Lieferung 38

Karl May

2. Mai 1885

Der verlorne Sohn
oder
Der Fürst des Elends.

Roman aus der Criminal-Geschichte.


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»Wird sie gelingen?«

Jetzt horchte Arndt etwas länger nach der Seite hin und antwortete dann:

»Die Auskunft wird verweigert, und der Geist hat sich entfernt!«

»O weh! Warum denn?«

»Weil Sie sich nur nach bösen Thaten erkundigen. Sie haben sogar zweimal nach dem Gelingen eines Verbrechens gefragt. Der Geist ist zornig; er wird mir nicht sobald wieder Auskunft ertheilen. Das hat man davon, wenn man unbekannten Leuten gefällig ist!«

»Aber, wir stehen ja zu diesen Thaten gar nicht in Beziehung!«

»Das glaube ich sehr gern. Ich habe sogar bemerkt, daß Sie die Schuldigen wissen wollen, um sie anzuzeigen; aber über Verbrechen muß man schweigen.«

»War Ihnen eine meiner Fragen verständlich?«

»Natürlich! Ich habe sie ja gehört!«

»Das wollte ich nicht sagen. Ich meine, ob Sie die Verhältnisse kennen, nach denen ich fragte?«

»Ich, als Fremder? Es war von einem Baron und von einem Schlosse die Rede. Wo soll man Beide suchen? Es giebt so viele Schlösser und so viele Barone! Eins habe ich freilich verstanden, und das betrifft Sie!«

Der Alte entfärbte sich.

»Was meinen Sie?« fragte er.

»Den Kindestausch.«

»Sapperment! Was wollen Sie sagen?«

»Daß Sie es sind, welche die Kindesleiche aus dem Grabe entfernt und nach dem Schlosse geschafft haben.«

»Wir? Oh, was fällt Ihnen ein!«

»Es ist die Wahrheit. Der Geist antwortet nicht mehr, er nennt überhaupt keine Namen. Wohin haben Sie damals das lebende Kind gebracht?«

Der Alte sprang, gerade wie sein Sohn, von seinem Stuhle auf und rief:

»Herr, Sie sind wohl des Teufels?«

»Pah! Ich bin keineswegs des Teufels, sondern ich weiß sehr wohl, was ich sage.«

»Aber ich verstehe Sie nicht!«

»Nun, so will ich denn verständlicher sprechen, und die Faxe mag zu Ende sein.«

»Faxe? Hätten Sie Faxen gemacht?«

»Ja. Der Spiritismus war Theater.«

»Es war nicht die Wahrheit?«

»Nein, und doch ja! Nein, weil ich Sie täuschte, und ja, weil meine Antworten stimmten, wie Sie ebenso gut wissen wie ich selbst. Ich bin kein Medium.«

»Nicht? Sapperment!«

»Auch kein Spiritist.«


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»Aber Sie sagten doch -«

»Ich bin vielmehr der Fürst des Elendes.«

Bei diesen Worten stand auch er vom Stuhle auf. Er stand den beiden riesenstarken Männern bei verschlossener Thür allein gegenüber, aber in seiner Hand glänzte bereits jene goldene Kugel, mit deren Hilfe er den Bruder des Riesen Bormann und noch Andere niedergestreckt hatte.

»Der Fürst des Elendes?« rief der Alte. »Donnerwetter! Unser größter Feind!«

»Ja, Ihr Feind, da Sie einer der Waldkönige sind, aber doch auch Ihr Freund, der es gut mit Ihnen meint.«

»Gut!« lachte der Schmied. »Sie verfolgen die Pascher wohl aus lauter Güte? Uebrigens ersuche ich Sie, mich nicht unter die Waldkönige zu versetzen! Ich bin ein ehrlicher Mann und kein Schmuggler!«

»Wirklich? Warum schreiben Sie Dieses hier?«

Er drehte den Docht der Lampe empor, daß es heller wurde, und hielt ihm seine eigene Unterschrift vor:

»Gelesen. Wird geschehen. Wolf, Schmied in Helfenstein.«

»Alle Teufel, der Brief!«

Mit einer blitzschnellen Bewegung langte der Alte nach demselben, aber Arndt war doch noch schneller und zog die Hand zurück, indem er ruhig antwortete:

»Dieser Brief ist mein.«

»Woher haben Sie ihn?«

»Das brauche nur ich zu wissen.«

Der Alte gab seinem Sohne einen Wink, in Folge dessen sich dieser an die Thür stellte, so daß Arndt nicht entkommen konnte; dann drohte er:

»Herr, diese Quittung verlange ich zurück!«

Arndt steckt sie trotzdem ein und antwortete:

»Es ist allerdings möglich, daß ich sie Ihnen freiwillig gebe, mit Gewalt entreißen Sie mir dieselbe aber nicht.«

»Oho! Sehen Sie uns an! Wir sind Zwei. Kommen wir Ihnen wie Schwächlinge vor! Wenn Sie nicht gehorchen, ist Ihnen Ihr Brod gebacken!«

Arndt stieß ein kurzes, lustiges Lachen aus und sagte:

»Sie vergessen, daß ich der Fürst des Elendes bin. Glauben Sie nicht, daß Sie mir gewachsen sind!«

»Seien Sie, wer Sie wollen! Jetzt sind Sie in meiner Gewalt; Sie müssen gehorchen! Heraus mit dem Briefe!«

»Pah! Gewalt führt zu nichts. Ich bin erbötig, mit Ihnen zu unterhandeln.«

»Ich unterhandle nicht. Ich will den Brief. Geben Sie ihn nicht augenblicklich heraus, so schlage ich Sie nieder!«

»Oder ich Sie Zwei!«

»Das wollen wir sehen! Also jetzt -«


// 891 //

Er trat drohend auf Arndt zu.

»Gut! Jetzt! Hier!«

Ein goldener Blitz zuckte an dem Gesichte des jungen Schmiedes vorüber, und im nächsten Augenblicke lag dieser starr wie ein Todter am Boden. Der Alte sah es und hielt vor Schreck ein. Dann aber brüllt er los:

»Himmeldonnerwetter! Er ist todt! Hallunke, ich erwürge Dich!«

Er drang auf Arndt ein. Dieser faßte seinen Arm, und - der Schmied stand still. Er fühlte einen eisernen Griff, dem er nicht widerstehen konnte.

»Sie sehen, daß Sie nicht allein der Starke sind!« lachte Arndt. »Ich habe Sie nicht zu fürchten!«

»Mensch! Sie sind ein Teufel!«

»Nein, ich bin nur der Fürst des Elendes; es ist meine Gewohnheit, die Leute ganz in ihrer eigenen Manier zu behandeln. Sie wollten von Güte nichts wissen, nun wohl, so habe ich mich wehren müssen!«

»Und meinen Sohn erschlagen!«

»Nein, er ist nur betäubt! Nach einiger Zeit wird er erwachen und keine Folgen spüren. Legen Sie ihn dort auf die Bank! Dann setzen Sie sich wieder zu mir. Ich habe mit Ihnen zu sprechen.«

Diese Worte und das ganze Auftreten des Sprechers machten einen unwiderstehlichen Eindruck auf den Schmied. Er untersuchte seinen Sohn, fand, daß derselbe unverletzt sei und ruhig athmete und trug ihn nach der Bank. Dann nahm er an dem Tische Platz, vor sich hinknirschend:

»Gut, ich werde es versuchen! Aber treiben Sie den Spaß um Gotteswillen nicht zu weit!«

»Keine Sorge! Ich bin jetzt in sehr ernster Stimmung.«

Er zog eine Zigarre hervor, steckte sie in Brand und sagte dann in freundlicherem Tone:

»Herr Wolf, ich habe gewisse Gründe, Ihnen freundlich gesinnt zu sein - -«

»Davon merke ich nichts!«

»Lassen Sie mich ausreden! Ich bin heute in der allerbesten Absicht zu Ihnen gekommen.«

»Das wollen Sie mir weiß machen? Und doch nennen sie sich den Fürsten des Elendes!«

»Ich bin er auch!«

»Meinetwegen! Mich bringt das nicht zum fürchten. Sie sind eben auch ein Mensch. Gut, daß ich Sie einmal sehe. Auf diese Weise werden wir uns klar.«

»Das ist eben mein Wunsch. Sie wandeln auf höchst gefährlichen Wegen, mein Lieber, und ich -«

»Was geht Sie das an?« brauste der Alte auf.

»Gut, es soll mich nichts angehen; aber ganz unberücksichtigt darf ich es doch nicht lassen, wenn Ihr Weg sich mit dem meinen kreuzt. Also, ich wiederhole, daß ich in bester Absicht zu Ihnen komme -«


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»Beweisen Sie es!«

»Das will ich ja! Geben Sie mir nur Zeit dazu!«

»Na, meinetwegen; reden Sie!«

»Man steht im Begriffe, sie gerichtlich zur Rechenschaft zu ziehen, weil Sie -«

»Weshalb?«

»Sie unterbrechen mich abermals. Aber ich will Ihre Frage kurz beantworten: Weil Sie einst Brandt verurtheilen ließen, obgleich sie seine Unschuld beweisen konnten; weil Sie den kleinen Baron von Helfenstein stahlen, nachdem Sie an seiner Stelle eine Leiche verbrennen ließen, und weil sie drittens einer der Waldkönige sind.«

»Alles Unsinn, lauter Unsinn!«

»Pah! Sie waren im Walde und sahen, daß Franz von Helfenstein den Hauptmann erschoß; sie holten vor dem Brande des Schlosses die Leiche vom Gottesacker, und was den Waldkönig betrifft, so habe ich ja Ihre Unterschrift als Beweis in den Händen.«

»Sie reden wohl im Fieber? Wer kann mir beweisen, daß ich Zeuge des Mordes war? Wer war dabei, als die Leiche des Kindes gestohlen wurde? Und Ihre Unterschrift da, die ist gefälscht.«

»Mir können Sie das sagen, dem Untersuchungsrichter aber nicht.«

»Warum nicht? Gerade ihm erst recht würde ich es sagen!«

»Denken Sie, daß er es glaubt?«

»Ist das Ihre Sache?«

»Vielleicht doch? Aber ich bin nicht gekommen, um meine kostbare Zeit unnütz bei Ihnen zu verschwenden. Sie selbst wissen am Besten, in welcher Lage Sie sich befinden. Ich will Ihnen Ihre Unterschrift zurückgeben, so daß Sie wegen des Paschens nicht belangt werden. Und ich sichere Ihnen die denkbarst beste Beurtheilung des Anderen zu, wenn Sie mir dagegen Zweierlei versprechen.«

»So? Ah! Was denn?«

»Erstens sagen Sie mir, wo der kleine Robert von Helfenstein hingekommen ist.«

»Und was zweitens?« fragte der Schmied höhnisch.

»Sie bezeugen vor Gericht, daß der Baron Franz von Helfenstein damals den Hauptmann erschossen hat.«

»So! Weiter nichts?«

»Nein, weiter nichts.«

»Was? Damit wollen Sie sich wirklich zufrieden geben?«

»Mir genügt es vollständig.«

»Ei, ei! Was für ein genügsamer Mann sie sind!«

»Dieser Spott scheint Ihnen jetzt sehr billig, kann aber sehr leicht ganz ungeheuer im Preise steigen.«

»Meinetwegen, mag er theurer werden! Sie haben gesagt, was Sie wollen, und ich will Ihnen darauf meine Antwort geben.«


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»Ich ersuche Sie sehr darum.«

»Schön! Zunächst habe ich mich wirklich vor dem sogenannten Fürsten des Elendes ein Wenig gefürchtet. Das ist nun vorbei. Heute sehe ich, daß er nicht nur ein ganz gewöhnliches Menschenkind, sondern sogar ein recht dummer Kerl ist. Wollen Sie sich das notiren?«

»Sehr gern, mein Bester!«

»Gut! Ihre Dummheit beweisen Sie dadurch, daß Sie mich für dumm halten. Sie wollen mich aus einer Gefahr retten, die es gar nicht für mich giebt, und dafür soll ich mich zu Missethaten bekennen, die ich gar nicht begangen habe und die mir auch kein Mensch nachzuweisen vermag. Das ist nicht nur dumm, sondern sogar hochdumm von Ihnen!«

»Das scheint allerdings so!«

»Schön, daß Sie es einsehen. Sie haben es sich selbst zuzuschreiben, wenn Ihr Renommée darunter leidet. Haben Sie vielleicht noch etwas Albernes vorzubringen?«

»Nein.«

»So könnten Sie eigentlich gehen, aber ich lasse Sie natürlich nicht eher fort, als bis ich gesehen habe, daß mein Sohn wirklich erwacht.«

Da stand Arndt von seinem Stuhle auf und antwortete:

»Ich bin gewöhnt, zu gehen, wann und wohin es mir beliebt.«

»Aber jetzt nur nicht, mein Bester! Sie bleiben hier.«

Er stellte sich vor die Thür und streckte dem Gegner die beiden Fäuste entgegen, stürzte aber im nächsten Augenblicke nach einer blitzesschnellen Armbewegung Arndt's wie sein Sohn auf die Diele nieder.

Als er wieder zu sich kam, lag er auf der Bank, und sein Sohn stand vor ihm. Er mußte sich erst auf das, was geschehen war, besinnen.

»Ich hier?« fragte er. »Ah, da fällt mir ein - wo ist er hin, dieser Hallunke?«

»Ich weiß es nicht.«

»Was? Du weißt es nicht?«

»Nein. Ich weiß gar nicht, was mit mir geschehen ist. Ich erwachte aus einer Ohnmacht und lag hier auf der Bank.«

»Und ich?«

»Du lagst ohne Besinnung dort auf der Diele.«

»Und die Thür?«

»Sie war nicht mehr zugeriegelt. Der Kerl war fort.«

»Hole ihn der Teufel! Jetzt besinne ich mich. Ich wollte ihn nicht fortlassen, und da muß er mir einen fürchterlichen Jagdhieb versetzt haben, denn gleich breche ich nicht zusammen. Aber, eigenthümlich, ich fühle nirgends Schmerzen.«

»Ich auch nicht. Was habt Ihr noch verhandelt?«

Der Vater erzählte es dem Sohne. Dieser zuckte mit den Achseln und sagte:


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»Der Kerl ist ein Taschenspieler und wohl auch zugleich Polizist. Er hat geglaubt, uns verblüffen zu können.«

»Ich habe ihm gesagt, daß er uns zu dumm ist. Hahaha, wir und so gemüthlich ein Geständniß ablegen!«

»Wir haben es nicht nöthig. Erstens kann kein Mensch beweisen, daß wir damals den Mord mit angesehen haben; zweitens ist es mit dem Leichendiebstahle ganz dasselbe, und drittens, was den Waldkönig betrifft, das ist freilich eine verteufelte Geschichte!«

»Wegen meiner Unterschrift?«

»Natürlich!«

»Was beweist sie?«

»Daß Du der Waldkönig bist.«

»Steht das darin?«

»Deutlich allerdings wohl nicht.«

»Na, so mag man mir Beweise bringen! Und wenn es schlimm geht, so kann eine solche Unterschrift ja sehr leicht gefälscht sein. Ich fürchte mich nicht. Den ersten und den letzten der drei Punkte kann uns Keiner beweisen; anders steht es mit dem zweiten. Der ist schlimm: Leichenraub, Brandstiftung und Menschenraub. Das brächte uns allerdings für das ganze Leben auf das Zuchthaus.«

»Verdammt!«

»Na, ja, nur nicht verzweifeln! Wir schaffen nachher ein Kind in das Grab; dann wollen wir sehen, wer uns Etwas anhaben kann. Es ist draußen Abend geworden. Wir müssen lange hier gelegen haben, und es wird Zeit sein, aufzubrechen. Komm, wollen nach Werkzeugen suchen!«

Nur kurze Zeit später verließen sie das Haus auf der hinteren Seite. Sie wandten sich zum Dorfe hinaus und der Stadt entgegen. Beide hatten große Filzschuhe an und trugen Larven vor dem Gesicht.

Trotz der Höhe des hier liegenden Schnees blieben sie nicht auf der Straße, sondern sie schlugen einen Seitenweg ein, der sie in die unmittelbare Nähe des Gottesackers führte. Sie umgingen denselben und stiegen dann an einer Stelle, wo die Mauer etwas niedriger war, über dieselbe hinweg.

Kaum waren sie hinüber, so erhob sich in der Nähe etwas Weißes und gar nicht weit davon etwas ganz Ähnliches. Das waren zwei weiße Betttücher, unter denen zwei Männer steckten.

»Vetter!« flüsterte der Eine.

»Ja.«

»Haben Sie es gesehen?«

»Natürlich!« antwortete Arndt dem alten Förster. »Sie sind ja Beide beinahe über mich weggestolpert!«

»Aber, bei Gott, ein gescheidter Kerl sind Sie doch!«

»Hm!«

»Woher wußten Sie denn, daß sie den Fußweg einschlagen würden, he?«

»Weil ihnen auf der Straße leicht Jemand begegnen konnte.«


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»Und daß sie gerade hier und nirgendwo anders übersteigen würden?«

»Weil die Mauer hier am Niedrigsten ist.«

»Das Thor vorn ist noch niedriger.«

»Aber es liegt eben vorn, der Beobachtung mehr ausgesetzt. Darum war es nicht sehr geistreich von dem Amtmann, daß er sich gerade dorthin postirte.«

»Dieser Herr giebt mir überhaupt Spaß. Er will die Beiden partout höchst eigenhändig fangen. Mit welcher rührenden Bereitwilligkeit er seine Betttücher hergeborgt hat. Wir wollen hin zu ihm.«

Sie schritten leise an der Mauer hin, bogen um die Ecke und näherten sich dem Thore. Da erhob sich eine dritte Gestalt unter einem Betttuche. Es war der Amtmann.

»O weh!« sagte er. »Sie verlassen Ihre Posten? Nun sollten sie gerade jetzt kommen und uns sehen. Sie werden mir den ganzen Spaß verderben!«

»Wohl nicht, denn sie sind bereits da.«

»Was? Wirklich? Wo?«

»Da hinten, wo ich vermuthete, sind sie übergestiegen.«

»Diese Hallunken! Hier hatten sie es bequemer!«

»Solche Leute pflegen mehr auf die Sicherheit, als auf die Bequemlichkeit zu sehen, Herr Amtmann.«

»So habe ich mich also doch verrechnet! Aber sie entgehen mir trotzdem nicht. Schleichen wir hin.«

»Warum denn?«

»Um sie zu beobachten.«

»Das wollen wir ja unterlassen!«

»Unterlassen? Das wäre ein großer Fehler. Wir müssen doch erfahren, welches Grab sie öffnen?«

»Sie finden es später ganz leicht. Sie brauchen nur den Fußtapfen nachzugehen. Ueberdies wird es ihnen nicht gelingen, das Grab geradeso wieder mit Schnee zu bedecken, wie es vorher gewesen ist. Wenn wir uns ihnen nähern, so können sie uns bemerken, und dann wäre Alles umsonst.«

»Hm, schade wäre es, jammerschade! Gehen wir also!«

Die drei Späher hatten sich blos überzeugen wollen, ob die Schmiede die Leiche wirklich hier holen würden. Sie kehrten nach Helfenstein zurück, ohne sich dort sehen zu lassen, und begaben sich sofort nach dem Gottesacker, dessen Schlüssel ja der Amtmann bei sich hatte.

Dort angekommen, fanden sei eine Polizeimacht ihrer wartend, welche zugelangt hätte, ein gutes Dutzend von Räubern und Mördern festzunehmen. Zum Glücke fügte sich der Amtmann in Arndt's Anordnungen. In Folge dessen wurden die Leute so postirt, daß sie von den Schmieden nicht bemerkt werden konnten. Dann wartete man.

Es dauerte lange, sehr lange, ehe die Beiden kamen. Endlich hörte man drüben von der Stelle, an welcher Arndt heute gelegen hatte, ein Geräusch,


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und gleich darauf huschten zwei dunkle Gestalten über die schneeweiße Fläche. An dem Grabe angekommen, legte der Eine ein Paket nieder und sagte leise:

»Du, hier wird es uns leicht gemacht. Die Erde ist ganz locker, und der Spaten nebst Hacke und Schaufel liegen dabei.«

»So laß uns rasch machen. Ich habe keine Ruhe, bis wir hier wieder fort sind. Mir ist fast angst geworden.«

»Warum denn? Es geht ja Alles gut?«

Sie begannen zu arbeiten, und zwar mit solchem Eifer, daß sie auf weiter nichts als auf das Loch achteten, welches schnell immer tiefer wurde. Das Geräusch, welches sie verursachten, war schuld, daß sie ein anderes, welches sich ihnen näherte, nicht hörten.

»Da, hier ist der Sarg!« sagte der Sohn. »Mir scheint, der Deckel ist morsch.«

»Geben wir uns keine unnöthige Mühe. Auf damit und das Kind hinein.«

»Du, ah, da kommt mir ein prachtvoller Gedanke!«

»Versäume nur keine Zeit dabei!«

»Ich glaube nämlich, die haben heute gar nicht den ganzen Sarg herausgenommen!«

»Warum sollten sie? Sie haben den Deckel geöffnet und constatirt, daß der Sarg leer war.«

»Schön! Wenn dann ein Gerippe im Sarge liegt, ist es erwiesen, daß es später hineingebracht wurde. Wie aber nun, wenn es unter dem Sarge sich befindet?«

»Donnerwetter!«

»Verstehst Du? Dann kommt die Schuld auf den früheren Todtengräber, der mit der kleinen Leiche nicht gehörig umgegangen ist. Er hat sie verschüttet.«

»Gar nicht übel! Also heraus mit dem Sarge! Wir legen das Gerippchen darunter.«

Da erscholl es laut hinter ihnen:

»Jetzt aber noch nicht!«

Sie fuhren herum und standen, wie vom Schlage getroffen, ein Weilchen völlig bewegungslos da. Der Schreck hatte sie förmlich gelähmt. Vor und um sie standen Polizisten, und im Nu waren sie mit Stricken gebunden.

»Alle Teufel!« stieß endlich der Alte hervor.

»Verflucht!« fügte der Junge hinzu.

»Im Namen des Gesetzes, Ihr seid arretirt!« antwortete der Amtmann.

Der Alte zerrte an seinen Stricken und stöhnte ingrimmig vor sich hin:

»Verdammtes Pech! Wem hat man es zu danken?«

»Mir!«

Der Mann, der dieses Wort aussprach, stellte sich vor ihm hin, so daß er demselben in das Gesicht sehen konnte.

»Hölle und Teufel! Der Fürst des Elendes!«


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»Ja, mein Lieber! Sie sehen nun ein, daß ich es gut mit Ihnen gemeint hatte. Ich habe Sie gewarnt; nun tragen Sie ganz allein die Schuld. Jetzt, Herr Amtmann, werde ich mich Ihnen empfehlen!«

»Schon?«

»Ja. Wir müssen fort. Den einen Waldkönig haben wir hier, und den anderen werden wir noch heute im Haingrunde fangen. Unser Schlitten wartet. Gute Nacht!«

Er reichte dem Beamten die Hand und suchte die Stelle der Straße auf, an welcher der Förster mit dem Schlitten hielt. Die beiden Gefangenen waren wie betäubt; sie konnten sich noch nicht in ihre Lage finden, so schnell und unerwartet war dieselbe über sie gekommen. Der Alte faßte sich zuerst und sagte:

»Aber, was soll denn das sein. Warum nimmt man uns gefangen?«

»Leichenräuber!« antwortete der Amtmann kurz.

»Wir?«

»Wer sonst?«

»Herr Amtmann, das ist ein Irrthum, wie er größer gar nicht gedacht werden kann!«

»Wirklich? In wiefern denn?«

»Vorhin waren zwei Fremde bei mir in der Gaststube, die heimlich flüsterten und mir sehr verdächtig vorkamen. Als sie gingen, folgten wir ihnen heimlich. Dort an der Mauer verloren wir sie. Nach einiger Zeit aber stiegen wir über und wurden von Ihnen gerade in dem Augenblicke überrascht, als wir uns wunderten, hier ein offenes Grab und dieses Paket zu finden.«

»Ach, Sie wußten also gar nicht, daß das Grab geöffnet worden ist?«

»Nein, kein Wort davon!«

»Wer hat denn, während wir hier beschäftigt waren, da drüben hinter dem Hollunder gestanden?«

Der Schmied fand vor Schreck keine Antwort.

»Wer hat denn davon gesprochen, heute abend auf dem alten Gottesacker eine Leiche zu holen und hier einzugraben?«

Noch immer keine Antwort.

»Wer hat da gesprochen von der Ermordung des Hauptmannes von Hellenbach und von dem kleinen, verschwundenen Robert von Helfenstein?«

»Weiß ich das?« stieß der Schmied hervor.

»Wohl nicht? So gescheidt wie Ihr ist man auch. Der Herr, welcher vorhin Fürst des Elendes genannt wurde, ahnte, daß Ihr uns belauschen würdet und versteckte sich unter den Hollunder. Er hat jedes Wort gehört.«

»Verdammt!« knirschte der Alte.

Sein Sohn stand hinter ihm, ohne ein Wort zu sagen. Da plötzlich glänzte eine Messerklinge in seiner Hand, die frei geworden war.

»Mir nach, Vater!«

Mit einem raschen Schnitte fuhr er über den Strick, welcher um die


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Handgelenke des Alten geschlungen war, und bereits im nächsten Augenblicke schossen die Beiden über den Gottesacker hinüber.

Die Beamten fanden im ersten Augenblicke gar keine Bewegung, dann aber sprangen sie den Flüchtlingen unter lauten Zurufen nach, Einer immer den Anderen hindernd oder über die Gräber stolpernd.

Als sie die Mauer erreichten, waren die beiden Flüchtlinge bereits über dieselbe hinweg und schossen den Berg hinab, der Vater trotz seines Alters hart hinter dem Sohne. Dieser Letztere drehte sich um. Er bemerkte, daß sie einen Vorsprung hatten und sagte:

»Ich nehme sie auf mich, Vater! Schlage Dich rechts in das Dickicht. An der Bachbrücke treffen wir uns.«

Der Alte folgte diesem Rathe sofort. Zwar hörte er eine Weile lang noch das Rauschen der Büsche hinter sich, doch hörte dieses sehr bald auf. Jetzt ging er, vorsichtig jedes Geräusch vermeidend, langsamer und erreichte, sich immer im Dickicht haltend, nach beinahe drei Viertelstunden den angegebenen Ort, wo sein Sohn bereits auf ihn wartete.

Sie sahen einander eine Weile stumm an, dann erhob der Alte die Hand und sagte:

»Ich schwöre hiermit bei allen Seligen und allen Teufeln, daß ich nicht ruhen werde, bis ich ihn umgebracht habe.«

»Den Amtmann?«

»Den? Der ist ja ein Knabe! Nein; den Fürsten des Elendes. Er ist an Allem schuld!«

»Und wenn Du ihn nicht triffst, so bringe ich ihn um!«

»Wo sind die Verfolger?«

»Hinter mir, weit zurück und zerstreut. Wir müssen weiter. Aber wohin? Das ist die Frage.«

»Die Frage? Hier giebt es keine Frage. Wir müssen zu dem Baron. Er hat uns bestellt.«

»Er muß Geld schaffen, denn nach Hause können wir nicht. Ja, vorwärts zu ihm.«

Einige Zeit vorher war ein Schlitten von der Stadt her durch das Dorf und nach dem Schlosse gefahren. Der Insasse ließ sich bei dem Baron melden und wurde sofort vorgelassen. Es war Herr August Seidelmann, der Vorsteher der Brüder und Schwestern zur Seligkeit. Er mochte wichtige Nachrichten bringen, da der Baron ihn in sein innerstes Cabinet hatte kommen lassen.

Dennoch hörte man nach einiger Zeit die Stimmen der Beiden ungewöhnlich laut, und wer da hätte horchen können, dem wäre die eigenthümliche Weise aufgefallen, in welcher der Fromme heute mit dem Baron zu sprechen beliebte.

Der Letztere schien sich in ungewöhnlicher Aufregung zu befinden, denn er schritt hastig in dem Zimmer auf und ab und sagte:

»Was geht Sie denn der Apotheker an?«

Der Fromme antwortete in salbungsvollem Tone:


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»Er kennt alle Kräuter und Pflanzen der heiligen Schrift, von der Ceder an bis zum Isop herab, und ich wollte mich belehren lassen.«

»Lassen Sie diese Faseleien! Ich habe Ihnen in letzter Zeit verboten, mit ihm zu verkehren.«

»Ich traf ihn zufällig.«

»Wo?«

»In seiner Wohnung.«

»Sie gehen dorthin? Und das nennen Sie zufällig?«

»Ja. Der Grund, welcher mich hinführte, war ein ganz und gar zufälliger.«

»Ich darf ihn doch wohl erfahren, wie ich hoffe?«

»Warum nicht, gnädiger Herr!«

»Nun?«

»Ich brauchte ein kleines Tränkchen.«

»Wozu?«

Der Fromme zuckte die Achseln, blickte den Baron in sehr bezeichnender Weise von der Seite an und antwortete:

»Es waren mir Zwei im Wege.«

»Ich wiederhole, Sie sollen nicht faseln!«

»Wer sagt, daß ich es thue?«

»Was sonst?«

»Es waren mir wirklich Zwei im Wege: Ein Riese und sodann eine Frau.«

Jetzt merkte der Baron, was der Mann wollte.

»Seidelmann!« fuhr er auf.

»Euer Gnaden!« antwortete dieser in demüthigem Tone.

»Sind Sie verrückt geworden?«

»Nein, denn ich habe mich gehütet, von den Tropfen selbst zu nehmen. Ich will bei Sinnen bleiben.«

»Aber, Mensch, ich begreife Sie nicht! Was haben Sie mit meinen Geheimnissen zu schaffen?«

»Sehr viel, denke ich.«

»Und was haben Sie für ein Recht, für eine Veranlassung dazu? Das muß ich Sie fragen!«

»Das Recht des Menschen und Christen.«

»Salbadern Sie nur nicht vor mir! Sie machen sich doch nur lächerlich; das können Sie glauben.«

»Ich will diese Lächerlichkeit tragen, wenn ich dabei nur meine und Ihre Seele rette. Der Christ entschuldigt Vieles, aber Mord, langsamer Mord durch geisttödtendes Gift, das ist schrecklich; das kann ich nicht zugeben!«

»Aber wer spricht denn von Mord?«

»Ich selbst.«

»Das ist ja Blödsinn!«

»Blödsinn? Ich war in Rollenburg.«


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Der Baron fuhr zurück. Zwischen seinen halb geschlossenen Lippen kam es beinahe pfeifend hervor:

»In Rollenburg? Bei den Irren?«

»Ja.«

"Was haben Sie dort zu thun?"

»Was haben Sie dort zu thun?«

»Ich kenne den Director.«

»Und dabei haben Sie - - nicht?«

»Die gnädige Frau Baronin gesehen? Ja. Ich bin überzeugt, daß sie baldigst soweit hergestellt sein wird, daß sie dieses Haus verlassen kann!«

»Sagte der Arzt dies?«

»Nein, nur ich sage es!«

Dies war in einem Tone gesprochen, dem man die Drohung deutlich anhören konnte. Der Baron hatte in diesem Augenblick den Anblick eines Raubthieres, welches in ohnmächtiger Wuth hinter dem Gitter die Zähne zeigt; aber es war eigenthümlich, wie nach und nach seine Züge einen ganz anderen Ausdruck annahmen. Endlich lachte er sogar herzlich auf und sagte:

»Sie sind doch ein wirklicher Hans Dampf in allen Gassen! Sie tauchen überall auf: da wo Sie gebraucht werden und auch da, wohin Sie nicht gehören!«

Der Fromme zog ein süßsaures Gesicht und antwortete, indem er leicht mit der Achsel zuckte:

»Meine Pflicht, gnädiger Herr!«

»Hm! Ich will das einmal zugeben. Wir sind einander gegenseitig verbunden, doch muß dabei immer die gebotene und schuldige Rücksicht herrschen. Sie können doch unmöglich von mir verlangen, Sie in alle meine Angelegenheiten und Geheimnisse einzuweihen!«

»So Etwas habe ich noch nie gewagt! Aber meine innige Verehrung für die kranke, gnädige Frau - und der qualvolle Anblick, den sie mir in Rollenburg bot - das Achselzucken der Ärzte - während ich doch von dem Gifte gehört hatte -«

»Wer hat mit Ihnen davon gesprochen? Wirklich der Apotheker?«

»Ja.«

»Aus freien Stücken?«

»Nein. Ich kam durch Combination darauf.«

»Er theilte Ihnen das Nähere über die Wirkung dieses sogenannten Giftes, welches aber kein Gift ist, mit?«

»Ja. Er konnte meinen eindringlichen Reden ja auf die Dauer nicht widerstehen.«

»Nun gut, so will ich Ihnen im Vertrauen mittheilen, daß ich höchst wichtige Gründe hatte, meiner Frau für kurze Zeit ihr jetziges Domicil zu geben. Aber in zwei Wochen wird sie dasselbe verlassen.«

»Genesen?«

»Vollständig. Sie werden später meine Gründe noch zu würdigen wissen.«


// 901 //

Der Fromme schien beruhigt zu sein. Seine Miene glättete sich, und er antwortete:

»Ich hoffe zu Gott, daß er diese Verheißung zur Wahrheit mache!«

»Und ich bin gerührt über die fromme Theilnahme, welche Sie uns widmen. Ihr Bericht hat mir von Neuem bewiesen, in welch eifriger Weise Sie für mich thätig waren, und so will ich Ihnen gern die Versicherung geben, daß ich bereits über eine geeignete Weise, Ihnen dankbar zu sein, nachgedacht habe.«

Der Schuster fühlte sich tief gerührt. Er ergriff die Hand des Barons, küßte sie und sagte:

»Ich strebe nicht nach schnöder, irdischer Dankbarkeit, sondern einzig nur nach Schätzen, welche vom Roste und den Motten nicht gefressen und von den Dieben nicht gestohlen werden. Ihre Anerkennung ist mir mehr werth, als alle Gaben. Haben Sie sonst noch Etwas zu befehlen?«

»Nein. Sie können Ihr Zimmer aufsuchen und sich von der Reise ausruhen. Doch, halt! Heute ist der Abend des Unternehmens im Haingrunde. Sie befanden sich noch bei ihrem Bruder, als es besprochen wurde?«

»Ja.«

»Winkler war doch wohl selbst da?«

»Gewiß. Und der Andere auch.«

»Welcher Andere?«

»Ich kenne den Namen nicht. Er hatte auch ein sehr bedeutendes Unternehmen in petto.«

»Hm! Mir unbegreiflich, wer das sein könnte! Ich weiß es nicht, werde es aber wohl erfahren. Gute Nacht für heute!«

Der Fromme zog sich mit einem jetzt sehr ehrfurchtsvollen Abschiedsgruße zurück. Kaum war er hinaus, so veränderte sich das Gesicht des Barons in höchst auffallender Weise. Seine Augen sprühten Blitze; seine Brauen näherten sich drohend; seine Zähne knirschten, und seine Fäuste ballten sich.

»Sclave! Elender!« stieß er hervor. »Heimtücker und Heuchler! Schlange und Krododil! Du willst über mich hinauswachsen, weil Du denkst, mich in den Händen zu haben! Du sollst Dich irren! Ich habe es wohl bemerkt, daß dieser Mensch mich zu umschlingen strebt, wie eine Boa constrictor, um mir dann mit einem einzigen Drucke den Garaus zu machen. Jetzt ist er gar in meine Frau verliebt - in die Zofe, bis zum Rasendwerden! Er küßt und schmatzt ihre Photographie, die er sich aus dem Album gestohlen hat. Nun sie im Irrenhause ist, will er sie befreien! Gut, spiele Deine Trümpfe! Den letzten behalte ich doch, armseliger Schuster von der 'Seligkeit' Gnaden!«

Da wurde die Thür in nicht sehr zarter Weise aufgerissen und ein Diener trat mehr als schnell ein.

»Was soll's?« fragte der bereits genugsam zornige Herr. »Wo brennt es denn?«

»Entschuldigung, gnädigster Herr! Aber dieses Ereigniß, diese Neuigkeit!«

»Was denn?«


// 902 //

»Sie sind arretirt!«

»Wer denn?«

»Die beiden Schmiede!«

Da fuhr der Graf erschrocken zurück.

»Weshalb?«

»Wegen Leichenraubes.«

»Donner und Doria! Das ist doch gar nicht möglich!«

»O gewiß! Der Fürst des Elendes hat sie gefangen.«

»Der Fü- Fü-«

Das Wort blieb ihm im Munde stecken.

»Heute ist das Grab geöffnet worden,« fuhr der erregte Diener fort.

»Welches denn?«

»Ich weiß es nicht.«

»Aber wo?«

»Droben auf dem Kirchhofe. Und vorhin haben die Schmiede eine Leiche hineinlegen wollen, sind aber vom Fürsten ertappt worden.«

»Wer das glauben soll!«

Und dabei zog er ganz unwillkürlich die Uhr hervor, um nach der Zeit zu sehen. Gerade für jetzt hatte er den Schmied zu einer Unterredung bestellt gehabt.

»Es ist die Wahrheit!« versicherte der Diener.

»Von wem hast Du die Nachricht?«

»Vom Stallmeister. Der ist im Dorfe gewesen und hat mit einem der Polizisten gesprochen, die den Gefangenen nachgesetzt sind.«

»Den Gefangenen nachgesetzt? Wie verstehe ich das?«

»Herrgott, die Hauptsache habe ich vergessen! Die Schmiede sind nämlich wieder entflohen.«

»Ah!«

Das war fast ein Seufzer der Erleichterung zu nennen, den der Baron ausstieß.

»Ja,« fügte der Diener hinzu, »sie sind kaum fünf Minuten lang gefangen gewesen. Der Sohn muß nicht fest genug gebunden gewesen sein. Er hatte ein Messer und bekam den Arm frei. Er hat auch die Fesseln seines Vaters zerschnitten, und dann sind sie fort - über alle Berge fort.«

»Man hat sie nicht wieder ergriffen?«

»Bis jetzt noch nicht.«

»Was aber ist's dann mit dem Grabe?«

»Das verstehe ich nicht recht. Heute ist ein Gericht hier gewesen, um das Grab öffnen zu lassen. Es ist leer gewesen. Und heute Abend haben die Schmiede eine Leiche von dem alten Stadtkirchhof geholt, um sie in dieses Grab auf unserem Dorfgottesacker zu legen.«

»Eine Leiche? Vielleicht handelt es sich nur um einen Pack Schmuggelwaaren!«


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»Das ist möglich, denn der Schmied ist als ein heimlicher Schmuggler bekannt.«

»Also warten wir es ruhig ab! Du kannst gehen!«

Der Diener entfernte sich. Der Baron aber durchschritt mehrere unerleuchtete Zimmer, bis er eine Treppe erreichte, die in den Schloßgarten führte. Er suchte eine Ecke des Letzteren auf und schnalzte, dort angekommen, leise mit der Zunge. Es wurde keine Antwort gegeben, und so begann er, auf dem Rasen langsam auf und ab zu gehen.

Bald aber ertönte ein leises Knacken von der Gartenmauer herab - ein lauteres Rascheln, dann das Geräusch, als ob zwei Personen nach einander auf die Erde sprängen.

»Wolf!« flüsterte der Baron.

»Ja.«

»Hierher! Ah, alle Beide?«

»Freilich. Es ist besser zu Zweien als Einer allein.«

»Aber sagt mir vorerst, ob es wahr ist, daß man Euch arretirt hatte?«

»Leider!«

»Wann und wo?«

»Vor ungefähr einer Stunde auf dem Gottesacker.«

»Weshalb?«

»Das ist eine lange Geschichte, zu der ich jetzt keine Zeit habe; es giebt noch viel Nothwendigeres!«

»Aber ich muß es doch wissen!«

»Zuvor das Nothwendigere. Nämlich der Fürst des -«

»Also wirklich?« unterbrach ihn der Baron. »Der Fürst ist mit im Spiele?«

»Und wie! Er ist sogar bei uns in der Oberstube gewesen, wohl über eine ganze Stunde lang.«

»Was wollte er da?«

»Hm! Er wußte Alles.«

»Was denn?«

»Wer den Hellenbach damals erschossen hat, und daß wir Beide hier es gesehen haben, wer das Feuer damals an das Schloß gelegt hat, wer der hiesige Waldkönig ist, und so noch vieles Andere.«

»Ihr seid des Teufels!«

»Es ist wahr, gnädiger Herr. Er kam, um uns auszuhorchen und zum Geständnisse zu bringen.«

»Ihr habt doch nicht etwa geplaudert?«

»Das fällt uns gar nicht ein. Er hat ganz ohne Resultat sich entfernen müssen.«

»Wie war sein Äußeres?«

»Nicht sehr groß und nicht sehr klein. Aber Körperkraft hat der Mensch gerade wie ein Elephante. Aber, da vergesse ich gerade die Hauptsache: Nämlich er weiß auch, daß es heute im Haingrunde Etwas geben wird.«


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»Alle tausend Teufel! Ich hoffe, daß Ihr Euch täuscht!«

»Leider nein! Als er uns nämlich fest hatte, sagte er, daß er hier den Helfensteiner Waldkönig gefangen habe, den anderen werde er noch heute Abend im Haingrunde erwischen. Dann nahm er Abschied.«

»So ist er wohl gar nach dem Haingrunde?«

»Jedenfalls.«

»Seit wie lange Zeit ist er fort?«

»Vielleicht drei Viertelstunden.«

»Welch ein Unglück! Wieder Alles verrathen, Alles! Wann ist es verabredet?«

»Zwei Uhr.«

»Ah! So ist noch Zeit, es abzuwenden! Ich muß fort, sogleich fort! Ich lasse anspannen!«

»Aber wir, Herr Baron?«

»Ihr fahret mit. Ich muß ganz ausführlich wissen, was geschen ist. Und da ich jetzt keine Zeit habe, Euch anzuhören, so müßt Ihr es mir unterwegs erzählen.«

»Wir können aber unmöglich mit!«

»Warum?«

»Wir waren gefangen und sind entsprungen. Man wird auf allen Wegen nach uns suchen.«

»Fatal, höchst fatal! Und doch muß ich fort und muß auch hören, was Euch geschehen ist. Wie fängt man das an?«

»Ich wüßte wohl!«

»Nun?«

»Ich weiß, daß der gnädige Herr sich zuweilen den Spaß macht, eine Perücke oder einen falschen Bart anzulegen.«

»Ja, ja; das ist das Richtige! Daran dachte ich gar nicht. Kommt, ich führe Euch unbemerkt in mein Cabinet, und wenn Ihr es verlaßt, will ich den Menschen sehen, der Euch erkennt!«

Kaum eine halbe Stunde später verließ ein zweispänniger Schlitten das Schloß. Der Graf saß vorn und lenkte die Pferde selbst. Hinter ihm lehnten zwei Herren in den Kissen, von denen der Eine einen Pelz trug und der Andere sich in einen dicken Havelock gehüllt hatte. Wer suchte in ihnen wohl die beiden Schmiede?

Als sie erst das Schloß und sodann auch das Dorf hinter sich hatten, wollte der alte Wolf zu sprechen beginnen, aber der Baron machte ein »Pst!« und warnte ihn:

»Still jetzt! Wir wissen nicht, ob uns hier Jemand hören könnte! Wir befinden uns noch zu nahe an Ihrer Heimath, wo man Sie leicht an Ihrer Stimme erkennen kann. Schweigen Sie noch.«

So schoß der Schlitten schnell auf der durch den Wald führenden Straße dahin. Da mit einem Male trat ein Mann vor ihnen mitten auf dieselbe und gebot mit lauter Stimme:


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»Halt!«

Und als der Baron nicht sofort die Zügel anzog, sprang der Mann, um von den Pferden nicht getreten zu werden, auf die Seite, legte das Gewehr an und fuhr drohend fort:

»Halt! sage ich! Oder soll ich die Pferde niederschießen?«

Jetzt folgte der Baron dem Befehle, raunte aber dabei den beiden Schmieden leise zu:

»Ihr habt Euch doch die Worte gemerkt?«

Er hatte sie nämlich während des Umkleidens instruirt, wie sie sich zu verhalten hätten, falls sie angehalten würden.

»Ja,« antwortete Wolf leise.

Der Schlitten hielt an, und jetzt traten noch drei Bewaffnete unter den Bäumen hervor. Der Erstere schien der Anführer des kleinen Piquets zu sein, denn er erkundigte sich:

»Wem gehört dieser Schlitten?«

»Mir.«

»So! Bitte, wer sind Sie?«

»Warum?«

»Das mag dahin gestellt sein. Sie sehen aus meiner Uniform, daß ich Gensd'arm bin. Ich habe also jedenfalls das Recht, eine solche Frage auszusprechen, ohne die Gründe einem Jeden mittheilen zu müssen. Also, mein Herr, wer sind Sie?«

»Ich bin der Baron Franz von Helfenstein.«

»Ah! Lassen Sie sehen!«

Er trat ganz nahe an den Schlitten heran und blickte dem Baron scharf in das Gesicht.

»Ja, Sie sind es. Glücklicher Weise sind Sie mir nicht ganz unbekannt. Das erspart Ihnen Unannehmlichkeiten. Wohin wollen Sie?«

»Haben Sie auch Veranlassung zu dieser Frage?«

»Ja, sonst würde ich sie einem solchen Herrn gegenüber wohl nicht auszusprechen wagen.«

»Nun, ich will nach Hellershausen.«

Das war nicht wahr. Er wollte ja nach einem ganz anderen Ziele, hütete sich aber, dies zu nennen. Hellershausen war zwar auf dieser Straße zu erreichen, lag aber so seitwärts, daß bereits nach einer halben Stunde links eingebogen werden mußte.

»Schön! Wer sind diese beiden Herren?«

»Freunde von mir.«

»Woher? Darf ich ihre Namen wissen? Sie verzeihen, daß ich mich infolge meiner Instruction auch zu dieser Frage gezwungen sehe.«

»Monsieur de Latour und Graf de la Messangerie, zwei Franzosen, wie Sie aus den Namen ersehen.«

»Bestätigen Sie das, meine Herren?«

Er trat dabei an Wolf heran und blickte ihm in das Gesicht. Der


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Alte trug, ebenso wie sein Sohn, einen falschen Vollbart und brummte verdrießlich vor sich hin:

»Nous comprenons nix deutsch!«

Das waren die Worte, welche ihnen der Baron eingelernt hatte. Zum Glück war der Gensd'arm der französischen Sprache nicht im Mindesten mächtig. Er begnügte sich mit dieser Antwort.

»Schön, meine Herren! Fahren Sie weiter!«

Der Baron hob die Zügel, und die Pferde setzten sich schnell wieder in Trab. Als sie eine genügende Strecke zurückgelegt hatten, um nicht gehört zu werden, sagte er, aber doch noch leise:

»Welch ein Glück, daß dieser Mensch nicht Französisch verstand! Hätte er Euch in dieser Sprache gefragt, so wären wir wohl nicht so ungerupft davongekommen. Wir scheinen Glück zu haben.«

Nach einiger Zeit lichtete sich der Wald immer mehr, und dann führte die Straße durch offene Felder. Der Schnee lag wie ein weißes, endloses Tuch auf denselben, und man konnte einen jeden Gegenstand auf ziemliche Entfernung hin deutlich erkennen.

»Jetzt können wir nicht belauscht und überrascht werden,« meinte der Baron. »Wir wollen also endlich reden.«

Er gab die Zügel locker und setzte sich so, daß er den beiden hinter ihm Sitzenden nicht mehr den Rücken zukehrte.

»Vorhin hatten wir keine Zeit,« fuhr er fort. »Jetzt können wir das Versäumte nachholen. Also, wie ist das eigentlich gekommen, daß Ihr gefangen genommen wurdet?«

»Hm!« antwortete der Alte. »Das ist eine verdammte Geschichte! Wir haben heute die Heimath verloren; wir dürfen uns da niemals wieder erblicken lassen.«

»Was? Ist es wirklich so schlimm?«

»Ja. Erwischt man uns, so sind auch Sie verloren.«

»Wieso?«

»Weil man weiß, daß wir Zeugen sind, daß damals der Hauptmann nicht von dem Brandt erschossen wurde. Ergreift man uns, so sind wir gezwungen, Alles zu sagen.«

Der Baron schüttelte den Kopf. Es war ihm nicht ganz wohl zu Muthe, aber er ließ es sich nicht merken, sondern sagte:

»Pah! Ihr habt Euch in's Bockshorn jagen lassen!«

»Nein, nein! Wir sind unserer Sache gewiß!«

»Unsinn! Ihr Beide waret die einzigen Zeugen!«

»Das haben wir bisher auch geglaubt; aber der Fürst des Elendes weiß Alles.«

»Er schlägt nur auf den Strauch! Wenn Ihr nichts gesteht, so hat es keine Noth.«

»Oh, er weiß es dennoch, da er auch das Andere weiß!«

»Was?«


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»Von dem Kinde.«

»Ich verstehe nicht. Von welchem Kinde?«

»Von dem Kinde der Botenfrau, welches gerade an jenem Tage begraben wurde, als Schloß Hirschenau wegbrannte.«

»Ich verstehe noch immer nicht. Was hat das Kind dieses alten Weibes mit dem Schloßbrand zu thun?«

Der Alte zögerte mit der Antwort und sagte dann stockend:

»Was es damit zu thun hat? Oh, viel, sehr viel!«

Er getraute sich natürlich sehr schwer mit der Wahrheit heraus.

»Na, was denn?«

»Hm! Wenn das Schloß nicht weggebrannt wäre, so läge das Kind noch im Grabe.«

»Unsinn! Sprecht doch deutlicher! Liegt das Kind denn nicht in dem Grabe, in welches es gelegt wurde?«

»Leider nein!«

»Warum denn nicht?«

»Das ist eben die Geschichte! Und gerade heute kommen sie und öffnen das Grab! Nun ist die ganze Geschichte verrathen. Der Fürst des Elendes wußte ganz genau, daß wir Beide das Schloß angezündet haben.«

»Ich sage Euch ja, daß er nur auf den Strauch schlägt.«

»Nein, sonst hätte man das Grab nicht geöffnet.«

»Aber, bei allen Teufeln, was ist es denn eigentlich mit diesem alten Loche? Ihr redet in lauter Räthseln!«

Da gab der Sohn dem Vater einen Rippenstoß und sagte:

»Hast Du denn wirklich gar so große Angst? Sage es doch gerade heraus! Fressen kann er uns nicht!«

Das war keine große Höflichkeit. Es lag vielmehr in diesen Worten eine Mißachtung, welche den Baron zu der raschen und scharfen Frage veranlaßte:

»Wer kann Euch nicht fressen?«

»Sie!« antwortete Wolf Junior furchtlos.

»Ich? Ah! Das klingt ja ganz so, als ob es Etwas gebe, worüber ich ungehalten sein oder gar in Zorn gerathen könnte.«

»Das ist's auch.«

»Nun, fressen werde ich Euch allerdings nicht; dazu seid Ihr alle Beide zu unappetitlich; aber ob ich es Euch hingehen lasse, wenn es sich um einen groben Fehler handelt, das ist denn doch die Frage. Also, heraus damit! Was ist's mit dem Kinde?«

Der Alte schien sich vorgenommen zu haben, seinem Sohne die Schwierigkeit der Mittheilung überwinden zu lassen. Dieser antwortete:

»Was soll es mit ihm sein? Es ist nicht begraben worden.«

»So? Warum nicht?«

»Weil wir es damals brauchten.«

»Wozu?«


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»Es sollte verbrannt werden.«

Dieses Wort wirkte so auf den Baron, daß er mit einem starken Rucke die Pferde anhielt.

»Donnerwetter!« rief er. »Verstehe ich recht?«

»Jedenfalls.«

»Das Kind sollte verbrannt werden?«

»Ja.«

»Wohl gar an Stelle eines anderen?«

»Ja.«

Der Baron stieß zwischen den zusammengepreßten Lippen einen leisen, aber scharfen Pfiff hervor und sagte:

»Kerls, nehmt Euch in Acht! Wenn meine Ahnung richtig sein sollte, so bekommt Ihr es mit mir zu thun!«

»Das wissen wir!« meinte der junge Schmied, der sich sagte, daß der Baron sich ja ebenso in ihren Händen befand, wie sie sich in den seinigen. Die Kräfte standen sich gleich.

»Wollt Ihr etwa sagen, daß das Kind der Botenfrau an Stelle des kleinen Robert verbrannt worden ist?«

»Ja, das wollte ich sagen.«

Da riß der Baron den Revolver hervor, hielt ihn auf den Alten und drohte im höchsten Zorn:

»Kerl, ich massacrire Dich!«

»Oho!« rief der Sohn. »Sehen Sie dieses Messer hier in meiner Hand? In demselben Augenblicke, an welchem Sie losdrücken, sitzt Ihnen die Klinge im Leibe! Wir sind bisher zwar Pascher, aber keine Mörder gewesen; zwingen Sie uns aber, so sind Sie der Erste, der uns zum Opfer fällt. Als Pascher haben wir Ihnen gehorcht; darüber hinaus liegt nur Unheil für Sie!«

Der Baron starrte ihn eine Weile an. Einen solchen Widerstand hatte er gar nicht für denkbar gehalten. Dann drehte er sich langsam um, steckte den Revolver ein und schlug mit der Peitsche so grimmig auf die Pferde los, daß sie erst kerzengerade in die Höhe stiegen und dann im vollen Carrière davonflogen.

Die beiden Schmiede stießen sich heimlich an. Sie merkten, daß es in ihm koche, und daß er jetzt mit sich zu Rathe gehe, wie er sich am Besten gegen sie zu verhalten habe.

Nach einer längeren Weile ließ er die Pferde wieder langsamer gehen und drehte sich zu Ihnen um. Beim Scheine des Schnees sahen sie, daß er leichenblaß war, und daß seine Augen tief in den Höhlen lagen. Er war von Dem, was er gehört hatte, bis in's tiefste Leben getroffen worden. Seine Stimme zitterte und klang heiser, als er fragte:

»Robert ist damals nicht verbrannt?«

»Nein,« antwortete der Sohn.

»Lebt er noch?«


// 909 //

»Ja.«

»Wo?«

»Hm! Vielleicht kommt die Zeit, in der Sie das erfahren!«

»Oho! Ich muß es erfahren, und zwar sogleich!«

»Oho!« klang es als Echo zurück. »Soll das etwa gar eine Drohung sein?«

»Ja.«

»So sehen Sie her! Ich habe das Messer noch in der Hand!«

»Pah! Ich fürchte mich vor Euch nicht!«

»Wir vor Ihnen auch nicht!«

»Ihr seid Lügner und Verräther!«

»Sie wohl nicht?«

»Donnerwetter! Mir das?«

»Ja. Wir haben Ihren Mord verheimlicht. Sie versprachen uns eine Summe dafür. Sie haben uns nur die Hälfte gegeben. Dann, als wir uns mit Ihnen in Pascherei einließen, hatten Sie uns in der Hand; wenigstens glaubten Sie das, weil Sie dachten, uns zu Mordbrennern gemacht zu haben. Aber wir waren klug gewesen, wir hatten nicht gemordet!«

»Aber doch das Schloß weggebrannt.«

»Auf Ihren Befehl! Sie sind nicht nur unser Mitschuldiger, sondern sogar der Anstifter. Wir verschonten den Knaben. Wir waren Menschen und hatten Mitleid mit ihm. Wir verbrannten lieber eine Leiche. Das war zwar auch strafbar, aber doch kein Mord. Und noch aus einem anderen Grunde ließen wir den kleinen, unschuldigen Knaben leben.«

»Aus welchem Grunde?«

»Wir hatten Sie kennen gelernt, wir wußten, daß Ihnen nicht zu trauen sei. Wenn es sich um Ihren Vortheil handelt, gilt Ihnen ein Menschenleben nichts. Wenn Sie Einen nicht mehr brauchen, so ist es aus mit ihm, damit Sie keinen Verrath zu befürchten haben!«

»Ah! Das meint Ihr! Das wißt ihr?« stieß er hervor.

»Ja, wir haben es erlebt. Darum mußten wir ein Mittel haben, Sie in unserer Hand zu behalten. Und dieses Mittel ist - - nun, rathen Sie!«

»Der Knabe!« zischte er.

»Ja, der Knabe, der Baron Robert von Helfenstein.«

»Hallunken!«

»Schön! Hallunken mögen wir sein, doch Sie sind es, der uns dazu gemacht hat. Vorher waren wir ehrliche Schmuggler.«

Er kämpfte mit sich. Es verging wohl über eine Viertelstunde. Er sagte sich, daß es klug sei, sich scheinbar in das Unvermeidliche zu finden. Darum sagte er endlich:

»Ihr habt schlecht und treulos gegen mich gehandelt, Ihr Kerls, ganz außerordentlich treulos!«

»O, nicht schlecht, sondern nur klug.«


// 910 //

»Also, ich soll nicht erfahren, wo dieser Robert sich befindet?«

»Nein.«

»Oho! Warum nicht?«

»Weil Sie ihn aus der Welt schaffen würden!«

»Das fällt mir gar nicht ein.«

»O, wir kennen Sie!«

»Nein. Es würde mir genügen, wenn Ihr mir versprecht, daß er nie erfahren soll, wer er ist.«

»Wir würden dabei unsern besten Trumpf aus der Hand geben.«

»Ich bezahle ihn Euch.«

»Womit?«

»Mit Geld.«

»Das werden Sie bleiben lassen. Eine Kugel bekämen wir, aber kein Geld!«

»Seid nicht so unsinnig! Sagtet Ihr nicht, daß Ihr nie wieder nach Helfenstein zurück dürftet?«

»Ja, das ist sicher.«

»Nun, so seid Ihr ja verloren, wenn ich mich Eurer nicht annehme. Ihr seid flüchtig, vogelfrei und mittellos!«

»Sie auch, sobald man uns erwischt.«

»Pah! Noch gebe ich nicht das Geringste auf. Ich werde Euch mit Geld versehen, um Euch fortzuhelfen. Ihr sollt Euch in der Fremde eine Existenz gründen.«

»Das klingt schön, doch müssen wir erst sehen, ob das wahr ist, ob Sie auch Wort halten!«

»Ich halte Wort!«

»Das würde für beide Theile gut sein!«

»Noch glaube ich nicht, daß Eure Lage so sehr bedrängt ist. Erzählt mir einmal, wie Alles gekommen ist. Ich werde dann klar sehen und wissen, was zu thun ist. Also, wie war es damals in jener Nacht, in welcher das Schloß wegbrannte?«

Der junge Schmied erzählte alles, nur nicht, was sie dann mit dem kleinen Robert angefangen hatten.

»Wie treulos und - wie dumm!« sagte der Baron, als der Erzähler geendet hatte. »Wohin habt Ihr den Knaben gethan?«

»Davon später!«

»Meinetwegen! Hat denn damals Jemand Etwas gemerkt?«

»Nein.«

»Auch der Todtengräber nicht?«

»Die alte, ehrliche Haut? Hätte der nur das Geringste gemerkt, so wäre der Leichendiebstahl sicherlich verhindert worden.«

»Ich glaube selbst auch, daß Alles unbemerkt abgegangen ist, denn sonst hätte man die Sache nicht erst heute untersucht. Es bleibt also nur Eins zu vermuthen. Hm!«


// 911 //

»Was?«

»Daß man erst kürzlich entdeckt hat, daß Robert noch lebt. Vielleicht eine Familienähnlichkeit oder etwas Derartiges! Aber, da kommt mir ein Gedanke! Wie war der Junge gekleidet?«

»In sein Nachthabitchen!«

»Hat er das behalten?«

»Nein.«

»Also doch nicht, was ich vermuthete. Ich hielt es nämlich für möglich, daß er vielleicht Etwas an sich getragen hätte, was als Kennzeichen dienen könnte.«

Da gab der Alte dem Jungen einen Stoß.

»Du!« sagte er.

»Was?«

»Sollte etwa die Kette -«

»Donnerwetter! Ja, die Kette!«

»Welche Kette?« fragte der Baron schnell.

»Er trug eine Kette am Halse; die wollten wir dem armen Kerl nicht nehmen. Wir hätten für das Ding doch nicht viel bekommen, sie hätte uns vielmehr verrathen können.«

»O, Ihr Thoren, Ihr Esels! Nun hat sie es doch verrathen! Ja, so ist es, anders nicht! Was war es denn für eine Kette?«

»Sie war dünn und von Gold.«

»Nichts daran? Kein Medaillon?«

»Es hing so etwas wie ein Herz daran.«

»Ging es zum Oeffnen?«

»Ich weiß es nicht.«

»Waren Buchstaben darauf?«

»Ja drei; nämlich R.v.H.«

»Da sollen tausend Teufel dreinschlagen! Und diese Kette habt Ihr ihm gelassen?«

»Ja. Wir haben uns nichts dabei gedacht.«

»Das war mehr als unvorsichtig; das war wahnsinnig oder gar verrückt. Nun ist freilich Alles verrathen. Man hat die Kette beobachtet; man hat geforscht - ah, wußte der Fürst des Elendes von ihr?«

»Ich weiß es nicht.«

»Aber jedenfalls hat er sie gesehen. Er ist es; er allein ist es, der daraus seine Schlüsse gezogen hat. Die Kette muß her; ich muß sie haben! Sie ist der einzige Beweis, den man gegen uns hat. Wo aber befindet sie sich?«

»Wie sollen wir das wissen?«

»Ihr müßt doch wissen, wo der Knabe steckt!«

»Hm! Wir haben ihn in das Findelhaus geschafft.«

»Da ist er noch?«

»Nein.«


// 912 //

»Wo denn? Habt Ihr ihn später im Auge behalten?«

»Ja. Ein Musikant hat ihn aus dem Findelhause geholt und als Kind angenommen, ein Musikant und Schneider.«

»Wo denn? Welches Findelhaus war es?«

»Es war in der - ah! Was denn?«

Sein Sohn hatte ihm einen so derben Rippenstoß gegeben, daß er mitten in seiner Antwort inne hielt.

»Ich glaube gar, Du willst es ausplaudern!« zürnte er. »Warte erst, ob wir bezahlt werden!«

Aber der Baron beachtete diese Worte gar nicht. Er klatschte einige Male mit der Peitsche, als wolle er einem freudigen Gedanken Luft machen; dann sagte er, indem er die abgebrochenen Worte des Alten wiederholte:

»Es war in der - - nun, wo denn? Jedenfalls in der Residenz. Anders kann das Wort nicht sein, welches auf diese vier Worte folgen muß. Nicht?«

Die Beiden blieben stumm. Darum fuhr er fort:

»Ihr seid auch heute noch so dumm wie damals! Mir könnt Ihr nichts verschweigen. Also in das Findelhaus der Hauptstadt habt Ihr ihn gebracht? Ein Musikant, der ein Schneider war, hat ihn angenommen? Vor zwanzig Jahren? Ah, das stimmt doch zu prächtig! Ihr habt gar nicht geahnt, daß ich diesen Schneidermusikanten kannte. Er wohnte in einem mir gehörigen Hause in der Wasserstraße und hieß Bertram. Habt Ihr Euch vielleicht das geistreiche Vergnügen gemacht, im Findelhause wissen zu lassen, wie der Knabe heißt?«

»Wir haben auf einem Zettel angegeben, daß er getauft ist und Robert heißt,« sagte der Alte.

»Schön! Robert Bertram! Da haben wir ihn!«

»Verdammt!« stieß der junge Schmied hervor.

»Nicht wahr? Nun ärgert Ihr Euch, mir so wohlfeil auf die Sprünge geholfen zu haben? Ich weiß nun das, was ich Euch hätte theuer bezahlen müssen.«

Er sah aber sofort ein, daß es besser sei, sie nicht unwillig zu machen; darum fügte er begütigend hinzu:

»Na, Euer Schaden soll es trotzdem nicht sein! Ich werde dafür sorgen, daß Ihr mit mir zufrieden seid. Aber es ist sehr gut, daß ich nun klar sehe. Euer Fehler läßt sich wieder gut machen. Wißt Ihr vielleicht, was jüngst mit dem Jungen geschehen ist?«

»Nein.«

»Auch nicht, daß er eingesteckt worden ist?«

»Nein. Eingesteckt? Weshalb?«

»Weil er ein Einbrecher war. Er ist da mit der Polizei und den Gerichten in Berührung gekommen. Man hat nach seinem Herkommen geforscht, er hat die Kette vorgezeigt, und man hat weiter geforscht. Ah, darum also die Behandlung, die ihm geworden ist, und darum diese Protection und seine


Ende der achtunddreißigsten Lieferung - Fortsetzung folgt.



Karl May: Der verlorne Sohn

Karl May – Forschung und Werk