Reißbret lag. Er stand vom Stuhle auf.

»Sapperment, Wilhelmi, welche Luft haben Sie hier!«

Der Mann zuckte traurig die Achseln.

»Ich kann nicht dafür,« antwortete er.

»So lüften Sie doch!«

»Es ist so kalt, Herr Doctor! Und Diese da liegen ja im Fieber. Wie darf ich da lüften!«

Er deutete nach einer Ecke der Stube. Es war ein schauderhafter Anblick, welcher sich dort bot. Auf kurzem Stroh und alten Lumpen lagen da eine Frau und drei Kinder, welche fast gar nicht das Aussehen von Menschen hatten. Ihre Gesichter waren von einer scheußlichen Kruste bedeckt, und ihre


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Hände und ihre Körper ebenfalls, wie man leicht sehen konnte, da die Glieder nur ganz nothdürftig mit alten Kleidungsstücken bedeckt waren.

In dieser Stube herrschten die Blattern, die bösartigen Menschenpocken!

»Und doch müssen Sie lüften!«

»Kalt, kalt!« rief die kranke Frau.

»Hören Sie?« sagte der Mann. »Bitte, schließen Sie die Thür! Die Frau kann den Tod davon haben. Sie liegt im Fieber, und hier zieht es. Die Blattern vertragen solche Kälte nicht!«

»Feuern Sie doch!«

Der Mann deutete nach dem Ofen und fragte:

»Womit?«

»Mit Holz, Kohlen - mir ganz egal! Aber gefeuert muß natürlich werden.«

»Herr, Kohlen und Holz kosten Geld.«

»Nun, Sie verdienen ja Geld!«

»Ich? Wie viel? Wissen Sie das?«

Er trat zur Thür und machte sie zu, trotz des mißbilligenden Blickes, den ihm dabei der Arzt zuwarf.

»Jedenfalls so viel, wie Sie brauchen. Sie sind ja Musterzeichner. Das ist ein lohnendes Geschäft.«

»Musterzeichner bei der Firma Seidelmann und Sohn. Wissen Sie vielleicht was das heißt?«

»Sie wollen doch nicht sagen, daß diese beiden Herren ihre Arbeiter nicht bezahlen!«

»O nein! Sie bezahlen schon, aber wie!«

»Wieviel verdienen Sie?«

Der Mann deutete auf das Reißbret und antwortete:

»Hier sehen Sie fünf neue Muster. Ich habe sie selbst componirt und zwei Wochen daran gearbeitet. Herr Seidelmann wird mir für jedes zwei Gulden bezahlen, also zehn Gulden. Aber er wird mit diesen Mustern, welche das Gesetz für ihn schützt, Tausende verdienen!«

»Zehn Gulden! Das ist doch keine Kleinigkeit!«

»Keine Kleinigkeit? Herrgott! Pro Woche fünf Gulden, und dabei vier Blatternkranke und noch zwei Esser!«

Er deutete dabei auf sich und hinter den kalten Ofen, wo auf einem niedrigen Schemel eine alte Frau hockte, die den frierenden Oberkörper in einen zerrissenen, flanellenen Unterrock gewickelt hatte.

»Ihre Schwiegermuter?« fragte der Arzt.

»Ja.«

»Das sind allerdings sechs Esser. Aber warum arbeiten Sie nicht fleißiger?«

»Nicht fleißiger? Herr Doctor, ich habe Tag und Nacht gearbeitet. Meine Augen schmerzen. Wenn das so fortgeht, muß ich das Augenlicht verlieren.«


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»Hm! Das sind die gewöhnlichen Klagen! Wie geht es mit den Patienten?«

»Wie zuvor. Gebessert hat es sich nicht, eher verschlimmert.«

»Wollen sehen!«

Er trat zu der Frau und that, als ob er einen Blick auf sie werfe, während er doch nur einen unüberwindlichen Abscheu fühlte.

»Allerdings noch nicht besser,« sagte er. »Sorgen Sie für Wärme.«

Der Mann zuckte traurig die Achsel.

»Wie steht es mit der Medizin? Sie scheint alle zu sein.«

»Nein. Ich habe keine geholt.«

»Nicht? Warum nicht? Ich habe das Recept ausgefertigt und Ihnen befohlen, es in die Apotheke zu tragen!«

Diese Worte waren im Tone eines Vorgesetzten gesprochen. Wilhelmi richtete seine Gestalt empor und fragte:

»Befohlen?«

»Nun ja! Oder sagen wir, ich habe es angeordnet.«

»Das lasse ich gelten. Ich bin aber auch in der Apotheke gewesen, Herr Doctor.«

»Nun?«

»Ich bin dort bereits vier Gulden schuldig.«

»So! Warum bezahlen Sie nicht?«

»Weil ich kein Geld habe. Ich erfuhr, daß die neue Medizin anderthalb Gulden kosten werde -«

»So wird es ungefähr sein.«

»Ich wurde gefragt, ob ich fünf und einen halben Gulden mit habe. Ich hatte keinen Kreuzer in der Tasche.«

»Ja, so ist es! Die Herren Pharmaceuten sollen ihre Waaren immer auf Credit geben.«

»Da sagte man mir, daß ich die Medizin holen solle, sobald ich Geld habe. Das ist der Grund, daß ich sie noch nicht habe.«

»Aber Mann! Die Medizin wird gebraucht!«

»Das ist sehr wahrscheinlich! Aber ich habe kein Geld. Herr Doctor, Sie sind ja Knappschafts- und Armenarzt. Könnten Sie es denn nicht befürworten, daß ich die Medizin umsonst oder doch wenigstens auf Credit erhalte?«

Der Arzt zuckte die Achsel, lächelte überlegen und antwortete:

»Ja, freilich kann ich das! Es ist sogar meine Pflicht, dies zu thun, mein Bester.«

»Dann bitte ich recht herzlich um ihre Fürsprache!«

»Gern, sehr gern! Aber, haben Sie mit Herrn Seidelmann bereits darüber gesprochen?«

Das Gesicht Wilhelmi's verdüsterte sich und seine Lippen preßten sich zusammen.

»Ja,« antwortete er.


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»Was sagte er?«

»Was er zu dem Schreiber Beyer gesagt hatte, als dieser wegen seiner kranken Frau mit ihm redete.«

»Das weiß ich nicht auswendig.«

»Er will es nicht leiden, daß seine Angestellten sich an den Armenarzt wenden.«

»Das Recht dazu ist ihm nicht abzusprechen. Sie sind als Musterzeichner bei ihm angestellt.«

»So mag er mich doch so bezahlen, daß ich mich nicht nach Unterstützung umzusehen brauche!«

»Suchen Sie sich andere Arbeit!«

»Ich habe nichts Anderes gelernt.«

»So zeichnen Sie für einen Andern!«

»Giebt es hier Einen?«

»Dann würde ich an Ihrer Stelle mich weiter wenden!«

»Das geht nicht. Das Fortziehen kostet Geld, und ein Anderer wird mir keine Arbeit geben. Dafür sorgt Herr Seidelmann!«

Sein von der Noth und Sorge fast abgezehrtes Gesicht hatte einen starren Ausdruck angenommen. Er war jedenfalls ein ganz braver Mann, aber unter den Erfahrungen, welche er gemacht hatte, war er verschlossen und verbittert worden.

»Nun, so entscheiden Sie!« meinte der Arzt. »Soll ich Sie als Hilfsbedürftigen melden?«

»Dann bekomme ich keine Arbeit mehr!«

»Nun, so lassen Sie sich von Herrn Seidelmann einen kleinen Vorschuß geben!«

»Den erhalte ich nicht. Er hat mir bereits zwei Gulden geborgt!«

»Dann kann ich Ihnen auch nicht helfen! Wie steht es mit dem Essen? Ist Appetit da?«

»Nicht nur Appetit, sondern sogar Hunger!«

»Was haben die Kranken genossen?«

»Seit vorgestern zwei solche Brodchen.«

Er zog den Tischkasten auf und nahm ein hartes, altes Dreierbrodchen heraus.

»Zwei? Vier Personen?«

»Ja. Ich hatte nicht mehr.«

»Sie haben ja noch eins!«

»Mein letztes; weiter habe ich nichts. Es ist für heute. Jeden Tag ein Dreierbrodchen, in Wasser aufgeweicht.«

»Hm! Und was speisen Sie?«

Der Mann wendete sich ab und warf den starren Blick zum Fenster hinaus.

»Nichts!« sagte er.

»Aber, Sie müssen doch Etwas essen!«


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»Eigentlich, ja. Ich werde noch die ganze folgende Nacht arbeiten. Morgen früh habe ich die Muster fertig und erhalte acht Gulden heraus. Dann werden wir einmal essen können.«

Der Arzt schüttelte den Kopf.

»Ich begreife solche Verhältnisse nicht,« sagte er. »Vierzehn Tage nichts, und dann auf einmal acht ganze Gulden! Es muß doch am Mangel an richtiger Eintheilung, an Wirtschaftlichkeit liegen.«

Er bückte sich zu dem neben der Frau liegenden Kinde nieder.

»Sapperment!« sagte er. »Das ist ja todt!«

Der Musterzeichner griff sich mit der Hand nach dem Herzen.

»Ja!« stieß er hervor.

»Wann ist es gestorben?«

»Vor zwei Stunden.«

»Hm! Lassen Sie einmal sehen!«

Er nahm seinen Stock, betastete mit demselben die Pockenkruste, welche das Gesichtchen der kleinen Leiche dick bedeckte, und sagte dann im schärfsten Tone:

»Herr Wilhelmi, ich bin gezwungen, Sie anzuzeigen!«

Der Mann warf ihm einen Blick zu, in welchem ein greller, feindseliger Blitz aufloderte, fragte aber in scheinbar ganz ruhigem Tone:

»Mich anzeigen? Warum?«

»Das Kind ist keines natürlichen Todes gestorben!«

»Ah! So!«

»Ja. Es ist vernachlässigt worden.«

»Von wem?«

»Von Ihnen natürlich. Es ist erstickt und verhungert.«

»Herr Doctor, können Sie das beweisen?«

»Jawohl! Die Kruste bedeckt den Mund und das Näschen über einen Zoll hoch. Sie mußten dafür sorgen, daß Oeffnung geschafft wurde.«

»Ist das wirklich meine Pflicht gewesen?«

»Natürlich!«

»Sie meinen, daß ich den Schnitt hätte vornehmen sollen?«

»Sie? Was verstehen Sie davon! Sie hätten jedenfalls daneben geschnitten.«

»Nun wohl! Ich habe nicht weniger als fünfmal zu Ihnen geschickt, und einmal bin ich selbst bei Ihnen gewesen.«

»Ich war nicht daheim.«

»Ich habe Ihre Frau Gemahlin von dem Stande der Dinge benachrichtigt. Sie haben mir durch dieselbe sagen lassen, daß Sie kommen würden, wenn es nöthig sei.«

»Ich konnte nicht wissen, daß es so sehr dringlich sei.«

»Ich habe Ihrer Frau Gemahlin mitgetheilt, daß das Leben des Kindes auf dem Spiele steht.«

»Jeder, der zu mir kommt, pflegt seine Angelegenheit so schlimm wie


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möglich darzustellen. Wenn man dem glauben wollte, würde man in einem Monate todt gehetzt!«

»Nun, so lassen wir lieber einen Patienten sterben.«

»Uebrigens giebt es mehrere Ärzte.«

»Die ich aber nicht gesetzlich zwingen kann, zu mir zu kommen. Ich war bei allen, doch vergebens. Wer nun ist der Mörder meines Kindes?«

»Das ist eine sehr müßige Frage! Haben Sie den Todesfall bereits gemeldet?«

»Ich war bei der Leichenfrau.«

»Sie wird doch bald kommen? Die Leiche darf nicht hier liegen bleiben! Sie muß fort!«

»Gewiß muß sie fort. Ich habe bereits eine alte Kiste ausgeräumt.«

Der Arzt blickte den Mann fragend an.

»Eine alte Kiste? Wozu?«

»Als Sarg.«

»Was? Sie wollen das Kind in einer Kiste begraben lassen?«

»Ja. Ich kann keinen Sarg bezahlen.«

»Der Tischler wird Ihnen Credit geben.«

»Ich kann ihn nicht darum bitten, denn ich weiß, daß er ebenso arm ist wie ich, und daß ich den Sarg später ebenso wenig bezahlen kann, wie jetzt. Das Begräbniß wird auch ohnedies die acht Gulden, welche ich morgen erhalte, auffressen. Zu allem Elende des Lebens kommt der Schluß, daß man nicht einmal umsonst sterben darf!«

»Sie sind ein Welt- und Menschenfeind!«

»Ich bin es nicht, und wenn ich es wäre, so hätte ich alle Ursache dazu, es zu sein. Aber bitte, Herr Doctor, sehen Sie die beiden anderen Kinder an. Auch sie können kaum noch athmen. Wird keine Oeffnung gemacht, so ersticken auch sie.«

Doctor Werner zog die Brauen zusammen. Mit Blatternkranken hatte er gar nicht gern Etwas zu thun. Aber eins der Kinder war, weil er nicht gekommen war, bereits gestorben; er sah ein, daß er gezwungen sei, seine Pflicht zu thun.

»Kommen Sie her, und halten Sie die Patienten!« befahl er. »Ich werde den Schnitt vornehmen.«

Der Musterzeichner gehorchte. Er brachte die beiden Kinder in die passende Lage, und der Arzt, welcher keines von ihnen mit der Hand berührte, machte ihnen mit dem Messer einen Schnitt durch die Kruste, so daß der Zutritt der Luft zum Munde ermöglicht wurde. Dabei aber war ihm anzusehen, mit welchem Abscheu er diese Operation eigentlich unternahm.

»Vor zwei Stunden wäre es hier auch noch Zeit gewesen,« sagte Wilhelmi, indem er auf die Leiche deutete.

»Ich hatte keine Zeit und bin nicht allwissend,« antwortete Doctor Werner barsch. »Nun aber haben diese Beiden nicht nur Luft, sondern sie verlangen auch Nahrung.«


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»Wie aber sollen sie diese zu sich nehmen? Sie haben auch den Mund voller Pocken.«

»Sie binden ein Stück Darm an eine Federspule. Die Spule wird den Patienten in den Mund gesteckt, und in den Darm gießen Sie die Milch.«

»Also Milch?«

»Ja, und Bouillon!«

»Schön! Bouillon!« nickte der Musterzeichner grimmig vor sich nieder. »Vielleicht von Fleischextract?«

»Ja. Doch müssen Sie dabei auch einige Bouillonknochen mit verwenden.«

»Bouillonknochen! Ja, ja! Gut! Schön!«

»Und ganz nothwendig ist die Medizin! Die müssen Sie unbedingt holen. Die Frau bekommt zweistündlich einen Eßlöffel voll und jedes Kind halb so viel.«

»Dann ist beim dritten Mal Einnehmen die Medizin für anderthalb Gulden alle geworden.«

»So holen Sie eine zweite Flasche.«

Jetzt konnte sich der arme Teufel nicht mehr halten. Er fragte:

»Nicht wahr, in der Löwenapotheke soll ich sie holen.«

»Natürlich! Dort ist sie besser als in der Mohrenapotheke.«

»Der Mohrenapotheker aber sagt, daß Sie nur deshalb Ihre Patienten in die Löwenapotheke schicken, weil Sie dort dreiunddreißig Prozent von dem Preise Ihrer Recepte Antheil erhalten.«

Der Arzt fuhr zornig auf.

»Was? Das hat er behauptet?«

»Ja.«

»Zu wem?«

»Zu mir und zu Anderen. Verklagen Sie ihn, wenn es nicht wahr ist! Ich bin bereit, Ihnen zu zeugen.«

»Pah! Mit einem solchen Menschen streite ich mich nicht an einer Gerichtsstelle herum! Eine solche niederträchtige Verleumdung wird durch sich selbst gerichtet. Ich werde nächstens wiederkommen. Adieu!«

Er ging.

Der Musterzeichner trat an das zugefrorene Fenster, hauchte eine Oeffnung in das Eis und blickte ihm nach. Es war ihm ganz so, als müsse er sich durch einen lauten, wilden Schrei Luft machen. Er faltete ganz unwillkürlich die Hände.

»Herr, hilf uns! Wir verderben!«

Dieses Stoßgebet wollte sich ihm auf die Lippen drängen, aber er schluckte es wieder hinab. Früher hatte er gebetet, ja; dann aber hatte er es verlernt. Im tiefen Schlamme des Elendes steckend, hatte er sich vergeblich nach Hilfe umgeschaut, und da war ihm der Glaube an Gott und die Menschen verloren gegangen. So wenigstens dachte er. Er hielt es nicht für wahr, daß dieser Glaube eigentlich unveräußerlich sei.

Da fühlte er eine Hand auf seiner Schulter. Seine alte Schwieger-


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mutter war zu ihm getreten. Sie war eine fromme Frau und eine gute Mutter. Sie hatte mit ihm gehungert, gelitten und gefroren, und stets hatte sie ein Trosteswort für ihn gehabt. Sie kannte ihn. Sie wußte, was in ihm vorging. Sie hatte das alte, halb zerfetzte Gesangbuch in der Hand, hielt ihm ohne ein Wort zu sagen, eine aufgeschlagene Seite entgegen und deutete mit dem hageren, abgezehrten Finger auf die Stelle:

»Gott unser Heil, ach wende
     Der Zeiten schweren Lauf;
Thu Deine milden Hände,
     Den Schatz der Allmacht auf!
Was nur ein Leben hat,
     Nährst Du mit Wohlgefallen.
O, schaffe doch uns Allen
     In unserer Armuth Rath!«

»Was soll das?« fragte er. »Kann das alte Buch uns denn Hilfe bringen?«

»Weiter!« sagte sie, indem sie mit dem Finger nach unten zeigte:

»Herr, der Du auch uns schufest,
     Hör unser Angstgeschrei!
Allmächtiger, Du rufest
     Dem Nichts, damit es sei.
Zu Helfen ist Dir leicht;
     Du kannst dem Hunger wehren,
Im Mangel uns ernähren,
     Wenns uns unmöglich deucht!«

Er stieß ihre Hand mit dem Buche zurück und sagte:

»Ich fragte, ob dieses Buch uns Hilfe bringen kann?«

»Das Buch nicht, aber wohl Der, von dem darin die Rede ist.«

»Gott etwa?«

»Ja.«

»Pah! Der wird sich viel um uns bekümmern!«

»Mein Sohn, versündigen Sie sich nicht! Er ließ Elias durch die Raben speisen; er sättigte Tausende mit fünf Broden und zwei Fischen, darum -«

»Lassen Sie, Mutter, lassen Sie!« fiel er ihr in die Rede. »Ich wäre ganz froh, wenn ich jetzt nur ein Brod hätte, und auf die Fische verzichte ich von vornherein. Haben Sie gehört, was der Doctor verlangte?«

»Ja.«

»Milch, Bouillon, Fleischextract, Knochen, Medizin! Wissen Sie, wieviel Geld ich habe?«

»Wohl keins!«

»Keinen Kreuzer! Alles fehlt, Alles? Holz, Kohlen, Licht! Und doch brauche ich das Letztere, um nächste Nacht arbeiten zu können. Ich habe drei Tage lang nichts genossen, als den ausgekochten Kaffeesatz, den ich mir in der Schänke heimlich von der Frau gebettelt habe. Und Sie -«

»O,« unterbrach sie ihn. »Mich hungert nicht!«


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»Ja! Sie scheinen gar keinen Magen mehr zu haben. Sie werden geradezu vom Hungern satt. Aber den Frost können Sie doch nicht verbergen. Wenn der Magen schreit und brüllt, das braucht man nicht zu verrathen; wenn aber die Kälte die Glieder schüttelt, das kann man nicht verbergen.«

»Es ist nicht so schlimm, mein Sohn. Dieser alte Rock ist noch ganz hübsch warm. Flanell ist ja Wolle. Aber mir ist nur um die Kranken. Nahrung und Feuerung Ist ihnen nothwendig, wenn sie gerettet werden sollen.«

»Woher nehmen und nicht stehlen?«

»Wollen Sie es denn nicht noch einmal mit Seidelmann versuchen?«

»Der giebt Nichts.«

»Warum sollte er Sie heute fortweisen, da Sie doch morgen Arbeit liefern?«

»Ich kenne ihn!«

»So machen Sie ihn auf seine Kasse aufmerksam.«

»Welche Kasse?«

»Die Kasse der Brüder und Schwestern der Seligkeit.«

Es war ihm trotz seines Elendes, als ob er laut auflachen müsse. Er schüttelte den Kopf und sagte:

»Ich war am Sonntag nicht in der Schänke, als der fromme Schuster seinen Vortrag hielt.«

»Aber ich. Es ist gesammelt worden.«

»Ich habe davon gehört. Bei der hiesigen Armethei wird aber auch viel zusammengekommen sein.«

»O, es hat ein Jeder gegeben!«

»Ein Jeder?«

»Ja. Es hat sich wohl kein Mensch ausgeschlossen.«

»Ah! Auch Sie wohl nicht?«

Die alte, brave Frau erröthete, als ob sie bei einem recht schlechten Streich ertappt worden sei. Sie antwortete zögernd:

»Konnte ich anders?«

»Ich denke, Sie haben kein Geld?«

»O, ich habe in meinem Bette, als Sie dachten, daß ich schliefe, für die Frau Lehrerin ein Paar Strümpfe gestrickt. Das kann man auch ohne Licht fertig bringen.«

Jetzt zog über sein leidendes Gesicht sich eine leichte Röthe.

»Ja, ja, so ist es!« sagte er. »Statt im Bette, was aber überhaupt kein Bett, sondern nur ein Lumpenhaufen zu nennen ist, auszuruhen und sich einigermaßen zu erwärmen, opfern Sie Ihre kurz zugemessene Ruhe und Ihre Gesundheit! Wieviel haben Sie denn erhalten?«

»Dreißig Kreuzer.«

»Gut! Das ist Ihr Verdienst, und ich habe also gar nichts darnach zu fragen. Aber wissen möchte ich doch gern, was Sie mit dem Gelde gemacht haben.«

»Das möchte ich doch lieber nicht sagen.«


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»Wenn ich Sie nun recht herzlich bitte?«

»Na,« lächelte sie, »einer solchen Bitte kann man doch wohl nicht widerstehen. Sie erinnern sich, daß ich droben im Commodenkasten, ganz hinten unter alten Sachen, ein Paar Cigarren gefunden habe?«

»Ja. Es waren sieben Stück. Ich muß sie früher, in glücklicheren Zeiten, als ich noch Cigarren zu sehen bekam, einmal hineingelegt und dann vergessen haben.«

»O, so Etwas vergißt ein Mann wohl nicht! Sie hatten kurz vorher einmal gesagt, daß Sie sich ganz glücklich fühlen würden, wenn Sie wieder einmal eine Cigarre schmecken würden.«

»Ja, ich erinnere mich. Ich ließ mich einmal gehen, und da fuhren mir die dummen Worte heraus.«

»Nun, da ließ auch ich mich gehen, nämlich zu der Lehrerin. Ich fragte sie, ob sie nicht eine kleine Arbeit für mich habe, und da gab sie mir das Strickgarn und borgte mir die Nadeln, denn wir haben keine mehr. Da habe ich des Nachts gestrickt und dreißig Kreuzer erhalten.«

»Herrgott! Jetzt ahne ich! Was haben Sie mit dem Gelde gemacht?«

»Ich habe Cigarren gekauft, nur von der billigsten Sorte, vier Kreuzer das Stück. Sie sind jetzt so theuer. Da bekam ich sieben Stück.«

»Und dann sagten Sie, Sie hätten sie gefunden?«

»Ja.«

Ihr Auge glänzte. Sie hatte gehungert und gekummert. Und sie hatte Nächte geopfert, um ihrem Schwiegersohne einen unbesonnen ausgesprochenen Wunsch zu erfüllen. Es überkam ihn eine tiefe, tiefe Rührung. Er mußte sich abwenden, um eine Thräne zu verbergen. Dann aber drehte er sich ihr rasch wieder zu, zog sie an sich und gab ihr einen Kuß.

»Mutter,« sagte er. »Wahrhaftig, Sie sind nicht meine Schwieger- sondern meine rechte Mutter! Die Cigarren haben mir sehr gut geschmeckt! Nicht?«

»Sie sagten es, und das freute mich sehr.«

»Und dabei hungerten Sie?«

»Sie gingen früh eine halbe Stunde aus, und da wurde stets eine Cigarre geraucht. Ich saß daheim und dachte daran, wie gut sie Ihnen schmecken würde.«

»Ja, ja! Ich that nur so! Ich habe nicht geraucht.«

»Nicht? Wirklich?« fragte sie erstaunt.

»Nein, keine einzige. Ich habe sie verkauft, drei Kreuzer das Stück; das macht einundzwanzig Kreuzer. Dafür kaufte ich die Brodchen, von denen ich hier das letzte habe. Wir haben also sieben Kreuzer eingebüßt.«

Trotz dieser letzten Worte lächelten sie einander ganz glücklich an.

»So ist es, wenn man Geheimnisse hat,« sagte die Schwiegermutter. »Man hat allemal Verlust dabei. Aber die Cigarren kosteten achtundzwanzig Kreuzer; ich behielt also zwei übrig, und diese habe ich am Sonntag in die Kasse der Brüder und Schwestern der Seligkeit gegeben.«


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»Das Scherflein der Wittwe, welches tausendfach vergolten wird, wie Christus sagt. - Wenn es wahr wäre!«

Er trat abermals an das Fenster. Sie folgte ihm, legte ihm die Hand wieder auf den Arm und sagte:

»Werden Sie zu Seidelmann gehen?«

Da gab er ihr die Hand und antwortete:

»Sie sind so opferfreudig, daß ich mich nicht beschämen lassen kann. Es ist ein saurer Gang, aber ich werde ihn doch thun.«

»Wann?«

»Jetzt gleich. Das wird am Besten sein.«

»Thun Sie das. Der liebe Gott wird das Herz des reichen Mannes lenken, daß er Ihren Wunsch erhört!«

Wilhelmi griff zur Mütze und ging. Der ältere Seidelmann befand sich in seinem Bureau. Er machte ein erwartungsvolles Gesicht, als er den Musterzeichner eintreten sah.

»Bringen Sie die neuen Muster?« fragte er.

»Noch nicht. Sie werden erst morgen früh fertig.«

Sofort verfinsterte sich das Gesicht des Kaufmannes.

»So haben Sie wohl eine Frage in Bezug auf die Zeichnung?«

»Eine Frage? Ja. Aber in anderer Beziehung.«

»Reden Sie!«

»Heute ist mein ältestes Kind gestorben, Herr Seidelmann -«

»Seien Sie froh! Das ist ein wahres Glück für Sie!«

Es war Wilhelmi, als ob er den Sprecher beohrfeigen müsse; aber er beherrschte sich und sagte:

»Sie haben vielleicht Recht. Und doch kommt mir dieser Todesfall höchst ungelegen.«

»Wieso?«

»Weil mit ihm Geldausgaben verknüpft sind, denen ich gerade heute noch nicht gewachsen bin!«

»Ah so!« dehnte Seidelmann, indem er seine Stirn in sehr bedenkliche Falten zog.

»Die Frau liegt mit den anderen Kindern schwer an den Blattern darnieder; man will leben und braucht theure Medizin. Morgen früh bringe ich die Muster. Heute aber brauche ich auf das Nöthigste zwei Gulden. Würden Sie mir diese vorschießen, Herr Seidelmann?«

»Nein,« lautete es kurz und scharf.

»Sie sind Ihnen doch sicher!«

»Sie sind mir bereits zwei schuldig.«

»O, Sie sind reich. Ihnen ist es ganz gleich, ob Sie mir morgen zwei Gulden oder vier abzuziehen haben!«

»Nein, das ist mir ganz und gar nicht gleich! Da irren Sie sich! Ein Geschäftsmann muß ganz streng nach gewissen Grundsätzen handeln. Weicht er davon ab, so hat er es stets zu bereuen.«


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»Ich bin mir nicht bewußt, Ihnen je einmal Grund zur Reue gegeben zu haben.«

»O doch, mein Bester!«

»Wann wäre das gewesen?«

»Jetzt, heute! Sie wissen, daß es mein Grundsatz ist, niemals Gehaltszulage zu geben, und ebenso wenig pflege ich Vorschüsse zu leisten. Ich habe mich verleiten lassen, bei Ihnen eine Ausnahme zu machen, und - sehen Sie wohl - sofort tritt die Reue ein! Ich gab Ihnen zwei Gulden, und anstatt mich zu bezahlen, kommen Sie und verlangen einen zweiten Vorschuß. Das ist sehr auffällig, mein Lieber! Wenn ich das einreißen ließe, kämen Sie gar nicht aus den Schulden heraus. Sie sehen ein, daß ich um Ihres eigenen Wohles Ihnen die Bitte abschlagen muß.«

»Aber, Herr Seidelmann! Die Leiche im Hause, die Kranken! Sodann diese Kälte! Ich brauche den kleinen Betrag, bei Gott, zur allerhöchsten Noth!«

»Das verfängt bei mir nicht! Ich kenne das! Ihr Leute befindet Euch stets in der allergrößten Noth, und dabei denkt Ihr unausgesetzt, daß wir nur da sind, Euch fort und fort aus dieser Noth zu befreien. Ich kann Euch nur den sehr gut gemeinten Rath geben, Eure Einkünfte besser zusammen zu halten.«

»Zehn Gulden in zwei Wochen! Nennen Sie das Einkünfte?«

»Wie sonst? Fünf Gulden wöchentlich ist für Sie genug!«

Der Musterzeichner mußte seine ganze Selbstbeherrschung zusammennehmen, um scheinbar ruhig zu bleiben. Er trat einen Schritt zurück und fragte:

»Es ist also Ihr unerschütterlicher Entschluß, mir den erbetenen Vorschuß zu verweigern?«

»Ja.«

»Nun wohl, so schreite ich zu einer zweiten Bitte.«

»Noch eine! Sie wird doch nicht etwa mit der ersten Ähnlichkeit haben?«

»Leider doch!«

Und indem er weiter sprach, vermochte er nicht, das Zittern seiner Stimme, welches eine Folge seiner gewaltsam unterdrückten Aufregung war, ganz zu verbergen.

»Herr Seidelmann, Sie kennen mich. Es kann mir kein Mensch etwas Unrechtes nachsagen -«

»Bis jetzt noch nicht!« fiel ihm der Kaufmann in die Rede.

»Ich glaube, daß es auch in Zukunft so bleiben wird. Ich habe stets ein reges Ehrgefühl besessen, und war ich einmal in Noth, so ließ ich es keinem Menschen merken. Ich habe noch Niemand angebettelt. Mein ganzes Wesen sträubt sich dagegen; heute aber ist mir das Wasser bis an den Hals gestiegen, und darum will ich einmal gegen meinen Character handeln.«

»Thun Sie das nicht! Unterlassen Sie das lieber!« sagte Seidelmann, der nichts Erwünschtes ahnte.

»Ich muß es thun. Ich bin Familienvater.«

»Ich auch.«


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»Aber es ist ein gewaltiger Unterschied zwischen uns: Sie sind reich, und ich bin arm. Sie verweigern mir den Vorschuß. Würden Sie mir auch eine kleine Unterstützung, eine Liebesgabe verweigern?«

»Eine Unterstützung? Donnerwetter, wie meinen Sie das?«

»Ein Geschenk, meine ich. Ich bitte Sie, mir die zwei Gulden zu schenken, da es gegen Ihr Prinzip ist, sie mir vorzuschießen.«

»Ah! Sie betteln!«

»Ja, wenn Sie es so nennen wollen.«

»Das ist stark. Das ist mehr als stark!«

»Aber wohl verzeihlich!«

»Nein. So etwas kann ich weder dulden noch verzeihen.«

»Herr Seidelmann, die Noth ist viel, viel wichtiger, als der Wille des Menschen!«

»Das ist nicht wahr. Der Wille eines charactervollen Mannes muß stärker sein als alle Noth. Glauben Sie etwa, daß ich Leute beschäftige, welche betteln?«

»Darauf weiß ich nicht zu antworten.«

»Aber ich. Die Antwort lautet: Wenn Jemand, der bei mir in Dienst oder in Arbeit steht, sich nicht zu betteln schämt, so entlohne ich ihn. Lassen Sie sich das gesagt sein! Uebrigens habe ich für Supplikanten kein Geld!«

»Nun gut! So will ich meine Bitte auch gar nicht an Ihren Geldschrank richten sondern -«

»Wohin denn, he? Wenn ich nämlich fragen darf.«

»An die andere Kasse, welche Sie in den Händen haben.«

»Welche wäre das?«

»Die Kasse des Vereins der Brüder und Schwestern der Seligkeit, Herr Seidelmann.«

»Sapperment! Wie kommen Sie auf diesen Gedanken?«

»Er liegt sehr nahe. Der Verein hat doch auch den Zweck der Unterstützung Bedürftiger.«

»Allerdings.«

»Ich wende mich jetzt als ein solcher Bedürftiger an den Verein.«

»Da dürfen Sie Ihr Gesuch nicht an mich richten.«

»An wen denn?«

»An den Vorsteher.«

»Also an Ihren Herrn Bruder?«

»Ja.«

»Ich hoffe, daß er mich nicht abweisen wird. Und selbst wenn dies der Fall sein sollte, so wird er Ihnen als seinem Bruder sicher keine Vorwürfe machen, wenn Sie so freundlich sind, einmal zu meinen Gunsten zu disponiren.«

»Das geht nicht! Ich habe zwar die Kasse, darf Zahlungen aber nur auf Anweisung des Vorstehers leisten.«

»Ist der Herr Vorsteher verpflichtet, über seine Disposition Rechenschaft abzulegen?«


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»An wen?«

»An die Vereinsmitglieder?«

»Wo denken Sie hin! Das ist ja ein Ding der Unmöglichkeit! Aber, da fällt mir ein: Haben Sie mit zu dieser Kasse gesteuert?«

»Nein.«

»Sie haben wohl an unserer Versammlung am Sonntage gar nicht mit theilgenommen?«

»Auch nicht.«

»So sind Sie also kein Mitglied unseres Vereines?«

»Ich bin allerdings nicht beigetreten.«

»Ah! So ist es! Da brauche ich Ihnen nur mitzutheilen, daß Sie absolut Nichts bekommen können.«

»Warum nicht?«

»Weil nur Vereinsmitglieder unterstützt werden. Das können Sie sich doch denken!«

»So muß ich mich allerdings bescheiden, Herr Seidelmann. Aber, ob dann morgen meine Arbeit fertig wird, kann ich nicht sagen.«

»Warum sollte sie nicht fertig werden?«

»Weil ich nicht eher nach Hause gehe, als bis ich irgendwo die zwei Gulden erhalte. Da versäume ich viel Zeit.«

»Gehen Sie zu Ihrem Bruder.«

»Der ist so arm wie ich.«

»Ein Müller, der seine eigene Mühle hat?«

»O, seit der Baron von Helfenstein ihm die große Dampfmühle in den Weg gestellt hat, ist es aus. Und was die Mühle als Eigenthum betrifft, so weiß er sich vor Hypotheken kaum zu retten. Er kann mir nichts geben.«

Da stand Seidelmann auf und ging hin und her, indem er sich stellte, als ob er überlege. Dann blieb er vor dem Musterzeichner stehen und sagte:

»Wilhelmi, Sie wissen, daß ich Ihnen stets wohlgewollt habe!«

Der Supplikant antwortete nicht. Darum fragte Seidelmann:

»Ist das so oder nicht?«

»Sie wissen auch, daß ich stets gut gearbeitet habe!« antwortete der Gefragte.

»Das mag sein. Dennoch kann ich Ihretwegen nicht gegen meine Grundsätze verstoßen. Aber die Sache läßt sich vielleicht auf andere Weise machen.«

»Das wäre mir freilich lieb.«

»Wie haben Sie jetzt gearbeitet? Nach den Farben oder in's Ganze?«

»In's Ganze.«

»So sind also einige Muster von den fünf fertig?«

»Ja. Viere nämlich. Das letzte habe ich gestern am Vormittage angefangen.«

»So schneiden Sie doch die vier ab, und bringen Sie sie mir herüber. Ich kann Ihnen dann Ihren Lohn zahlen, ohne meine Grundsätze zu verletzen.«


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»Ah, richtig! Daran habe ich gar nicht gedacht.«

»Also gehen Sie! Ich werde Sie hier erwarten.«

Wilhelmi eilte fort. Seidelmann stieß ein höhnisches Lachen aus und murmelte vor sich hin:

»Der Kerl glaubt wirklich, daß er Geld bekommt! Ich brauche ihn nothwendig bei den Paschern. Ich habe ihn bereits in der Hand, und je tiefer er in Noth geräth, desto mehr ist er mein Eigenthum. Geld bekommt er hier nicht geborgt. Er ist ganz auf mich angewiesen und darf mir nicht entgehen.«

Dem Musterzeichner war das Herz leicht geworden. Als er bei sich eintrat, hatte sein Gesicht einen ganz anderen Ausdruck angenommen. Seine Schwiegermutter bemerkte das sofort. Darum sagte sie:

»Nun, Sie sind glücklich gewesen?«

»Noch nicht.«

»Wie? Aber Sie sehen doch ganz glücklich aus!«

»Ich werde Geld bekommen.«

»Vorschuß?«

»Nein.«

»Vielleicht gar Geschenk?«

»Auch nicht, obgleich ich die Wohlthätigkeitskasse der Brüder und Schwestern der Seligkeit in Erwähnung gebracht habe.«

»Auf welche Weise denn?«

»Ich soll die fertigen Muster liefern.«

»Geht das denn?«

»Warum nicht?«

»Und wie viele haben Sie fertig?«

»Viere.«

»O, da ist ja Alles gut! So bekommen wir ja, selbst wenn er die zwei Gulden in Abzug bringt, volle sechs Gulden. Dann ist uns für heute geholfen.«

Er nahm das Messer, schnitt die Zeichnungen, welche wirklich meisterhaft gelungen waren, ab und eilte dann fort. Er fand Seidelmann seiner wartend.

»Na, zeigen Sie her!« sagte dieser.

Er nahm die Zeichnungen in die Hand und betrachtete sie. Sein Gesicht nahm einen Besorgniß erregenden Ausdruck an. Er trat an das Fenster, scheinbar um besser sehen zu können.

Er fand die Arbeit außerordentlich wohl gelungen, aber es lag gar nicht in seiner Absicht, dies einzugestehen.

»Hm! Oh!« brummte er verdrießlich.

Wilhelmi fühlte eine gewisse Angst. Er räusperte sich. Da drehte Seidelmann sich zu ihm um und fragte:

»Ist das Original?«

»Natürlich!«

»Sie haben nicht so etwas Aehnliches vorher gesehen?«


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»Nie.«

»Hm! Dann müßte ich mich sehr irren. Besinnen Sie sich!«

»Ich kann mich keines Musters erinnern, welches einem der hier vorliegenden ähnlich wäre.«

»Auch hier bei mir nicht?«

»Nein.«

»Und doch lag ein solches Muster hier, als Sie das letzte Mal bei mir waren.«

»Ich habe es nicht gesehen.«

»Es lag dort auf dem Tische, gerade vor Ihren Augen.«

»Ich versichere, daß ich es nicht gesehen habe.«

»Unmöglich! Es hatte sich ein Musterzeichner um Arbeit gemeldet, und einer meiner Auftraggeber schickte mir eins seiner Originale ein. Das lag dort auf dem Tische. Ihr Auge ist darauf gefallen, und, vielleicht ohne sich dessen bewußt zu werden, sind Ihnen die Farben und Linien gegenwärtig geblieben.«

»Das ist kaum glaublich!«

»Aber es muß doch so sein; denn alle diese vier Zeichnungen sind diesem Originale ähnlich. Sie sind nichts als nur Complikationen oder Variationen desselben.«

»Das kann ja gar nicht passiren!«

»Warum nicht? Das kann dem größten Künstler, dem besten und zuverlässigsten Arbeiter geschehen.«

»So haben Sie die Güte, zu vergleichen.«

»Das ist unmöglich, mein Lieber!«

»Ich hoffe, daß Sie mir den Gefallen thun werden!«

»Ich wiederhole, daß es unmöglich ist, denn ich habe jene Zeichnung wieder zurückgeschickt.«

»O wehe!« entfuhr es Wilhelmi.

»Ja, o wehe! Sie werden natürlich einsehen und auch eingestehen, daß ich unter diesen Verhältnissen Ihre Arbeit nicht gebrauchen kann.«

»Dann wäre es mit meiner Hoffnung aus!«

»Allerdings. Thut mir sehr leid, ist aber leider trotz des besten Willens nicht zu ändern. Sie müssen sich natürlich bemühen, unter allen Umständen originell zu bleiben.«

»Ich habe fest geglaubt, es zu sein.«

»So befanden Sie sich für dieses Mal im Irrthume.«

»Aber ist denn ein Vergleich mit jener Zeichnung ganz und gar unmöglich, Herr Seidelmann?«

»Gerade unmöglich nicht. Wir müßten Ihre Arbeit einsenden.«

»Oder jenes Original wiederkommen lassen.«

»Gewiß! Eins von Beiden. Welches würde Ihnen lieber sein?«

»Natürlich das Letztere.«

»Daß wir es kommen lassen?«


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»Ja. Dann könnte ich mich selbst überzeugen.«

»Aber selbst besten Falls verstreicht eine Zeit, die uns verloren geht. Für jetzt muß ich bei der Bestimmung bleiben, daß ich Ihre Arbeit nicht gebrauchen kann.«

»Ich hoffe doch nicht, daß diese Bestimmung etwa Einfluß auf die Bezahlung hat?«

»Natürlich hat sie das! Es ist ja gar nicht anders möglich!«

»Himmel! So erhalte ich heute kein Geld!«

»Sie können doch nicht verlangen, daß ich eine Arbeit bezahle, welche ich nicht gebrauchen kann!«

»Gott! Was wird meine Schwiegermutter sagen!«

»Sie ist eine verständige Frau; darum weiß ich, was sie sagen wird; sie wird mir Recht geben.«

»Sie hatte sich so sehr auf die sechs Gulden gefreut.«

»Es gehen oft die besten Hoffnungen nicht in Erfüllung.«

»Aber wir brauchen es so nothwendig!«

»Ich kann nichts ändern!«

Der Musterzeichner drehte nicht nur verlegen, sondern geradezu bestürzt die Mütze in den Händen. Er hätte entweder laut fluchen oder gerade hinaus weinen mögen. Er war bereits abgewiesen worden; aber seine Bedrängniß gab ihm den Muth, abermals zu fragen:

»Auch den Vorschuß werden Sie mir nicht gewähren?«

Seidelmann that, als ob er außerordentlich erstaunt sei, und antwortete ziemlich barsch:

»Wo denken Sie hin? Diese Frage habe ich allerdings nicht von Ihnen erwartet!«

»Ich kann aber wohl kaum ohne Geld nach Hause kommen.«

»Das geht mich nichts an! Ich habe Ihnen keinen Vorschuß gegeben, als ich überzeugt war, daß Sie morgen Arbeit bringen würden; ich kann Ihnen denselben jetzt noch viel weniger gewähren, da ich weiß, daß Wochen vergehen werden, ehe Sie wieder Neues liefern.«

»Wovon soll ich bis dahin leben?«

»Da siehe zu!«

Die Zähne des Musterzeichners drückten sich knirschend auf einander. Dann sagte er:

»Wissen Sie, wem das Wort galt, welches Sie soeben ausgesprochen haben?«

»Es ist eine Redensart.«

»Aber eine sehr bedeutungsvolle. Diese Antwort erhielt Judas Ischarioth, als er seine That bereute und den Priestern die dreißig Silberlinge vor die Füße warf.«

»Das mag sein.«

»Er ging darauf hin und erhängte sich.«

»Er war ein Esel!«


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»Soll ich etwa dasselbe thun?«

»Sie sind zu klug dazu. Was sollte Ihrer Familie Ihr Tod nützen? Solche Lagen sind Prüfungen, aus denen der Mensch gestärkt und geläutert hervorgeht.«

»Oder in denen er untergeht. Wenn Gott wirklich die Liebe ist, so kann er keinen Menschen in Versuchung oder Prüfung führen.«

»Das sind theologische Finessen, zu denen ich jetzt keine Zeit habe. Ich bin sehr beschäftigt.«

»Also wirklich keinen Vorschuß?«

»Nein.«

»Auch kein Geschenk?«

»Noch viel weniger. Ich habe Ihnen bereits gesagt, daß ich Einen, welcher sich zum Bettler herabwürdigt, ablohnen würde.«

»So sind also alle meine Bitten vergebens?«

»Alle! Bemühen Sie sich weiter nicht.«

»Und was wird mit diesen vier Zeichnungen?«

»Die behalte ich einstweilen zur Vergleichung hier. Für heute sind wir fertig. Adieu!«

Er drehte sich ab.

»Adieu!« sagte Wilhelmi.

Er brachte diesen Gruß kaum heraus. Es war ihm, als ob ihm die Kehle zugeschnürt sei. Er ging nicht, sondern er wankte hinaus. Er hatte das Gefühl, als ob er schwitze. Draußen aber warf sich ihm die winterliche Kälte entgegen. Das trieb ihm das congestirende Blut aus dem Kopf zurück. Er blieb stehen und blickte die Gasse hinab.

»Was nun?« fragte er sich.

Da kam ihm das Wort Seidelmann's in den Sinn:

»Gehen sie zu Ihrem Bruder.«

Ja. Der Bruder befand sich zwar selbst in Noth, aber er war ein Verwandter. Er gab, wenn er auch nicht helfen konnte, wenigstens einen Rath; er hatte ein freundliches, theilnehmendes Wort.

Ohne es sich eigentlich klar bewußt zu werden, schritt der Musterzeichner die Gasse hinab und dann auf einem Seitenwege aus dem Städtchen hinaus. Dieser Weg führte nach dem Haingrunde, und ehe man diesen erreichte, kam man an eine Mühle, welche aus Ziegeln gebaut und weder beworfen, noch abgeputzt war. Da in Folge dessen das Gebäude eine rothe Farbe hatte, wurde die Mühle in der ganzen Umgegend die rothe Mühle genannt.

Sie lag mitten im Walde in einem engen Thale und war ein altes, dem Verfalle rasch entgegengehendes Gebäude. Der jetzige Besitzer hatte hier lange Jahre als Knappe gearbeitet und dann die Tochter seines Meisters geheirathet. Er hatte dann die Mühle nebst allen Schulden geerbt, war aber fleißig und ehrlich gewesen und hatte bis vor einigen Jahren die Hoffnung gehegt, daß er sich doch noch emporarbeiten werde.

Da aber hatte der Besitzer des Kohlenschachtes »Gottes Segen«, der


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Baron Franz von Helfenstein, gerade oberhalb eine riesige Dampfmühle nach amerikanischem System hingebaut, und seit dieser Zeit stand die »rothe Mühle« ganz natürlich auf dem Aussterbeetat.

Wilhelmi schritt das Thal entlang und sah dann den Rauch aus dem Schornstein der Mühle emporsteigen.

»Die können sich wenigstens eine warme Stube machen,« sagte er zu sich. »Sie haben das Holz nahe. Ich aber schäme mich, in den Wald zu gehen und als halber Holzdieb zu gelten.«

Als er in den Flur trat, kam ihm ein angenehmer, erquickender Duft in die Nase.

»Braten!« sagte er, ganz verwundert. »Und noch dazu Wild, wie es scheint! Wie kommt der Bruder dazu? Er wird doch nicht etwa - -«

Er klopfte an; drinnen erklang ein lautes »Herein!« Als er eintrat, sah er seinen Bruder und dessen Frau essend am Tische sitzen. Er grüßte, und die Beiden dankten freundlich.

Der Müller sah ihm ähnlich, war aber besser genährt, und seine Frau war beinahe dick zu nennen. Doch sah man es ihrem Gesichte an, daß sie von Sorgen auch nicht verschont geblieben seien.

»Setze Dich her!« sagte der Müller. »Du kommst da gerade zur rechten Zeit.«

»Hm! Wild! Nicht wahr?« fragte der Musterzeichner.

»Ja. Eine Rehkeule.«

»Sapperlot! Wie kommst Du zu einem solchen Braten?«

»Geschenk.«

»Von wem?«

»Das ist Geheimniß.«

»Dann danke ich!«

»Unsinn! Sei nicht dumm.«

»Wenn Du nicht sagen kannst, von wem die Keule ist, so geht es nicht mit rechten Dingen zu, und ich muß danken!«

»Nun, wenn es Dich beruhigt: Ich weiß, von wem sie ist.«

»Von Einem, der so Etwas verschenken kann?«

»Das denke ich wohl. Setz Dich!«

»Na, da mag es sein.«

Er nahm einen Stuhl und setzte sich an den Tisch. Die Müllerin hatte einen Teller nebst Messer, Gabel und Löffel geholt und nahm dann wieder Platz. Sie hatte trotz des delicaten Bratens, der vor ihr lag, ein gedrücktes Aussehen.

Wilhelmi griff zu Messer und Gabel, und schnitt sich ein Stück herab. Aber als er im Begriffe stand, den ersten Bissen zum Munde zu führen, setzte er die Gabel wieder ab.

»Was ist's?« fragte sein Bruder.

»Ach, meine Frau!«

»Na, was denn?«

»Und meine Kinder!«


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Dabei legte er das Fleisch wieder auf den Teller.

»Sei nicht dumm, sondern iß.«

»Das begreifst Du wohl nicht?« fragte seine Frau.

»Was soll ich denn begreifen?«

»Er kann nicht essen, weil Frau und Kinder zu Hause nichts haben. Nicht wahr Schwager?«

Wilhelmi nickte mit dem Kopfe und sagte:

»Der Bissen würde mir im Munde quellen!«

Sein Bruder nickte ihm lächelnd zu und sagte:

»Ja, ja, so bist Du! Äußerlich ein harter Kerl und innerlich doch ganz Herz und Gemüth! Wenn es aber nur das ist, so lange getrost zu. Wir haben auch für Deine Frau und die Kinder etwas.«

»Ihr dürft Euch nicht berauben!«

»Das thun wir auch nicht. Wir haben nämlich nicht nur die Keule, sondern ein ganzes Reh geschenkt erhalten.«

»Von wem?«

»Das sage ich Dir nachher.«

»Ich glaube, es errathen zu können.«

»Nun? Rathe einmal!«

»Vom alten Förster Wunderlich. Der hat solche Mucken, wenn er Jemand in Noth weiß.«

»Hm! Ich sage jetzt nicht ja und nicht nein. Jetzt essen wir, und dann sollst Du es erfahren. Lange getrost zu!«

Jetzt ließ Wilhelmi sich nicht länger bitten. Er langte zu und ließ es sich schmecken. Er hatte so lange, lange Zeit nicht Fleisch gegessen, und wußte fast gar nicht mehr, wie Fleisch schmeckte.

"Sapperment schlägst Du heute eine Klinge!"

»Sapperment, schlägst Du heute eine Klinge!« meinte der Müller. »Du hast wohl jetzt Halbfasten gehabt?«

»Nicht halb sondern ganz.«

»O weh! Seit wann?«

»Heute ist Donnerstag. Am Sonnabend habe ich das letzte Mal gegessen.«

»Herrgott! Ist's wahr?«

»Leider! Mir ist's schlecht ergangen.«

»Und da kommst Du nicht zu uns?«

»Was soll ich bei Euch? Ihr habt für Euch zu sorgen.«

»Da sehe mir Einer den Menschen an! Wenn ein Bruder hungert, kann der andere doch wohl mit hungern!«

Die Müllerin musterte ihren Schwager mit einem Blicke, in dem sich die tiefste, wärmste Theilnahme aussprach. Es war ihr anzusehen, daß sie eine gutmüthige, menschenfreundliche Frau war. Nur lag es heute, wie bereits gesagt, wie Wolken auf ihrem sonst so freundlichen Angesichte.

»Wie geht's der Schwägerin?« fragte sie.

»Davon nachher! Jedenfalls nicht so luxurios wie Euch. Ihr habt Braten, eine warme Stube, und - wie ich zu meiner Freude schon vom


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Weiten bemerkte - auch Arbeit. Ich hörte die Mühle klappern, bereits ehe ich sie sah.«

»Ja, Gott sei Dank, Arbeit haben wir,« sagte der Müller. »Wenn es nur so bleiben wollte!«

Die Müllerin ließ trübe den Kopf sinken. Man sah es ihr an, daß ihr eine Bemerkung auf die Lippen kam, aber von ihr unterdrückt wurde.

Am Schlusse des Mahles ertönte draußen die Klingel. Der Müller mußte hinaus, um frisch aufzuschütten. Also befand sich der Musterzeichner mit seiner Schwägerin allein. Er benutzte das, indem er fragte:

»Dir liegt Etwas auf dem Herzen?«

»Und wie schwer!« seufzte sie.

»Mangel an Geld oder Arbeit?«

»Etwas anderes.«

»Darf man es erfahren?«

»Er wird es Dir wohl selbst sagen. Aber, Schwager, ich bitte Dich um Gottes willen, rathe ihm ab!«

»Wovon?«

»Du wirst's noch erfahren.«

»So ist's etwas Ungutes?«

»Sogar etwas Schlimmes.«

»Da kannst Du Dich darauf verlassen, daß ich ihm nicht zurathen werde!«

»Wende nur Alles an, um ihn davon abzubringen!«

Jetzt kam der Müller zurück. Er warf einen forschenden Blick auf seine Frau und mochte ahnen, daß sie geplaudert habe, denn er fragte seinen Bruder:

»Nicht wahr, sie hat nicht schweigen können?«

»Natürlich haben wir miteinander gesprochen!«

»Aber wovon? Hat sie Dir nicht die Noth geklagt?«

»Sie hat mir nichts anvertraut.«

»Na, Du wirst's auch ohnehin erfahren. Trage ab, Pauline, und komme dann wieder herein! Eheleute müssen aufrichtig gegen einander sein. Du mußt auch hören, was der Bruder dazu sagt.«

Sie gehorchte dieser Aufforderung und nahm dann, als sie fertig war, bei den beiden Männern wieder Platz.

»Nun zunächst zu Dir!« begann der Müller. »Also daheim geht es schlecht?«

»Schlechter wie jemals. Es fehlt nicht weniger als Alles.«

»Daß Du nichts zu beißen hast, hast Du schon gesagt. Bei uns war es auch so.«

»Keine warme Stube!«

»Herrgott! In dieser Kälte! Konntest Du nicht zu uns kommen? Ein Füderchen Holz oder Reisig hätte ich schon noch für Dich gehabt.«

Wilhelmi antwortete hierauf nicht, sondern fuhr fort:

»Die Älteste ist todt.«

»Doch nicht! Wann?«


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»Vor drei Stunden wohl.«

»Welch' ein Herzeleid! Es war so ein gutes Kind!«

Der Müllerin traten die Thränen in die Augen. Wilhelmi sah es, und nun war es ihm nicht länger möglich, die so lang beherrschte Wallung zurück zu halten. Er weinte laut auf, legte die Arme auf den Tisch, den Kopf darauf und schluchzte zum Erbarmen fort.

Der Müller wollte ein tröstendes Wort sprechen, aber seine Frau winkte ihm ab. Sie hatte Recht. Wenn der Musterzeichner sich ausweinte, so wurde ihm das Herz leicht. So ließen sie ihm gewähren, bis er den Kopf von selbst wieder erhob und sich die Thränen trocknete.

»Ihr dürft Euch nicht wundern, daß es hier losbricht,« sagte er. »Aber daheim darf ich mir doch nicht merken lassen, wie es mir zu Muthe ist«

»Du hast es recht gemacht, Schwager,« sagte die Müllerin. »Nun ist die Last vom Herzen weg, und Du kannst reden. Das Kind ist zwar todt, und das thut Einem innig wehe; aber Du mußt Dir sagen, daß es ihm wohl ist!«

»Das gebe ich zu, Schwägerin. Wenn es nur nicht eines so grausamen Todes gestorben wäre!«

»Grausam? Wieso? Doch an den Blattern?«

»Ja, aber es ist erstickt und verhungert.«

»Herrgott! Ist's wahr?«

»Ja. Die Pocken hatten sich zolldick über das Gesichtchen gelegt. Der Mund und das Näschen wurden zu.«

»So mußte der Arzt schneiden?«

»Er kam aber nicht!«

»Du hast nach ihm geschickt?«

»Geschickt und bin auch selbst dort gewesen. Er ist doch nicht gekommen. Wird ein Reicher krank, dem es nur am Ellbogen juckt, so laufen sich gleich zehn Ärzte die Beine weg; wenn aber ein armes, elendes Volkskind verhungert und erstickt, so ist nicht Einer zu haben.«

»Du mußt ihn anzeigen, und zwar sofort!« rieth der zornige Müller. »Er muß bestraft werden!«

»Das bilde Dir nicht ein. Ein Arzt braucht gar nicht zu kommen, wenn er gerufen wird.«

»Wozu aber ist er da?«

»Für die Reichen!«

»Aber wir haben doch auch Armenärzte!«

»Die aber auch reiche Patienten behandeln, und da kommt der Reiche natürlich vorher. Oder es liegt so ein Doctor in seinem weichen Bette und es träumt ihm, daß er den Schnupfen hat. Da klingelt es, und er soll zu einem armen Teufel kommen, der sich verbluten will. Was antwortet der Doctor? Daß er nicht kommen kann, weil er gerade jetzt im Schweiße liegt; das sei lebensgefährlich für ihn, und so ein kostbares Leben müsse er doch seinen Patienten zu erhalten suchen.«


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»So ist es, obgleich nicht zu bestreiten ist, daß es auch viele brave Ärzte giebt, die ganz ohne Ansehen der Person und auch ganz heldenhaft ihre Pflicht thun. Etwas Leichtes und Angenehmes ist es nicht, Pockenkranke zu behandeln.«

»Das weiß ich gar wohl. Meine Frau kann weder sehen noch hören noch schmecken oder riechen. Und so ist es auch mit den Kindern. Nun habe ich die Leiche. Die muß doch begraben werden.«

»Das macht Kosten. Der Sarg, das Grab, der Pfarrer, die Leichenfrau, Alles das will bezahlt sein!«

»Und ich habe doch keinen Kreuzer in der Tasche!«

»Gar nichts? Wirklich?«

»Keinen rothen Heller. Und dabei verordnet der Doctor Milch und Bouillon und verschreibt eine Medizin, von welcher ich an einem Tage für drei Gulden verbrauchen kann.«

»Hast Du nicht den Seidelmann?«

»Den? Laßt mich in Ruhe mit ihm!«

»Er kann Dir doch gern einen Vorschuß geben. Er hat es Deinen Mustern zu verdanken, daß er bei seinen Auftraggebern einen solchen Stein im Brette hat.«

»Ich habe es versucht; er aber hat mich abgewiesen.«

»Das ist doch kaum zu glauben!«

Wilhelmi erzählte, wie es ihm heute bei Seidelmann gegangen war Als er geendet hatte, schlug der Müller auf den Tisch und rief:

»Das ist schlecht von ihm, grundschlecht! Ich habe es ihm nicht zugetraut, weil er so freundlich gegen uns gewesen ist.«

»Gegen Euch?«

»Ja.«

»Wann denn und wie?«

»Nun, er hat uns Arbeit geschickt. Wir mahlen für ihn; darum geht heute nach langer Zeit einmal unsere Mühle.«

»Für ihn? Wozu braucht er denn Mehl, und woher nimmt er die Körner? Seine Familie ist doch nicht so groß, daß er wegen des Brodmehles zum Müller muß!«

»Es ist eine Speculation. Er hat Getreide von jenseits der Grenze erhalten; ich mahle es, und er verkauft das Mehl im Großen. Er sagt, daß dabei ein Geld zu verdienen sei.«

»Wo liegt denn das Getreide?«

»Droben in der Dampfmühle. Die können es aber nicht ermachen, und darum soll ich mithelfen. Ich habe für längere Zeit zu thun, und da hat er, um das Geschäft fest zu machen, mir gleich hundert Gulden Vorschuß gegeben.«

»Hm! Das sieht ihm doch gar nicht ähnlich!«

Die Müllerin warf ihrem Mann einen verstohlenen Blick zu, winkte zu seinem Bruder hinüber und machte dann, aber so, daß der Letztere es nicht


Ende der vierunddreißigsten Lieferung - Fortsetzung folgt.



Karl May: Der verlorne Sohn

Karl May – Forschung und Werk