Lieferung 6

Karl May

20. September 1884

Der verlorne Sohn
oder
Der Fürst des Elends.

Roman aus der Criminal-Geschichte.


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»Aber gleich das Doppelte!«

»Ich kann weder den Eltern, noch Ihnen zu- oder abraten. Ich habe meinen Auftrag ausgerichtet. Sie nehmen ihn nicht an, und so ist es wohl Gottes Wille, daß der Knabe bei den Eltern bleibt.«

Er machte Miene, zu gehen; der Direktor ließ ihn aber nicht fort.

»Wären denn nicht hundert Thaler genügend?« fragte er.

»Es sind gerade hundertzwanzig, welche die Eltern brauchen!«

»Hm! Der Junge ist bildhübsch! Ich kann mir Etwas mit ihm verdienen!«

»Das ist sicher! Bedenken Sie, daß er gezwungen ist, für Sie zu arbeiten, bis er mündig ist.«

»Das habe ich auch zu rechnen. Na, Herr Seidelmann, so mag es sein! Ich zahle die hundertzwanzig Thaler!«

»Wann?«

»Das kommt darauf an, wenn ich den Jungen erhalte.«

»Ich werde mein Möglichstes tun, und denke, daß ich ihn Ihnen noch heute schicken kann, und zwar mit den nöthigen Papieren.«

»So gebe ich jetzt sechzig und die anderen sechzig dem Boten, der ihn bringt.«

»Gut! Abgemacht! Diesen Knaben vom Hungern erlöst, ist ein Werk, dessen sich die Engel freuen werden!« -

Vorhin, als Herr Seidelmann so schnell von Bertrams fortgegangen war, hatten die beiden Geschwister einander eine Weile stumm angesehen. Dann hatte Marie ihm die Hand hingehalten und gesagt:

»Laß ihn, lieber Robert! Dieser Heuchler ist nicht werth, daß wir nur an ihn denken, viel weniger aber uns über ihn ärgern!«

»So denkst Du als Mädchen! Er hat uns fürchterlich beleidigt!«

»Vergiß das für heute! Komm, setze Dich, wir wollen weiter arbeiten!«

Er antwortete nicht. Es stürmte in ihm. Um sich zu beruhigen, schritt er einige Male im Zimmer auf und ab. Dann, als er, sich die Hände reibend, wieder zur Feder greifen wollte, zupfte ihn jemand am Rockschoße. Er drehte sich um. Es war ein kleines Schwesterchen.

»Lieber Robert, gib mir ein Stückchen Brot!« bat es schluchzend. »Ich kann es nicht mehr aushalten. Es tut so weh dahier!«

Dabei legte das Kind das Händchen auf den Leib.

Er stand wieder von seinem Stuhle auf. Er wollte sich beherrschen, brach aber doch in ein lautes Schluchzen aus. Als das die Kleinen hörten, stimmten sie weinend ein. Dazu fiel der Kranke in ein Husten, welches ihn zu zersprengen drohte.

»Marie, es geht nicht; es geht wirklich nicht!« sagte Robert. »Die Geschwister können nicht bis morgen warten!«

»Aber wie wollen wir helfen?« fragte sie unter Thränen.

»Ich weiß es, und ich thue es!«

Bei diesen Worten ging er zum Koffer, um ihn zu öffnen. Sie eilte ihm nach und ergriff ihn beim Arme.


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»Du meinst Deine Kette? Nein, die darfst Du nicht verkaufen. Sie ist das Einzige, was Du von Deinen Eltern hast. Nur durch die Kette kann es Dir einmal gelingen, sie zu finden.«

»Ich werde sie nicht verkaufen, sondern nur versetzen.«

»Und wenn Du sie dann nicht einlösen kannst?«

»Das will ich doch nicht hoffen!«

Da trat sie näher zu ihm heran, legte den Arm um ihn, blickte bittend zu ihm empor und fragte:

»Möchtest Du es denn nicht noch einmal wagen, lieber Robert - ja!«

»Was?« fragte er.

»Zum Buchhändler zu gehen?«

»Mein Gott! Es geht nicht! Ich mußte bereits das letzte Mal tief gedehmüthigt das Local verlassen.«

»Aber dennoch noch einmal! Bitte, bitte! Mir zu Liebe!«

Er blickte auf sie nieder, sah in ihre thränenumflorten, flehenden Augen und konnte nicht widerstehen.

»Nicht wahr, liebe Marie, auch Du hast recht großen Hunger?« fragte er.

»Du nicht?«

»Sehr, sehr!«

»Und ich auch,« gestand sie.

Dabei legte sie ihr Köpfchen an seine Brust und weinte bitterlich, so bitterlich, wie er es gar nicht für möglich gehalten hätte, daß ein Mensch weinen könne. Er zog sie an sich, küßte ihr die Thränen von den Augen und sagte:

»Sei ruhig, Marie! Du sollst essen, Du und Ihr alle. Ich gehe zum Buchhändler.«

»Und wenn er Dich wieder fortschickt?«

»Nun, ich nehme die Kette mit. Brod muß ich bringen. Erhalte ich dort nichts, so gehe ich doch noch zum Pfandleiher.«

»So thue es, o Gott, es ist das Einzige, was Du besitzest. Wenn die Kleinen es doch bis morgen aushalten könnten, wo wir dann Geld haben! Aber es geht nicht! Und der arme Vater hat auch nichts, weder Medizin noch Essen.«

»Du siehst also ein, daß ich unbedingt Rath schaffen muß!«

»Ja. Aber verleihe die Kette nur nicht zu theuer, sonst wird uns das Einlösen zu schwer.«

»Keine Sorge! Diese Juden geben selbst gern wenig!«

Er öffnete den Koffer. Dieser enthielt einige Wäschestücke. Dabei lag ein kleines Kästchen, in welchem sich der Gegenstand ihrer Sorge und zugleich ihrer Hoffnung befand. Es war ein dünnes, außerordentlich minutios gehaltenes Halskettchen von altmodischer Arbeit. In der Mitte hing ein Herz mit einer Freiherrnkrone und den drei Buchstaben R.v.H. Aber was verstand Robert von Heraldik und von dem Unterschied der Kronen!

Er steckte das Kästchen zu sich, setzte ein dünnes, abgeschabtes Studentenmützchen auf und ging.


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»Holst Du Brod? Bring recht viel!« riefen ihm die kleinen Geschwister nach.

Drunten packte ihn die Kälte mit grimmigen Armen. Er hüllte sich so viel wie möglich in sein kurzes Röckchen und schlug einen Trab an, um sich möglichst zu erwärmen. Durch Gäßchens, Gassen und Straßen kam er und endlich an einen offenen Platz, welcher voller Buden stand. Die Häuser, welche ihn umgaben, waren wahre Paläste. Laden glänzte da an Laden. Er schritt zaghaft auf einen derselben zu. Der Inhaber desselben war ein Kunst- und Verlagshändler.

Die hohen, breiten Fenster waren mit werthvollen Gemälden und Kupferstichen belegt, und dazwischen erblickte man die hervorragendsten Erzeugnisse der Literatur.

Trotz seines Hungers hätte Robert es doch vielleicht nicht gewagt, in den glänzenden Laden zu treten; aber da fiel sein Blick auf einen ausliegenden Saffianband, auf welchem ebenso zu lesen war »Heimaths-, Tropen- und Wüstenbilder. Gedichte von Hadschi Omanah«. Das gab ihm Muth. Er öffnete die Thür und trat ein.

Der Laden war voller Menschen. Der mehr als anspruchslos gekleidete Jüngling wurde zunächst gar nicht bemerkt; endlich aber fragte einer der Diener, was er wünsche, und er antwortete, daß er mit dem Prinzipale zu sprechen begehre. Dieser befand sich im Hintergrunde des Ladens und kam herbei.

Als er Robert erblickte, verfinsterte sich sein Gesicht.

»Was wünschen Sie, Herr Bertram?« fragte er von oben herab.

»Ich befinde mich in einer Lage, welche mir gebietet, meine Bitte nochmals zu wiederholen.«

»Welche Bitte war das?«

»Ich leide buchstäblich Hunger, mein Herr. Ich bin kein Bettler; aber ich möchte Sie doch fragen, ob mein Werk Ihnen nicht so viel trägt, daß Sie sich zu einem kleinen Nachtrage zum Honorar verstehen könnten.«

»Ganz und gar nicht! Ihr Werk bringt mir gar nichts ein. Bis jetzt habe ich nur zugesetzt. Wieviel zahlte ich Ihnen für das Manuscript?«

»Zwanzig Thaler.«

»Nun sehen Sie! Das ist mehr als reichlich für die Gedichtssammlung eines Anfängers. Das Honorar ist dennoch das Wenigste, was man zahlt. Papier, Druck, Satz und Anderes, das läuft sogleich in die Tausende. Haben Sie nicht einen zweiten Band?«

»Oh, wie gern würde ich ihn liefern! Aber ich muß nach Brod arbeiten, nach dem trockenen Brode! Hätte ich einen kleinen Zuschuß zum ersten oder Vorschuß zum zweiten Bande, so würde mir das Schreiben wenigstens nicht zu einer so absoluten Unmöglichkeit wie jetzt.«

»Junger Mann, das Genie verkommt im Glück. Nur im Ringen, im Kampfe mit dem Leben erstarkt es und kommt zu Kräften. Ich kenne das; ich habe mit so sehr viel Talenten und Genies zu thun. Wollte ich Ihnen Geld zahlen, so wäre das eine Beleidigung Ihres Genies.«


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»Aber eine Rettung für meinen Körper, ohne welchen das Genie ein Nichts ist.«

»Sie nehmen die Sache zu drastisch. Ringen Sie, ringen Sie; kämpfen Sie: dann werden Sie ein Held der Feder, eher aber nicht. Gott soll mich behüten, meine Mitarbeiter zu verwöhnen! Es würde bald kein Talent mehr geben. Uebrigens sehen Sie, daß ich außerordentlich beschäftigt bin. Kommen Sie wieder, wenn der zweite Band fertig ist, eher aber nicht. Ich werde das Manuscript dann innerhalb eines Vierteljahres durchlesen, und wenn es mir gefällt, so zahle ich Ihnen vielleicht fünfundzwanzig anstatt zwanzig Thaler. Für jetzt aber - - habe die Ehre, Herr Bertram!«

Er drehte sich um und verschwand. Robert stand mitten unter den zahlreichen Anwesenden wie von Gott verlassen. Es war ihm, als sei er nun einmal partout zum Hungertode verdammt.

Draußen hatte ein Schlitten gehalten. Ein Herr stieg aus und trat ein. Er hatte etwas so Hochvornehmes an sich, daß sich aller Augen auf ihn richteten, selbst der Chef eilte herbei, um nach seinen Wünschen zu fragen. Dabei fiel sein Blick auf Robert, welcher noch immer dastand und mit sich zu Rathe ging, ob er nicht vielleicht einen letzten Angriff versuchen solle. Dem Chef war die Anwesenheit des so ärmlich Gekleideten unangenehm.

»Wollen Sie sonst noch etwas?« rief er ihm mit scharfer, ärgerlicher Stimme zu.

»Etwas Anderes nicht,« antwortete Robert stockend, indem er einige Schritte näher trat. »Aber dennoch möchte ich mir die ganz gehorsamste Bitte um -«

»Schon gut, schon gut!« wurde er unterbrochen. »Ich habe Ihnen bereits angedeutet, daß ich für Sie kein Geld habe. Entfernen Sie sich gefälligst.«

Das war stark; das war mehr als stark; das war sogar niederträchtig. Aller Augen richteten sich auf Robert. Diesem war es, als müsse er vor Scham in die Erde sinken. Er griff unwillkürlich mit den Händen um sich, als wolle er nach einer Stütze suchen. Er wankte. Da trat der fremde Herr herbei, welcher zuletzt hereingekommen war, legte den Arm um seine Schulter und sagte:

»Sie fallen ja um, junger Mann! Was haben Sie?«

»Hunger!« antwortete Robert mit leiser Stimme und mehr instinctiv als mit Ueberlegung.

»Hunger? Mein Gott! Kommen Sie heraus!«

Er geleitete ihn bis vor die Thüre, wo er mit ihm stehen blieb.

»Ist es wahr, daß Sie hungern?«

»O sehr!«

»Hält man das für möglich! Was sind Sie?«

»Schriftsteller.«

»Was wollen Sie hier im Laden?«

»Einen kleinen Vorschuß, ich soll den zweiten Band schreiben.«

»Sie haben schon einen ersten Band geschrieben?«

»Ja.«

»Was?«


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»Gedichte.«

»Ah, das ist allerdings nicht einträglich. Wollen Sie mir Ihren Namen und ihre Wohnung mittheilen?«

»Robert Bertram, Wasserstraße elf, drei Treppen.«

»Drei? Ja, Dichter pflegen hoch zu wohnen, zumal wenn sie noch so jung sind wie Sie. Bitte, nehmen Sie.«

Er drückte dem jungen Manne aus seiner Börse etwas in die Hand und trat dann in den Laden zurück, so daß Robert gar keine Zeit zum Danke fand. Er warf einen Blick auf das Empfangene. Es waren zwei Louisd'or.

Da war mit einem Schlage alle Schwachheit verschwunden. Er fühlte sich so wohl und kräftig, daß er es mit einem Riesen hätte aufnehmen mögen. Er dachte gar nicht daran, die Rückkehr des edlen Gebers abzuwarten, sondern er eilte, sofort die Einkäufe zu machen, welche nöthig waren, um zunächst die dringendsten Bedürfnisse der Seinigen zu befriedigen.

Als er nach Hause kam, fielen die Kleinen über ihn her, der Vater und Marie weinten vor Freude. Als der Hunger gestillt war, mußte er erzählen. Dann fragte Marie:

»Also die Kette ist gerettet?«

»Ja, Gott sei Dank!«

»Und wer war der fremde Herr?«

»Es war - - ah, das weiß ich nicht! Ich habe ihn nicht gefragt, ja ich glaube, daß ich mich sogar nicht einmal bei ihm bedankt habe. Ich war ganz von Sinnen vor Hunger und Beschämung.« - -

Jener Herr ließ die Bücher, welche er eingekauft hatte, in seinen Schlitten legen und stieg selbst auch ein.

»Oberst von Hellenbach,« befahl er dann.

Der Schlitten sauste davon und hielt vor einem Hause, dessen erste Etage festlich erleuchtet war. Die Straße, zu welcher es gehörte, lag vor der Wasserstraße, mit welcher sie parallel ging, so daß die Gärten Beider an einander stießen.

»Mich nicht abholen!«

Mit diesem Befehle stieg der Fremde aus und trat ein. Droben kamen ihm mehrere Diener entgegen, welche ihm Hut und Pelz abnahmen. Als sie den Pelz erblickten, machten sie Gesichter, in denen sich das Erstaunen mit der tiefsten Ehrerbietung paarte. Es war ein Zobelpelz, wie ihn kaum der russische Czar kostbarer tragen kann.

»Wen befehlen der Herr, zu melden?« fragte der eine der Domestiken.

»Fürst von Befour.«

Im nächsten Augenblick erschallte der Name in den Saal, und die Augen aller dort Anwesenden flogen nach der Thür.

Er kam doch.

Also, er kam doch, der räthselhafte Mann! Da brauchte man nicht bang zu sein, daß das Räthsel gelöst sein werde.

Der Herr des Hauses eilte ihm entgegen, um ihn zu seiner Dame zu bringen. Natürlich fand sich auch sofort die Tochter der Beiden ein. Es war das Diejenige, von welcher Helfenstein mit seiner Frau gesprochen hatte.

Fanny von Hellenbach zählte achtzehn Jahre und war eine hohe, königliche


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Erscheinung. Sie trug ein weißseidenes Gesellschaftskleid mit langer, schwerer Schleppe. Als sie daherkam und sich vor dem Fürsten verneigte, war es, als ob sie es sei, die ihm eine Ehre erweise. Trotzdem sie nichts weniger als hager gebaut war, umfloß sie eine Eleganz, eine Zierlichkeit, wie man sie nur bei wirklich vornehmen Damen findet.

Ihr dunkles Haar war nicht sehr lang, aber um so voller, ihre Stirn vielleicht etwas zu hoch und zu breit, aber desto gedankenreicher. Sie war mehr als brünett, und so stachen zwei große hellgraue, wunderbar verständige Augen umsomehr von dem Anderen ab.

Nachdem nun der Fürst die Glieder der Familie kannte, verbat er sich jede weitere Vorstellung. Man mußte ihm willfahren, obgleich Alle vor Begierde brannten, ein Wort aus seinem Munde zu hören. Er aber zog sich in die Nische eines Fensters zurück und schien dort tief in Gedanken versunken zu sein, während er doch Alles scharf und genau beobachtete. Er sah, wie gefeiert die Tochter des Hauses war; er bemerkte, daß man sie nach dem Instrumente nöthigte; sie sträubte sich und mußte endlich nachgeben. Nach einem kurzen Präludium ertönte aus ihrem schönen Munde folgendes Lied:

»Es glänzt der helle Thränenthau
   In Deinem Aug', dem todesmatten;
Du sehnst Dich nach des Himmels Blau
   Hinaus aus düstrem Waldesschatten.
Es rauscht der Bach am Felsenspalt
   Sein melancholisch Lied:
Hier ist's so eng, hier ist's so kalt,
   Wo nie der Nebel flieht!
Du meine süße Himmelslust
   O traure nicht, und laß das Weinen!
Dir soll ja stets an treuer Brust
   Die Sonne meiner Liebe scheinen.
Drum schließe Deine Augen zu,
   Worin die Thränen glühn;
Ja, meine wilde Rose, Du
   Sollst nicht im Wald verblühn!«

War der Text, den er bei ihrer ausgezeichneten Aussprache Wort für Wort genau verstehen konnte, schon an sich in Beziehung sowohl auf Gedankeninhalt als auch auf den Ausdruck ein dichterisches Meisterwerk, so fühlte sich der Fürst am Schlusse des Vortrages von der innigen, seelenvollen und doch resoluten Composition tief ergriffen. Fanny von Hellenbach hatte eine tiefe, kräftige Altstimme, welcher aber doch die Wiedergabe contemplativer Gefühle geläufig war. Ihre Stimme war der Vox humana der Orgel ähnlich, wenn sie vollständig rein und ohne jenes Streichen getroffen ist, welches die Viola di Gamba in höherem Maße zu besitzen pflegt.

Sie wies den stürmischen Applaus durch eine Verbeugung von sich ab und zog sich dann nach einem Weilchen in ein Nebenzimmer zurück.

Diese Fanny war ein Mädchen von seltenen und ebenso glänzenden Eigen-


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schaften. Der Fürst fühlte das Verlangen, sie kennen zu lernen, erhob sich von seinem einsamen Platze und folgte ihr, was bei der Versammlung nicht wenig Erregung hervorrief.

Sie stand an einem Fenster und blickte durch die von der Wärme des Zimmers abgethauten Scheiben in die schneehelle Nacht hinaus. Dieses Fenster ging nach hinten in den Hof. Hinter dem Letzteren schien ein Garten zu liegen, und dann stiegen hohe Häuser, welche zur Wasserstraße gehörten, dunkel empor, die weitere Aussicht verschließend.

Als sie Schritte hinter sich vernahm und, sich herumdrehend, den Fürsten erblickte, erröthete sie, ein Wenig vor Freude und auch ein Wenig vor Bangigkeit. Daß er, der sich von den Anderen zurückgezogen hatte, in so auffälliger Weise sie aufsuchte, war ohne Zweifel eine Auszeichnung für sie. Aber würde sie mit ihren gesellschaftlichen Kenntnissen und Erfahrungen auch vor ihm bestehen können?

So fragte sie sich.

Der Fürst war ein wunderbar schöner Mann. Er konnte nicht viel über vierzig Jahre zählen. Man wußte, daß er aus Ostindien kam, doch war sein Teint keineswegs gebräunt, sondern im Gegentheil von einer Weiße und Reinheit, als ob er stets im Norden Europa's gelebt habe. Sein Haar war tiefdunkel und voll, sein Bart ebenso. Sein Gesicht zeigte zwei Narben. Die eine ging quer über die Stirn und Nasenwurzel hinweg, und die andere kam vom rechten Ohre herab, ging über die Wange und verlief sich in dem stattlichen Schnurrbarte, den er sicherlich mit keinem anderen vertauscht hätte. Eigenthümlicher Weise wurde das Gesicht durch diese beiden Narben keineswegs verunziert; sie gaben demselben im Gegentheile einen männlich unternehmenden Character und jenes eigenthümliche, undefinirbare Etwas, welches den Frauenherzen so gefährlich ist. Er trug eine einfache, aber feine Gesellschaftstoilette, ganz ohne alles Ueberladene; aber der einzige Ring, den man an seinen Händen bemerkte, zeigte einen Solitair, welcher sicherlich den Werth von einer halben Million hatte.

Wie würde er beginnen, und wie würde sie zu antworten haben? fragte sie sich. Aber ohne alle gesellschaftlichen Floskeln sagte er einfach:

»Ich bin Freund der Dicht- und Tonkunst, mein Fräulein. Noch nie hörte ich das von Ihnen vorgetragene Lied. Darf ich mich erkundigen, von wem es ist?«

Da befand sie sich ja mit einem Male in ihrem liebsten und bekanntesten Fahrwasser.

»Das Lied, das heißt der Text ist von Hadschi Omanah, Durchlaucht,« antwortete sie.

»Hadschi Omanah? Das ist ein mohammedanischer Geschichtsschreiber, welcher im sechzehnten Jahrhunderte lebte. Einen Zweiten dieses Namens kenne ich nicht, und doch kann es unmöglich dieser sein.«

»Vielleicht ein Pseudonym?«

»Das ist möglich, sogar wahrscheinlich. Und der Componist, meine Gnädige?«


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Sie erröthete ein Wenig, indem sie antwortete:

»Der Componist spricht mit Ihnen, Durchlaucht.«

»Wie? Ist's möglich! Sie haben dieses Lied in Musik gesetzt?«

»Ich habe es gewagt!«

»Ja, es ist allerdings ein Wagniß! Ein Lied, oder zum Beispiel ein Salonstück für das Clavier zu componiren, das ist ein sehr, sehr großer Unterschied. Sie haben Ihre Aufgabe vortrefflich gelöst, mein Fräulein. Und das konnten Sie blos, weil Sie ein vortreffliches Herz besitzen. Ein herz- und seelenloser Mensch wird nie ein Lied componiren können.«

Das war gar nicht die auffällige, aufdringliche Weise, in welcher Andere ihr Beifall zu spenden pflegten. Er sprach so einfach, und doch hörte man es, daß er ganz anders hätte sprechen können. Er sprach wie ein Bruder zur Schwester, ohne allen rednerischen Schmuck, ohne alle Verzierung. Seine Stimme hatte einen eindringlich herzlichen Klang. Seine Sprache hatte zwar etwas Fremdartiges, aber er war des Deutschen ganz und gar mächtig. Sie fühlte sich ganz herzlich zu diesem Manne hingezogen.

»Wie schade, daß ich nun die Componistin und Sängerin, nicht aber den Dichter kenne,« fügte er hinzu.

»Ist Ihnen sein Buch nie in die Hand gekommen, Durchlaucht?«

»Niemals.«

»Hier liegt es sogar.«

Sie trat an ein Tischchen, auf welchem mehrere Albums lagen, und nahm von dort den bekannten Saffianband mit der Aufschrift 'Heimaths-, Tropen- und Wüstenbilder'. Sie reichte ihm das Buch dar. Während der darinnen leicht blätterte, bemerkte sie:

»Eigenthümlich, daß Ihr Name darin vorkommt!«

»Mein Name? Ah, das wäre allerdings eigenthümlich!«

»Ja. Als wir zum ersten Male hörten, daß ein Fürst von Befour hier angekommen sei, schlugen wir alle Hof- und Adelskalender nach - vergebens. Sie wissen, Durchlaucht, Damen sind stets wißbegierig. Um so mehr verstimmt wurden wir, als auch in keinem Lexikon dieses Wort zu finden ist.«

»Waren auch Sie verstimmt?«

»Ein Wenig, ja,« antwortete sie unter einem reizenden Lächeln. »Da las ich das unvergleichlich schöne, ja, das großartige Bild der tropischen Nacht und - da fand ich das Wort Befour.«

»Wirklich? Das ist für mich von hohem Interesse. Sollte der Dichter wirklich ein Orientale sein!«

»Nein. Ein Orientale dichtet nicht deutsch.«

»Richtig! Und hätten wir eine Uebertragung vor uns, so würde der Name des Uebersetzers genannt worden sein. Wo steht das betreffende Gedicht?«

»Darf ich es Ihnen aufschlagen und vorlesen, Durchlaucht? Es ist mir nämlich das beste und liebste der ganzen Sammlung.«

»Bitte, thun Sie es!«

Sie suchte die Seite, trat einige Schritte zurück und declamirte lesend, das Buch in der Linken:


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»Wenn um die Berge von Befour
   Des Abends erste Schatten wallen,
Dann tritt die Mutter der Natur
   Hervor aus unterird'schen Hallen
Und ihres Diadems Azur
   Erglänzt von funkelnden Krystallen. -
In ihren dunklen Locken blüh'n
   Der Erde düftereiche Lieder,
Aus ungemessnen Fernen glüh'n
   Des Kreuzes Funken auf sie nieder,
Und traumbewegte Wogen sprüh'n
   Der Sterne goldne Opfer nieder. -
Und bricht der junge Tag heran,
   Die Tausendäugige zu finden,
Läßt sie das leuchtende Gespann
   Sich durch purpurne Thore winden,
Sein Angesicht zu schau'n und dann
   Im fernen Westen zu verschwinden.« -

Ihre Declamation hatte einen wunderbaren Eindruck auf den Fürsten gemacht. Sie hatte vor ihm gestanden in der Haltung einer Göttin, den einen Fuß auf dem Teppich und den anderen auf dem niedrigen Sitze eines Ruhestuhles, neben welchem sie stand. Mit beiden Händen den Text in künstlerisch abgerundeten Gesten begleitend, hatte sie ihre schönen, vollen bis zur Schulter entblößten Arme erhoben. Ihre ganze Gestalt, ihre enge Taille, ihr vollendeter Busen, ihr schlanker Hals, das feine und doch so volle Profil hob sich in dieser Körperstellung in unvergleichlicher Plastik hervor. Dazu das dichte, hochaufgethürmte, dunkle, kurzgelockte Haar, der feurige Blick ihrer Augen und der tiefe, kräftige, metallische Klang ihrer Stimme. Sie war schön, wunderbar schön in diesem Augenblicke.

Sie war schön.

»Fräulein,« sagte er, als sie geendet hatte, »wie ist dieses Gedicht überschrieben?«

»Die Nacht der Tropen.«

»Wohnte der Dichter hier, hätte er Sie gesehen, so wollte ich darauf schwören, daß er Sie zum Modelle genommen hat. Sie waren in diesem Augenblicke die Personification der südlichen Nacht. Sie und das Gedicht waren Eins.«

»Ich danke!« lächelte sie. »Was sagen Sie zu diesem Dichter?«

»Diese 'Nacht der Tropen' ist nicht zu erreichen. Solche Farben hat kein Maler, und solche Worte hätte keiner unserer Klassiker gefunden. Dieser Hadschi Omanah ist ein Genie. Ich muß erfahren, wer er ist, und wo er lebt.«

Ihr Auge nahm einen eigenthümlichen Glanz an. Es lag darin fast wie ein Licht, welches aus der Tiefe der Seele leuchtet.

»Durchlaucht, ich liebe ihn!« sagte sie.

»Seine Gedichte, aber nicht ihn.«

»Auch ihn. Der Dichter ist so wie seine Werke. Und wäre dieser


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Hadschi Omanah arm wie ein Bettler und häßlich wie ein Äsop oder Saphir, so würde ich ihn lieben!«

Sie wurde unterbrochen. Unter der Thür erschien die Baronin Ella von Helfenstein. Sie that, als ob sie erschrecke, hier zu stören, kehrte aber doch nicht um. Der Fürst zeigte nicht die mindeste Spur von Unwillen. Er verbeugte sich höflich gegen sie und trat näher, um sich vorstellen zu lassen; dann aber wendete er sich um und kehrte in den Saal zurück.

»Ein ausgezeichneter Cavalier,« meinte die Baronin, indem sie ihm mit einem träumerischen Blick folgte.

»Aber viel, sehr viel anders, als man denkt,« antwortete Fanny.

»Darf ich fragen, in wiefern, meine Liebe?«

»Er ist ein Cavalier und doch zugleich ein Mann. Kommen Sie!«

Der Fürst hatte die Dame des Hauses aufsuchen wollen. Neben derselben saß - die Baronesse Alma von Helfenstein.

War das noch die Alma von früher, welche Gustav Brandt vor zwanzig Jahren seinen Sonnenstrahl genannt hatte? Ja. Ein Sonnenstrahl ist derselbe, ob vor tausend Jahren oder jetzt. So war es auch mit Alma. Da saß sie, tiefschwarz gekleidet, als ob sie in Trauer sei. Völliger Ernst lag auf ihrem Gesicht. Und doch war es, als ob Strahlen, lichte, warme Strahlen von ihr ausgingen und den Saal erwärmten.

Die beiden Damen saßen am Camin, als der Fürst sich ihnen näherte. Sie erhoben sich, und die Oberstin stellte ihn der Baronesse vor. Sein Auge ruhte mild und doch scharf forschend auf ihr. Sie sah ihn voll und ernst an, wie man es bei einem Manne thut, den man zum ersten Male sieht und der Einem völlig gleichgiltig ist.

Mehrere traten herzu, und es entspann sich ein animirtes Gespräch, welches sich erneuerte, als man bei Tafel saß. Er hatte - Allen unbegreiflich - sich die Baronin Ella als Dame auserwählt, obgleich eigentlich die Oberstin ihn hatte zur Tafel führen wollen.

Man brachte, ohne zudringlich sein zu wollen, die Rede auf den Orient, auf Indien insbesondere. Er gab ausgezeichnete Schilderungen. Alles lauschte. Da fragte seine Nachbarin auch nach den indischen Gauklern.

»Ist die Geschicklichkeit dieser Leute wirklich so ungeheuer, wie man sie beschreibt?«

»Gewiß!« antwortete er. »Aber die eigentlichen Zauberer leisten doch noch mehr als die Gaukler. Man weiß ja, daß die sogenannte Magie ihre Heimath in Indien hat. Teufel, Engel oder überhaupt Geister gibt es nicht, welche dabei helfen, und doch ist die Kunstfertigkeit jener Leute das Resultat einer geheimen Wissenschaft, welche nur Bevorzugten gelehrt wird.«

»Gehören Sie vielleicht auch zu diesen Bevorzugten?« fragte die einstige Kammerzofe.

»Ja,« antwortete er einfach.

»Wie herrlich! Würden Sie uns eine kleine Probe geben?«

Dies erschien Allen zudringlich. Er aber antwortete:

»Gern. Aber ich muß bemerken, daß ich nicht die Macht habe, Uner-


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klärliches zu erklären. Nur die Erfolge der Wissenschaft darf man zeigen, niemals aber über diese Wissenschaft selbst sprechen. Haben die Herrschaften zum Beispiele jemals einen echten Diamanten gesehen?«

Alles schwieg. Darum fuhr er fort:

»Meine Frage scheint eine Beleidigung zu sein, ist es aber nicht, wie ich gleich beweisen werde. Merken sie auf! Eins, Zwei, Drei!«

Bei dem Worte Drei verlöschten sämtliche Lichter, welche den Saal erleuchteten. Wie war das möglich? Vielen begann zu grauen. Da erhob er sich von seinem Sitze und sagte:

»Jetzt mag mein Ring hier leuchten. Eins, Zwei, Drei!«

Bei dem letzten Worte entstrahlte seinem Ringe welchen er mit Daumen und Zeigefinger der Rechten emporhielt, eine solche Helligkeit, daß man hätte lesen können. Er schritt auf die Dame des Hauses zu, steckte ihr den leuchtenden Ring an den Finger und sagte:

»Gestatten Sie, daß ich Ihnen diesen Diamanten, welcher in seiner Art einzig ist, zum Geschenk bestimme!«

Sie wollte natürlich Einsprache erheben; er wehrte aber kräftig ab und kehrte an seinen Platz zurück. Der Ring leuchtete fort, steckte aber plötzlich an dem Finger einer anderen Dame und machte in ganz kurzer Zeit die Runde in der Weise um den Tisch, daß er an der Hand einer jeden Person einmal geleuchtet hatte. Plötzlich brannten alle Gasflammen wieder, und der Ring steckte an seinem Finger.

Vielen graute es vor ihm. Er stieß ein halblautes, eigenthümliches Lachen aus und sagte:

»Die Wissenschaft stößt ab. Ich sehe, daß meine Nähe einigen Damen drückend ist. Ich werde ihnen Erlösung bringen, indem ich mich entferne. Gute Nacht!«

Die Flammen zuckten einige Male auf- und nieder - der Fürst war verschwunden; sein Stuhl war leer, aber ihn selbst hatte Niemand gehen sehen; er war unsichtbar geworden. Jetzt wußte Niemand, was man sagen sollte. Ihm aber war seine Absicht geglückt. Einige Augenblicke später schritt er durch das Portal auf die Straße hinaus.

Er eilte mit raschen Schritten die Straße hinab und dann um die Ecke. Dort gab es einen kleinen, offenen Platz, auf welchen die Wasserstraße und auch diejenige mündete, welche er jetzt herabgekommen war. Auf dem Platze standen mehrere Reihen von Buden und Verkaufsständen, vom heutigen Christmarkte her. Dieser Letztere war zu Ende. Die Händler hatten ihre Plätze verlassen, und es war einsam rund umher.

Es schien, als ob kein Mensch zugegen sei; aber als der Fürst um die Ecke bog und dann, lauschend und sich scharf umsehend stehen blieb, ertönte ein halblautes Räuspern, und eine männliche Gestalt löste sich langsam und vorsichtig aus dem Schatten, welcher zwischen den Buden herrschte.

Dieser Mann trug einen Pack auf dem Arme und schien Jemand erwartet zu haben. Der Fürst trat mit einigen raschen Schritten auf ihn zu,


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blieb aber auf der Hälfte des Weges stehen und fragte, auch nur in halblautem Tone:

»Wer ist es, der hier steht!«

»Der Diener des Elendes,« antwortete es.

»Ah, gut!«

Mit diesen Worten trat der Fürst vollends heran und zog den Anderen in den Schutz der Buden zurück.

»Man muß vorsichtig sein; man darf das niemals vergessen,« fuhr er fort. »Hast Du alles?«

»Ja.«

»Ist Etwas vorgefallen?«

»Nein.«

»So gieb' her!«

Er zog den Pelz aus und nahm das Packet des Dieners, um mit Hilfe des Letzteren Rock, Ueberkleid und Kopfbedeckung zu wechseln. Die anderen Veränderungen, welche er dann noch mit sich vornahm, konnte man bei der Tiefe des Schattens, in welchem er stand, nicht beobachten; zuletzt aber steckte er noch zwei geladene Revolver in die Tasche.

»So bin ich fertig,« sagte er dann. »Du kennst die Wohnung der Baronesse Alma von Helfenstein?«

»Sehr genau.«

»Sieh' an Deine Uhr! In Punkt einer Stunde bin ich vor der Thür, um die Kleidung abermals zu wechseln. Keine Minute früher oder später. Bist Du hier gesehen worden?«

»Ja, aber nur von einem Frauenzimmer.«

»Auch das ist unangenehm. Wer war sie?«

»Ich kannte sie nicht. Sie suchte nach Abfällen an den Verkaufsständen. Es muß ein armes Weib gewesen sein. Da ich mich nicht näher betrachten lassen wollte, konnte auch ich sie mir nicht genau ansehen.«

»Ist sie fort?«

»Sie muß noch in der Nähe sein. Kurz bevor Sie kamen, trat sie in die zweite Budenreihe.«

»So werde ich sie mir betrachten. In unserer Lage ist es nothwendig, zu wissen, wer es ist, von dem man bemerkt wird. Adieu!«

Die Beiden gingen auseinander. Als der Fürst aus der dunklen Stelle hervortrat, hätte ihn wohl Niemand wieder erkannt. Er trug einen winterlichen Stutzeranzug, und sein Gesicht war ein so ganz anderes geworden, daß diese Veränderung geradezu unbegreiflich erschien. Er schritt langsam an der ersten Budenreihe dahin und blieb am Ende derselben stehen, um zu recognosciren.

Gerade jetzt trat drüben aus der zweiten Reihe eine Frauengestalt hervor. Sie war in ein Tuch gehüllt und trug einen Korb in der Hand. Man sah, daß sie fror; ihre Kleidung war sommerlich dünn und für die heutige Kälte ungenügend. Da, wo sie jetzt stand, hatten Obstfrauen feil gehalten. Das Frauenzimmer bückte sich, um die weggeworfenen, weil angefaulten Äpfel aufzuheben und in den Korb zu thun. Dabei kam sie dem Fürsten näher.


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Dieser hörte jetzt den Schnee unter Schritten knirschen, welche von der anderen Seite herbeikamen. Er hatte noch Zeit, zu bemerken, daß er nicht eine Frau, sondern jedenfalls ein Mädchen vor sich habe, deren Gesicht beim Schimmer des leuchtenden Schnees einen eigenthümlichen Reiz zu besitzen schien. Dann zog er sich zurück, um von ihr und dem Nahenden nicht gesehen zu werden.

Vor Erzählung der nun folgenden Scene muß bemerkt werden, daß Baron Franz von Helfenstein, als er nach der Unterredung mit seiner Frau sein Palais durch eine hintere Thür verließ, sich ebenso möglichst unkenntlich gemacht hatte. Wer ihn jetzt erblickte, mußte ihn für einen Angehörigen des Mittelstandes, für einen Handwerker halten.

Er schritt über den Ringplatz hinweg und hielt gerade auf den oberen Eingang der Wasserstraße zu. Die dritte oder vierte Nummer derselben war ein kleines, einstöckiges und schmutziges Häuschen, neben dessen Thür auf einem alten Holzschilde zwar nicht jetzt aber doch am Tage zu lesen war, daß hier der Jude Salomon Levi mit Altzeug handle und auch dabei ein Leihgeschäft treibe.

Die Thür war verschlossen. Der Baron klopfte. Erst nach einer längeren Zeit wurde sie um eine Lücke geöffnet, blieb jedoch von innen noch mit Hilfe einer Sicherheitskette gesperrt. Eine lange, scharfe Nase erschien in der Spalte, und eine schnarrende, weibliche Stimme fragte.

»Was wollen Sie?«

»Kaufen,« antwortete er kurz.

Das wirkte. Die Stimme wurde freundlicher und fragte:

»Was ist's, was der Herr kaufen will?«

»Altes Metall, Zinn, Kupfer, Silber und Gold.«

»Sind Sie von hier?«

»Nein. Ich bin der Reisende eines Juweliers.«

Die Alte mochte gedacht haben, es mit einem verkleideten Polizisten zu thun zu haben. Seine letzten Worte zerstreuten ihren Verdacht und so antwortete sie:

»Kommen Sie herein. Warten Sie ein Wenig. Es ist Jemand bei meinem Manne.«

Sie ließ ihn eintreten, verschloß die Thür wieder und führte ihn dann in eine Stube, in welcher allerlei Gerümpel, werthloses Zeug, zu sehen war. Er durfte sich auf einen Schemel setzen. Sie aber öffnete eine in einen Nebenraum gehende Thür und rief hinein:

»Salomonleben, es ist da gekommen ein feiner Herr, welcher will machen einen guten Handel mit Dir. Laß gehen das Weib, welches doch nicht kann Nutzen bringen einen einzigen Pfennig für Dich und unser Geschäft.«

Nach diesen Worten entfernte sie sich, um ihren Wächterposten im Hausflur wieder anzutreten.

Eine alte, trüb brennende Oellampe erhellte den Raum, in welchem der Baron saß. Sein Gesicht war kaum zu erkennen, dennoch aber schob er sich den Schemel so, daß er noch mehr in den Schatten zu sitzen kam. Dabei flüsterte er leise vor sich hin:


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»Ich wette, daß es die Schließersfrau ist! Vor einer Stunde ist der Bote bei ihr gewesen; vor einer Viertelstunde ist ihr Mann zum Abendessen gekommen, und sie hat sogleich fortgemußt, um alles noch Vorhandene zu versetzen.«

Er hatte eine kleine Weile zu warten, dann wurde die Thür geöffnet. Eine junge, aber leidend aussehende Frau trat aus der Nebenstube. Der Baron hörte, daß sie leise schluchzte. Salomon Levi's lange hagere Gestalt erschien im Rahmen der Thüre. Er rief der Scheidenden nach:

»Also sagen Sie, daß ich kann Pfand geben nur auf Sachen, welche ich bekomme in meine Hände. Wenn er will behalten den Tisch und die Betten, weil er sie braucht, so kann er bekommen nichts.«

Der Baron nickte leise vor sich hin. Seine Vermuthung hatte sich bestätigt. An ihn wandte sich jetzt, als die Frau die Stube verlassen hatte, der Jude:

»Ich bitte, einzutreten, mein Herr! Ich stehe gern zur Verfügung, wenn man kommt, bei mir zu kaufen für baare Zahlung, aber nicht auf Credit, welcher ist schädlich für den Handel und Wandel der Leute von Geschäft.«

Er machte eine Bewegung mit der Hand, welche den Baron einlud, in das Nebenzimmer zu treten. Dieser jedoch blieb sitzen, weil da drin ein viel helleres Licht brannte.

»Schon gut,« antwortete er. »Was wir zu besprechen haben, können wir auch hier miteinander reden. Machen Sie die Thüre zu, Herr Levi!«

Diese Worte waren in einem Tone gesprochen, gegen welche der Jude keine Widerrede fand. Er warf die Thüre zu, setzte sich auf einen alten Kasten und fragte:

»Welches ist das gute Geschäft, das der Herr will machen mit mir?«

»Ich habe zu Ihrer Frau gesagt, daß ich Kupfer, Silber und Gold kaufen will; aber Ihnen will ich gestehen, daß ich in einer ganz anderen Absicht komme. Ich habe eine Erkundigung einzuziehen, und ich hoffe, daß Sie mir eine wahrheitsgetreue Auskunft ertheilen.«

Der Jude machte eine unruhige Bewegung und fragte:

»Ist es eine private Erkundigung?«

»Nein.«

»Gott Abrahams! So ist der Herr wohl gar ein heimlicher Polizist, welcher genannt wird Detective vom geheimen Corps?«

»Vielleicht haben Sie mit Ihrer Vermuthung Recht, vielleicht auch nicht. Sie werden allerdings erfahren, wer ich bin, aber erst nachdem Sie mir auf meine Fragen geantwortet haben.«

»Wie soll ich das können! Wie soll ich beantworten die Fragen eines Herrn, den ich nicht kenne!«

»Sie werden antworten, denn ich sage Ihnen, daß von Ihrem jetzigen Verhalten Ihr Wohl, Ihr Glück, ja vielleicht sogar Ihr Leben abhängig ist.«

Da fuhr der Alte von seiner Kiste in die Hohe. Die Hände zusammenschlagend, rief er:

»Herr Zebaoth! Mein Wohl, mein Glück, mein Leben! Ist es doch grad, als ob Sie wären der geheimnißvolle Hauptmann, welcher allerdings den Tod gibt Denen, von denen er haben will, daß sie sterben!«


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»Der geheimnißvolle Hauptmann? Wer ist das?«

Der Jude warf ihm einen mißtrauisch forschenden Blick zu und sagte dann mit gedämpfter Stimme.

»Wenn Sie sind ein Mann von der Polizei, werden Sie doch viel besser wissen als ich, wen ich meine!«

»Ich sage Ihnen, daß es sich nicht darum handelt, wer ich bin, sondern darum, was Sie von dem Hauptmanne wissen!«

»Was ich von ihm weiß? Nichts, gar nichts weiß ich, lieber Herr!«

Man hörte es dem Tone seiner Stimme an, daß er sich einer Besorgniß vor dem Unbekannten nicht erwehren könne. Dieser aber meinte in fast drohendem Tone:

»Salomon Levi, ich befehle Ihnen, mir zu sagen, was Sie von dem Hauptmanne wissen! Sprechen Sie grad so, als ob sie einen Fremden vor sich hätten, der von ihm noch gar nichts gehört hat.«

Dieser Ton machte Eindruck. Der Jude antwortete, indem er die möglichst vorsichtigen Ausdrückte wählte:

»Nun, der Herr wissen wohl, daß jetzt hier zu Lande alle Arten von Verbrechen in dreifacher Anzahl vorkommen als vorher.«

»Nichts weiß ich, gar nichts.«

»Auch nicht, daß es Banden gibt, oder vielmehr eine einzige große Bande, welche über alle Provinzen verbreitet ist?«

»Auch das weiß ich nicht.«

»Und doch wissen es alle Kinder.«

»Ich bin kein Kind! Sprechen Sie weiter!«

»Die Mitglieder dieser Bande scheinen allwissend zu sein. Wo eine Summe liegt, das erfahren sie. Mit welchem Postzuge Geld fortgeht, das wissen sie. Wenn Jemand ein Erbe ausgezahlt erhält, sie holen es. Man sagt, daß sie geradezu streng militärisch organisirt und disciplinirt seien.«

»Von wem?«

»Nun eben von dem Hauptmanne!«

»Wer ist das?«

»Weiß ich es! Weiß es ein Anderer? Weiß es die Polizei? Niemand weiß es und Niemand kann es erfahren. Er ist überall, und er ist nirgends. Sucht man ihn hier, so ist er dort, und sucht man ihn dort, so tritt er hier auf. Bald ist er ein Bettler, dann wieder ein Fürst; er läßt sich sehen als Offizier, als Schuster, als Kaufmann und Metzger. Er tritt auf als Christ und als Jude. Er hat hundert Gesichter und tausend Gestalten. Man hat einen Preis auf ihn gesetzt, aber man kann ihn nicht fangen.«

»Fängt man auch Niemand von seiner Bande?«

»Man fängt welche, man denkt wenigstens, daß sie zu dieser Bande gehören; aber er weiß es stets so einzurichten, daß sie entweder fliehen können oder für unschuldig befunden werden.«

»Ein Beispiel davon möchte ich wissen.«

»Es gibt ihrer viele. Haben Sie nichts gehört von dem Riesen Bormann?«

»Den Namen habe ich gehört. Was ist's mit ihm?«


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»Er war Mitglied bei einem Circus von der Kunstreiterei. Er mußte wegen Körperverletzung abgehen und wurde eingesteckt. Seit jener Zeit ist er der berühmteste Einbrecher.«

»So mag man ihn doch wieder einstecken.«

»Das hat man auch gethan, aber man mußte ihn stets wieder frei lassen. Es fanden sich Zeugen, welche seine Unschuld bewiesen.«

»Nun, so ist er eben kein Einbrecher gewesen!«

»O doch! Man weiß es ganz genau. Der Hauptmann hat ihm allemal durchgeholfen. Man weiß, daß er ein Mitglied der Bande ist.«

»So hole der Teufel Eure Polizei und Eure Gerichte!«

»Was können die dafür? Sie haben unter sich selbst Mitglieder der Bande. Aber jetzt endlich haben sie ihn doch fest, so daß er nicht entkommen kann.«

»Den Riesen Bormann?«

»Ja.«

»Was hat er gethan?«

»Er ist bei einem Uhrmacher eingebrochen und hat dann den Raub verkaufen wollen. Der Händler aber, zu dem er gegangen ist, der hat ihn angezeigt. Nun kann er nicht entkommen. Er wird die Frohnveste nur verlassen, um in das Zuchthaus zu gehen.«

»Wer war dieser Händler?«

Der Jude zögerte mit der Antwort. Der Baron wiederholte seine Frage in einem Tone, welcher einen ganz eigenthümlichen Nachdruck besaß:

»Nun, wer war dieser ehrliche Handelsmann7«

»Ich,« antwortete Salomon Levi, beinahe verlegen.

Der Baron strich sich mit der Rechten nachdenklich den Bart und fragte dann, indem sein Auge trotz der Finsterniß, in welcher er sich befand, sichtbar aufleuchtete:

»Sind Sie stets so ehrlich?«

»Gott der Erzväter! Warum soll ich sein nur einen einzigen Augenblick meines Lebens unehrlich? Jehova ist mein Zeuge, daß es gibt keinen Flecken oder Makel auf dem Namen Salomon Levi.«

»Ist Bormann kein Fleck?«

Bei der Nennung dieses Namens fuhr der Jude zurück. Auf seinem Gesichte machte sich der Ausdruck der höchsten Bestürzung geltend. Der Baron fuhr in scheinbar gleichgiltigem Tone fort:

»Soll ich noch hundert andere Namen nennen? Soll ich hinaufgehen in Ihre hintere Stube und die Wanduhr wegnehmen? Dort liegt Alles, was nothwendig ist zur Anfertigung falscher Pässe und anderer Legitimationen, welche Sie an Personen verkaufen, welche Grund haben, heimlich ihr Vaterland zu verlassen?«

Der Eindruck dieser Worte auf Levi war unbeschreiblich. Er wurde bleich wie eine Leiche, sank vor Angst in die Kniee, streckte die Hände bittend vor und sagte:

»O mein lieber, hochverehrtester Herr von der geheimen Polizei, Sie be-


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finden sich in einem Irrthum, welcher ist ebenso schauderhaft wie gefährlich für mich. Ich schwöre bei - -«

»Schweig!« donnerte ihn der Baron an. »Willst Du leugnen, daß Du bereits längst den Hehler gemacht hast für viele Mitglieder der Bande des geheimnißvollen Hauptmannes?«

»Ja, ich leugne, ich leugne, ich muß leugnen, denn es ist nicht wahr,« rief der Jude in allerhöchster Angst.

»Feigling! Dreifacher Feigling! Warum hast Du keinen Anderen angezeigt und nur diesen Einen, den Riesen Bormann?«

»Er ist der Einzige, der gekommen ist; ich hätte jeden Anderen ebenso angezeigt.«

»Lüge nicht. Hast Du Kinder?«

»Ja. Eine Tochter hat mir der Gott Israels gegeben.«

»Sie heißt Judith?«

»Ja. Judith ist ihr Name. Sie ist schön wie Sulamith, aber ich habe ihr gegeben den Namen der Heldin, welche getödtet hat den Feldhauptmann Holofernes, als er belagerte die Stadt Bethulia.«

»Nun, in diese Judith war der Riese verliebt. Er wollte sie haben, aber Du sagtest nein, und sie mochte ihn auch nicht. Er kam wieder und immer wieder, und um ihn für immer los zu werden, zeigtest Du ihn an, obgleich er zu den besten meiner Leute gehört.«

Während dieser Worte hatte der Baron eine schwarze Maske aus der Tasche gezogen und vor das Gesicht gesteckt. Er erhob sich und trat drohend einen Schritt auf den Juden zu. Dieser fiel abermals in die Kniee und rief voller Entsetzen:

»Herr Sabaoth! Der Hauptmann!«

»Ja, ich bin es. Ich bin gekommen, mit Dir zusammenzurechnen, da Deine letzte Stunde nahe ist!«

Die Beiden hatten nicht bemerkt, daß die Thür sich leise geöffnet hatte. Zwei Frauen waren eingetreten, die alte Jüdin und ihre Tochter Judith. Die Erstere hatte aus dem Tone des Gespräches gehört, daß ihr Mann sich in einer nicht sehr guten Lage befinde, die Letztere war zufällig dazugekommen, und so waren sie grad in dem Augenblicke eingetreten, an welchem Levi die Worte: »Herr Sabaoth! Der Hauptmann!« ausrief.

Die Alte war schlau und besonnen genug, sofort die Thür zu verschließen, die Tochter trat einige Schritte vor und fragte:

»Der Hauptmann, der geheimnißvolle Hauptmann sind Sie?«

»Ja,« antwortete der Baron, indem er sich zu ihr herumdrehte.

Er konnte von ihr nichts erkennen als die Augen und die Nase, denn nur dies Beides allein wurde nicht von dem Tuche bedeckt, welches ihren Kopf und ihre ganze Gestalt umhüllte.

Da legte sie ihm die Hand furchtlos auf die Schulter. Es war das eine weiße, schimmernde, kräftige und doch feine Hand, was er aber gar nicht bemerkte. Sie fragte:

»Du willst mit Salomon Levi zusammenrechnen?«


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»Ja, sofort!«

»Seine letzte Stunde ist nahe?«

»Ja, sehr nahe!«

»Nun, so ist auch die Deinige gekommen!«

Diese Worte wurden so ruhig und drohend gesprochen, daß der Baron unwillkürlich einen Schritt zurückwich.

»Schwätzerin!« rief er.

»Ich schwatze nicht! Wir haben von Dir gehört; wir kennen sehr viele Deiner Leute, Du bist streng und erbarmungslos. Aber wer wie wir mit Räubern und Mördern verkehrt, weiß seine Maßregeln zu treffen!«

»Ah! Welche sind das?«

»Das ist unser Geheimniß. Tust Du meinem Vater nur das Geringste zu Leide, so wirst Du dieses Haus nicht lebendig verlassen!«

Sie sagte das mit solcher Sicherheit, solcher Ueberzeugung, daß er zu glauben begann, sich in Lebensgefahr zu befinden. Darum sagte er:

»Pah! Mir macht ein Weib nicht bange. Ich habe mit Levi zusammen zu rechnen. Finde ich ihn zu leicht, so schnellt er in die Luft!«

»Und Du sinkst in die Erde. Was hast Du gegen uns?«

»Daß Ihr Bormann angezeigt habt.«

»Das durften wir.«

»Das durftet Ihr nicht. Ihr wußtet ja, daß er zu meinen Leuten gehört.«

»Er hatte den Einbruch nicht auf Dein Geheiß, sondern allein auf seine Rechnung ausgeführt.«

»Das ist allerdings der Fehler, welchen er beging, und dennoch bin ich bereit, Nachsicht walten zu lassen. Daher fordere ich nun, daß Ihr mir behilflich seid, seine Unschuld zu beweisen.«

»Das ist unmöglich! Das kann kein Mensch!«

Die beiden Alten hatten sich seit dem Eintritt der Frauen still verhalten. Nur Judith hatte gesprochen. Sie war beherzter und scharfsinniger als ihre Eltern. Auf ihre letzten Worte stieß der Baron ein kurzes, stolzes Lachen aus und sagte:

»Unmöglich? Kein Mensch kann es? Ich kenne doch Einen, der es kann, und der bin ich.«

»Wir mögen dabei nichts zu thun haben. Der Riese soll uns nicht mehr in das Haus kommen.«

Der Baron beobachtete eine kleine Pause des Nachdenkens und sagte dann:

»Er ist einer meiner besten Männer; er muß gerettet werden.«

»Rette ihn, wenn Du kannst.«

»Ohne Euch ist es unmöglich.«

»Wir haben keine Lust.«

Seine Augen blitzten zornig aus der Maske hervor; dennoch aber beherrschte er sich und sagte in ruhigem Tone:

»Er soll Euch nie wieder belästigen.«

»Das haben wir bereits jetzt erreicht. Mehr zu thun wäre überflüssig.«

»Ich werde es Euch belohnen.«


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»Wir sind reich genug.«

Da endlich ging seine Selbstbeherrschung zur Neige. Er drohte:

»Bedenkt, wer ich bin. Ich kann Euch nach Belieben verderben und erhöhen. Ich fordere von Euch geradezu die Rettung des Riesen. Ich gebe Euch keine Zeit zur Ueberlegung. Auf mein Zeichen werden meine Leute hier eintreten, dann aber ist's für Eure Rettung auch zu spät.«

Da wurde es dem Juden himmelangst. Er ergriff an Stelle seiner Tochter das Wort und fragte:

»Du sprachst von Lohn. Wieviel bietest Du?«

»Fünfhundert Thaler, keinen Pfennig weniger oder mehr.«

»Was sollen wir thun, um ihn zu retten?«

»Wem von Euch hat er die Uhren angeboten?«

»Mir selbst und Rebecca, der Frau meines Herzens.«

»Ihr seid Beide bereits vernommen worden?«

»Ja.«

»Hat man Euch ihm gegenübergestellt?«

»Noch nicht.«

»So wird es bald geschehen! Ihr habt dann nur einfach zu sagen, daß er es nicht gewesen sei.«

»Das geht nicht. Wir haben ja bereits gesagt, daß er es war!«

»Ihr habt Euch geirrt. Es gibt einen Menschen, welcher ihm so ähnlich ist, wie ein Ei dem andern. Dieser hat Euch die Uhren gebracht, er aber nicht.«

»Um das glaubhaft zu machen, müßte man diesen ähnlichen Menschen bringen!«

»Das werde ich auch. Der Riese Bormann ist unschuldig. Der Andere, welcher es gethan hat, gleicht ihm, als ob er sein Zwillingsbruder sei, hat aber ein großes rothes Maal auf der rechten Wange. Wollt Ihr, oder wollt Ihr nicht? Ich zahle Euch die fünfhundert Thaler sofort aus.«

Fünfhundert Thaler! Welch' ein Angebot für einen Juden! Sogar Judith fühlte sich erweicht. Sie fragte:

»Wir bekommen das Geld wirklich sogleich?«

»Ja.«

»Der Riese wird mich nicht wieder belästigen?«

»Niemals. Ich werde ihn anderweit verwenden. Er darf gar nicht in der Hauptstadt bleiben!«

»Gut! Wir willigen ein!«

Vater und Mutter nickten einstimmig dazu, und der Baron zog seine Brieftasche hervor, um die Summe in Banknoten auszuzahlen. Als dies geschehen war, erkundigte er sich bei Salomon Levi:

»Wer war die Frau, welche vorhin bei Dir war?«

»Die Frau eines Schließers an der Frohnveste.«

»Was wollte sie?«

»Zwei Betten und einen Tisch versetzen. Da ich aber diese Sachen bei ihnen lassen sollte, konnte ich nichts geben.«


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»Hatten Sie nichts Anderes?«

»Nein. Es ist Alles bereits bei mir.«

»Der Fall geht mich nichts an. Der vorherige aber desto mehr. Also, Salomon Levi, was sagst Du aus, wenn Du dem Riesen gegenüber gestellt wirst?«

»Ich sage, daß er unschuldig ist. Der wirkliche Einbrecher sah ihm täuschend ähnlich, hat aber ein großes rothes Maal auf der rechten Wange. Ist's so richtig?«

»Ja, so ist es richtig. Dabei bleibt Ihr Beide, Du und Rebecca, das Weib Deines Herzens!«

»Verlasse Dich darauf, Hauptmann!«

»Das thue ich. Denkt an meine Macht! Der Ungehorsam gegen mich würde Euch verderben. Wie Du bereits bemerkt hast, kenne ich Alles, sogar die verborgensten Geheimnisse Deines Hauses. Ihr seid Tag und Nacht unter meiner schärfsten Aufsicht. Jeder meiner Leute wird auf das Strengste bewacht. Darum nehmt Euch in Acht. Laßt mich jetzt hinaus! Und daß es Euch nicht einfällt, mir nachzublicken oder gar mir nachzufolgen!«

Er ging, ohne die Maske eher abzunehmen, als bis er aus dem Kreise ihres Lampenscheines war. Der Jude führte ihn hinaus. Als er zurückkam, stellte er sich vor die beiden Frauen hin, schlug die Hände zusammen und sagte:

»Gott der Gerechte! Welch' ein Abend! Ist der Hauptmann bei uns gewesen! Haben wir ihn gesehen stehen hier grad vor uns und gehört den Klang seiner Stimme!«

»Aber wir kennen ihn nicht!« meinte Judith.

»Nein, wir kennen ihn nicht! Hat er doch auf dem Gesichte getragen eine Maske, und ehe er sie aufsetzte, da saß er hier und - - -«

»Er saß erst ohne Maske hier?« unterbrach sie ihn schnell.

»Ja.«

»So mußt Du doch sein Gesicht gesehen haben!«

»Nein. Er hat sich gesetzt in das Finstere. Ich sah nur einen großen schwarzen Bart und zwei Augen, welche leuchteten wie die Augen einer Katze, wenn sie will beißen eine Maus. Er war die Katz' und ich die Maus!«

»Wer mag es sein? Er hat nicht die Sprache und das Wesen eines gewöhnlichen Mannes.«

»Nein; er ist ein vornehmer Mann. Es kann auch gar nicht anders sein, als daß der Hauptmann gehört zu den Leuten, welche sich bewegen in den Kreisen, welche man nennt fein und gebildet. Aber, wie kamst Du zu uns, Judith, mein Tochterleben?«

»Sarah Rubinenthal ist droben bei mir auf Besuch. Ich kam herab, um Mutterleben zu senden nach Chocolade, welche ich der Freundin vorsetzen wollte.«

»So will ich gleich eilen, zu holen Chocolade!« meinte die Alte.

»Und ich will mich sputen, einzutragen die Nummern von diesen fünf Hundertthalerscheinen in das Buch der Kasse. Sie sind sehr leicht verdient,« bemerkte der Alte.


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»Und ich werde zur Freundin zurückkehren. Sie wird mich mit Sehnsucht erwarten,« sagte Judith.

»Warum mit Sehnsucht?« fragte der Vater.

»Weil wir sind beschäftigt, zu lesen und zu declamiren aus dem herrlichen Buche, welches hat geschrieben Hadschi Omanah, der berühmte Dichter des Morgen- und Abendlandes.«

»Immer lies, mein Tochterleben! Judith, die einzige Erbin von Salomon Levi wird einst erhalten eine Million. Sie soll haben Geist und Bildung, um zu heirathen einen Grafen, und zu erfreuen mit Stolz das Herz ihres Vaters!«

Das Mädchen ging. Sie stieg die enge Treppe empor und trat dann in ein kleines, einfensteriges Stübchen, welches wirklich allerliebst und gar nicht nach der bekannten, jüdisch überladenen Manier ausgestattet war.

Dort saß am Tische ein Mädchen, vielleicht zwanzig Jahre alt, aber klein, häßlich und ausgewachsen. Aber wie man grad unter den Häßlichen und Buckeligen oft recht geistreiche Menschen findet, so hatte auch dieses von der Natur äußerlich so kärglich bedachte Mädchen ein herrliches Augenpaar, aus dem eine Seele leuchtete, deren der Körper nicht würdig war.

Man macht oft die Erfahrung, daß schöne Mädchen sich ihre Lieblingsfreundin grad unter den Häßlichen suchen. Ist es nur deshalb, weil dadurch ihre Vorzüge eine besondere Folie erhalten, oder hat dies einen anderen, tiefer zu suchenden Grund - so auch hier.

Judith legte das Tuch ab, und nun stand sie im Scheine der Lampe da in einer Schönheit und Herrlichkeit, welche einen Makart in Entzücken versetzt hätte. Groß und voll gebaut, von stolzer Haltung und wahrhaft gebieterischem Gesichtsschnitte, zeigte sie jene Schönheit, welche der Jugend ihres Stammes zu eigen ist, aber leider rasch zu vergehen pflegt, in ihrer ganzen Glorie. Sie hieß Judith, und sie war eine Judith. Wie mag sich Hebbel in seinem classischen Schauspiel die Judith gedacht haben? Welches Bild mag den Malern und Bildhauern, welche sich an dieses Problem wagten, vorgeschwebt haben? Sie hätten hier dieses Mädchen sehen sollen, und sicherlich wären sie einstimmig in den entzückten Ruf ausgebrochen:

»Ja, das ist die wahre Judith, das muthvolle Weib, die Mörderin des Holofernes, die Retterin ihrer Heimat, welche selbst ihre Tugend zum Opfer brachte, um den Ihrigen das abgeschlagene, blutige Haupt des Feindes zu bringen.«

»War ich Dir zu lange?« fragte sie.

Dabei klang ihre Stimme ganz anders als vorher da unten in der Gerümpelstube. Der Klang war ein so schwesterlicher, traulicher, wohlthuender.

»Wohl nicht,« antwortete die Freundin. »Aber da wir dieses Gedicht lasen, mußte ich warten, und deshalb ist es mir fast recht lang geworden.«

»So laß uns weiter lesen! Ist es nicht, als habe dieser Hadschi Omanah in unsere Herzen geblickt, um dann unsern Gefühlen, Wünschen und Gedanken diese glanz- und prunkvollen Reime zu geben?«

»Ja,« antwortete die Freundin nachdenklich. »Er muß ein hochgeborener Mann sein; an seiner Wiege hat das Glück gesessen, sonst wäre ihm diese


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Pracht und Herrlichkeit fremd geblieben. Die Worte, in welche er seine Gedanken kleidet, gleichen funkelnden Brillanten, welche in allen Farben und Nuancen schimmern und flimmern. Keiner dieser Diamanten und Smaragden, Rubinen und Saphiren hat eine falsch geschliffene Facette. Es ist alles so werthvoll, echt und schwer, wie es eigentlich nur ein König, ein Kaiser tragen kann.«

Bei dieser begeisterten Lobrede schüttelte Judith leise und langsam den Kopf.

»Vielleicht findet gerade das Gegentheil statt,« sagte sie. »Viele Dichter und Schriftsteller schreiben gerade über das, was ihnen am Allerfernsten liegt, am Allerliebsten. Ein Prinz schreibt gern Dorfgeschichten, ein Melancholikus gern Humoresken, und ein Literat, welcher mit dem Hunger kämpft, wagt sich an das Höchste und Beste, was der Mensch zu erreichen vermag. Er träumt, es im Besitz zu haben; seine Phantasie schmückt es mit allen irdischen Werthen und Schönheiten; er fühlt sich während des Schreibens als Glücklichster der Sterblichen und sinkt, wenn er die Feder fortlegt, dem Knochengespenste des Hungers und des Elends wieder in die Arme.«

Sie ahnte nicht, wie Recht sie in diesem Falle hatte. Aber ihre Freundin sagte:

»Daran glaube ich hier nicht. Wer sich zu solcher Höhe emporzuschwingen vermag, muß auch schon auf Erden hoch Fuß gefaßt haben. Höre nur hier, wo er von dem Suchen nach Gott spricht!«

Sie nahm das Buch zur Hand und las begeistert vor:

»Schwingt Euch hinauf in jene Fernen,
   Zum großen Weltenozean;
Lest in den Sonnen, in den Sternen!
   Sie zeigen Euch des Ewgen Bahn.
Dort oben kann kein Zweifel walten,
   Wie hier in Wort und Buch und Schrift.
Dort muß der Geist sich frei entfalten,
   Bis er auf seinen Urquell trifft!« -

»Kann ein Leidender, ein Hungriger so schreiben?« fragte sie. »Klingt nicht aus jedem Worte ein Muth, eine Kraft, eine Stärke, welche nur, daß ich mich so ausdrücke, in einem gutgenährten Körper wohnen kann?«

»Dann müßten alle Helden der Weltgeschichte auch körperlich Titanen gewesen sein, und doch wissen wir das Gegentheil. Zeige her, den Schluß des Gedichtes. Auch in ihm funkelt und brillirt es, als ob der Dichter seinem Gedanken einen Königsmantel umgethan und eine Krone aufgesetzt habe. Und doch! Höre einmal!«

Sie nahm das Buch gar nicht in die Hand. Sie kannte das Gedicht. Sie recitirte aus dem Gedächtnisse und declamirte:

»Dann einet sich zu  einem Strome
   Die Menschheit all von Nah und Fern,
Und kniet anbetend in dem Dome
   Der Schöpfung vor dem  einen  Herrn.


// 143 //

Dann wird der Glaube triumphiren,
   Der  einen  Gott und Vater kennt.
Die Namen sinken, und es führen
   Die Wege all zum Firmament!«

Sie war prächtig anzuschauen, diese Judith, welche sich von dem Dichter des Gottesgedankens so begeistern ließ, daß sich ihre Wangen rötheten und ihre dunklen Augen leuchteten und funkelten wie schwarze Kapdiamanten im Candelaberlichte.

Da drüben auf der jenseitigen Straße, im hocharistokratischen Hause, hatte vor wenigen Minuten Fanny von Hellenbach die »Nacht« desselben Dichters declamirt. Welche von den beiden Mädchen war die Schönere, die Begeistertere? Das ließ sich schwer sagen.

Judith hätte jene Gewandung tragen sollen, welche ihre Namensschwester trug, und kein Holofernes hätte ihr widerstanden. Sie ließ die beim Declamiren erhobenen Arme sinken und sagte:

»Für Dich klingt aus diesen Worten und Reimen eine Coulanz und Brillanz, welche nur einem Hochgeborenen eigen sein kann, und mir ist es, als ob ein Sterbender, der nicht empor zum wahren Firmament kann, ertrinkend tiefer und immer tiefer in die Fluthen sinkt, in denen er ja auch ein Firmament erschaut, ein trügerisches - das seinige!«

In ihren Augen schimmerte es feucht; es war ihr, als ob sie eine trübe, unglückliche Weissagung ausgesprochen hätte.

»Oh, könnte ich ihn halten, ihn emporziehen, ihn retten!« fügte sie hinzu.

Die Freundin blickte ihr in das erregte Gesicht und sagte dann:

»Du schwärmst für ihn!«

»Schwärmen?« fragte Judith, stolz die schönen Achseln zuckend. »Was ist Schwärmen? Ich kenne es nicht. Ich liebe ihn; ich liebe ihn glühend, wie nur ein Weib zu lieben vermag!«

»Das heißt, Du liebst seine Gedichte!«

»Nein; ich liebe seine Seele, welche wie ein schönes, leuchtendes Porträt aus seinen Worten strahlt. Ich bin sein Eigen; denn ich denke nur an ihn; ich könnte Alles, selbst mein Leben für ihn lassen!«

»Und wenn er häßlich ist?«

»Kann ein solcher Dichter häßlich sein? Was geht mich sein Gesicht, seine Gestalt, sein Gang, seine Haltung an? Ich sitze vor ihm, nein, ich liege vor ihm, um mich in seinem Geiste zu sonnen und aus seiner Seele Glück, Glück, tausendfaches Glück zu saugen!«

»Er ist Hadschi, also ein Muhamedaner.«

»Er sucht Gott und liebt ihn; ich suche den Dichter und liebe ihn. Wir sind Eins in einem und demselben Streben.«

»Oder ist sein Name ein Pseudonym? Dann könnte er gar ein Christ sein!«

»Und dennoch bleibt er mein Ideal.«

»Und wenn Du Recht hättest, daß er in Armuth und Elend lebte, daß ihn das Gespenst des Hungers gefangen hielt?«


// 144 //

»Wüßte ich, wo er wäre, so würde ich gehen, ihn zu befreien, meilen-, meilen-, meilenweit! Und wäre er so elend, daß kein Mensch ihn anblicken möchte, er würde doch mein Glück, mein Stolz, meine Wonne sein! Ich kenne seine Gestalt nicht; aber ich kenne seinen Geist, sein Herz, seine Seele, sein Gemüth! Er hat es mir angethan! Meine Sehnsucht wird ruhelos und ungestillt um ihn wandeln, wie die kleine, arme Erde um die glänzende, gluthenstrahlende Sonne wandelt!«

Sie trat an das Fenster und legte ihre heiße Stirn, um sie zu kühlen, an die kalte Glasscheibe. Was dachte sie? Wohin flogen ihre Wünsche? Hätte sie gewußt, wie nahe, wie so sehr nahe der war, an den sie dachte! -

Als der Baron vorhin die Thür hatte hinter sich schließen hören, war er erst ein Stück nach links gegangen, dann aber plötzlich umgekehrt, um zu sehen, ob er beobachtet werde. Da dies nicht der Fall war, ging er nach rechts zu weiter.

Er schien hier auf der Wasserstraße sehr gut orientirt zu sein, denn an einem kleinen Häuschen angekommen, trat er in den dunklen Flur und tappte sich, ohne Licht zu haben, ganz leidlich die Treppe hinauf. Oben schien ihm eine weinende Frauenstimme als Leiterin zu dienen. Er fand eine Thüre und klopfte an. Man schien erstaunt aufzuhorchen. Er klopfte abermals.

»Herein!« hörte er rufen.

Er öffnete und trat ein. Er sah ein ärmliches Zimmerchen vor sich. Sauber und rein war es; aber es gab da nur einen Tisch, keinen Stuhl, kein anderes Möbel als zwei Betten, welche man durch eine offen stehende Thür in der Schlafkammer stehen sah.

Auf der Diele saßen zwei Knaben, welche sehr trübe Gesichter zeigten; am Fenster stand eine Frau, die Augen voller Thränen, und vor dem Tische lehnte ein noch junger Mann, welcher sich Mühe gab, einen Teller magerer Brodsuppe für sich allein zu behalten, ohne ihn mit den Seinigen zu theilen.

Die Frau war diejenige, welche vorhin bei dem Juden Salomon Levi gewesen war. Als sie den Baron erblickte, erröthete sie. Sie mochte ihn erkennen, wenn auch nicht an den Zügen, da er im Schatten gesessen hatte, so doch an dem Anzuge, welchen er trug.

Er grüßte höflich, bat um Entschuldigung, daß er störe, und fragte dann die weinende Frau:

»Kennen Sie mich, liebe Frau?«

Sie wendete sich halb ab, ohne zu antworten. Er fuhr fort:

»Ich war bei Salomon Levi, wo ich etwas über Ihre Lage erfuhr. Schämen Sie sich nicht. Ich komme, Ihnen zu helfen.«

Die beiden Leute fühlten sich wie electrisirt. Der Mann legte rasch den Löffel fort, und die Frau griff nach der Schürze, um ihre Thränen zu trocknen.

»Die Kinder brauchen nicht zu hören, was wir sprechen,« sagte der Baron. »Tragen Sie dieselben hinaus auf die Betten und hören Sie dann, was ich Ihnen zu sagen habe.«


Ende der sechsten Lieferung - Fortsetzung folgt.



Karl May: Der verlorne Sohn

Karl May – Forschung und Werk