Lieferung 75

Karl May

30. Januar 1886

Der verlorne Sohn
oder
Der Fürst des Elends.

Roman aus der Criminal-Geschichte.


// 1777 //

»Durch und durch.«

»So mag er mir kommen!«

»Nein! Laß mich lieber hinauf! Ich weiß nun bereits, wie es zu machen ist.«

Er schob den Kübel an die Wand, und da klopfte es auch bereits an das Fenster. Er wartete, bis es zum dritten und vierten Male geklopft hatte, dann stieg er hinauf.

»Wer klopft?« fragte er.

»Wer ist da drin?«

»Ich heiße Wolf.«

»Schön! Ich komme vom Hauptmanne.«

»Ah! Was wollen Sie?«

»Ich will Sie retten. Doch sagen Sie zuerst, ob Sie etwas gestanden haben?«

»Nein; kein Wort.«

»Schön! Wo stecken Sie denn?«

»Hier am Fenster.«

»Ich sehe Sie ja gar nicht!«

»Ist das möglich bei dieser Dunkelheit!«

»Ich muß mich überzeugen, ob Sie es wirklich sind. Es könnte sich ein Anderer für Sie ausgeben.«

»Wie wollen Sie sich überzeugen?«

»Ich geben Ihnen ein Streichholz hinein. Das brennen Sie an und halten es sich vor das Gesicht.«

»Verdammt!« murmelte der alte Schmied. »Diesmal fängt er es klüger an!«

»Ihr Sohn muß hinauf!« flüsterte der Fürst.

»Er wird ihn erschießen!«

»O nein. So schnell geht es nicht. Er leuchtet sich an, läßt die Flamme fallen und duckt den Kopf nieder. Er sieht ja auch bei der Flamme den Lauf. Das darf der Mensch denn doch nicht wagen.«

»Nun?« fragte der Agent. »Sind Sie da?«

»Hier!« antwortete Wolf junior, welcher hinaufgestiegen war.

»Können Sie an die Lucke langen?«

»Ja,« meinte der Gefangene, welcher die Glastafel bereits geöffnet hatte, bevor die Anderen noch in seine Zelle gekommen waren.

»Hier ist das Streichholz!«

»Gut.«

Wolf strich das Hölzchen an der Mauer an und hielt es sich, als es aufflammte, vor das Gesicht.

»Ja, Sie sind es,« erklang es draußen. »Aber, können Sie nicht naher kommen?«

»Ganz gut.«

»Halten Sie Ihr Ohr her! Ich traue den Nachbarn nicht. Sie könnten


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am Fenster sein und Alles hören. Ich habe Ihnen Wichtiges zu sagen. Sind Sie da?«

»Ja.«

»Warte, ich werde fühlen.«

Er fuhr mit der Stockflinte herein und stieß an den Kopf, welchen der Fürst nun hinhielt. Dasselbe Geräusch und derselbe Wind wie vorhin, dann hörten Alle die Kugel auf die Diele fallen. Der Schall war diesmal nicht durch den Strohsack gedämpft worden.

Natürlich hatte der Fürst das Tücherbündel sofort vom Fenster wieder zurückgezogen. Jetzt verging eine kleine Weile, dann fragte jemand am Fenster:

»Wolf!«

Es antwortete natürlich Niemand.

»Wolf! Reden Sie doch!«

Es blieb still.

»Was ist denn so plötzlich mit Ihnen?«

Und als er auch jetzt keine Antwort erhielt, entfuhr es ihm in triumphirendem Tone:

»Fertig! Das habe ich famos gemacht. Zweitausend Gulden sind verdient!«

Er verschwand vom Fenster.

»Zweitausend Gulden also!« sagte der alte Schmied. »Der Hauptmann hat ihm also zweitau - -«

»Still!« befahl der Fürst. »Horchen wir!«

Sie lauschten auf, und zwar nicht vergebens.

»Kreuzhimmel -!« erklang es erschrocken von unten herauf; dann hörte man nichts mehr.

»Sie haben ihn fest!« sagte der Staatsanwalt.

»Ah, er ist ergriffen worden?« fragte der Alte.

»Natürlich!«

»Herr Staatsanwalt, Herr Brandt, dürfen wir diesen Menschen auch sehen?«

»Ja, im Verhör.«

»Nein, jetzt. Zeigen Sie ihn mir jetzt, und ich will Alles gestehen, alles, was Sie nur hören wollen.«

»Wenn Sie versprechen, sich nicht an ihm zu vergreifen.«

»Ich thue ihm nichts!«

»So kommen Sie!«

Draußen zeigte es sich, daß die Kugel abermals durch die Tücher hindurch gedrungen war.

»Durch diese elastische Masse!« sagte der Fürst kopfschüttelnd. »Das habe ich keiner Windbüchse zugetraut. Durch die wirklichen Köpfe wäre sie also noch viel, viel leichter gedrungen! Doch kommen Sie!«

Sie begaben sich möglichst schnell hinab in das Zimmer des Wachtmeisters. Kaum hatten sie Platz genommen - natürlich außer den beiden


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Schmieden, welche stehen bleiben mußten - so wurde der Gefangene hereingebracht, dem die Hände auf den Rücken gebunden waren.

Hatte ihm bereits im Hofe der Schreck das Wort im Munde abgeschnitten, so war er nun hier geradezu starr vor Entsetzen, als er die Beiden erblickte, welche er soeben erschossen zu haben glaubte.

»Guten Morgen, Herr College!« grüßte der Fürst mit ironischer Freundlichkeit. »Sie haben mir wohl bereits eine Stelle verschafft?«

»Nein,« antwortete er, ohne zu bemerken, daß dies das Dümmste sei, was er sagen könne.

»Ah, so wollten Sie nur dem Gefängnisse einen Besuch abstatten? Warum haben Sie es sich so schwer gemacht? Warum wollten Sie partout zum Fenster hinein? Ich habe dafür gesorgt, daß Ihnen der bequemere Eingang geöffnet werde, und nun hoffe ich, daß Sie es sich bei uns längere Zeit gefallen lassen.«

Er stand noch immer wie versteinert zwischen den Polizisten. Da sagte der alte Schmied:

»Ja, famos hast Du das gemacht, Bursche! Zweitausend Gulden verdient! Ich wollte, ich könnte sie Dir auszahlen, hier mit meinen beiden Fäusten.«

»Ich weiß von nichts!« stammelte er.

»Was, Mensch? Du weißt von nichts? Du willst wohl etwa gar nicht geschossen haben?«

»Nein.«

»Na, da gucke dort den Tuchwickel an, durch den Deine Kugeln gegangen sind!«

Jetzt begann es in ihm zu dämmern, daß er der Dupirte sei, dennoch behauptete er:

»Ich habe nicht geschossen.«

»Wer denn?« fragte der Fürst.

»Der Andere vielleicht.«

»Ah, Ihr wart zu Zweien?«

»Ja.«

»Wer war der Andere?«

»Ich kenne ihn nicht.«

»Schön! Also der berühmte Unbekannte! Sie scheinen wirklich zu glauben, daß ich sehr dumm bin.«

»Ich sage die Wahrheit.«

»Pah! Machen Sie sich nicht lächerlich! So dumm und albern, wie Sie mich dem Hauptmanne beschrieben haben, bin ich denn doch nicht, mein bester Herr Bauer.«

»Dem Hauptmanne?« fragte er, Erstaunen heuchelnd.

»Ja.«

»Ich weiß nichts von ihm.«

»Mit wem sprachen Sie denn zuletzt im verlassenen Dampfkesselraum?«


// 1780 //

Er erbleichte, sagte aber kopfschüttelnd:

»Ich weiß nicht, was Sie wollen!«

»Nun, das kann ich Ihnen sagen: Ich wollte Sie gefangen nehmen, und jetzt will ich mir auch den Hauptmann mit der ganzen Bande holen. Sie werden beim Fürsten von Befour zu treffen sein.«

»Hölle, Teuf - -«

Er verschluckte das Wort und schwieg.

»Ich will Ihnen sehr aufrichtig sagen, daß Sie ein ganz alberner Mensch sind. Sie sind von dem Diener Leonhardt angeführt worden, der ein Polizist ist; ich habe Ihnen heute die Zellenliste verrathen, um Sie desto sicherer zu fangen. Der Fürst von Befour hat Sie bereits gewarnt, als Sie Robert Bertram ermorden wollten. Jetzt will man dem Fürsten und der Baronin Ella von Helfenstein das Leben nehmen - Sie müßten das viel, viel gescheidter anfangen.«

»Ich weiß gewiß und wirklich von nichts!« stammelte er.

»Auch von den Lichtern nicht und von den Spiegeln, mit denen Sie an ihrem Fenster die Signale gaben?«

Und als er nun doch nichts zu antworten wagte, fuhr der Fürst, zu dem Wachtmeister gewendet, fort:

»Lassen Sie diesen traurigen Menschen einschließen und machen Sie noch eine genügende Anzahl von Zellen bereit. Es wird bald ein größerer Transport eintreffen.«

Der Agent wurde abgeführt. Da trat der Alte einen Schritt vor und sagte:

»Herr Staatsanwalt, ich sehe jetzt ein, woran ich bin. Ich werde Alles eingestehen.«

»Daran thun Sie recht, Wolf. Ich werde Sie am Morgen vorführen lassen!«

»Warum jetzt nicht? Ich werde sehr schnell fertig sein, und wer weiß, was bis zum Morgen geschieht.«

»Wir haben noch anderweit zu thun. Sie müssen sich bis zum Vormittag gedulden. Jetzt natürlich kehren Sie in Ihre Zellen zurück.«

So wurden also auch die beiden Schmiede abgeführt. Dann wendete sich der Staatsanwalt an den Fürsten:

»Sie sprachen vorhin von dem Hauptmanne und einem Einbruche bei Ihnen. Ist's an dem?«

»Gewiß!«

»Sie wollen die ganze Bande festnehmen?«

»Das ganze Corps mitsammt dem Anführer.«

»Ah, da muß ich mit! Darf ich?«

»Natürlich! Ich bitte Sie sogar darum! Wir werden auch die Polizisten hier mitnehmen, welche sich einstweilen in den Corridor zurückgezogen haben. Je mehr Hände wir bekommen, desto besser ist es.«

Er legte Haar und Bart wieder an. Die Polizisten wunderten sich, den


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allbekannten Fürsten von Befour aus dem Zimmer treten zu sehen, anstatt des Mannes, dem sie den Gefangenen überantwortet hatten. Doch wagten sie es nicht, diese Verwunderung in Worte zu fassen. Sie bekamen erklärt, um was es sich handelte, und folgten dem Fürsten und dem Staatsanwalte nach dem Palais des Ersteren.

Dort fanden sie eine genügende Polizeimacht vor. Es war gegen drei Uhr geworden und die Mannschaften wurden vertheilt. Als dann ein Jeder auf seinem Posten stand, verlöschte man die Lichter und erwartete das Eindringen der Bande.

Drunten im Garten raschelte es hier und dort im blätterlosen Gesträuche. Mann für Mann kamen sie über den Zaun gestiegen, und als die Glocke die dritte Stunde verkündigte, waren sie Alle, außer dem Agenten, beisammen.

»Bauer fehlt,« meldete der Goldarbeiter leise dem Hauptmann.

»Er wird abgehalten sein,« war die Antwort. »Wir wollen nun beginnen!«

Und sich dann mit etwas lauterer Stimme zu den Uebrigen wendend, befahl er.

»Also Jeder und Jede, der oder die sich erblicken läßt, bekommt das Messer zwischen die Rippen! Vorwärts!«

Sie schlichen sich an die Veranda und kletterten an derselben empor. Ein Pechpflaster wurde an das Fenster gelegt, ein leises Knittern, welches der Sturm unhörbar machte - die Glastafel war zerbrochen und man öffnete den Fensterflügel.

Jetzt stiegen Alle in das Zimmer, wo sie sich auf das Weitere vorbereiteten. Es wurden kleine Diebeslaternen angebrannt, Nachschlüssel hervorgesucht und die Messer bereit gehalten.

»Jetzt nun los! Die vier hier folgen mir zum Fürsten. Die Anderen steigen direct die beiden Treppen empor!«

Nach diesem Befehle trat der Hauptmann hinaus in den Corridor und blickte sich um.

»Wo steckt der Fürst?« fragte er den Goldarbeiter.

»Dort rechts, durch die vorletzte Thür. Das ist das Vorzimmer. Sie treten durch die Portière ein!«

Er nickte finster und ließ sie Alle an sich vorüber. Er blickte ihnen nach, bis sie unhörbaren Schrittes oben in der nächsten Etage verschwunden waren. Dann winkte er den Vier, ihm zu folgen.

Er öffnete leise die angegebene Thür. Das Zimmer, in welches sie traten, war finster. Die Laterne, welche der Hauptmann in der Hand trug, verbreitete einen trügerischen Schein. Die Männer bemerkten nicht, daß unter der Tischdecke, hinter dem Pianino und dem Ofenschirme Polizisten kauerten, welche sich nun im Rücken der Eingedrungenen aufrichteten, bereit, sie von hinten zu fassen.

»Also, ich nehme ihn auf mich!« flüsterte der Hauptmann. »Ihr seid nur für Eventualitäten da.«


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Er trat vor und schlug die Portière zurück. Sie war drei-, vier- und fünffach, so daß das dahinter fluthende Licht nicht durchzudringen vermocht hatte.

Der Hauptmann blieb stehen, wie festgebannt. Er hatte erwartet, in ein dunkles Schlafzimmer zu treten, und nun sah er vor sich einen glänzend erleuchteten Raum, in dessen Mitte ein Sarg auf hoher Estrade stand. Und in dem Sarge lag - der ermordete Baron Otto von Helfenstein, mit weit klaffender Halswunde, die starren, todten, aber weit geöffneten Augen fest auf den Eintretenden gerichtet.

Ein unarticulirter Schrei entrang sich der Brust des Hauptmanns. Er wankte. Da ertönte es neben ihm mit lauter Stimme:

»Mörder! Das ist Dein Werk!«

Er fuhr herum.

»Brandt!« brüllte er laut auf.

Er strich mit den Armen durch die Luft, drehte sich einmal um sich selbst und schlug dann zu Boden nieder, so daß das mordbereite Messer seiner Hand entfiel.

Die vier hinter ihm Stehenden wußten nicht, was sie sagen sollten. Eine Leiche und ein Fremder, den sie gar nicht suchten! Aber sie hatten gar keine Zeit, zu einem Entschlusse zu kommen.

»Bitte, meine Herren, drehen Sie sich um!« erklang es hinter ihnen.

Als sie diesem Rufe gehorchten, sahen sie sich sechs Polizisten gegenüber.

»Himmeldonnerwetter! Verrath!« rief der Geistesgegenwärtigste von ihnen. »Stecht zu!«

Aber noch ehe sie daran dachten, die Messer zu ergreifen, sausten die Todtschläger auf ihre Köpfe nieder. In kürzerer Zeit, als einer Minute, waren sie gefesselt.

Auch dem bewußtlosen Hauptmanne band man Hände und Füße zusammen und schaffte ihn in ein anstoßendes Zimmer, wo ein Polizist als Wächter bei ihm blieb.

Jetzt nun stieg der Tode aus dem Sarge.

»Brav gemacht, Robert!« sagte der Fürst. »Puder, Farbe und Perrücke haben das Mögliche geleistet.«

»Sehe ich dem verstorbenen Baron wirklich so sehr ähnlich?« fragte der Jüngling, indem er an den Waschtisch trat, um sich das Gesicht von den aufgetragenen Falten zu reinigen.

»Sehr, außerordentlich sogar,« antwortete der Fürst. »Du warst so ähnlich, daß selbst dieser hartgesottene Sünder in Ohnmacht fiel. Jetzt aber nun einmal hinauf zu den Uebrigen!«

Die Einbrecher waren bis hinauf zu der Kammer gestiegen, welche der Goldarbeiter als diejenige bezeichnete, in welcher sich die Reichthümer des Fürsten befinden sollten. Er suchte und fand den Schlüssel und öffnete. Voller Begierde drängten sich Alle hinein. Jeder wollte der Erste sein; Keiner hatte die Absicht, sich ausschließen zu lassen.


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Der Letzte bemerkte gar nicht, daß die Thür leise hinter ihm zugedrückt wurde.

»Auf mit den Kästen!« sagte Einer. »Wollen sehen, wie es Millionären zumuthe ist!«

Es war wirklich so, wie der Diener gesagt hatte: der eine Schlüssel öffnete Alles. Der erste Schrank wurde aufgeschlossen. Man denke sich die Gesichter der Räuber, welche sich mit Begierde näher drängten und nichts, gar nichts erblickten als - Steine.

»Was! Was ist das! Steine!« rief Einer, vor Enttäuschung fast ganz laut.

»Leise!« herrschte ihn sein Nachbar an. »Vielleicht sind es kostbare Erze oder so etwas Ähnliches. Oeffnen wir weiter! Es wird schon besser kommen!«

Aber, so viele Fächer und Laden sie öffneten, sie fanden nichts als Steine und wieder Steine.

»Eine Mineraliensammlung!« erklang es nun. »Tod und Teufel! Fort! Hinaus! Versäumen wir hier oben nicht die kostbare Zeit!«

Sie stießen die Thür auf. In demselben Augenblicke wurde es tageshell und sie erblickten vor sich eine übermächtige Anzahl von Polizisten, welche mit schußbereiten Karabinern ihnen gegenüber standen.

Das Entsetzen, welches sie erfaßte, läßt sich gar nicht beschreiben. Ein Einziger faßte sich schnell.

»Drauf und durch!« brüllte er auf und stürzte sich mit hoch erhobenem Messer vorwärts.

Da krachte ein Schuß. Mitten durch die Stirn getroffen, stürzte er zu Boden.

»Ergebt Euch ruhig!« sagte eine Stimme. »Es ist keine Rettung für Euch. Wer sich vorwärts bewegt, der wird einfach niedergeschossen!«

Der Fürst war es, der diese Worte sprach.

»Werft die Messer weg!« fuhr er fort.

War es die Macht seiner gebieterischen Stimme, war es die Wirkung des ersten Schreckes, oder sahen sie ein, daß es wirklich Wahnsinn sei, Widerstand zu versuchen, kurz und gut, sie ließen die Messer fallen.

»Tretet einzeln vor! Man wird Euch binden!«

Auch dieser Befehl verfehlte seine Wirkung nicht. Nur ein Einziger fuhr trotzig mit der Frage auf:

»Mord und Tod! Wo ist denn der Hauptmann?«

»Er ist bereits gefangen und gefesselt,« antwortete der Fürst. »Er war der Führer, und Ihr seid die Verführten. Wenn Ihr Euch ergeben zeigt, wird man die möglichste Milde walten lassen.«

Das wirkte. Erst zögernd und knurrend, dann aber mehr und mehr willig gaben sie die Hände her, um sie sich binden zu lassen. Sodann wurden sie unter hinreichender Bedeckung abgeführt.

Jetzt erst kehrte der Fürst in sein Zimmer zurück. Er hatte die Narbe


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nebst Perrücke und Bart wieder angelegt. Er trat hinaus zu dem Gefangenen, welcher die Besinnung wieder erlangt hatte und mit offenen Augen dalag, doch ohne zu sprechen oder sich zu bewegen.

Der Polizist entfernte sich auf einen Wink des Fürsten. Dieser setzte sich dem Baron gegenüber und sagte in ernstem Tone:

»Ich hatte Ihnen drei Tage Frist gegeben. Ich gab Ihnen außerdem den Beweis, daß ich Ihnen überlegen bin. Sie haben trotzdem die Gnadenfrist benutzt zu einem geradezu wahnwitzigen Unternehmen. Ich kann Ihnen nicht helfen; ich muß Ihnen den Rückzug, welchen ich Ihnen offenhalten wollte, verschließen. Ich werde Sie dem Untersuchungsrichter übergeben.«

»Hund!« knirschte der Gefangene.

»Ihr Schimpfwort trifft mich nicht. Sie kochen in Ihrem eigenen Gifte. Sie sind verloren.«

»Noch nicht!« stieß er höhnisch hervor.

»Ah! Denken Sie etwa an Gnade oder an Flucht? Lassen Sie sich nichts träumen!«

Da schüttelte er die gefesselten Hände gegen den Fürsten und rief:

»Und doch werde ich mich an Dir rächen, Bube!«

»Lächerlich! Sie sind verloren. Ihre ganze Vergangenheit, ja, jeder einzelne Tag derselben steht gegen Sie auf. Alle Ihre sogenannten Freunde, Ihre Verschworenen und Mitschuldigen erheben sich gegen Sie. Und wenn Sie noch nicht wissen, wer ich eigentlich bin, so will ich Ihnen sagen, daß ich früher Gustav Brandt genannt wurde. Ich bin der lebendige Paragraph, der Sie auf das Schafot bringen wird!«

»Noch nicht, noch nicht! Vorher wirst Du baumeln!«

»Das ist Wahnsinn! Wenn Sie vielleicht noch zu entkommen gedenken, so will ich Ihnen sagen, daß Sie mit Hand- und Fußschellen in Ihrer Zelle angeschlossen werden und daß sogar je ein Militairposten mit scharf geladenem Gewehr unter Ihrem Zellenfenster und vor Ihrer Zellenthür patrouilliren wird. Jetzt gute Nacht, Helfenstein! Wenn wir uns wiedersehen, so ist es vor dem Untersuchungsrichter!«

Er ging, und dann wurde auch dieser Gefangene in das Gefängniß gebracht.

Die bisherigen Bewohner desselben vermochten nicht, sich den Lärm zu erklären, welcher während der ganzen Nacht herrschte. Sie konnten vor all dem Klirren und Kettenrasseln nicht schlafen.

Noch bedeutender aber war am Morgen die Erregung der Residenzler, als es verlautete, daß während der letzten Nacht der Hauptmann sammt seiner ganzen Bande von dem Fürsten von Befour gefangen genommen worden sei.

Wer war nun dieser Hauptmann?

Erst verlautete nur Unbestimmtes; man rieth und rieth, umsonst; später wurden Namen genannt, fünf oder sechs, dann vier oder fünf, später zwei oder drei,


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bis zuletzt nur einer übrig blieb, und zwar war dies der richtige, der Baron Franz von Helfenstein.

Der erste Weg, welchen der Fürst nach einem kurzen Spätschlummer unternahm, führte natürlich in das Gerichtsgebäude. Das ganze Beamtenpersonal befand sich im Fieber, und der Fürst wurde mit einer Hochachtung begrüßt, welche mehr für ein überirdisches als für ein sterbliches Wesen paßte.

Er begab sich zu dem Staatsanwalt, welcher bereits auf ihn gewartet hatte.

»Endlich!« sagte er. »Er hat schon wiederholt bitten lassen, ihn vorzunehmen.«

»Wer?«

»Der alte Schmied natürlich. Oder dachten Sie vielleicht, der Hauptmann wolle schon beichten?«

»Das wird er wohl überhaupt nie thun.«

»Wollen sehen! Wir werden ihn mit Beweisen ja vollständig erdrücken, zermalmen.«

»Warum nahmen Sie den Schmied nicht vor?«

»Weil ich wünschte, daß Sie zugegen sein möchten. Jetzt werde ich ihn aber kommen lassen.«

Als der alte Wolf eintrat, zeigte er ein fast heiteres Angesicht. Es war, als sei eine Last von ihm genommen.

»Nun,« sagte der Staatsanwalt, »Sie waren bereit, mir aufrichtige Antworten zu geben?«

»Ja, Herr Staatsanwalt. Aber darf ich mir vorher vielleicht eine Frage erlauben?«

»Fragen Sie!«

»Es gab heute Nacht so viel Lärm. Ist er gefangen?«

»Wen meinen Sie?«

»Den Hauptmann.«

»Ja, wir haben ihn sammt gegen dreißig Mann.«

»Ich danke Ihnen. Jetzt sitzt auch er im Loche, und so will ich mich zufrieden geben.«

»Er wird seine gerechte Strafe finden. Ich möchte Sie noch nicht vor das Protokoll nehmen, sondern mir aus Ihren Geständnissen lieber eine gewisse Uebersicht alles Dessen bilden, was wir zu behandeln haben werden. Es ist ganz gleichgiltig, wer Sie fragt, ob Seine Durchlaucht oder ich. Wem antworten Sie lieber?«

»Das ist mir gleich. Aber da ich am Meisten gegen den gnädigen Herrn gesündigt habe, so bitte ich ihn, die Fragen auszusprechen.«

Der Fürst nickte ihm mildfreundlich zu und sagte:

»So will ich mich denn gleich einmal über Sie orientiren, Wolf. Ich habe Sie nie für einen wirklichen Verbrecher gehalten. Sagen Sie mir einmal aufrichtig, wessen Sie sich schuldig erkennen müssen.«

»Zunächst im Allgemeinen des Schmuggels.«


// 1786 //

»Das ist freilich Ihre Hauptsünde.«

»Aber ich sage Ihnen aufrichtig, daß ich es Ihnen zwar reumüthig gestehe, aber keinen Menschen in das Unglück stürzen werde. Unter hundert Grenzbewohnern schmuggeln neunzig. Ich nenne Keinen.«

»Ich wenigstens verlange das auch nicht. Weiter!«

»Sodann habe ich damals den Mörder des Hauptmannes von Hellenbach nicht angezeigt.«

»Das werden Sie jetzt nachholen.«

»Ja, gewiß. Ferner habe ich die kleine Leiche des Sohnes der Botenfrau entwendet, um sie in das Bett des kleinen Robert von Helfenstein zu legen.«

»Was geschah mit Robert?«

»Ich schaffte ihn nach der Residenz in's Findelhaus.«

»Wie heißt er jetzt?«

»Robert Bertram.«

»Wie?« fuhr der Staatsanwalt auf. »So wäre der Dichter der Heimaths-, Tropen- und Wüstenbilder der eigentliche Erbe der Baronie Helfenstein?«

»Ja, gewiß,« antwortete der Fürst. »Aber, Wolf, warum verwechselten und raubten Sie den Knaben?«

»Um ihn zu retten.«

»Vor wem oder was?«

»Vor Baron Franz, welcher ihn tödten lassen wollte, weil er ihm im Wege war.«

»So hatte er Sie gedungen?«

»Ja.«

»Warum gingen Sie darauf ein?«

»Um den Knaben zu retten. Hätte ich nicht ja gesagt, so hätte sich ein Anderer gefunden.«

»Sie konnten ihn auf gesetzlicherem Wege retten, indem Sie den Baron Franz zur Anzeige brachten.«

»Hätte man mir geglaubt, wenn ich gesagt hätte, daß er mich zum Morde seines Cousins habe dingen wollen?«

»Sind Sie von ihm bezahlt worden?«

»Ja.«

»Wie hoch?«

»Das weiß ich nicht genau. Ich habe oft von ihm erhalten.«

»Und die Baronin Ella, ist sie mitschuldig?«

Der Alte blickte nachdenklich vor sich nieder, dann hob er unter einem raschen Entschlusse den Kopf und sagte:

»Ich möchte nicht gern ein Frauenzimmer unglücklich machen. Wenn ich einen Mann zusammentrete, so ist das etwas, was mich - na! Aber eine Frau! Hm!«

»Sie werden aber dennoch bei der Wahrheit bleiben müssen.«

Der Schmied wollte antworten, wurde aber unterbrochen. Der Wacht-


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meister trat ein und meldete, daß eine Dame den Herrn Staatsanwalt dringend sprechen wolle.

»Wer ist sie?« frage dieser.

»Die Baronin von Helfenstein.«

Der Beamte warf einen fragenden Blick zu dem Fürsten hinüber. Dieser schien überrascht zu sein, nickte ihm aber aufmunternd zu.

»Sie meinen, daß ich sie eintreten lasse?« fragte der Beamte.

»Ja.«

»Sogleich?«

»Ja. Ich glaube nicht, daß Sie deshalb Wolf hier abtreten lassen müssen. Sie wird in derselben Angelegenheit kommen.«

Der Anwalt nickte und befahl, die Dame zu rufen.

Sie war heute noch schön, diese einstige Zofe Ella. Als sie sich näherte, so weiß und bleich, mit niedergeschlagenen Augen und zuckenden Lippen, fühlten die beiden Männer ein wirklich aufrichtiges Mitleid mit ihr.

"Sie wünschen mich zu sprechen, gnädige Frau?"

»Sie wünschen mich zu sprechen, gnädige Frau?« sagte der Staatsanwalt. »Mich allein?«

»O, die Anwesenden können bleiben,« antwortete sie gleichgiltig und nur halblaut.

»Bitte, nehmen Sie Platz!«

»Nein, an dieser Stelle habe ich zu stehen.«

»Ich habe Ihren Wunsch zu berücksichtigen. Bitte, sprechen Sie!«

»Mein Mann befindet sich in Gefangenschaft?«

»Leider ja.«

»Und seine Mitschuldigen?«

»Die größte Zahl derselben.«

»Ich bin auch seine Mitschuldige. Ich bin sogar noch schuldiger als die Anderen. Ich bitte also, auch mir eine Gefängnißzelle anzuweisen.«

»Ich halte dies nicht für dringend geboten.«

»Warum nicht?«

»Seine Durchlaucht hat die Güte gehabt, für Sie Garantie zu leisten, gnädige Frau.«

»Wenn ich nun diese Garantie nicht anerkenne?«

»Das ändert nichts. Ich bin Vertreter des Gesetzes und erkenne sie an.«

»Nun, so sage ich Ihnen, daß ich entfliehen werde, wenn Sie mich nicht festnehmen.«

»Bedenken Sie wohl, was Sie thun!«

»Ich bleibe bei meinem Vorsatze. Ich entfliehe.«

»Dann muß ich mich allerdings Ihrer Person versichern.«

»Das wünsche ich.«

»Ich achte Ihre Beweggründe, doch erschweren Sie sich Ihre Lage wirklich gegen meinen Wunsch.«

Er klingelte. Als der Wachtmeister eintrat, befahl er ihm:

»Die Frau Baronin bleibt in Haft hier. Geben Sie ihr keine Zelle,


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sondern eins Ihrer abgelegenen Privatzimmer. Doch haften Sie mir dafür, daß sie nicht entflieht.«

»Soll ich sie gleich mitnehmen?«

»Ja.«

Da fragte die Baronin:

»Werden Sie mich heute noch verhören, Herr Staatsanwalt?«

»Gewiß.«

»Meinem Manne gegenüber?«

»Nein. Das werden wir später thun. Erst habe ich die Einzelverhöre zu erledigen. Adieu jetzt, gnädige Frau!«

Sie entfernte sich mit dem Wachtmeister. Auch der alte Schmied wurde entlassen, er hatte einstweilen genug mitgetheilt. Der Fürst durchschaute ihn. Er, nämlich der Schmied, hatte, als er in der Nacht sich in der Zelle seines Sohnes mit befand, diesem zugeflüstert:

»Du bist unschuldig! Ich nehme Alles auf mich. Sorge nur für die Mutter!«

Er hatte geglaubt, daß es nicht gehört worden sei; der Fürst aber hatte die Worte deutlich vernommen und hielt es nicht für seine directe Aufgabe, das Vorhaben des reumüthigen Alten zu durchkreuzen.

»Jetzt nehme ich den Baron vor,« sagte der Staatsanwalt.»Wollen Sie hospitiren, Durchlaucht?«

»Nein,« antwortete dieser. »Er würde meine Anwesenheit als Vorwand nehmen, Ihnen die Beantwortung Ihrer Fragen zu verweigern. Aber zwei Bitten habe ich.«

»Ich erfülle sie gern.«

»Lassen Sie den Schuhmacher August Seidelmann, welcher noch in Rollenburg inhaftirt ist, nach hier translociren, und bemächtigen Sie sich auch der Person des Apothekers Horn. Ueber den Riesen Bormann wird man sich ärztlichen Bericht erbitten müssen. Ich bin im Stande, ihn sofort zu heilen. Horn hat die betreffende Arznei.«

Er ging, und nach kurzer Zeit wurde der Baron herein gebracht. Er war gefesselt, grüßte nicht, nahm aber sofort auf einem Stuhle Platz.

»Ich habe Ihnen nicht erlaubt, sich zu setzen, stehen Sie auf!« gebot ihm der Anwalt.

Er antwortete nicht. Der Beamte klingelte, und als der Wachtmeister eintraf, befahl er:

»Nehmen Sie dem Angeklagten den Stuhl weg!«

Der einstige brave Schließer Christian gehorchte und zog dem Baron den Stuhl fort, so mußte er stehen.

»Herr Staatsanwalt, was erlauben Sie sich!« sagte er zornig. »Noch bin ich nicht verurtheilt!«

»Aber Sie stehen unter Anklage!«

»Ich muß sitzen. Ich bin krank!«


// 1789 //

»Ich werde Sie vom Gerichtsarzte untersuchen lassen. Hält er den Stuhl für Sie unvermeidlich, so werden Sie ihn haben, eher aber nicht.«

»Ich bin ferner gefesselt!«

»Aus triftigen Gründen.«

»Ich weiß aber, daß kein Untersuchungsgefangener gezwungen werden kann, seine Aussagen unter Fesseln abzugeben!«

»Es herrscht allerdings die humane Gepflogenheit, dem Gefangenen während des Verhöres die Fesseln abzunehmen; aber der Beamte ist trotzdem ermächtigt, dieselben beizulassen, wenn er triftige Gründe dafür hat.«

»Haben Sie diese vielleicht?«

»Gewiß!«

»Welche?«

»Ich bin Ihnen keineswegs Auskunft schuldig, sage Ihnen aber, daß Sie des Fluchtversuches verdächtig sind.«

»Ah! Was hat mich verdächtig gemacht?«

»Die Drohungen, welche Sie heute Nacht gegen den Herrn, welcher Sie gefangen nahm, aussprachen.«

»Ach so. Das waren freilich keine leeren Drohungen; ich werde sie vielmehr wahr machen.«

»So behalten Sie die Hand- und Fußschellen.«

»Nun werde ich Ihnen keine einzige Antwort geben!«

»Um so schlimmer für Sie. Machen wir aber wenigstens den Versuch. Ich werde Ihnen -«

»Ah, pah! Geben Sie sich keine Mühe! Ich gebe Ihnen mein Wort, daß ich keine Sylbe antworte!«

»Ich werde dies zu Protokoll nehmen!«

»Meinetwegen!«

»Und Sie haben es zu unterschreiben!«

»Fällt mir nicht ein.«

»Sie verweigern mir also Antwort und Unterschrift?«

»Ja.«

»Sie handeln zu Ihrem eigenen Schaden, und Sie irren sich in mir, wenn Sie glauben, mir in dieser Weise imponiren zu können. Herr Wachtmeister, hat der Gefangene Brod in seiner Zelle?«

»Ja.«

»Nehmen Sie es wieder heraus. Franz von Helfenstein bekommt zwar Wasser, zu Essen aber bis auf Weiteres keinen Bissen. Notorische Mörder und Räuberhauptleute dürfen ihre Ansprüche nicht übertreiben. Führen Sie ihn ab. Er hat seinen Anzug abzulegen und ein Anstaltsgewand aus Drell zu tragen. Ich werde in einer Stunde nachsehen, ob diesem Befehle nachgekommen worden ist!« - -

Der Akrobat Bormann lag noch am späten Vormittage schlafend in seinem Bette, als er von seinem Wirthe Wunderlich geweckt wurde.


// 1790 //

»Stehe auf!« sagte dieser. »Es sind außerordentliche Dinge geschehen, Dinge, die Du gar nicht glauben wirst.«

»Was denn?« fragte der Langschläfer gähnend.

»Der Hauptmann ist arretirt worden.«

Sofort saß Bormann aufrecht in seinem Bette.

»Wann?« fragte er.

»Drei Uhr Morgens.«

»Wo?«

»Beim Fürsten von Befour.«

»Alle Donnerwetter! So weiß man nun wohl auch, wer der Hauptmann ist?«

»Man munkelt von dem Baron von Helfenstein.«

»Da schlage doch das Wetter drein! Wie hat man ihn denn erwischen können?«

»Er ist mit seiner ganzen Bande dort eingebrochen.«

»Heiliges Pech! Sind außer ihm noch mehr gefangen?«

»Alle, Alle! Und man vermuthet, daß noch mancher Andere arretirt werden wird, von dem man es gar nicht ahnt und denkt.«

»Etwa Du?«

»Oder Du!«

»Pah! Aber nun weiß ich, was ich wissen will. Höre, mein bester Wunderlich, Du hast mich gestern Abend mit so unendlicher Freude willkommen geheißen, daß es mir wirklich noch unendlicher Leid thut, Deine Gastfreundschaft nur bis heute Abend genießen zu dürfen. Ich mache mich unsichtbar!«

»Zieh ab mit hellem Klang der Lieder, und komme mir ja niemals wieder.«

»Kerl, Du berstest ja vor Zärtlichkeit!«

»Sie kommt aus einem aufrichtigen Herzen.«

»Das glaube ich Dir. Hoffentlich aber siehst Du ein, daß es mir schwer wird, mich von Dir zu trennen.«

»Ich lasse Dich auch nicht gern fort; da aber das Schicksal einmal beschlossen zu haben scheint, daß wir scheiden, so wollen wir uns drein fügen und nicht etwa eine Thränenflut vergießen, welche uns nur um unsere gute Stimmung bringen würde. Ich bin kein Freund unnützer Aufregungen.«

»Ich auch nicht. Also, soll es geschieden sein, so sei es bald und mit dem Muthe starker Männer. Komm her und gieb mir den Abschiedskuß, alter Freund!«

Er reichte ihm den Mund hin; der Andere aber sagte:

»Danke sehr! Wen ich küssen soll, der muß ein appetitlicheres Maul haben als Du!«

»Ganz wie Du willst. Also heute Abend gehe ich; eher wirst Du mich freilich nicht los. Du weißt, daß es einige Leute hier giebt, vor denen ich mich nicht sehen lassen kann.«

»Ah, Deine guten Freunde von der Polizei!«


// 1791 //

»Sie sind ja auch die Deinigen. Nur bist Du ihnen noch nicht in das Netz gegangen; aber ich denke mir, daß dies seiner Zeit auch noch geschehen wird.«

»Soll mir nicht einfallen. Mich ergreift man nicht!«

»O, der Vogel, welcher so pfeift, geht am Leichtesten und am Ersten auf den Leim.«

»Lassen wir das! Wieviel Uhr gehst Du?«

»Punkt Mitternacht.«

»Ich werde Dir öffnen. Hast Du vielleicht ein Geschäft?«

»Möglich; Dich aber geht es nichts an!«

Von jetzt an blieb Bormann den ganzen Tag und Abend allein. Er erhielt sein Essen und Trinken auf sein Zimmer, sonst aber bekümmerte sich Niemand um ihn.

Es begann am Nachmittage wieder zu regnen; als es Abend wurde, goß es in Strömen, und gar gegen Mitternacht heulte ein rasender Sturm und peitschte den Regen mit solcher Gewalt gegen die Straßen, daß es kaum möglich war, sich auf den Beinen zu erhalten. Das war ganz das Wetter, wie Bormann es brauchte. Es befand sich ganz sicher kein Mensch auf der Straße, als nur Diejenigen, welche durch irgend einen Umstand gezwungen waren, sich in diesen Aufruhr der Elemente zu wagen.

Punkt zwölf Uhr kam Wunderlich zu dem Akrobaten.

»Nun, bist Du bereit?« fragte er.

»Ja,« antwortete der Gefragte.

»Dein Gang muß sehr nothwendig sein!«

»Warum?«

»Dieses fürchterliche Wetter - -«

»Ist das allerbeste für mich.«

»Danke bestens. Also komme!«

»Warte! Hast Du nicht einen Hammer?«

»Wozu?«

»Das geht Dich nichts an!«

»Oho! Wenn man Dich erwischt und findet den Hammer.«

»Was ist's dann weiter?«

»Man könnte auf mich gerathen.«

»Steht Dein Name auf dem Hammer?«

»Nein.«

»So bist Du ja in gar keiner Gefahr. Uebrigens hattest Du früher nicht nur einen, sondern mehrere Hämmer. Wähle den aus, den Du entbehren kannst.«

»Gut! Aber von mir hast Du ihn nicht, geschehe, was da wolle!«

»Dummkopf! Sei nicht so ängstlich!«

Wunderlich führte ihn in den Flur hinab, holte einen Hammer, öffnete die Hausthür und sagte dann:

»Hier ist er! Jetzt sind wir fertig.«


// 1792 //

»Ja. Ich glaube nicht, daß wir uns jemals wiedersehen werden, so leid Dir das auch thun wird.«

»Ich habe Dir bereits gesagt, daß ich nicht weinen werde.«

»Schön! Ist heute noch etwas passirt?«

»Nein.«

»Hast Du auch in Beziehung auf den Baron von Helfenstein nichts Neues gehört?«

»Gar nichts, als daß man in seiner Wohnung sehr streng ausgesucht hat.«

»Ist etwas gefunden worden?«

»Vieles.«

»Was zum Beispiel?«

»Weiß ich es? Glaubst Du, daß die Herren vom Gericht es ausplaudern werden?«

»Na, auch der vorsichtigste Mensch verplappert sich einmal.«

»Du scheinst Dich für den Baron sehr zu interessiren.«

»Möglich.«

»Gilt ihm Dein heutiger Gang?«

»Was geht es Dich an?«

»Nichts, gar nichts.«

»Also frage nicht!«

»So packe Dich fort!«

»Oho! Klingt das wie der Abschied eines Freundes?«

»Wenigstens wie derjenige eines Mannes, der sich nicht gern in Gefahr begeben will.«

»Na, so gehab Dich wohl. Nimm Dich in acht vor dem Zuchthause. Falschmünzer steckt man gern ein.«

»Und hüte Du Dich vor dem Galgen. Du scheinst sehr nahe bei ihm zu stehen.«

»Dummkopf! Also adieu!«

»Adieu! Auf Nimmerwiedersehen!«

Bormann trat hinaus in das Regenwetter. Der Orkan faßte seine riesige Gestalt mit solcher Gewalt, daß er Mühe hatte, sich aufrecht zu halten. Er mußte sich förmlich ihm entgegen lehnen.

Es begegnete ihm kein lebendes Wesen. Sogar die Nachtwächter hatten sich unter die Thorwege zurückgezogen, um wenigstens einigermaßen geschützt zu sein. Es war ein richtiges, echtes Spitzbubenwetter, ganz zu einer bösen That geeignet. Hätte auch das Licht der Laterne ausgereicht, das Terrain um wenige Schritte weit zu erhellen, so schlug doch der Sturm Einem völlig die Augen zu.

Bormann arbeitete sich bis an das Gefängnißgebäude. Er umschlich es, um zu sehen, ob er allein sei. Er bemerkte kein einziges menschliches Wesen.

Er war bereits einige Male in diesen Räumen gefangen gewesen, also kannte er sie. Er machte nicht von dem Haupteingange Gebrauch, sondern er


// 1793 //

suchte eine Hinterpforte, welche aus dem Gefängnißhofe in das Freie führte. Er zog den gestern von dem Hauptmanne erhaltenen Hauptschlüsssel heraus und probirte. Der Schlüssel paßte und öffnete die Pforte.

Er schloß sie hinter sich wieder zu und schlich leise an der Mauer entlang nach dem zweiten Eingange des eigentlichen Gebäudes. Auch hier öffnete er mittelst des Schlüssels und schloß dann wieder hinter sich ab.

Er befand sich in einem nur spärlich erleuchteten Flur, von welchem links eine Thür nach den Verhörzimmern und -sälen, rechts aber eine zweite in das eigentliche Gefängniß führte. Er schloß diese letztere auf und trat auf einen Vorplatz, von welchem aus eine Treppe nach oben führte. Hier zog er seine Stiefel aus und steckte sie hinter die Treppe. Diese Letztere war ihm sehr wohl bekannt. Er war über sie hinweg aus dem Gefängnisse in das Verhör geführt worden.

Auf den Strümpfen stieg er lautlos empor. Der Sturm tobte übrigens draußen mit solcher Wuth, daß man auch hier im Innern ein ziemlich lautes Geräusch gar nicht zu unterscheiden vermochte.

Jetzt kam er oberhalb der Treppe an eine Thür, welche er nur mit der äußersten Vorsicht öffnete. Er schien sich in der Nähe einer Gefahr zu befinden. Er trat ein, verschloß aber dieses Mal die Thür nicht, sondern klinkte sie nur ein. Ein langer, hell erleuchteter Zellengang dehnte sich vor ihm hin. Gleich über der ersten Thür war zu lesen: »Aufsichtszelle.« Die anderen Thüren waren mit fortlaufenden Nummern bezeichnet.

Er trat an die erstere und lauschte angestrengt. Während einer kurzen, windstillen Pause glaubte er Schnarchlaute zu vernehmen. Er machte leise, ganz leise auf und blickte durch die Spalte in den kleinen Raum.

Auf dem Lager hingestreckt war der Gefängnißwärter in Schlaf gefallen. In der Hand hielt er ein Schlüsselbund. An der Wand hingen Ketten und eiserne Fesseln, daneben die Schlüssel dazu. Auf dem Tische lag ein aufgeschlagenes Buch die - Zellenliste.

Der Akrobat zog die Thür hinter sich zu und trat leise an das Lager. Ohne mit der Wimper zu zucken, zog er den Hammer hervor, holte aus und führte einen fürchterlichen Hieb gegen die Stirn des Schläfers.

Der Getroffene gab keinen Laut von sich; er streckte sich und war todt.

»Bis hierher ging's gut,« murmelte Bormann. »Hoffentlich kommt nichts drein.«

Er nahm den Schlüsselbund und die Fesselschlüssel und trat an den Tisch.

»Nummer acht, erste Etage: Baron Franz von Helfenstein, rechter Flügel,« las er. »So weiß ich es also! Vorwärts!«

Er verließ die Aufsichtszelle, schloß sie hinter sich zu, zog den Schlüssel ab und steckte ihn ein. Den Hammer hatte er auch zu sich genommen. An einem Kleiderständer hing der Capot und die Mütze des Schließers. Bormann


// 1794 //

setzte die Letztere auf und zog den Ersteren an. Dieser war ihm zwar zu eng und zu kurz, reichte aber hin, für einige Augenblicke zu täuschen.

Jetzt trat der Mörder an den Hauptgashahn und drehte ihn so weit zu, daß es auf dem Gange nur noch ein düsteres Licht gab. Dann ging er denselben hinab bis dahin, wo eine Thür nach dem rechten Flügel führte.

Dort horchte er. Als der Sturm einmal Athem holte, hörte der Lauscher laute, abgemessene Schritte.

»Donnerwetter! Ein Militärposten,« fluchte er. »Dachte es mir. Na, ich fürchte mich nicht!«

Er öffnete jetzt mit dem Hauptschlüssel die Thür laut. Der Posten hörte es, drehte sich um und fragte:

»Wer da?«

»Der Schließer. Bitte, kommen Sie einmal her!«

Der Soldat erblickte die blanken Knöpfe auf dem Capot und die farbige Mütze. Er hatte keinen Verdacht.

»Was giebt es?« fragte er, näher kommend.

Bormann war nicht eingetreten. Er stand neben dem Eingange, nur spärlich von den trüben Gasflammen des ersten Zellenganges beleuchtet.

»Haben Sie nichts gehört?« fragte er.

»Was soll ich denn gehört haben?«

Während dieser Worte war der Posten ganz nahe herangekommen, so daß Bormann ihn mit der Hand berühren konnte.

»Ein Sägen und Feilen.«

»Wo denn?«

»Dort hinten.«

Bormann zeigte in den Flügelgang hinein. Ganz unwillkürlich drehte sich der Soldat um, um mit dem Auge der angedeuteten Richtung zu folgen. In diesem Augenblicke schnürte ihm der riesenstarke Mann mit der Linken die Kehle zusammen und schlug ihm mit dem Hammer ein Loch in den Hinterkopf. Dann legte er ihn hinter die Thür und huschte eilig nach der Nummer Acht.

Im Nu war die Thür geöffnet.

»Herr Baron!«

»Donnerwetter! Bormann!«

»Ja. Sind Sie gefesselt?«

»Natürlich.«

»Ich habe die Schlüssel.«

Das Gaslicht drang in die offene Zelle. Bormann trat ein. Nachdem er zwei der Fesselschlüssel vergebens probirt hatte, paßte der dritte.

»Wo ist der Posten?« fragte der Baron.

»Erschlagen.«

»Alle Teufel! Und der Schließer?«

»Auch todt.«

»Sie sind ein verwegener Kerl!«


// 1795 //

»Sonst könnte ich Sie nicht herausholen. Da, jetzt sind Sie los. Schnell, kommen Sie!«

Sie verließen die Zelle, welche Bormann wieder verschloß. Als sie an dem Soldaten vorüberkamen, bewegte er sich. Er war also nicht todt.

»Soll ich ihm noch Eins geben?« flüsterte Bormann.

»Nein, wenn es nicht durchaus nothwendig ist.«

»Ich glaube nicht. Also weiter.«

Vorn am Eingange sagte der Akrobat:

»Man hat Ihnen Ihre Kleider genommen. Ziehen Sie den Capot hier an, und hier ist die Mütze. In dem Anzuge von Sackleinwand würde jeder Begegnende in Ihnen einen entsprungenen Gefangenen erkennen.«

Der Baron folgte dieser Aufforderung. Dann verließen sie das Gefängniß auf demselben Wege, auf welchem Bormann, der unten seine Stiefel wieder anzog, in dasselbe gekommen war. Draußen auf der Straße angekommen, fragte er:

»Jetzt wohin?«

»Nach meiner Wohnung.«

»Sapperment! Das geht nicht.«

»Warum nicht?«

»Man hat dort ausgesucht! Man wird sie bewachen.«

»Keine Sorge! Mich fängt man nicht wieder! Ich habe einen Diener, auf den ich mich verlassen kann. Ich muß mit ihm reden.«

»Ist er eingeweiht?«

»So ziemlich. Wenigstens weiß er Bescheid, falls ich einmal arretirt werden sollte. Er wird auf seinem Posten sein. Er hat Einiges, was ich nothwendig brauche, in seiner Verwahrung.«

»Man wird es bei der Haussuchung gefunden haben.«

»Auf keinen Fall.«

»So wollen wir es wagen.«

Sie kämpften sich gegen den Sturm bis in die Nähe des Palastes. Dort führte der Baron den Akrobaten an den Brunnen und sagte:

»Bleiben Sie hier, bis ich wiederkomme!«

»Aber Vorsicht, Vorsicht, um Gottes willen!«

»Keine Sorge! Sehen Sie das erleuchtete Fenster in der ersten Etage?«

»Ja.«

»Dort wartet der Diener. Ich werfe ein Steinchen hinan, und darauf kommt er an eines der dunklen Parterrefenster. Womit haben Sie den Schließer erschlagen?«

»Mit einem Hammer.«

»Haben Sie diesen noch?«

»Ich werde ihn doch nicht dort lassen!«

»Geben Sie ihn mir, so habe ich auf alle Fälle eine Waffe.«

»Hier ist er. Aber machen Sie nicht lange, denn auch mich darf Niemand sehen.«


// 1796 //

Der Baron entfernte sich.

Bormann paßte auf. Nach einigen Augenblicken wurde an dem erleuchteten Fenster der Vorhang aufgezogen und wieder herabgelassen. Das war jedenfalls das Zeichen, daß der Diener das Signal seines Herrn erwartet und auch vernommen hatte.

Von jetzt an vergingen fast drei Viertelstunden, welche dem Wartenden wie Jahre vorkamen. Endlich hörte er nahe Schritte. Ein in einen Regenmantel gehüllter Mann trat auf ihn zu.

»Bormann?«

»Wer ist's?«

»Ich bin's. Ah, Sie kennen mich nicht! Gut so! Hier regnet es zu sehr. Schnell hinüber unter das Kirchenportal, damit wir uns dort verständigen.«

Das Portal war so tief, daß der Regen sie nicht erreichen konnte. Als sie dort angekommen waren, sagte der Akrobat:

»Ich habe fast Angst ausgestanden. Sie blieben so lange fort, fast eine ganze Stunde.«

»Es ging nicht schneller.«

»Was haben Sie da unter dem Mantel?«

»Einen Reisekoffer mit Pässen und Geld.«

»Wozu den Koffer? Sie wollen doch nicht etwa auf die Eisenbahn?«

»O, doch.«

»Das wäre eine riesenhafte Unvorsichtigkeit!«

»Pah! Der beste Freund würde mich nicht erkennen. Uebrigens will ich gar nicht abreisen.«

»Weshalb also nach der Bahn?«

»Um per Droschke vom Bahnhofe zu kommen. Ich will im Hotel Union absteigen.«

»Donnerwetter! Sie sind des Teufels!«

»Ganz und gar nicht.«

»Was wollen Sie in dem Hotel?«

»Uns für einige Millionen Gulden Diamanten holen.«

»Uns? Ich also auch mit?«

»Ja.«

»Danke sehr!«

»Warum? Wollen Sie nicht reich werden?«

»Unter diesen Umständen nicht. Ich bin hier bekannt. Ich darf mich am Allerwenigsten in einem Hotel sehen lassen.«

»Das sollen Sie auch nicht.«

»Was denn?«

»Hören Sie mich an! Ich komme vom Bahnhofe, steige als Fremder dort im Hotel ab und lasse mir ein Zimmer des ersten Stockes geben. Sie beobachten das. Sobald ich allein bin, kommen Sie zu mir.«

»Auf welche Weise?«


// 1797 //

»Hier im Koffer befindet sich ein Seil. Ich lasse es zum Fenster herab und Sie turnen sich daran empor.«

»Gut. Das geht. Was dann weiter?«

»Sind Sie in meinem Zimmer, so haben wir sehr leichtes Spiel. Ich habe den Schlüssel zu den Zimmern der Tänzerin.«

»Welcher Tänzerin?«

»Ach so! Sie wissen das noch nicht. Im Hotel Union wohnt eine amerikanische Tänzerin, welche Baargeld und Brillanten im Werthe von mehreren Millionen bei sich hat. Verstanden?«

»Alle Wetter! Also auf diese ist es abgesehen?«

»Ja.«

»Ist's nicht zu gefährlich?«

»Gar nicht. Wir warten, bis die Corridorlichter ausgelöscht sind und dann schleichen wir uns ein.«

»Wenn sie Lärm macht!«

»So geben wir ihr Eins vor den Kopf. Das erinnert mich an Ihren Hammer. Ich habe ihn nicht gebraucht und also wieder mitgebracht. Hier ist er. Jetzt frage ich Sie, ob Sie mitmachen wollen?«

»Wissen Sie genau, daß diese Reichthümer wirklich da und auch zu haben sind?«

»Ganz gewiß.«

»Na, so wäre ich ein Esel, wenn ich darauf verzichtete! Vogelfrei bin ich einmal. Jetzt heißt es, Geld her, und zwar genug, um verschwinden und dann irgendwo ohne Sorge leben zu können. Das bieten Sie mir, und so wäre ich der größte Esel, wenn ich nicht zugriff. Aber was thun wir dann, wenn wir mit der Tänzerin fertig sind: Hoffentlich bleiben wir nicht in der Stadt!«

»Kann mir nicht einfallen. Ich weiß einen Ort, an welchem wir zunächst ungestört die Diamanten theilen können.«

»Theilen?« fiel der Akrobat schnell ein.

»Ja.«

»Also ein Jeder die Hälfte?«

»Natürlich!«

»Darauf wollten Sie wirklich eingehen?«

»Das versteht sich ganz von selbst. Gleiche Gefahr und gleicher Lohn; das ist nicht mehr als nur gerecht.«

»Aber ich sage Ihnen, daß mich das wundert.«

»Pah! Ich behalte genug. Also, haben wir getheilt, so geht Jeder seinen eigenen Weg.«

»Gut! Es ist nur gefährlich, wenn wir beisammen bleiben. Und übrigens bin ich kein Cumpan für Sie, Herr Baron von Helfenstein.«

»Pah! Es hat sich ausgebaront. Mir bleibt nichts Anderes übrig, als auch Ihnen: Ich muß verschwinden und mir irgend einen Winkel suchen, an welchem ich unerkannt und unbelästigt zu leben vermag. Donnerwetter!«

»Was giebt's?«


// 1798 //

»Da kommen Zwei!«

»Sie werden uns nicht sehen.«

»Hoffen wir es. Also Sie warten am Hotel?«

»Ja.«

Es kamen zwei Gestalten gegen den Wind an der Kirche vorüber. Der Sturm heulte auf und warf ihnen eine ganze Regensee entgegen.

»Sapperment!« sagte der Eine. »Wollen wir nicht einen Augenblick hier untertreten?«

»Ja. Wir haben ja Zeit.«

Sie waren während dieser kurzen Worte stehen geblieben; jetzt schritten sie auf das Portal zu.

»Sie kommen!« sagte der Akrobat.

»Ja. Schnell fort, Bormann!« antwortete der Baron.

Sie flohen nicht, sondern sie traten aus dem Portale heraus wie Zwei, die ebenso wie die Anderen das Recht gehabt hatten, hier Schutz zu suchen. Diese Letzteren blieben stehen. Der Wind war ihnen entgegengekommen und hatte ihnen die letzten Worte des Barons, der laut sprechen mußte, um im Sturmesgeheul verstanden zu werden, an's Ohr getragen.

»Haben Sie es gehört?« fragte der Eine.

»Ja.«

»Sagte der Eine nicht: Fort, Bormann?«

»Ja.«

»Kennen Sie diesen Namen?«

»Riese Bormann, habe oft von ihm gehört.«

»Und war nicht der Andere eine Riesengestalt?«

»Allerdings.«

»Schnell, ihnen nach!«

»Warum?«

»Davon später. Sie sind da die Straße hinab. Wir müssen ihnen so nahe kommen, daß wir ihnen unbemerkt folgen können, ohne sie aus dem Auge zu lassen.«

Der Sprecher war der Doctor der Philosophie Max Holm. Er war heute Abend einmal im Tivoli gewesen, um seine alten Collegen musiciren zu hören. Jetzt ging er nach dem Concerte mit dem lustigen Paukenschläger nach Hause.

Sie eilten die angegebene Straße hinab. Der Riese hatte sich bereits von dem Baron getrennt und war in eine Nebengasse eingebogen. Sie sahen also nur den Baron vor sich, welcher nur langsam gehen konnte, weil der Sturm ihm grad entgegenblies. Er konnte im Toben desselben die Schritte der beiden ihm folgenden Männer nicht hören; auch drehte er sich nicht um, und so bemerkte er gar nicht, daß er verfolgt wurde.

»Es ist nur Einer!« sagte Hauck.

»Ja. Wo mag der Andere sein?«

»Vielleicht ist dieser da der Falsche.«

»Das glaube ich nicht.«

»Warum nicht? Die Zwei haben ihn überlaufen. Sie sind also vor ihm.«


// 1799 //

»Nein. Sehen Sie den aufgebauschten Regenmantel?«

»Ja, natürlich.«

»Er trägt irgend etwas darunter. Ich habe das gleich vorhin gesehen, als er aus dem Portale trat.«

»Also ist es der Eine, der Kleine. Wo aber ist der Riese?«

»Jedenfalls durch eine Nebengasse fort.«

»Aber grad auf diesen hatten Sie es doch abgesehen!«

»Allerdings. Es ist aber unmöglich, ihn zu finden, und so halte ich es für gerathen, diesen da nicht aus den Augen zu lassen. Wer mit Bormann geht, ist verdächtig. Wir müssen erfahren, wohin er geht. Vielleicht giebt es hier etwas zu entdecken, was dunkel bleiben soll.«

Sie schritten weiter und immer weiter, durch mehrere Straßen dahin. Hauck schüttelte sich und sagte:

»Ich bin naß bis auf die Haut. Wollen wir nicht lieber umkehren, Herr Doctor?«

»Nein. Ich will Sie nicht hindern; ich aber bleibe diesem Menschen auf den Fersen.«

»Aber wir jagen wohl einem Phantom nach. Ich glaube doch, daß der Riese noch gefangen ist.«

»Er kann entsprungen sein.«

»Oho!«

»Es passiren jetzt wunderbare Dinge. Uebrigens hat der Riese einen Bruder, welcher auch polizeilich gesucht wird. Wie leicht kann dieser es gewesen sein.«

»Sie rechnen mit großen Zufälligkeiten.«

»Nun, wenn ich mich täusche, so bin ich auch nicht nasser als vorher, nämlich bis auf die Haut.«

»Schön! Aber sehen Sie, da biegt der Kerl nach der Bahnhofstraße ein. Er will verreisen.«

»So werden wir ihn uns auf dem Bahnhofe ansehen.«

»Er hat die Caputze in's Gesicht geschlagen.«

»Im Wartezimmer wird er sie herunter thun.«

»Na, Herr Doctor, Sie sind ja ganz Feuer und Flamme. Sie sind begeistert wie ein Jagdhund, der hinter dem armen Hasen her ist.«

»Sie wissen aber gar nicht, wie gut es sein kann, diesem Manne zu folgen. Denken Sie an die Ereignisse der letzten Tage! Ich selbst bin da mit verflochten. Gehen Sie nach Hause, oder kommen Sie mit. Mir ist's recht.«

»Brrr! Stellen Sie mir nur nicht gleich den Stuhl vor die Thür! Ich komme ja!«

Natürlich war dieses Gespräch nur abgerissen und mit Pausen geführt worden. Jetzt tauchten die Gaslichter des Bahnhofes durch den dichten Schleier des Regens auf. Vor dem Bahngebäude hielten trotz des Unwetters mehrere


// 1800 //

Droschken. Holm und Hauck befanden sich nur wenige Schritte hinter dem Baron. Jetzt faßte der Erstere den Letzteren am Arme und sagte:

»Halt! Warten wir! Hier giebt es mehr Licht und er darf nicht merken, daß wir ihm gefolgt sind.«

»Meinetwegen! Der Kerl kommt mir jetzt auch verdächtig vor.«

»Wieso?«

»Nun, er konnte doch von Haus aus eine Droschke nehmen. Kein vernünftiger Mensch läuft in diesem Wetter.«

»Vielleicht ist er arm!«

»Ein armer Teufel hat keinen solchen Regenmantel. Uebrigens geht jetzt irgend ein Zug ab?«

»Nein.«

»Bis zum Frühzuge ist's noch einige Stunden. Was will der Mensch jetzt schon auf dem Bahnhofe?«

»Er will vielleicht das Geld für das Gasthofslogis ersparen und also den Abgang des Zuges hier erwarten.«

»Schön! Aber warum geht er nicht hinein?«

»Das wundert mich auch. Da rechts ist er nach dem Vorbau hinauf; dort links steht er jetzt. Ah! Sapperment! Jetzt geht er zu den Droschken hin!«

»Wahrhaftig!«

»Wenn er eine Droschke nimmt, hat er eine Teufelei vor.«

»Das ist sicher.«

»Man läuft nicht in dieser Sintflut nach dem Bahnhofe, um mit einer Droschke wieder zurückzufahren.«

»Das ist allerdings sehr verdächtig! Da steigt er ein!«

»Wirklich! Wir ihm nach.«

Die Beiden eilten nach der nächsten Droschke und Holm befahl dem Kutscher derselben:

»Fahren Sie diesem Herrn nach. Merken Sie sich das Haus genau, wo er aussteigt und eintritt. Sie fahren aber unauffällig weiter und halten an der nächsten Ecke!«

Sie stiegen ein und der Kutscher gehorchte.

»Warum gaben Sie die Weisung, weiter zu fahren?« fragte Hauck. »Wir konnten ja auch dort halten. Ich vermuthe, daß er an einem Gasthofe absteigt.«

»Ich auch. Aber ich bin überzeugt daß es sich um einen Schurkenstreich handelt -«

»Ich auch. Weiter!«

»Dieser Mann will den Schein erwecken, daß er fremd sei und vom Bahnhofe komme. Er hatte den Streich mit dem Anderen verabredet, und ich setze meinen Kopf zu Pfande, daß dieser Andere sich bereits in dem Gasthofe befindet oder, falls er sich da nicht sehen lassen kann, in der Nähe desselben wartet.«

»Sie sind der reine Polizist; aber Sie können Recht haben.«

Die Fenster der Droschke waren angelaufen; der Regen wurde so dagegen gepeitscht, daß sie nicht einmal bemerken konnten, durch welche Straßen sie kamen.


Ende der fünfundsiebzigsten Lieferung - Fortsetzung folgt.



Karl May: Der verlorne Sohn

Karl May – Forschung und Werk