Lieferung 36

Karl May

18. April 1885

Der verlorne Sohn
oder
Der Fürst des Elends.

Roman aus der Criminal-Geschichte.


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wissen nun, wer ich bin. Ich frage Sie, ob Sie offen und wahr mit mir sein wollen.«

»Gewiß, gewiß! Fragen Sie nur immer zu! Ich werde ganz ehrlich antworten.«

»Wie sind Sie in den Dienst des Waldkönigs gekommen?«

»In seinem Dienste stehe ich eigentlich nicht. Er hat mich durch Drohungen gezwungen ihm zuweilen einen Brief zu besorgen.«

»Gegen Bezahlung?«

»Ja, er bezahlte einen Gulden.«

»An wen gingen diese Briefe?«

»Alle an Denjenigen, an welchen auch der heutige adressirt ist.«

»So, so! Hm! An keinen Andern?«

»Nein.«

»Haben Sie vielleicht einen dieser Briefe gelesen?«

»Wie hätte ich das wagen können! Der Waldkönig bestraft jede Verletzung eines Geheimnisses mit dem Tode.«

»So werden wir uns heute einmal in die Gefahr begeben, von ihm bestraft und ermordet zu werden!«

»Sie meinen doch nicht etwa -?«

Er deutete auf die Tasche, in welche er vorhin den Brief des Waldkönigs gesteckt hatte.

»Jawohl, das meine ich!«

»Sie wollen den Brief lesen?«

»Gewiß!«

»Herr, das ist zu gefährlich.«

»Haben Sie keine Sorge um mich. Der Waldkönig ist nicht mir, sondern ich bin ihm gefährlich! Bitte, zeigen Sie!«

Wilhelmi zog den Brief zögernd hervor und gab ihn hin.

»Aber ich stehe für nichts!« bemerkte er.

»Ich dagegen für Alles! Ah, ein ganz gewöhnliches Couvert, so wie ich welche einstecken habe. Das paßt ganz gut. Und die Schrift? Sie ist nicht schwer nachzuahmen. Sehen wir also nach.«

Er machte das Couvert auf. Es enthielt einen halben Bogen Briefpapier, auf welchem mehrere Reihen von Ziffern standen.

»Eine Geheimschrift,« sagte der Musterzeichner.

»Ja, aber sie ist nicht geistreich erfunden. Ich habe bereits Gelegenheit gehabt, ihren Schlüssel zu entdecken. Wollen einmal sehen, was diese Ziffern zu bedeuten haben.«

Er nahm einen Bleistift vom Tische weg und ein Stück Papier, schrieb das Alphabet auf und setzt dann von A bis Z zurück die Ziffern 1 bis 25 unter die Buchstaben. Jetzt begann er, zusammen zu stellen. Wilhelmi fühlte sich von einer ungewöhnlichen Neugierde erfaßt.

»Werden Sie es bringen?« fragte er.


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»Ja, ganz leicht; ich werde sogleich fertig sein. Da haben Sie! Es ist ein Befehl.«

Er reichte ihm den Zettel hin. Die Dechiffration lautete:

»Heute ein großer Streich. Ziehen Sie die Grenzaufseher möglichst zu sich hinüber.«

»Ein Streich also!« meinte Wilhelmi. »Ach so! Also darum hat man allemal von einer bedeutenden Schmuggelei gehört, wenn ich einen Brief zu besorgen gehabt hatte.«

»Haben Sie das wirklich beobachtet?«

»Stets.«

»Wie lange dienen Sie dem Waldkönige?«

»Ich habe ihm ungefähr zehn bis zwölf Briefe besorgt.«

»Und darauf hat es allemal ein bedeutenderes Unternehmen gegeben? Der Waldkönig fängt das gar nicht so übel an. Das wundert mich beinahe, da er doch sonst keineswegs unter die Schlauköpfe zu zählen ist.«

»Nicht? O, da beurtheilen Sie ihn falsch. Er ist listiger als ein Fuchs!«

»Pst, pst! Wenn das ein Fuchs hörte, würde er es Ihnen sehr übel nehmen, da es für ihn die größtmöglichste Beleidigung ist. Der Pascherkönig ist ein Dummkopf! Aber bitte, sprechen wir zunächst von Ihren Verhältnissen! Ich hoffe, daß Sie Vertrauen zu mir haben?«

»Gewiß. Dennoch aber muß ich mir eine Frage erlauben.«

»Fragen Sie nur immerzu!«

»Wird es mir nicht schaden, wenn ich offen mit Ihnen bin?«

»Wie sollte es Ihnen schaden?«

»Ich habe für den Pascherkönig Briefe ausgetragen; das ist doch wohl strafbar!«

»Und da denken Sie, ich könnte davon sprechen oder gar Sie anzeigen?«

»Ich wollte Sie bitten, das nicht zu thun.«

»O nein, das fällt mir gar nicht ein! Sie befinden sich in Noth; ich werde der Fürst des Elendes genannt; ich will Sie diesem Elende entreißen, und das erreiche ich doch nicht damit, daß ich Sie zur Anzeige und Bestrafung bringe.«

»Wenn das so ist, dann will ich Alles, Alles thun, was Sie von mir verlangen!«

»Gut! So machen Sie mich zunächst mit Ihren Verhältnissen bekannt, Herr Wilhelmi.«

Der Musterzeichner kam dieser Aufforderung nach. Er erzählte von sich und von seiner Familie, und kam dann auch auf seinen Bruder zu sprechen. Arndt hörte ihm still bis zu Ende zu, gab ihm dann die Hand und sagte:

»Sie sind ganz der Mann, wie ich Sie gleich von Anfang an beurtheilt habe. Was Sie mir da sagen, ist mir ziemlich werthvoll. Ich muß Sie da


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auf etwas aufmerksam machen. Doch vorher die Frage: Wissen Sie, was für ein Schloß die Kellerthür Ihres Bruders hat?«

»Nein.«

»Sie waren nie in diesem Keller?«

»O, sehr viele Male!«

»Nun, so müssen Sie doch auch das Schloß kennen!«

»Ich habe es mir niemals genau betrachtet.«

»Das ist auch nicht nöthig. Ich möchte nur wissen, ob es ein Kastenschloß oder ein Hängeschloß ist.«

»Ein Kastenschloß.«

»Das genügt. Und Ihr Bruder hat den Schlüssel bereits an den Waldkönig abgegeben?«

»Ja.«

»Das ist mir gar nicht lieb.«

»Warum?«

»Weil ich mir den Keller gern einmal angesehen hätte.«

Da schien der Musterzeichner sich auf etwas zu besinnen.

»Was das betrifft, so hat es keine Noth,« sagte er. »Es fällt mir ein, daß ein früherer Knappe den Keller mit dem Schlüssel seiner Kammerthür öffnen konnte.«

»Ob aber dieser Kammerschlüssel noch da ist?«

»Jedenfalls.«

»Dann werde ich Sie bitten müssen, mich einmal zu Ihrem Bruder zu führen!«

»Sehr gern. Aber wann?«

»Noch heute Nacht!«

»Ah! Wirklich?«

»Gewiß. Morgen wird der Pascherstreich ausgeführt; der Waldkönig hat den Keller unter irgend einer Absicht gepachtet, welche mit der Schmuggelei in Beziehung steht. Ich muß wissen, ob dieser Keller vielleicht morgen eine Rolle zu spielen hat, und da ich am Tage nicht in dieser Gegend bin, muß ich bereits in dieser Nacht nach der Mühle!«

»Mir ist natürlich auch das ganz recht; ich gehe mit.«

»Haben Sie denn noch nicht darüber nachgedacht, wer der Pascherkönig sein mag?«

»O, wer hätte sich darüber nicht bereits Gedanken gemacht!«

»Nun, haben Sie vielleicht eine Ahnung?«

»Nicht die geringste.«

»Das wundert mich!«

»Das wundert Sie? Warum soll ich eine Ahnung haben!«

»Weil Sie mir vorkommen wie ein Mensch, der gelernt hat, zu vergleichen und zu berechnen, und weil auch gerade Sie Gelegenheit gehabt haben, das Richtige zu treffen.«

»Wann hätte ich diese Gelegenheit gehabt?«


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»Erst heute wieder, und sogar zwei Mal.«

»Ich habe keine Ahnung.«

»Nun, Sie sagten doch, daß der Waldkönig Sie mit Fesseln umstrickt. Die sicherste Fessel ist die Noth, in der Sie sich befinden. Wenn er Sie festhalten will, muß er also dafür sorgen, daß Sie von dieser Noth nicht befreit werden, sondern daß sich dieselbe womöglich noch vergrößert.«

»Wie soll er das anfangen?«

»O, er hat es bereits sehr gut angefangen!«

»Das begreife ich nicht. Meine gegenwärtige Noth habe ich zwar der Krankheit, in erster Linie aber den Seidelmanns zu verdanken.«

»Sehr richtig! Also sagen Sie: Wer wünscht, Sie in Noth zu sehen?«

»Der Waldkönig.«

»Und wer bringt Sie in Noth?«

»Seidelmanns.«

»Halten Sie das fest. Ferner: Wer hat Ihrem Bruder versprochen, daß es ihm von jetzt an gut gehen soll?«

»Der Waldkönig.«

»Und wer hat ihm auch sofort Arbeit und Hilfe gebracht?«

»Seidelmann.«

»Halten Sie auch das fest! Sind das nicht zwei Fälle?«

Der Musterzeichner hielt den Mund geöffnet und starrte Arndt wie abwesend an.

»Herr,« sagte er endlich. »Verstehe ich Sie richtig?«

»Denken Sie nach!«

»Was der Waldkönig wünscht oder verspricht, das thun die Seidelmanns?«

»Wie es den Anschein hat!«

»Sie stehen also in Beziehung zu ihm!«

»Ich mag das ganz und gar nicht in Abrede stellen.«

»Dann sind sie gar seine Verbündeten.«

»Hm!«

»Und sie haben mit Absicht, mit Ueberlegung und Berechnung gehandelt, wenn sie mich immer tiefer in die Noth hinabdrückten?«

»Ich bin überzeugt davon. Ich behaupte sogar, daß Ihre letzten Musterzeichnungen ganz ausgezeichnet gewesen sind.«

»Seidelmann hätte gelogen?«

»Ja, um Ihnen kein Geld zu geben. Sie haben dem Waldkönige einige Male opponirt; diese Opposition mußte gebrochen werden, darum gab er Ihnen kein Geld.«

»Mein Gott! Welche Schlechtigkeit! Das ist ja gerade so, als ob Seidelmann selbst der Waldkönig wäre!«

»Na, endlich!«

»Was endlich?«


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»Treffen Sie das Richtige!«

»Himmel! Sie meinen, daß Seidelmann der König ist?«

»Ja.«

Da schlug Wilhelmi die Hände zusammen und rief:

»Jetzt wird es hell, jetzt wird es licht, jetzt wird es Tag! O, nun begreife ich nicht nur Vieles, sondern geradezu Alles! Aber, Herr, jetzt ist es aus! Ich werde Rechenschaft fordern; ich werde zu Seidelmann gehen und - - -«

»Nichts, gar nichts werden Sie!« fiel Arndt ihm in die Rede. »Morgen Abend wird der Waldkönig gefangen, auch ohne daß Sie sich in Gefahr begeben. Hier, bitte, nehmen Sie jetzt den Cassenschein! Er ist Ihr Eigenthum!«

»Ja, Herr, nun nehme ich ihn, denn ich weiß, daß Sie ihn geben können. Aber, darf ich meine Schwiegermutter holen?«

»Es ist besser, wir unterlassen es noch. Es darf Niemand wissen, daß ich bei Ihnen gewesen bin. Erführe es der Waldkönig, so würde er Verdacht schöpfen und uns entgehen. Ihre Schwiegermutter wird mich schon noch zu sehen bekommen.«

»Aber wecken muß ich sie doch. Ich darf, während wir nach der Mühle gehen, meine Kranken nicht allein lassen.«

»Bevor wir nach der Mühle aufbrechen, gehen wir zu Ihrem Nachbar. Was ist er für ein Mann?«

»Ein ganz braver Kerl, aber unglücklich. Ich glaube, daß diese armen Leute sich jahrelang nicht ordentlich satt gegessen haben.«

»Welch ein Elend! Ja, es sieht im Leben doch noch ganz anders aus, als Tausende sich denken. Es giebt der Noth und des Jammers so viel, daß man erschrecken möchte. Ziehen Sie sich an. Wir wollen gehen!«

Der Musterzeichner zog den Rock an und ging hinauf zu seiner Schwiegermutter, um sie zu wecken; dann kehrte er zurück, um mit Arndt sich in das Nachbarhaus zu begeben. Unterwegs erkundigte er sich noch vorher:

»Darf Schulze wissen, was Sie zu mir von den Seidelmanns gesagt haben?«

»Das weiß ich noch nicht. Wenn ich nichts sage, so schweigen natürlich auch Sie.«

»Und mein Bruder?«

»Das wird sich zeigen. Also nicht wahr, Schulze ist von dem Waldkönige auch als Bote gebraucht worden?«

»Ja.«

»Wissen Sie, wohin?«

»Ich weiß es.«

»Und ich weiß nichts davon; aber ich möchte wetten, daß ich es errathe.«

»Das wäre viel!«

»O nein. Man muß nur nachdenken. Der Waldkönig will einen Streich


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ausführen. Um dabei freie Hand zu bekommen, schickt er Sie nach Obersberg, damit die Grenzbeamten von hier weg dorthin gezogen werden. Es läßt sich denken, daß es noch vortheilhafter ist, die Grenzer nach zwei Seiten auseinander zu ziehen. Obersberg liegt im Westen von hier; ich vermuthe, daß Schulze an einen ähnlichen Ort nach Osten geschickt wird. Habe ich Recht?«

»Ja, Herr. Aber den Ort können Sie unmöglich wissen!«

»O doch!«

»Welchen rathen Sie?«

»Helfen- oder Tannenstein.«

»Wahrhaftig, Sie haben das Richtige getroffen!«

»Ich errathe sogar, an wen der Brief gerichtet ist.«

»Wer soll das sein?«

»Der Schmied Wolf.«

»Herr, sind Sie allwissend?«

»Nein, aber ich pflege scharf zu beobachten. Also kommen Sie. Wollen sehen, ob Schulze noch wach ist.«

Sie hatten diese letzteren Reden unter der Hausthüre ausgetauscht. Jetzt sahen sie, daß beim Nachbar noch Licht brannte, und der Schatten eines Mannes bewegte sich hin und her.

»Er ist noch auf,« meinte Wilhelmi. »Wie wird er sich über den Besuch wundern!«

»Weiß er so gut wie Sie von ihm, daß Sie für den Waldkönig Botenwege gegangen sind?«

»Ja.«

»Nun, so halten Sie später gegenseitig reinen Mund, damit Sie sich nicht in Schaden bringen!«

Wilhelmi öffnete. Eben als sie die Treppe erreichten, ging oben die Thür auf, und Schulze schickte sich an, die Treppe herabzusteigen. Es war dunkel, und die Drei sahen sich also nicht, konnten sich aber hören.

»Ist Jemand da unten?« fragte Schulze.

»Ja, ich bins, Nachbar.«

»Wilhelmi? So spät? Was giebt es denn noch?«

»Ich bringe Jemanden, der mit Ihnen sprechen will.«

»Na, da kommt herauf und herein.«

Er öffnete die Thür, und die Beiden konnten sehen, daß er eine Säge in der Hand hatte. Er blickte, als sie sich in der Stube befanden, die Beiden verwundert an und sagte:

»Setzen Sie sich. Ich bin neugierig, wer heute noch mit dem Hundejungen zu sprechen hat.«

»Sind wir ungestört?« fragte Wilhelmi.

»Ja. Die Frau ist zu Bette. Sie wollte noch arbeiten, aber ich litt es nicht, weil sie sich die Augen ruinirt und weil - na, ich hatte einen Gang vor, von welchem Sie nichts wissen sollte.«


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Sein Auge fiel dabei unwillkürlich auf die Säge. Arndt bemerkte das. Sein Combinationstalent ahnte sofort das Richtige: darum sagte er:

»So ist es gut, daß wir kommen und Sie abhalten, etwas zu unternehmen, was Sie in Strafe bringen könnte.«

»So? Was habe ich denn unternehmen wollen?«

»Einen Holzdiebstahl im Walde.«

»Herr, wer sagt Ihnen das?«

»Sie selbst.«

»Da dürften Sie sich ganz außerordentlich auf dem Holzwege befinden! Ueberhaupt muß ich es mir verbitten -«

»Still, still!« fiel Wilhelmi ein.»Dieser Herr meint es gut mit Ihnen. Er ist gekommen, um Ihres eigenen Vortheiles willen.«

»Meines Vortheils? Wer soll das glauben? In jetziger Zeit ist ein Jeder nur auf seinen eigenen Vortheil bedacht.«

»Es giebt auch Ausnahmen,« bemerkte Arndt, »und vielleicht bin ich eine solche. Ich sehe es Ihnen an, daß es am Besten ist, ich lasse es Ihnen wissen, wer ich bin. Herr Wilhelmi, sagen Sie es ihm.«

Das paßte dem Musterzeichner. Er war ganz stolz darauf, das überraschende Wort aussprechen zu dürfen. Er deutete auf Arndt und sagte zu Schulze:

»Nachbar, sehen Sie sich diesen Herrn einmal genau an, und sagen Sie mir dann, für wen Sie ihn ungefähr halten!«

Der Angeredete musterte Arndt und antwortete:

»Er scheint ein Dorfschulmeister zu sein.«

»Fehlgeschossen! Rathen Sie höher!«

»Lassen Sie mich mit Ihrem Rathen in Ruhe, und sagen Sie es mir lieber sogleich; dann sind wir im Klaren.«

»Gut! Dieser Herr ist - erschrecken Sie nicht! - der Fürst des Elendes.«

Schulze fuhr gleich ein paar Schritte zurück.

»Machen Sie keinen dummen Spaß!« sagte er.

»Es ist nicht Spaß, sondern Wahrheit!«

»Wahrheit? Wirklich Wahrheit?« fragte er Arndt.

»Ja, mein Lieber. Man hat mir den Namen Fürst des Elendes gegeben.«

»Also doch, doch, doch! Herr das ist eine Freude, eine Freude, wie ich seit langen, langen Jahren keine gehabt habe. Alle Welt sehnt sich, Sie einmal zu sehen. Ich hatte nicht gedacht, daß es gerade mir passiren würde, und zwar heute Nacht, wo ich im Begriffe -«

Er stockte verlegen. Arndt fuhr fort:

»Wo Sie im Begriffe standen, ein klein Wenig den Holzspitzbuben zu spielen.«

»Na, ja; da Sie es sind, will ich es eingestehen. Ich verdiene drei Gulden und meine Frau nicht viel über einen. Das macht vier Gulden in


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der Woche. Sie mögen ausrechnen, ob man davon leben kann. Wir sollen wegen rückständiger Abgaben ausgepfändet werden. Ich weiß wahrhaftig nicht, woher ich das Geld nehmen soll, und so kam mir der Gedanke, in den Wald zu gehen.«

»Sie mit Ihrem einen Arm! Einen Baum umsägen!«

»Pah! Hätte er mich getroffen und todtgeschlagen, so wäre es aus! Ich habe das Leben satt!«

»Das dürfen Sie nicht sagen! Es giebt keine Noth, aus der nicht Hilfe möglich wäre.«

»Das sagt meine Frau auch; dabei aber essen wir Suppe von Kartoffelschalen!«

»Sie werden bald etwas Kräftigeres essen. Ich will Ihr Arzt sein und Ihnen Ihre Diät vorschreiben. Was meinen Sie, Herr Wilhelmi, soll ich ihm so ein Recept geben, wie auch Sie bekommen haben?«

Der Gefragte nickte lachend mit dem Kopfe und antwortete:

»Ich würde es ihm gönnen. Bessere Recepte kann wohl kein Arzt verschreiben.«

»Nun, so wollen wir sehen, ob es auch ihm Hilfe bringt!«

Er zog eine Banknote von hundert Gulden hervor und gab sie dem Hundejungen. Dieser betrachtete den Schein mit weit aufgerissenen Augen und sagte:

»Alle guten Geister! Das sind ja hundert Gulden!«

»Nun ja!« lachte Wilhelmi.

»Das heißt, ein ganzes Vermögen!«

»Und das gehört Ihnen.«

»Mir? Was? Wie? Mir?«

»Ja. Dieser Herr schenkt es Ihnen, ja.«

»Ist das wahr, wirklich wahr?« fragte er Arndt.

»Gewiß, gewiß, mein Lieber. Nehmen Sie diese Summe, und versuchen Sie, Ihre augenblickliche Noth damit zu lindern.«

»Herrgott, welch eine Freude, welch ein Glück! Herr, ich danke Ihnen! Sie machen damit glückliche Menschen! Ein solches Geld habe ich all mein Lebtage nicht in der Hand gehabt. Jetzt frage ich den Teufel mehr nach dem Waldkö -«

Er hielt bestürzt inne. Er hatte sich von seiner Freude hinreißen lassen, einen Namen zu nennen, den in solcher Beziehung auszusprechen außerordentlich gefährlich war.

»Sprechen Sie nur weiter,« sagte Arndt.

»O, ich weiß gar nicht mehr, was ich eigentlich sagen wollte,« antwortete Schulze ganz verlegen.

»So will ich Ihnen helfen. Sie wollten sagen, daß Sie nun nicht mehr nach dem Waldkönige fragen wollen.«

»Nach dem? O, der ist mir gar nicht in den Sinn gekommen!«


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»Nicht? Bitte, besinnen Sie sich! Warum sollte er Ihnen nicht in den Sinn kommen, da er doch schon zu Ihnen in die Stube gekommen ist?«

»In die Stube?«

»Ja, in diese Stube.«

»Wann denn?«

Man sah es ihm an, daß er sich ganz bestürzt fühlte.

»Heute,« antwortete Arndt, »vor kaum drei Viertelstunden.«

»Herr, ich begreife Sie nicht! Ich weiß gar nicht, was Sie sagen wollen.«

»Ich habe ihn ja bei Ihnen gesehen?«

»Sie? Sie waren ja gar nicht da?«

»Er gab Ihnen einen Brief, den Sie morgen dem Schmied Wolf überbringen sollen.«

Schulze fuhr zurück, als ob er auf eine Schlange getreten sei, und rief abwehrend:

»Wo denken Sie hin! Ich weiß nichts von einem Briefe!«

Da meinte Wilhelmi begütigend zu ihm:

»Fürchten Sie sich nicht, Nachbar! Dieser Herr weiß Alles. Auch ich habe ihm gestanden, daß der Pascherkönig zu mir gekommen ist. Er wird ihn fangen und uns von ihm befreien.«

»Fangen? O, den fängt Keiner!«

»Auch der Fürst des Elendes nicht?«

»Ah, ja, ich dachte daran nicht! Ja, Herr, wenn Einer ihn fangen kann, so sind Sie es; das gebe ich zu.«

»Aber allein bringe ich das nicht fertig; ich muß mir Ihre Mithilfe erbitten. Wollen Sie?«

Schulze blickte Wilhelmi fragend an. Dieser sagte:

»Ich kann Ihnen nur rathen, offen zu sein. Ich bin es ja auch gewesen.«

»Aber wenn der Waldkönig es erfährt!«

»Pah!« antwortete Arndt. »Sie überschätzen diesen Menschen in hohem Grade. Was man sich von ihm erzählt, ist entweder ganz Erfindung oder wenigstens übertrieben.«

»Da irren Sie sich! Er ist so listig und verwegen, wie wohl selten ein Zweiter.«

»Meinen Sie wirklich? Man sagt, daß Keiner ihn kennt, und daß auch seine Leute sich nicht untereinander kennen -«

»Das ist wahr.«

»O nein! Niemand kennt ihn? Ich kenne ihn aber! Und seine Leute kennen sich nicht? Kennen Sie Beide sich denn nicht? Wissen Sie nicht von einander, daß Sie ihm dienen? Ist das etwa klug von ihm gehandelt? Hat er Sie dadurch nicht in die größte Gefahr gebracht? Ist er nicht sogar in Gegenwart Ihrer Frauen zu Ihnen gekommen? Kann man die Unvorsichtigkeit weiter treiben? Ich nenne das nicht nur unvorsichtig, sondern geradezu leichtsinnig!«


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Schulze nickte jetzt doch nachdenklich mit dem Kopfe und sagte in zustimmendem Tone:

»Was Sie da sagen, hat allerdings Hand und Fuß. Ich habe gewußt, daß ich in Gefahr war, aber konnte ich anders? Er drohte, und da muß man gehorchen. Ich habe mich erst heute Abend wieder geweigert, den Brief zu besorgen; aber er sagte, daß er es soweit bringen wolle, daß ich nächsten Sonnabend im Schachte abgelohnt werde. Was will man dann anderes machen?«

»Ich begreife ganz gut, daß Sie sich von ihm beängstigen ließen. Jetzt aber stehen die Sachen anders. Jetzt bin ich bei Ihnen, und Sie stehen unter meinem Schutze. Wollen Sie mir einmal den Brief zeigen, den Sie zur Besorgung erhalten haben?«

Und als Schulze doch ein bedenkliches Gesicht machte, munterte Wilhelmi ihn auf:

»Immer her damit! Der Herr hat ja den meinigen auch gelesen!«

»Ist's wahr?«

»Ja,« antwortete Arndt. »Ich gebe Ihnen mein Wort, daß Sie nicht den kleinsten Schaden dadurch haben sollen.«

»Nun, da Sie das versprechen, so will ich es wagen.«

Er brachte den Brief, erschrak aber doch, als Arndt sein Messer hervorzog und das Couvert aufschnitt. Es enthielt ganz denselben Inhalt, wie der andere Brief. Arndt steckte den Bogen und das Couvert ein; das rief abermals die Bestürzung des Bergarbeiters wach. Er sagte:

»Sie stecken das ein? Das kann ich nicht zugeben!«

»Warum nicht?«

»Ich habe den Brief abzugeben.«

»Ich werde es an Ihrer Stelle thun. Mit Tages Anbruch muß ich nach Helfenstein. Ich werde dem Schmied den Brief geben.«

»Aber ich soll ihn ja bringen!«

»Das ist nicht mehr nöthig. Uebrigens bleiben Sie am Tage hübsch daheim, damit der Waldkönig Sie nicht sieht und also erfährt, daß Sie nicht nach Helfenstein sind.«

»Er würde das bemerken? Wohnt er denn hier?«

»Ja.«

»Herrgott! Wer ist es denn?«

»Das werden Sie in ganz kurzer Zeit erfahren.«

»Aber noch Eins: Sie haben ja das Couvert zerschnitten!«

»Ich mache ein anderes darüber mit ganz derselben Schrift.«

»Das hätten wir bei dem meinigen auch machen sollen,« meinte Wilhelmi. »Wir haben es vergessen.«

»Vergessen nicht. Wir haben noch Zeit. Wir kommen ja wieder in Ihre Wohnung, wo ich den Brief dann so fertig machen werde, daß der Wagner Hendschel sicherlich nichts merken wird.«

»Wollen Sie auch diesen Brief selbst besorgen?«


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»Nein. Sie bringen ihn hin. Sie lassen sich aber ja nicht merken, daß die Verhältnisse andere geworden sind!«

»Und ich? Wie verhalte ich mich, wenn der Waldkönig von mir Rechenschaft fordert?« fragte Schulze.

»Er wird gar nicht wieder zu Ihnen kommen. Morgen wird er gefangen. Man wird ihn zwingen, alle seine Mitschuldigen zu nennen. Danken Sie Gott, daß ich zu Ihnen gekommen bin. Das giebt Ihnen Grund, sich zu rechtfertigen. Nehmen Sie Ihre hundert Gulden, Herr Schulze, und thun Sie im Uebrigen ganz so, als ob Sie von gar nichts wüßten!«

Schulze steckte die Banknote zögernd ein. Er hätte vor Arndt niederknieen mögen, um ihm zu danken, und doch hegte er auch ganz bedeutende Besorgnisse über die Folgen dieser gegenwärtigen Zusammenkunft. Arndt schnitt ihm alle Einwendungen und Bedenken ab, indem er sich zum Gehen anschickte, um sich mit Wilhelmi nach der Mühle zu begeben.

Als sie dieselbe noch nicht einmal von Weitem erkennen konnten, hörten sie bereits das laute Klappern.

»Er ist noch wach,« sagte der Musterzeichner. »Er ist ganz glücklich, daß er Arbeit hat.«

Die Thür war von Innen verriegelt; sie mußten also pochen. Nicht Wilhelmi's Bruder, sondern seine Schwägerin öffnete. Sie leuchtete die Beiden mit der Laterne an und sagte im Tone des Erstaunens:

»Du, Schwager? Um Gotteswillen! Es ist doch nicht etwa daheim etwas Schlimmes passirt?«

»Nein. Ist der Bruder wach?«

»Ja. Er ist in der Mühle.«

»Rufe ihn! Wir haben mit ihm zu reden.«

»So geht hinein in die Stube! Ich werde ihn holen.«

Als sie dann ihren Mann brachte, machte er ein ebenso erstauntes Gesicht, wie vorhin sie. Er betrachtete Wilhelmi und meinte dann im Tone der Erleichterung:

»Gott sei Dank! Ich hatte schon Sorge! Aber Du machst ein so glückliches Gesicht, daß ich beinahe denke, es ist Dir etwas Gutes passirt, anstatt etwas Schlimmes!«

»Du hast Recht; Du bist überhaupt ein gescheidter Kerl! Ich gestehe, daß mir etwas höchst Glückliches passirt ist. Das werde ich Dir auch sofort beweisen. Du hast mir heute zwanzig Gulden besorgt. Hier hast Du sie wieder! Gieb mir achtzig heraus!«

Er warf seinen Hundertguldenschein mit einer Miene auf den Tisch, als ob ihm solche Papiere nur so zugeflogen kämen.

»Hundert Gulden!« sagte der Müller. »Mensch, wie kommst Du bei Deiner Armethei zu diesem Gelde?«

»Hier steht mein Kassirer!«

Er zeigte dabei auf Arndt. Der Müller musterte diesen und fragte:

»Dein Kassirer! Rede nicht in solchen Räthseln!«


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»Na, das ist doch kein Räthsel, sondern ein sehr selbstverständliches Ding: Dieser Herr hat mir das Geld geschenkt.«

»Geschenkt? Bist Du von Sinnen?«

»Ich nicht, vielleicht er, da er es verschenkt hat! Ja, guckt ihn Euch nur richtig an! Wißt ihr, wer er ist?«

Und als sie ihm die Antwort schuldig blieben, fuhr er fort:

»Wir haben heute von ihm gesprochen, und als ich ihm von Euch erzählte, ist er selbst mit hergekommen.«

Der Müller wußte noch immer nicht, was er denken solle; Frau Pauline aber wurde von ihrem weiblichen Scharfsinne auf die richtige Spur geführt.

»Ah! Du warst bei dem Herrn Pfarrer?« fragte sie.

»Noch nicht.«

»Also bei Hauser's?«

»Auch nicht.«

»So!« sagte sie enttäuscht. »Da habe ich mich also geirrt. Ich freute mich bereits, denn ich dachte -«

»Nun, was dachtest Du?«

»Du brächtest uns den - den - den Fürsten des Elendes.«

»Na, das ist er ja auch.«

»Mach keinen Spaß! Du bist ja noch gar nicht bei Pastor's und Hauser's gewesen.«

»Das war auch nicht nöthig, denn der Herr kam zu mir.«

Es gab nun eine Erklärung, welche weit kürzer war, als die freudige Aufregung, welche dann folgte. Die brave Müllerin wollte den Tisch decken, natürlich zu Ehren des vornehmen Gastes, und dieser hatte sich alle Mühe zu geben, sie davon abzuhalten. Sie war voller Wonne, als sie hörte, daß der Waldkönig gefangen werden solle. Dadurch kam ja ihr Mann von dem gefährlichen Pachte los. Arndt bat, den Keller sehen zu dürfen, und die Müllerin holte, von ihrem Schwager aufmerksam gemacht, den bereits erwähnten Kammerschlüssel herbei.

Der Keller lag nicht zwischen den Grundmauern des Hauses, sondern er war hinter der Mühle in den Felsen gegraben. Der Schlüssel öffnete das Schloß, und mit Hilfe einer Laterne nahm Arndt den Keller in Augenschein.

Es war ein langer, viereckiger Raum, dessen Wände, Decke und Fußboden ganz aus Felsen bestanden. Arndt sah sich enttäuscht; dennoch untersuchte er jeden Zollbreit des Raumes, doch ohne Erfolg.

»Was suchen Sie?« fragte der Müller.

»Ich hatte eine Vermuthung, welche sich leider nicht bestätigt hat. Darum brauchen wir auch nicht weiter darüber zu sprechen. Gehen wir wieder fort.«

»Aber, was rathen Sie mir?«

»Lassen Sie die Sache so, wie sie ist. In zwei oder drei Tagen werden wir besser als jetzt wissen, woran wir sind.«

Das war der Bescheid, welchen er geben konnte. Als er dann mit dem


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Musterzeichner die Mühle verließ, ahnte er nicht, welche Bedeutung dieser Keller, in welchem er heute nichts Auffälliges bemerkt hatte, noch für ihn erlangen werde.

Er ging nochmals mit zu Wilhelmi, um dem Brief ein anderes Couvert zu geben, dessen Aufschrift er täuschend nachahmte; dann machte er sich auf den Weg zur Försterei.

Der alte Wunderlich hatte Wort gehalten. Er war noch wach. Ja, er hatte sogar seine Barbara geweckt, damit sie mit ihm auf Arndt's Heimkehr warten solle. Dieser sollte sofort erzählen. Er berichtete so viel, als er für nöthig hielt und sagte dann:

»Nun habe ich morgen eine ganz wichtige Reise. Haben Sie Zeit oder nicht, Vetter?«

»Warum?«

»Ich möchte Sie gern mit mir haben.«

»Wohin?«

»Nach Helfenstein.«

»Sakkerment! Was wollen Sie dort? Brauchen Sie mich?«

»Ich muß einen Schlitten nehmen, und doch würde mir der Fuhrmann im Wege sein, da ich vielleicht Veranlassung finde, mich einige Male umkleiden zu müssen. Daher hätte ich es gern, wenn Sie den Kutscher machten. Ich weiß, Sie bekommen ganz gern Schlitten und Pferde anvertraut.«

»Das ist die geringste Sorge. Wann soll es fortgehen?«

»Um acht Uhr. Zunächst geht es nach der Amtsstadt von Helfenstein. Ich muß auf das Gerichtsamt.«

»Wohl in Angelegenheit des Waldkönigs?«

»Nein, sondern in Gustav Brandt's Angelegenheit.«

Das electrisirte den Förster. Er sagte:

»Was? Ist's möglich! Was soll da geschehen?«

»Es soll eine Exhumation vorgenommen werden.«

»Wie? Exhumiren heißt, eine Leiche ausgraben. Sie wollen ein Grab öffnen lassen?«

»Ja.«

»Weshalb?«

»Um zu sehen, ob es eine Leiche enthält.«

»Donnerwetter! Jedes Grab enthält eine Leiche! Was denn sonst Anderes? Etwa ein Puppentheater oder einen Leierkasten?«

»Hm! Es kann auch einmal vergessen werden, die Leiche in das Grab zu legen.«

»Dann würde die ganze Leichengevatterschaft betrunken sein, und der Todtengräber gar verrückt, wenn er das Grab zuschaufelt, und es ist kein Sarg darin.«

»Oder es kann auch vorkommen, daß die Leiche aus dem Sarge gestohlen wird.«

»Alle Teufel! Leichenräuberei?«


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»Ja.«

»Das ist mein Geschmack nicht. Lieber würde ich mir, wie die alten Römer, ein hübsches, junges Mädchen rauben, anstatt eine Leiche.«

»Appetitlicher ist das freilich. Doch kann es auch Verhältnisse geben, welche es verzeihen lassen, sich mit einer Leiche zu beschäftigen, anstatt mit einem hübschen Mädchen. Also, Vetter, fahren Sie mit?«

»Das versteht sich! Sie wünschen es, und da muß ich doch. Außerdem macht mich Ihre Exhumirung ganz neugierig. Darf man nach den näheren Umständen fragen?«

»Die werden Sie schon noch kennen lernen. Jetzt thut es Noth, eine Stunde oder zwei zu schlafen.«

»Thun Sie das, Vetter! Ich werde mich nur ein Bischen auf das Canapee herlegen, denn ich muß eher wach sein, als Sie, da ich das Geschirr besorgen muß.«

Früh punct acht Uhr fuhr ein Schlitten vom Forsthause ab. Der Förster lenkte die Pferde. Neben ihm saß Arndt, das Äußere ganz so, wie er sich im Forsthause zu zeigen pflegte.

Kurz vor Helfenstein lenkten sie links ab nach der Amtsstadt zu. Es war dies dieselbe Stadt, auf deren Bahnhof einst Alma von Helfenstein, der »Sonnenstrahl«, so gastfreundliche Aufnahme gefunden hatte, als sie unter der Nachricht, daß ihr Bruder verbrannt sei, zusammengebrochen war.

Vor der Thür des Amtsgebäudes stieg Arndt aus und begab sich, während der Förster beim Schlitten blieb, nach dem Anmeldezimmer.

»Zu wem wollen Sie?« fragte der Expedient.

»Zum Herrn Amtmann.«

»Der hat jetzt keine Zeit.«

»Meine Sache ist nothwendig!«

»Sind sie bestellt?«

»Nein.«

»So warten Sie!«

»Geben Sie diese Medaille sofort beim Herrn Amtmann ab!«

Das wirkte. Der Mann nahm die Medaille, betrachtete sie, machte Arndt eine tiefe, respectvolle Verbeugung und verschwand. Schon nach kurzer Zeit kehrte er zurück und complimentirte ihn in das Zimmer des Amtmannes.

Dieser war selbst gespannt, was der Inhaber dieser Medaille bei ihm wolle. Etwas Gewöhnliches konnte es doch wohl nicht sein. Er bot Arndt einen Stuhl an und fragte:

»Muß ich mich mit der Medaille begnügen?«

»Ich bitte darum.«

»Aber einen Namen dürfen Sie doch wohl sagen? Ich muß Sie ja nennen können, wenn ich mit Ihnen reden soll.«

»Ich heiße jetzt Arndt.«

»Schön, Herr Arndt. Ich stelle mich zur Verfügung.«

»Ich möchte ein Grab öffnen lassen, Herr Amtmann.«


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»Ah! Liegt ein Antrag vor?«

»Nein.«

»Haben Sie Genehmigung?«

»Die hoffe ich von Ihnen zu erhalten.«

»Ich bin nicht competent. Ueber Exhumirungen hat das Kreisamt zu bestimmen.«

»Und doch wende ich mich an Sie. Ich habe nämlich keine Zeit, den gewöhnlichen Bureauweg einzuschlagen.«

»Das thut mir leid. Ich bin auf keinen Fall befugt, die Erlaubniß zur Oeffnung eines Grabes zu geben.«

»Auf keinen Fall?«

»Ich kenne keinen einzigen.«

»Auch diesen nicht?«

Er zog die Karte des Ministers hervor. Der Amtmann las die wenigen Worte, prüfte die Unterschrift auf das Sorgfältigste, zog ein höchst unterthäniges Gesicht, machte eine tiefe Verbeugung und sagte:

»Dieser Fall ist allerdings selten und mir noch nie vorgekommen. Ich habe zu gehorchen. Darf ich mich erkundigen?«

»O, gewiß.«

»Der Ort?«

»Helfenstein.«

»Ah! Wessen Leiche?«

»Eine Kindesleiche - -«

»Ah, ein Kindesmord?«

»Nein, sondern vielleicht das Gegentheil.«

Der Amtmann machte ein sehr frappirtes Gesicht und fragte:

»Das Gegentheil eines Kindesmordes? Was könnte das wohl sein?«

»Der von mir gebrauchte Ausdruck klingt allerdings räthselhaft, ist aber trotzdem der richtige. Wie lange amtiren Sie bereits hier, Herr Amtmann?«

»Ich wurde erst vor vier Wochen nach hier versetzt.«

»So sind Ihnen die hiesigen Verhältnisse noch unbekannt. Vor ungefähr zwei Dezennien nämlich verbrannte der einzige Sohn des Barons von Helfenstein - -«

»O, davon habe ich sehr wohl gehört. Solche Fälle sprechen sich weit herum und werden im Gedächtnisse behalten. Es war am Tage jener Verhandlung gewesen, in welcher ein Doppelmörder zum Tode verurtheilt wurde. Er entkam leider!«

»Er entkam - leider? Wer ist das gewesen?«

»Ein gewisser Brandt, schlechter, unbrauchbarer Polizist, Schwindler, Spieler und zuletzt Mörder.«

»Hm! Scheint ein famoser Galgenstrick gewesen zu sein!«

»Gewiß! Sogar sein eigener Vater hatte kein Mitleid mit ihm gehabt, sondern verlangt, daß er nicht begnadigt, sondern hingerichtet werde.«

»Herzlos!«


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»Pah! Der Sohn hatte es verdient. Ja, an jenem Tage ist Schloß Hirschenau abgebrannt. Der junge Baron konnte nicht gerettet werden.«

»Lebt aber vielleicht noch.«

»Sapristi!« entfuhr es dem Beamten. »Verbrannt, und lebt doch noch?«

»Entweder ist er verbrannt, oder er lebt noch. Nur Eins von Beiden kann der Fall sein, mit dessen Aufklärung ich betraut bin.«

»Ich bin erstaunt - fast consternirt!«

»Mein Beileid!« sagte Arndt mit einer Verbeugung.

»Das scheint also ein celebrer Fall zu werden!«

»Vielleicht.«

»Höchst secret zu behandeln!«

»Natürlich. Auf Ihre Discretion kann ich natürlich bauen, da Sie ja bereits amtlich dazu verpflichtet sind.«

»Ganz natürlich! Aber bitte, erklären Sie weiter!«

»Ich habe nicht die Befugniß, eine Erklärung abzugeben. Ich darf nur sagen, daß ich wünsche, ohne Aufsehen und ganz im Geheimen mir ein Grab öffnen zu lassen, um zu sehen, ob sich in demselben ein Leichnam befunden hat.«

»Befunden hat? Unbegreiflich.«

»Leider darf ich mir nicht die Mühe geben, es Ihnen begreiflicher zu machen. Ich bedarf eines Zeugen, den ich mit habe, und einer Gerichtsperson, welche mir zu bestimmen, ich Sie höflichst ersuche - vielleicht ein Actuar oder Assessor.«

»O nein! Bei einem so hochwichtigen Falle lasse ich mich nicht vertreten. Ich gehe selbst mit.«

»Sehr erfreut! Sind Sie dem Helfensteiner Todtengräber bekannt?«

»Ich glaube nicht, daß er mich bereits gesehen hat.«

»So gilt es, sich mit den nöthigen amtlichen Documenten auszurüsten, damit dieser Mann nicht im Stande sei, uns den Gehorsam zu verweigern.«

»Ich werde das besorgen. Soll ein Actenstück über den Befund angefertigt werden?«

»Gewiß.«

»So sind die dazu nöthigen Materialien mitzunehmen. Wann wünschen Sie den Aufbruch?«

»Baldigst.«

»In einer Stunde kann ich zur Verfügung stehen.«

»Schön! Mein Kutscher, welcher zugleich mein Zeuge ist, wird unten an der Thüre bereit sein. Mich treffen Sie auf dem Kirchhofe an.«

»Ah! Sie warten nicht hier auf mich?«

»Nein. Wir müssen alles Aufsehen vermeiden. Daher möchte ich bitten, vor dem Dorfe auszusteigen und sich möglichst unbemerkt nach dem Gottesacker zu begeben. Der Kutscher wird den Schlitten im Gasthofe einstellen und dann nachkommen. Für jetzt meine Empfehlung.«

Er ging und gab unten dem Förster den Befehl, sich in einem Gasthofe


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zu verweilen und den Amtmann nach einer Stunde abzuholen. Auch ertheilte er ihm seine Weisungen, wie er sich sodann in Helfenstein zu verhalten habe.

»Aber Sie? Was thun Sie jetzt?« fragte Wunderlich.

»Ich gehe voran nach Helfenstein.«

»Zu Fuße, in diesem Schnee?«

»Pah!«

Was machte er sich aus einer Wanderung durch den Schnee! Er befand sich in der Heimath, und indem er so die Straße dahinschritt, welche nach dem Forsthause führte, in welchem er geborden worden war, kam die Erinnerung an vergangene Zeiten mit aller Macht über ihn.

Als er die Stelle erreichte, an welcher er, der Flüchtling damals seinem Sonnenstrahl begegnet war, ohne daß sie ihn erkannt hatte, blieb er stehen und faltete die Hände.

»Welch ein Tag damals!« flüsterte er. »Und, ist es jetzt etwa besser?«

Er sah das alte Forsthaus, an welchem er vorüberschritt; er erblickte das neue Schloß, nun auch bereits zwanzig Jahre alt, und dann sah er das Dorf vor sich liegen.

Unter den letzten Waldbäumen stehend, machte er Toilette. Er sah ganz aus wie ein einfacher Landbewohner. Er schritt durch das Dorf und blieb vor der Schmiede stehen. Die Thür stand offen. Funken sprühten vom Ambosse. Der alte Wolf stand dabei und handhabte den großen, schweren Schlaghammer wie ein Junger, und sein Sohn sekundirte ihm. Während einer Pause warf der Alte einen neugierigen Blick auf den Fremden. Dieser wischte sich mit der rechten Hand das rechte Auge. Sofort trat Wolf heraus.

»Heda, Landsmann,« fragte er. »Wo da her?«

»Von dort.«

Dabei zeigte Arndt nach der Richtung hin, aus welcher er gekommen war.

»Und wo da hin?«

»Wieder zurück.«

»Brauchst Du Cigarrenfeuer?«

Der Alte hatte das Zeichen verstanden und wollte ihn in die Schmiede haben. Darum antwortete Arndt:

»Deshalb kam ich her.«

»So komm herein!«

Das wurde so gethan wegen einiger halbwüchsigen Burschen, welche sich in der Nähe mit Schneeballen warfen.

Als Arndt sich in der Schmiede befand, warf der Alte die Thüre zu und fragte:

»Wohl Botschaft?«

»Ja.«

»Von welchem?«

»Wirst's sehen. Da.«

Er zog den Brief heraus und gab ihn hin. Wolf öffnete ihn und las den Zettel, ohne sich eines geschriebenen Schlüssels zu bedienen. Das war


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ihm so geläufig, daß man annehmen mußte, er habe solche Briefe bereits in großer Anzahl erhalten. Er nickte dann mit dem Kopfe und sagte:

»Es ist gut und wird besorgt. Warum kommt heute der gewöhnliche Bote nicht?«

»Ist krank.«

»Hoffentlich bist Du ebenso sicher, he?«

»Denke es wohl. Auch soll ich eine Quittung mitbringen.«

»Quittung? Wieso? Warum?«

»Zum Zeichen, daß Du den Brief erhalten hast.«

»Ach so! Weil Du ein Neuer bist. Wie soll diese Quittung beschaffen sein?«

»Gleich auf den Brief, den ich wieder mitnehmen soll, und darunter Dein Name.«

»Schön! Wird besorgt. Warte einen Augenblick!«

Er begab sich nach der Stube und brachte dann die Quittung. Sie bestand, wie Arndt begehrt hatte, aus dem Briefe, den er überbracht hatte, und aus den von dem Schmiede mit starken Buchstaben darunter geschriebenen Worten:

»Gelesen. Wird geschehen. Wolf, Schmied in Helfenstein.«

»So!« sagte der Alte. »Bist Du zufrieden?«

»Ja.«

»So gehe in die Stube und trinke einen Schnaps! Komm!«

Arndt ging mit und goß sich mit Todesverachtung den schlechten Kornbranntwein in den Mund.

»Hoffentlich weißt Du, was so ein Auftrag zu bedeuten hat?« meinte der Schmied.

»Das versteht sich!«

»Und läßt meine Quittung nicht in falsche Hände kommen?«

»Wer sollte sie bekommen, als nur der König?«

»Kennst Du ihn?«

»Nein.«

»Das heißt, gesehen hast Du ihn und auch mit ihm verkehrt; aber wer er ist, das weißt Du nicht?«

»So ist es.«

»Hat er noch Anderen geschrieben?«

»Ja.«

»Wem?«

»Dem Obersberger.«

»Das weißt Du?«

»Warum nicht?«

»Hm! So ist der König mit Dir vertrauter als mit Deinem Vorgänger. Warst Du beim letzten Male dabei?«

»Ja.«

»Das soll eine ganz verdammte Geschichte gewesen sein!«


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»Weil Du gefehlt hast. Der König ist teufelswild.«

»Ich kann nichts dafür und werde übrigens diese Schlappe bald auswetzen.«

»Dann adieu.«

»Adieu! Laß Dich nicht erwischen!«

Arndt wendete sich jetzt dem Kirchhofe zu. Hinter einer dicht beschneiten Hecke veränderte er sein Äußeres, so daß er wieder das vorige Aussehen bekam.

Als er in das Wohnhaus des Todtengräbers trat, fand er diesen mit seiner Frau beim Mittagsmahle sitzen. Er wurde nach seinem Begehr gefragt.

"Sie sind der Todtengräber?"

»Sie sind der Todtengräber?« erkundigte er sich.

»Ja.«

»Haben Sie Familie?«

»Nein. Wir sind allein und kinderlos.«

»Haben Sie das Gräberverzeichniß da?«

»Natürlich. Von welchem Jahre wünschen Sie es?«

»Vor zwanzig Jahren, den dritten Juli.«

»Gleich. Oder dürfen wir erst essen?«

»Geben Sie mir das Buch. Ich werde selbst nachschlagen.«

Er erhielt das Verzeichniß und fand den Tag, an welchem das Kind der Botenfrau begraben worden war. Die Nummer des Grabes stand dabei.

»Wie lange bleiben hier die Gräber unberührt?«

»Wieso?« fragte der Mann, welcher gar nicht wußte, was gemeint war.

»Ich wollte fragen, wie viele Jahre es hier dauert, ehe die Gräber wieder geöffnet werden?«

Der Todtengräber schob einen höchst umfangreichen Bissen in den Mund, kaute ihn, schluckte und antwortete dann:

»Hm! Ich bin nun eine ziemliche Zeit im Amte und habe nur wenige Gräber zu öffnen brauchen. Im letzten, welches ich aufmachte, lag eine Frau, die wohl vor vierzig Jahren gestorben war.«

»Ist dies bei Kindern auch der Fall?«

»Ja, die Kinder haben ihre besondere Abtheilung, die ich noch gar nicht angerührt habe. Das Dorf ist klein und der Friedhof im Verhältnisse so groß, daß wir unsere Todten lange in Ruhe lassen können.«

»So ist also wohl auch das Kind, nach welchem ich fragte, noch nicht wieder ausgegraben worden?«

»Nein. Ich habe es nicht nöthig gehabt. Aber, warum fragen Sie so? Ist etwas mit diesem Kinde?«

»Ja. Es steht nämlich zu vermuthen, daß dieses Kind gar nicht begraben worden ist.«

Der Todtengräber stand im Begriffe, wieder einen Bissen in den Mund zu schieben, blieb aber vor Erstaunen mit demselben vor den weit geöffneten Lippen halten.

»Wie?« fragte er. »Was? Gar nicht begraben?«


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»Ja.«

»Das ist doch unmöglich!«

»Warum?«

»Es muß doch eine jede Leiche begraben werden?«

»In der Regel, ja. Bei der Beerdigung des betreffenden Kindes scheint aber Etwas vorgekommen zu sein, in Folge dessen man das Grab ohne die Leiche zugeschüttet hat.«

»O, das kann ja gar nicht passiren?«

»Doch, mein Lieber!«

»Nein. Ich muß das kennen, denn ich bin Todtengräber. Die Leiche wird gebracht; man legt den Sarg in das Grab, und dann, wenn die Leidtragenden sich entfernt haben, wird fast immer sofort mit dem Zuschütten begonnen. Ein Todter kann doch nicht gut ausreißen.«

»Aber er kann ausgerissen werden.«

»Sapperlot! Das wäre ja Leichenraub!«

»Allerdings!«

»Der mit Zuchthaus bestraft wird.«

»Sogar mit einer sehr hohen Zuchthausstrafe. Kurz und gut, ich will Ihnen sagen, daß man den Verdacht hat, die Leiche dieses Kindes sei geraubt oder unterschlagen worden.«

»Donnerwetter! Doch nicht etwa von dem Todtengräber, meinem Vorgänger?«

»Nein. Ich bin gekommen, um mich zu überzeugen, ob das Grab leer ist.«

»Was? Es soll also geöffnet werden?«

»Ja.«

»O, lieber Herr, das geht nicht so schnell! Dazu ist die Anwesenheit der Obrigkeit nöthig.«

»Das wird auch der Fall sein. In spätestens einer halben Stunde wird der Amtmann mit noch einigen Herren kommen, um die Ausgrabung vornehmen zu lassen.«

»Herrgott! Eine Leiche ausgraben! Hier, in Helfenstein, in unserem kleinen Orte! Was werden die Leute dazu sagen! Was für ein Aufsehen wird das machen!«

»Gar keines!«

»Denken sie? O doch! So Etwas ist doch hier noch gar nicht vorgekommen! Und die Botenfrau! Oh!«

»Lebt diese noch?«

»Ja. Sie ist jetzt ein steinaltes Mütterchen und kann kaum noch laufen. Hier bei uns werden nämlich die Leute vor der Zeit alt. Die Armuth zehrt am Leben.«

»Nun, sie soll zunächst nichts erfahren, und auch den Anderen darf nichts gesagt werden. Die Exhumirung soll nämlich in aller Verschwiegenheit vorgenommen werden. Verstanden?«


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»Ja. Also auch noch verschwiegen? Also wirklich ein Verbrechen! Ich bin ganz starr vor Erstaunen!«

»Das sehe ich. Sie haben Ihren Bissen noch immer nicht in den Mund gesteckt. Essen Sie zunächst. Ich werde unterdessen hinausgehen und mir das Grab suchen. Es ist Nummer Einundfünfzig.«

»Fangen Sie gleich hinter meinem Häuschen an zu zählen, da ist die Nummer Eins.«

Arndt ging hinaus. Zwar war der Kirchhof beschneit, aber er lag hoch und den Lüften so ausgesetzt, daß der Wind die Erhöhungen kahl gefegt hatte. Man konnte die Gräber deutlich erkennen.

Nummer Einundfünfzig lag in der zweiten Reihe. Arndt bemerkte auf den ersten Blick, daß dieses Grab noch tiefer eingesunken war, als alle anderen. Das war ein Umstand, der ihm zu denken gab. Er kehrte nach kurzer Zeit wieder zum Todtengräber zurück.

Gerade als er durch die hintere Thüre in das kleine Häuschen trat, kam Förster Wunderlich zu der vorderen herein.

»Pünktlich gewesen?« fragte der Alte. »Sie haben bereits da draußen recognoscirt?«

»Ja. Aber Sie hätte ich jetzt noch nicht erwartet.«

»Warum?«

»Ich habe geglaubt, der Richter werde eher kommen. Er sollte doch aussteigen, und dann hatten Sie das Geschirr nach der Schänke zu bringen.«

»Er hatte keine Lust dazu.«

»Keine Lust? Ah! Bei solchen Angelegenheiten ist doch nicht etwa die augenblickliche Stimmung eines Beamten maßgebend. Wo befindet er sich denn jetzt?«

»Er ist mit nach der Schänke gefahren, um ein Glas Grog zu trinken, ehe er hierher kommt.«

»In die Schänke? Ich glaube, es giebt nur eine einzige hier?«

»Ja.«

»Deren Besitzer der Schmied ist?«

»Er ist der Wirth.«

»Sapperment, wie unvorsichtig! Gerade dieser sollte am Allerwenigsten von unserer Anwesenheit erfahren. Na, kommen Sie herein in die Stube. Nun haben wir auf den Amtmann zu warten.«

Als sie in die Stube traten, war der Todtengräber nicht zu sehen, und als Arndt nach ihm fragte, antwortete die Frau:

»Er ist schnell einmal fortgegangen, wird aber sehr bald wiederkommen.«

»Er hatte sich nicht zu entfernen! Glaubt er etwa, daß wir uns nach ihm richten müssen?«

»Entschuldigen Sie, lieber Herr! Es war wegen der Werkzeuge.«

»Die hat er doch jedenfalls zu Hause?«

»Ja, aber jetzt im Winter ist der Boden so hart, daß Sie lange warten


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müßten, bis das Grab geöffnet ist. Er ist daher gegangen, sich die Spitzhaue schärfen zu lassen.«

Arndt zog die Brauen zornig zusammen.

»Die Spitzhacke schärfen?« sagte er. »Nicht wahr, das macht doch nur der Schmied?«

»Ja.«

»Na, so steht sehr zu vermuthen, daß wir heute ein ganz gehöriges Fiasko zu verzeichnen haben werden.«

»Weshalb?«

»Das werden Sie schon erfahren, meine Beste. Setzen wir uns!«

Sie nahmen auf der alten Holzbank Platz, welche an dem Kachelofen stand, und hatten ziemlich lange zu warten, bis der Amtmann eintraf. Dieser grüßte und fragte dann:

»Haben Sie diese Leute hier schon verständigt?«

»Natürlich!« antwortete Arndt, und sein Ton ließ errathen, daß er sich nicht in der rosigsten Laune befinde. »Ich höre, daß Sie mit nach der Schänke gefahren sind?«

»Ja. Es war unterwegs so kalt; ich mußte mir einen Schluck Grog geben lassen.«

»Hm! Sie sind allein?«

»Nein. Ich habe noch einen Mann mit, um das Protocoll aufsetzen zu lassen.«

»Wo befindet sich dieser?«

»Er wird gleich kommen.«

»Ah! Auch er verspürte Appetit nach Grog?«

»Nur nach Kaffee. Er traf, eben als wir aus der Schänke kamen, den Ortsvorsteher und hatte in amtlicher Angelegenheit einige Erkundigungen einzuziehen. Ich bin unterdessen natürlich weitergegangen.«

Arndt drehte sich scharf auf dem Absatze herum und stieß die zornigen Worte hervor:

»So! Das ist ja recht schön!«

»Wieso?« fragte der Amtmann, über den Ton erstaunt, in welchem dies gesagt worden war.

Arndt drehte sich wieder um. Er sah gar nicht so aus, als ob er geneigt sei, Rücksicht auf die Stellung des Richters zu nehmen, sondern er antwortete ebenso zornig wie vorher:

»Das fragen Sie noch?«

»Herr! Ich verstehe Sie nicht! Ich begreife Sie nicht!«

»Ich Sie ebenso wenig! Bitte, beantworten Sie mir die Frage: Wir sind zum Zwecke einer Exhumirung hier?«

»Ja.«

»Dieselbe soll eine geheime sein?«

»Gewiß!«


// 863 //

»Daher sollten Sie bereits vor dem Dorfe aussteigen und sich direct hierher verfügen?«

»So war ausgemacht. Aber die Kälte -«

»Pah! Ein Beamter muß wissen, was er zu thun hat, wenn er vor der Wahl steht, zwischen seiner Pflicht und einem Glase Bauerngrog!«

»Herr! Ich hoffe, daß Sie wissen, welches Amt ich bekleide!«

»Eben weil ich das weiß, habe ich geglaubt, daß Sie thun, was Ihres Amtes ist.«

Der Richter kaute am Barte. Er war verlegen und zornig zugleich, doch unterdrückte er möglichst seinen Ärger.

»Das hat mir noch Niemand gesagt,« meinte er.

»So thut es mir leid, daß gerade ich es sein muß, der voraussichtlich den Nachtheil trägt, welcher Ihnen diese erste Rüge einbringt.«

»Rüge?«

Bei diesem Worte röthete sich das Gesicht des Beamten.

»Ja, Rüge,« antwortete Arndt.

»Herr, eine Rüge nehme ich nur von einem meiner Vorgesetzten entgegen.«

»Nun, ich habe mich Ihnen gegenüber legitimirt und glaube, genugsam nachgewiesen zu haben, daß ich, wenn auch nicht für immer, so doch in der gegenwärtigen Angelegenheit Derjenige bin, dessen Weisungen Sie nachzukommen haben. Ich bat Sie, mir einen Actuar mitzugeben; Sie entschlossen sich, selbst mitzukommen, und haben es sich also gefallen zu lassen, wenn ich Sie, falls von Ihrer Seite ein so bedeutender Fehler begangen wird, eben als Actuar, als subaltern anrede. Oder wünschen sie vielleicht, daß ich vorher Ihre Vorgesetzten frage, wie ich mich in diesem Falle zu Ihnen zu stellen habe? Diese Herren würden dann erfahren, daß ich jetzt nicht Veranlassung habe, mit Ihnen zufrieden zu sein.«

Der alte Förster hatte alle Achtung vor seinem Vetter Arndt; jetzt aber leuchteten seine Augen vor stolzer Freude auf. Er bemerkte jetzt ja noch viel deutlicher als bisher, daß dieser vermeintliche Verwandte ein ganzer Kerl sein müsse.

»Donnerwetter!« dachte er im Stillen. »Der Kerl thut ganz so, als ob er Hahn im Korbe sei. Einen Amtmann auf diese Weise abzukanzeln, dazu gehört schon Etwas!«

Der Beamte seinerseits fand keine Worte. Er mußte freilich zugeben, daß er in der vorliegenden Angelegenheit sich nach Arndt zu richten habe; aber er sah doch nicht ein, warum er einen so scharfen Verweis hinnehmen müsse.

»Sie sprechen von einem bedeutenden Fehler,« meinte er endlich. »Bitte, wollen Sie die Güte haben, mir nachzuweisen, daß ein solcher in Wirklichkeit von mir begangen worden ist?«

»Ich habe nicht geglaubt, daß ein solcher Nachweis wirklich nothwendig ist. Die Ausgrabung der Leiche sollte ja, wie schon wiederholt erwähnt wurde, im Geheimen stattfinden.«


// 864 //

»Das wird sie ja auch!«

»Meinen Sie? Ah! Das möchte ich beinahe naiv nennen! Sie waren, wie Sie schon sagten, noch niemals hier?«

»Nein.«

»Desto mehr wird Ihre Anwesenheit auffallen.«

»Aber man wird nicht wissen, weshalb ich anwesend bin.«

»Man wird es erfahren, weil man neugierig sein wird.«

»Nun, wird das so großen Schaden machen?«

»Einen Schaden, der wohl nie wieder gut zu machen sein wird, Herr Amtmann!«

»Hm! Darf ich um die Erklärung bitten?«

»Sie liegt so nahe, daß ich mich sehr wundere, um sie angegangen zu werden. Wir exhumiren, um einem vermuthlichen Verbrechen auf die Spur zu kommen. Wo ist das Verbrechen geschehen?«

»Hier.«

»Und wo wird sich der Thäter befinden, falls er noch lebt, Herr Amtmann?«

»Vielleicht auch hier.«

»Schön! Dieser Mann erfährt, was wir thun; er wird wissen, welches Grab wir öffnen; er sieht, daß es dasjenige ist, welches mit seiner That im Zusammenhange steht; diese That muß also verrathen, entdeckt worden sein; er ist gewarnt, er fühlt sich unsicher -«

»Hm! Verflucht! Daran habe ich nicht gedacht!« sagte der Amtmann, der sich jetzt sehr verlegen zeigte.

»Aber ich! Und darum bat ich Sie, sich nicht sehen zu lassen!«

»Vielleicht läßt es sich wieder gut machen, indem wir den Thäter festnehmen.«

»Ah! Wie wollen Sie das anfangen? Kennen Sie ihn?«

»Leider nein!«

»Also! Wir wollen heute feststellen, daß die That geschehen ist; aber die Person ist noch zu suchen. Ich habe Ihnen mitgetheilt, daß die Angelegenheit mit der freiherrlichen Familie von Helfenstein in Beziehung zu bringen sei. Sie mußten daraus schließen, daß wir es nicht mit gewöhnlichen Verhältnissen und Personen zu thun haben werden, und darum war Geheimniß doppelt und zehnfach geboten. Hier kommt ein Herr. Ist er Ihr Begleiter?«

»Ja, der Amtsschreiber Reichelt.«

Der Betreffende war eingetreten und grüßte höflich. Arndt fragte ihn scharf:

»Ist der Kaffee gut bekommen?«

Der Mann kannte den Grund dieser Frage nicht und antwortete ganz verdutzt:

»Ja, sehr gut!«

»Na, das freut mich! Voraussichtlich wird er mir desto schlechter bekommen! Doch, Sie können ja nichts dafür, daß ich lieber friere als mich


Ende der sechsunddreißigsten Lieferung - Fortsetzung folgt.



Karl May: Der verlorne Sohn

Karl May – Forschung und Werk