Lieferung 101

Karl May

19. Juli 1884

Waldröschen
oder
Die Rächerjagd rund um die Erde.

Großer Enthüllungsroman
über die
Geheimnisse der menschlichen Gesellschaft

von

Capitain Ramon Diaz de la Escosura.


// 2401 //

Sie erröthete bis hinter die Ohren und antwortete:

»Weil Ihr mich nicht sogleich sehen solltet.«

»Warum sollte ich das nicht?«

»Weil - weil - - weil - - - o bitte, erlaßt mir diese Antwort, Sennor.«

Er blickte ihr prüfend in die Augen und sagte dann:

»Und doch gäbe ich viel darum, wenn ich diese Antwort hören dürfte. Bitte, bitte, Sennorita! Wollt Ihr sie nicht sagen?«

Sie senkte das Köpfchen und flüsterte:

»Ich war ja nicht allein!«

»Nicht allein? Wie meint Ihr das?«

»Mein Vater war dabei.«

Da überkam es ihm wie eine süße, glückliche Ahnung. Er bog den Kopf zu ihr herab und fragte:

»Und warum sollte Euer Vater nicht dabei sein?«

Da zog sie rasch ihre Hände aus den seinigen, legte ihm die beiden Arme um den Hals und antwortete:

»Er sollte nicht sehen, wie lieb, wie sehr lieb ich Dich habe und mit welcher Bangigkeit ich auf Dich wartete.«

Der starke Mann hätte am Liebsten laut aufjubeln mögen, aber er beherrschte sich. Er schlang seine Arme um sie, zog sie an sich und fragte in einem Tone, welcher das ganze Glück seines Herzens verrieth:

»Ist das wahr, wirklich wahr?«

»Ja,« sagte sie, indem sie ihr Köpfchen fest an seine Brust legte, »Du darfst es glauben.«

»Meine Resedilla.«

Nur diese beiden Worte sprach er, dann aber standen sie in einer innigen Umarmung bei einander, und ihre Lippen fanden sich zur zärtlichsten Vereinigung. Es war ein Augenblick so großen Glückes, daß Gérard meinte, gar nicht daran glauben zu dürfen.

»Also Du liebst mich wirklich, wirklich, mein süßes, gutes Mädchen?« flüsterte er ihr zu.

»Innig!« antwortete sie.

»Und hast Dich um mich gesorgt?«

»Sehr!«

»Um diesen armen, einfachen Jäger. Um diesen fremden, bösen Mann, der in seiner Heimath nichts gewesen ist als ein - -«

»Bst!« machte sie, indem sie ihm den Mund mit einem Kusse verschloß. »Du sollst nicht davon sprechen.«

»Aber muß ich denn nicht?«

»Nein, niemals. Nie wieder. Gott hat Dir vergeben! Gott wird Dich glücklich machen.«

»Durch Dich, nur allein durch Dich!« sagte er. »O, welche Sorgen habe ich gehabt. Selbst noch in der letzten Zeit. Es war mir, als hätte ich frevlerisch meine Hand nach einem Gute ausgestreckt, welches ich niemals erlangen könne.«


// 2402 //

»Da hast Du es. Ich bin ja Dein.«

»Ja, mein, mein, mein,« jubelte er, indem er sie küßte und immer wieder küßte. »Aber Dein Vater?«

Da breitete sich ein beinahe muthwilliges Lächeln über ihr hübsches Gesicht, und sie fragte:

»Fürchtest Du ihn?«

»Ja, beinahe.«

Da zog sie das Mündchen zu einem spaßhaften Schmollen zusammen und rief, ihn mit großen Augen betrachtend:

»Du, der berühmte Jäger? Du fürchtest den alten Pirnero?«

»Ja,« wiederholte er lächelnd.

»Nun meinetwegen. Aber Du bist nicht allein. Du findest Hilfe.«

»Bei wem?«

»Bei mir, mein Gérard. Uebrigens weißt Du ja, was mein Vater von Dir denkt. Er ist förmlich verliebt in Dich.«

»So meinst Du also, daß ich mit ihm sprechen soll?«

»Ja.«

»Wann?«

Sie erröthete ein wenig, doch antwortete sie getrost und mit sicherer Stimme:

»Wann Du willst, mein Lieber.«

Er drückte sie abermals innig an sich und fragte im Tone der größten, glücklichsten Zärtlichkeit:

»Baldigst?«

»Ja,« antwortete sie.

»Noch heute?«

»Noch heute,« nickte sie, ihre strahlenden Augen zu ihm erhebend.

»Ich danke Dir, mein Leben, meine Seele, meine Seligkeit. Gott, wie habe ich denn ein solches Glück verdient. Ich bin nicht werth, eins dieser lieben, kleinen, warmen Händchen in meiner Hand zu halten, und doch soll ich Dich ganz besitzen, und Du willst mein Eigen sein für das ganze Leben!«

»Ja, Gérard, Dein Eigen für jetzt und immerdar,« fügte sie hinzu. »Aber, sag, wer sind die Beiden, welche Du mitgebracht hast?«

Da zuckte ein schelmisches Lächeln über sein Gesicht. Er antwortete:

»Der Eine ist mein Freund, und die Andre ist - meine Braut.«

Sie blickte verwundert zu ihm auf.

»Deine - Braut?« fragte sie.

»Ja,« nickte er übermüthig.

»Aber, das - das verstehe ich nicht.«

»So muß ich es Dir schleunigst erklären, meine Resedilla. Dein Vater war nämlich wißbegierig, was ich nun beginnen werde, und ich antwortete: Heirathen. Er fragte mich, wen? Da machte ich mir den Spaß, ihm zu sagen, daß diese Dame meine Braut sei.«

Resedilla lachte, rief aber dennoch:

»O wehe!«

»Warum?«


// 2403 //

»Nun wird er außerordentlich schlechte Laune haben. Wo ist er?«

»In der Küche. Wir haben Essen bestellt.«

»Das wird nicht zum Besten ausfallen. Aber, wo werdet Ihr wohnen? Magst Du Dein Zimmer wieder haben?«

»Das, wo ich damals vor Ermüdung eingeschlafen war?«

»Ja,« lachte sie. »Wo ich Deine Büchse untersuchte, ob ihr Kolben von Gold sei. Ist Dir dieses Zimmer recht?«

»Ich wollte Dich bereits darum bitten.«

»So mögen die anderen Beiden - ah, ich weiß ja noch immer nicht, wer sie sind.«

»Warte noch ein wenig, meine gute Resedilla. Ich will sehen, ob Du es errathen wirst. Für jetzt genügt es zu wissen, daß es Mann und Frau ist.«

»So werden sie neben Dir wohnen können. Die Sennora wird ermüdet sein. Ich werde sie holen, um sie auf ihr Zimmer zu führen, damit sie den Staub der Reise los wird.«

»Bleib, mein Lieb! Ich werde sie selbst holen.«

Er ging hinab und gab durch die leise geöffnete Thür den Beiden einen Wink, ihm zu folgen. Draußen aber fragte die Dame:

»Ist sie daheim, Gérard?«

»Ja,« antwortete er unter einem fröhlichen Nicken.

»Hast Du mit ihr gesprochen?«

»Soeben.«

»Ah, Dein Gesicht hat einen nichts weniger als unglücklichen Ausdruck. Darf ich rathen?«

»Ja. Rathe einmal, Kind.«

»Sie ist Dein?«

Da holte er tief, tief Athem und antwortete:

»Ja, sie will mein sein, sie, die Gute, die Reine, will mir angehören, dem Bösen, dem Unreinen.«

Da ergriff sie seine Hand und bat:

»Sei still, Gérard! Was Du warst, das warst Du ohne Deine Schuld. Und selbst damals, als Du zu den von Gott scheinbar Verlassenen gehörtest, hat Dich die Liebe veredelt, welche Du zu mir im Herzen trugst. Komm! Ich bin begierig, Die kennen zu lernen, welcher Du es verdankst, daß Du es endlich über Dich gewonnen hast, Dich mit Deinem Gewissen auszusöhnen.«

»Sie weiß noch nicht, wer Du bist.«

»Du hast es ihr nicht gesagt?«

»Nein.«

»Warum?«

»Weil ich sehen will, ob sie scharfsinnig genug sein wird, es zu errathen. Kommt herauf.«

Oben hatte Resedilla bereits die Zimmer geöffnet, sie stand da, die Beiden erwartend.

»Willkommen, Sennor! Willkommen, Sennora!« sagte sie, ihnen die Hände entgegenstreckend. »Ich hoffe, daß Ihr mit uns fürlieb nehmen werdet. Ah!«


// 2404 //

Diesen letzten Ausruf stieß sie aus, indem sie die Dame näher in das Auge faßte.

»Was ist's, meine Resedilla?« fragte Gérard.

»Ah, diese Aehnlichkeit,« antwortete sie mit allen Zeichen freudiger Ueberraschung. »Soll ich rathen, wen Du mir bringst?«

»Ja, rathe.«

»Diese Sennora ist Deine Schwester.«

Da nickte er unter einem befriedigten Lächeln mit dem Kopfe und antwortete:

»Richtig! Es ist Annette, meine Schwester, liebe Resedilla.«

»Dieselbe, welche Sennor Sternau damals in Paris aus der Seine gerettet hat, als sie in das Wasser stürzte?«

»Dieselbe!«

»Willkommen, tausendmal willkommen. Welch eine Freude! Eine solche Ueberraschung habe ich nicht für möglich gehalten.«

Sie umarmte die Französin, und diese sah und erkannte, welche Perle ihr Bruder in diesem guten, herzlichen Mädchen gefunden hatte. Sie erwiderte die Umarmung auf das Herzlichste und sagte:

»Habt Dank, Sennorita, für die Liebe, welche mein Bruder in Eurem Hause gefunden hat. Wir werden Euch das nie vergessen. Gott segne Euch dafür, da wir es Euch nicht vergelten können.«

Nach einiger Zeit kam Resedilla in die Küche, wo ihr Vater mit der alten Magd zwischen den Schüsseln und Tellern wirthschaftete. Als er sie erblickte, fragte er:

»Wo warst Du?«

»Oben in meiner Stube,« antwortete sie.

»Gehe rasch wieder hinauf.«

»Warum?«

»Wir brauchen Dich nicht.«

»Ich habe doch das Essen zu bereiten.«

»Dummheit. Wir bringen das schon selbst fertig. Dieser Gérard braucht sich auf keine großen Delicatessen zu spitzen.«

Sie wußte, weshalb er sich in einer so grimmigen Stimmung befand. Sie verbarg ihr Lächeln und meinte:

»Ich denke, Du hältst so große Stücke auf ihn!«

»Papperlapapp! Diese Zeiten sind vorüber.«

»Warum denn?«

»Das geht Dich gar nichts an. Wo ist der Kerl?«

»In seiner Stube.«

»Hm! Der kann eigentlich bei den Vaquero's auf dem Heu schlafen. Nicht einmal einen lumpigen Julep hat er sich geben lassen. Wo sind die beiden Anderen?«

»Droben.«

»Hast Du sie gesehen?«

»Natürlich!«

»Donnerwetter! Weißt Du, wer das Weibsbild ist?«

»Nun?«

»Seine Braut.«

Resedilla machte eine Miene des allergrößten Erstaunens.

»Seine Braut?« fragte sie. »Nein, das glaube ich nimmermehr.«

»Glaube es meinetwegen oder nicht. Er hat es mir selbst gesagt. Aber die Strafe kommt auf dem Fuße. Hier, dieses Essen soll ihm gut bekommen. Ich habe statt Butter Talg, statt Zucker Pfeffer, statt Milch Essig und anstatt des guten Fleisches eine alte Rindslunge genommen. Das steht am Feuer, bis es verbrannt ist, und dann mögen sie sich die Zähne ausbeißen und die Mäuler am Pfeffer verbrennen.«

»Aber, Vater! Was denkst Du - -«

»Still! Kein Wort,« unterbrach er sie. »Wer so dumm ist, heirathen zu wollen, für den ist eine verbrannte und verpfefferte Ochsenlunge noch immerhin eine Delicatesse, welche er gar nicht werth ist. Packe Dich fort. Wir brauchen Dich nicht.«

»Aber, das geht nicht. Ihr Beide versteht ja vom Kochen und Braten nicht das Allergeringste.«

»Grad darum kochen und braten wir für dieses Volk. Teufel noch einmal! Will ich mich freuen über die Gesichter, welche sie schneiden werden, wenn sie in die famose Lunge beißen. Du aber, Du kannst verschwinden. Wir brauchen Dich nicht.«

Er faßte sie an und schob sie zur Thüre hinaus. Sie ließ es unter heimlichem Lachen geschehen und begab sich zu dem Geliebten, um diesen vor der famosen Rindslunge zu warnen. Dann aber setzte sie sich in das Gastzimmer an ihr Fenster.

Nach einiger Zeit trat die alte Magd ein und begann, zu decken. Pirnero beaufsichtigte dieses Geschäft und schickte sie dann nach oben, um die drei Gäste zur Tafel zu holen. Dann setzte er sich an sein Fenster, aber so, daß er den Tisch, an welchem gegessen werden sollte, übersehen konnte. Er freute sich über die enttäuschten Gesichter, welche er nach seiner Ansicht zu sehen bekommen werde.

Die Drei traten ein und nahmen mit den ernstesten Mienen Platz. Pirnero sah jetzt zum ersten Male Annettes Gesicht.

»Pfui Teufel!« brummte er ganz leise vor sich hin. »Sich so eine alte Grille auszulesen. Aber, hm, ja. Eine Andere hätte er ja auch gar nicht bekommen.«

Gérard nahm die Gabel und spießte sie in die Lunge. Er mußte Gewalt anwenden, um die Gabel hineinzubringen.

»Sapperlot,« meinte er schmunzelnd und vor Appetit mit der Zunge schnalzend. »Welch ein saftiger und weicher Braten. Was ist denn das, Sennor Pirnero?«

»Gebackene Kalbslunge,« antwortete dieser.

»Ah, mein Leibgericht.«

»Meins auch, lieber Gérard,« meinte die Dame, »aber gebackene Kalbslunge sollte eigentlich kalt gegessen werden.«

»Ja, kalt ist sie mir auch zehnmal lieber,« antwortete Gérard. »Wie wäre es, wenn wir sie uns bis zum Abend aufheben?«

»Ich bin dabei. Aber was essen wir dann?«

»O, ich habe noch ein mächtiges Stück am Spieße gebratene Büffellende in


// 2406 //

meinem Sattelsacke. Das hole ich, und wir wärmen es. Habt Ihr noch Feuer, Sennor Pirnero?«

»Nein,« antwortete dieser, ganz erbost, daß er um die gehoffte Genugthuung kommen sollte.

Gérard aber ließ sich nicht irre machen. Er öffnete die Küchenthür, blickte hinaus und sagte:

»Dort brennt es ja noch hell und lichterlohe. Ich werde das Lendenstück holen. Sennorita Resedilla, werdet Ihr so gut sein und es unter Eure Aufsicht nehmen?«

Ihr Vater warf ihr einen befehlenden Blick zu. Sie sollte die Frage verneinen; aber sie erhob sich vom Stuhle und antwortete:

»Ich kann es Euch doch wohl nicht abschlagen, Sennor, obgleich es um die schöne Lunge jammerschade ist.«

»Ja,« meinte Pirnero. »Kalbslunge kalt essen. Habe das noch nie gehört, weder hier noch drüben in Pirna, wo sie doch auch wissen, was gut schmeckt oder nicht.«

Aber er konnte es nicht ändern. Gérard holte seinen Braten herbei und übergab ihn an Resedilla, welche mit ihm in der Küche verschwand. Dann wendete er sich an Pirnero:

»Können wir einstweilen einen Julep erhalten, Sennor?«

»Ja. Doch Einen nur für alle Drei?«

Gérard that, als ob er die Malice, welche in dieser Frage lag, gar nicht bemerke, und antwortete:

»Nein, sondern pro Person einen.«

»Ah! Die Sennora trinkt auch Julep?«

»Natürlich!«

»Hm! Das erwartet man eigentlich nur von einer Indianerin!«

»Sie hat auch lange Zeit in der Nähe von Indianern gewohnt.«

Pirnero holte die Schnäpse und setzte sich dann wieder an sein Fenster. Es trat eine tiefe Stille ein, welche Niemand unterbrechen wollte. Gérard wußte, daß der Alte es doch nicht lange so aushalten werde; er kannte seine Eigenthümlichkeiten. Er hatte sich auch nicht verrechnet, denn bereits nach fünf Minuten rückte Pirnero auf seinem Sitze hin und her, und nach abermals derselben Zeit sagte er, einen Blick zum Fenster hinauswerfend:

»Schlechtes Wetter.«

Kein Mensch antwortete. Darum wiederholte er nach einer Weile:

»Miserables Wetter!«

Als es auch jetzt noch still blieb, drehte er sich halb um und rief

»Na!«

»Was denn?« fragte Gérard lächelnd.

»Armseliges Wetter.«

»Wieso?«

»Diese Hitze!«

»Nicht so sehr schlimm!«

»Nicht? Donnerwetter! Wollt Ihr die Trockenheit noch schlimmer?«


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»Ich habe sie noch viel, viel schlimmer erlebt. Da draußen in der Llano estacado zum Beispiele.«

»Ja, aber hierher paßt sie nicht. Habt Ihr den Fluß gesehen?«

»Natürlich!«

»Fast gar kein Wasser darin. Die Fische verschmachten und die Menschen beinahe auch. Verfluchtes Land. Aber ich werde doch gescheidt sein, sehr gescheidt.«

»Wieso?«

»Ich ziehe fort.«

Dieser Gedanke kam Gérard überraschend.

»Ah! Wirklich?« fragte er.

»Ja. Es ist fest bestimmt.«

»Wohin zieht Ihr denn?«

»Hm! Wißt Ihr, wo ich her bin?«

»Ja.«

»Nun?«

»Aus Pirna in Sachsen.«

»Richtig. Nun wißt Ihr ja auch, wohin ich ziehe!«

»Wie? Nach Pirna wollt Ihr?«

»Das versteht sich. Uebrigens kann ich fast gar nicht anders.«

»Weshalb?«

»Weil ich gestern einen Brief bekam, aus Pirna nämlich. Könnt Ihr Euch etwa denken, von wem?«

»Ich habe keine Ahnung.«

»Ja, zu einer solchen Ahnung seid Ihr auch der richtige Kerl gar nicht, dazu fehlt es Euch an den nöthigen Begriffen. Wißt Ihr vielleicht, was man unter einem Schulfreunde versteht?«

»Das wenigstens weiß ich, trotzdem ich keine Begriffe habe,« antwortete Gérard lachend.

»Nun, so einen Schulfreund habe ich. Der hat es so nach und nach bis zum geheimen Stadtgerichtsamtswachtmeistersobersubstituten gebracht. Wißt Ihr, was das ist?«

»Ich ahne es.«

»Ja, so etwas könnt Ihr eben blos nur ahnen. Dieser Obersubstitut hat einen studirten Sohn, der erst bei der Eisenbahn, dann bei der Marine und endlich bei der Oberstaatsanwaltschaft gedient hat. Jetzt ist er wirklich geheimer Oberlandessporteleinzahlungskassenrevidirungsfeldwebel, und dieser wirkliche Geheime hat in dem gestrigen Briefe um die Hand meiner Resedilla angehalten.«

»Alle Teufel! Kennt er sie denn?«

»Dumme Frage. So vornehme Leute heirathen stets nur aus der Distanze und Entfernung.«

»Habt Ihr bereits geantwortet?«

»Ja.«

»Was?«

»Ich habe mein Jawort gegeben und meinen Segen ertheilt.«

»Das ist sehr schnell gegangen.«


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»Warum nicht? Dieser Schwiegersohn stammt aus einer der feinsten Familien des Landes. Er ist ein wirklicher Geheimer. Wen aber hätte Resedilla hier bekommen? Höchstens einen armen Teufel von Trapper oder Jäger, dem es lieb gewesen wäre, sich bei mir satt zu fressen.«

»Vielleicht habt Ihr recht. Ich gratulire.«

»Danke,« meinte der Alte unter einem höchst gnädigen und herablassenden Kopfnicken.

»Aber,« fuhr Gérard fort, »wenn Ihr hier fort wollt, was fangt Ihr da mit Eurem Eigenthume an?«

»Ich verkaufe.«

»Hm! Das wird schwer werden.«

»Unsinn! So ein Geschäft, wie das meinige, findet allemal seinen Mann. Und die paar Meiereien, welche mir gehören, werde ich auch bald los.«

»So habt Ihr wohl schon einen Käufer?«

»Ja.«

Das war eine Unwahrheit, aber in seinem Grimme lag es dem Alten nur daran, Gérard recht zu ärgern. Dieser machte die unschuldigste Miene von der ganzen Welt und sagte:

»Das ist schade, sehr, sehr schade!«

»Wieso?«

»Weil ich gekommen bin, um Euch zu fragen, ob Ihr nicht Lust habt, zu verkaufen.«

Da drehte Pirnero sich mit einem raschen Rucke zu ihm herum und fragte:

»Ihr? Ihr selbst?«

»Ja.«

»Ihr wolltet mich fragen, ob ich Lust habe, zu verkaufen?«

»Ja, ich.«

»Wie kommt denn Ihr zu einer solchen Frage?«

»Weil ich einen Käufer weiß, dem Euer Geschäft und Eure Liegenschaften sehr gut passen würden.«

Pirnero war nur in seinem Grimme auf den Gedanken gekommen, zu verkaufen und fortzuziehen. Jetzt aber, da er von dem Jäger diese Worte hörte, war es ihm zu Muthe, als ob er diesen Entschluß bereits längst und unwiderruflich gefaßt habe.

»So?« fragte er. »Wer ist es denn?«

»Das zu erfahren, kann Euch doch nichts mehr nutzen!«

»So? Warum denn?«

»Weil Ihr bereits einen Käufer habt.«

»Das ist noch lange kein Grund, mir die Auskunft zu verweigern. Hat man zwei Käufer anstatt nur einen, so kann man sich den auswählen, der am Meisten bietet. Also, wer ist es?«

»Ich selbst.«

»Ihr selbst?« fragte Pirnero, indem er vor Erstaunen den Mund weit öffnete.

»Ja, ich,« antwortete Gérard sehr ruhig.


// 2409 //

»Sakkerment! Macht keine dummen Witze mit mir!«

»Pah! Ich rede sehr im Ernste.«

»So seid Ihr unsinnig!«

»Wieso?«

»Wie wollt Ihr der Käufer sein! Ihr könntet mir das Zeug doch gar nicht bezahlen!«

»Wißt Ihr das so genau?«

»Sehr genau. Der Kolben Eurer Büchse ist zwar von Gold, auch ist es möglich, daß Ihr wißt, wo noch einige Nuggets liegen, und Ihr habt ja wohl einige Säcke Blei bei Euch. Aber das Alles ist doch noch nichts gegen die Summe, welche ich verlangen würde.«

»Hm. Vielleicht könnte ich sie doch bezahlen!«

»Versucht es einmal!« höhnte der Alte.

»Wieviel verlangt Ihr?«

»Hundertsechzigtausend Dollars. Zahlt Ihr die, so bekommt Ihr Alles, wie es steht und liegt.«

»Auch das Inventar?«

»Ja.«

»Und die Vorräthe im Magazin?«

»Ja.«

Gérard wiegte nachdenklich den Kopf hin und her.

»Hm,« sagte er. »Das wäre allerdings nicht übel. Aber leider habe ich allerdings diese Summe nicht.«

»Dachte es mir schon! Wie viel bringt Ihr denn zusammen?«

»Zwölftausend Dollars.«

»Das ist nichts, das zählt gar nichts! So viel haben nur arme Leute. Da ist mein wirklicher Geheimer ein anderer Kerl. Aber sagt mir doch einmal, was Ihr mit meinem Zeuge anfangen wolltet, vorausgesetzt nämlich, daß Ihr es bezahlen könntet!«

»Ich würde es verschenken.«

»Verschenken?« fragte Pirnero. »Seid Ihr verrückt?«

»Vielleicht.«

»Nicht vielleicht, sondern wirklich! Wer ein solches Vermögen verschenkt, der ist in Wirklichkeit verrückt. An wen würdet Ihr es denn verschenken?«

»An den Sennor da drüben.«

»An den? Wer ist er denn?«

»Mein Schwager.«

»Euer Schwager? Ah, ich verstehe! Der Bruder von Eurer Braut. Na, es ist schon dafür gesorgt, daß der Ziege der Schwanz nicht zu lang wächst. Mit dem Verschenken wird es nichts. Mit dem Kaufen auch nicht, selbst wenn Ihr noch einige hundert Dollars für das Blei bekommt, welches ich Euch abkaufen werde.«

»Leider, leider! Aber sagt, wie bezahlt Ihr das Blei?«

»Je nach der Güte.«

»Da möchte ich doch einmal erfahren, was Ihr für das meinige bietet.«

»Laßt es sehen!«


// 2410 //

Ohne ein Wort zu sagen, entfernte sich Gérard und brachte einen der Ledersäcke herein, welche von den Dienern abgeladen worden waren. Dieser mußte sehr schwer sein, wie es schien.

»Warum hier?« fragte Pirnero. »Das machen wir ja drüben im Laden ab.«

»Hier oder drüben, das bleibt sich gleich,« antwortete der Jäger. »Ihr werdet das Blei doch nicht kaufen.«

Dabei legte er den Sack vor Pirnero hin.

»Warum nicht kaufen?« fragte dieser.

»Weil Ihr ihn nicht bezahlen könnt.«

Da lachte der Alte laut auf.

»Ich, und dieses Blei nicht bezahlen!« sagte er. »Ich sage Euch, daß ich es Euch augenblicklich bezahlen könnte, selbst wenn Ihr zehn solche Säcke brächtet! So viel Geld hat der alte Pirnero immer!«

»Wollen sehen! Macht einmal auf!«

Er zog sein Messer und reichte es Pirnero hin. Dieser fragte:

»Darf ich das Siegel wegmachen?«

»Ja.«

»Und das Leder aufschneiden?«

»Natürlich. Ihr müßt ja das Blei sehen.«

Dabei stellte er den Sack aufrecht vor Pirnero hin. Dieser kratzte das Siegel mit dem Messer weg, machte einen Querschnitt und zog das Leder weg. Es gab nun eine zweite und dritte Lage ungegerbten Leders, welche Pirnero beseitigte. Dann bückte er sich nieder, um das Metall zu besichtigen, fuhr aber sofort wieder zurück.

"Ist's möglich?"

»Heiliges Pech! Ist's möglich?« rief er aus.

Seine Augen waren weit geöffnet und starrten mit einem Ausdrucke unbeschreiblichen Erstaunens auf Gérard.

»Was denn?« fragte dieser.

Pirnero bückte sich abermals nieder, um den Inhalt des Sackes genauer zu besichtigen.

»Das nennt Ihr Blei!« rief er.

»Haltet Ihr es denn für etwas Anderes?«

Da fuhr der Alte mit beiden Händen in den Sack, wühlte darin herum und antwortete:

»Blei, sagt Ihr? Das ist ja Gold, reines, gediegenes Gold! Nuggets von der Größe einer Haselnuß!«

»Alle Teufel!« lachte Gérard. »Was habe ich da gemacht! Da habe ich mich wahrhaftig vergriffen und meine Nuggets eingepackt anstatt des Bleies!«

Pirnero war ganz starr. Er hielt die beiden mit Nuggets gefüllten Hände grad vor sich hin und starrte wie abwesend auf das Gold. Resedilla hatte in der Küche kein Wort des Gespräches sich entgehen lassen. Sie war jetzt herein gekommen und stand ebenso erstaunt da wie ihr Vater.

»Euch vergriffen!« rief dieser endlich. »Um Gottes Willen! Wie schwer ist denn dieser Sack?«

»Sechzig Pfund,« antwortete der Jäger.


// 2411 //

»Und jedes Maulthier schleppte zwei solche Säcke?«

»Ja.«

»Und wem gehört das Alles?«

»Mir.«

»Euch? Euch allein? Mensch, so seid Ihr ja steinreich!«

»Möglich.«

»Reicher, zehnmal reicher, als ich es bin!«

»Sehr wahrscheinlich.«

»Aber sagt, woher habt Ihr denn dieses Gold?«

»Aus den Bergen. Uebrigens liegt noch mehr da oben.«

»Noch mehr? Und Ihr wißt, wo es zu finden ist?«

»Ja.«

»Mensch! Kerl! Gérard! Sennor! Und das sagt Ihr mit einer solchen Seelenruhe, als ob es sich um einen Pappenstiel handele!«

»Pah! Das Gold macht nicht glücklich. Ich habe mir ein Weniges geholt, weil ich es brauche, um mich zu verheirathen, wie ich Euch bereits sagte.«

»Leider, leider. Aber, Sennor, nehmt es mir nicht übel. Ihr spielt da den schlimmsten Streich Eures Lebens!«

»In wiefern?«

Ohne zu beachten, daß die Dame zugegen war, ließ Pirnero in seinem Paroxysmus sich fortreißen, zu antworten:

»Ihr hättet noch eine ganz andere Frau gekriegt!«

»So? Meint Ihr? Was denn für eine?«

»Nun, eine, die Euch wenigstens einen tüchtigen Schwiegervater mitbringen würde.«

»Das ist allerdings etwas werth,« lachte Gérard. »Zuerst war es freilich meine Absicht, mir ein Mädchen zu suchen, welche mir einen Schwiegervater mitbringen werde, aber -«

»Was, aber? Habt Ihr etwa keine solche gefunden?«

»O ja doch! Aber ich kam zu spät.«

»Wieso zu spät?«

»Ihr Vater hatte sie einem Anderen versprochen.«

»Kannte er Euch denn nicht?«

»O, sehr gut.«

»Dann ist er ein ganz ungeheurer Dummkopf gewesen!«

»Wohl nicht.«

»O doch! Wer Euch kennt, der weiß, was Ihr werth seid.«

»So viel war ich doch nicht werth, wie der Andere, der das Mädchen bekommen soll.«

»Ah! Wirklich? War der Andere denn gar ein so großes Thier?«

»Ein sehr großes,« antwortete Gérard ernsthaft.

»Nun, was war er denn da?«

»Er ist wirklich geheimer Oberlandessporteleinzahlungskassenvisitirungsfeldwebel.«

Pirnero wich zurück, blickte den Jäger eine Weile an und fragte dann:


// 2412 //

»Wie meint Ihr das? Was wollt Ihr damit sagen?«

»Was der Andere ist, wollte ich sagen.«

»Donnerwetter! Das sind ja meine eigenen Worte!«

»Freilich.«

»Ihr meint den Pirn'schen da drüben?«

»Ja.«

Da fixirte der Alte die Anwesenden alle Einen nach dem Anderen und rief dann:

»Sennor Gérard, wollt Ihr mich etwa confus machen?«

»Nein, sondern Ihr habt mich ganz confus gemacht!« antwortete dieser höchst ernsthaft.

»Euch? Womit?«

»Mit Eurem wirklich Geheimen.«

»Wie kann ich Euch mit dem confus machen? Hattet Ihr denn ein Auge auf die Resedilla geworfen?«

»Ja, alle beide sogar!«

Da brauste der Alte zornig auf:

»Und dort steht Eure Braut!«

»O nein, Sennor.«

»Nicht? Ihr sagtet es doch!«

»Ich machte nur Scherz. Diese Sennora ist meine Schwester und die Frau meines Schwagers, der da neben ihr steht.«

Da machte Pirnero ein Gesicht, als ob er Scheidewasser verschluckt habe.

»Also Scherz?« fragte er. »Sakkerment, was sind mir das für Sachen! Dadurch kann ein braver Kerl nur in die gewaltigste Klemme gerathen! Uebrigens mag Euch die Resedilla ja gar nicht!«

»Wißt Ihr das so genau?« fragte Gérard.

»Ja. Sie reißt ja vor Euch aus!«

»Das thut nichts. Ich bin ihr nachgefolgt.«

»Ah! Wirklich?«

»Ja, und habe sie gefragt, ob sie aus Haß oder aus Liebe vor mir ausgerissen ist.«

»Dummheit! Aus Liebe reißt keine aus!«

»Es ist aber doch so gewesen. Resedilla hat mir gesagt, daß sie mich lieb hat und daß sie bereit sei, meine Frau zu werden.«

Da drehte der Alte sich nach seiner Tochter um.

»Ist das wahr?« fragte er.

»Ja, lieber Vater,« antwortete die Gefragte, zwar erröthend, aber doch ohne Furcht und Scheu.

Da schlug Pirnero die eine Hand auf die andere und rief:

»Nun hört mir aber doch Alles und Verschiedenes auf! Reißt vor ihm aus und will ihn dennoch heirathen! Also Ihr seid Euch gut?«

Sein Gesicht war plötzlich ein ganz anderes geworden; es glänzte förmlich vor Befriedigung und Freude.

»Ja,« antworteten Beide.


// 2413 //

»Na, da nehmt Euch denn in Gottes Namen!«

Er wollte ihre Hände ergreifen, aber Gérard wehrte ab und sagte:

»Ich danke, Sennor! Damit ist es nichts!«

»Nichts? Alle Wetter! Warum denn?«

»Ihr müßt ja Eurem wirklich Geheimen Wort halten!«

»Unsinn! Der lebt ja nicht!«

»Wie? Was? Er lebt ja drüben in Pirna!«

»Nein. Den giebt es ja gar nicht.«

»Aber Ihr sagtet es ja!«

Pirnero befand sich in Verlegenheit, doch kam ihm ein Gedanke, den er sofort zur Ausführung brachte.

»Ja, gesagt habe ich es,« meinte er, »aber nur, um Euch zu bestrafen, Sennor Gérard.«

»Das begreife ich nicht.«

»Und doch ist es so einfach. Haltet Ihr mich etwa für gar so dumm, daß ich Euch nicht durchschaue? Ich habe es längst gewußt, wie es mit Euch und Resedilla steht, ich habe nicht geglaubt, daß diese Sennora Eure Braut sei; aber weil Ihr mir das weiß machen wolltet, habe ich zur Strafe das Märchen von dem wirklich Geheimen erfunden.«

Niemand glaubte es ihm; aber sie ließen sich das nicht merken und Gérard fragte:

»Also, Sennor, so sagt mir allen Ernstes, ob ich Euch als Schwiegersohn recht und willkommen bin.«

Da streckte ihm der Alte beide Hände entgegen und rief:

»Na und ob! Junge, willst Du das Mädel wirklich haben?«

»Von ganzem Herzen!«

»Und Mädel, bist Du in den Kerl wirklich so verliebt, daß Du ihn heirathen willst?«

»Ja,« lachte Resedilla unter Thränen.

»So kommt an mein Herz, Kinder! Endlich, endlich habe ich einen Schwiegersohn. Und was für einen!«

Er drückte sie Beide fest an sich und schob sie dann einander in die Arme, indem er sagte:

»Und da, umarmt Euch und gebt Euch einen Kuß, damit ich sehe, ob es wahr ist, was ich beinahe nicht glauben möchte.«

Sie küßten sich und nun faßte er sie bei den Köpfen und rief:

»Wahrhaftig, sie küssen sich! Na, da giebt es keinen Zweifel mehr. Kommt her, Kinder! Auch von mir soll ein Jedes seinen Schmatz haben, der Gérard, die Resedilla, der Schwager und auch die Schwester!«

»Nicht auch die alte Köchin, von wegen der gebackenen Lunge?« fragte Gérard lachend.

»Kinder, laßt das gut sein. Die Lunge war ein Braten aus Aerger. Ihr sollt etwas ganz Anderes bekommen.«

Er nahm die vier Anwesenden nach einander beim Kopfe. Er fühlte sich so


// 2414 //

glücklich, wie noch nie, ja, er vergaß sogar in seiner Freude das Gold, bis er fast über den Sack hinweggestürzt wäre.

»Ah, die Nuggets,« sagte er da. »Was geschieht mit denen?«

»Mit ihnen werde ich bezahlen,« antwortete Gérard.

»Was denn?«

»Ah, hast Du denn unseren Handel vergessen, lieber Vater?«

Pirnero machte einen Luftsprung und rief:

»Lieber Vater, sagt dieser Kerl, und Du nennt er mich! Himmelbataillon, da könnte man vor Freude gleich den Mond vom Himmel reißen. Ja, sobald man einen Schwiegersohn hat, ist man ein ganz anderer Kerl! Aber unser Handel? Hm, das ist nun so ein Ding. Soll ich denn wirklich verkaufen?«

»Ich denke, Du bist dazu entschlossen,« meinte Gérard.

»Ich that allerdings so. Es war so vor Grimm und Wuth.«

»Schade.«

»Wieso, schade?«

»Ich hätte die Geschichte gekauft und meiner Schwester geschenkt.«

»Mensch, das wäre toll!«

»Nein. Mein Schwager und meine Schwester sehnen sich nach einem Platze, wo sie fest und sicher wohnen können. Beide sind arm, ich aber habe mehr als genug. Da dachte ich, wir und der Vater könnten ihnen das Geschäft und die Meiereien ablassen und dann zögen wir an einen anderen Ort.«

»Hm,« meinte Pirnero. »Nicht übel. Aber an welchen Ort?«

»Das würde sich finden. Nach Mexiko, nach New-York, nach London, nach Paris, nach Dresden -«

»Oder nach Pirna!« unterbrach ihn der Alte fast jauchzend. »Himmelsapperlot, Kinder, glaubt Ihr denn, daß ich jemals so einen Gedanken gehabt habe?«

»Welchen?« fragte Resedilla.

»Meine Vaterstadt zu besuchen. Man hielt es nicht für möglich, aber ich habe niemals daran gedacht. Jetzt aber werde ich auf einmal gescheidt. Halloh, hurrah! Was werden sie in Pirna sagen, wenn ich komme! Aber, ah, da habe ich einen Gedanken!«

Er machte plötzlich ein so nachdenkliches Gesicht, daß Gérard sich erkundigte:

»Was für ein Gedanke ist es?«

»Hm. Als was soll ich denn eigentlich nach Pirna gehen?«

»Du bist ja Kaufmann hier, lieber Vater.«

»Kaufmann? Das ist ein Jeder, das zieht noch lange nicht,« meinte der Alte verächtlich.

»Haziendero?

»Sie wissen da drüben gar nicht, was das ist.«

»Plantagenbesitzer?«

»Auch nichts. Ah, ich wußte etwas!«

»Was?«

»Es war doch hier bei Fort Guadeloupe eine Schlacht -«

»Allerdings.«

»Ich habe auch mit gekämpft.«


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»Hm!« machte es Gérard.

»Und zwar sehr tapfer.«

»Hm!«

»Wenn ich recht nachsuche, finden sich vielleicht sogar ein paar Wunden und Schrammen, die ich davongetragen habe.«

»Hm! «

»Ich suche also Juarez auf und - und - - und - - -«

Er stockte. Resedilla fragte:

»Was willst Du bei ihm?«

»Nun, Juarez ist Präsident, er kann Stellen oder Chargen vergeben, ganz nach Belieben.«

»Du möchtest wohl eine?«

»Freilich!«

»Was für eine?«

»Hm, er könnte mich zum Lieutenant machen!«

»Du machst wohl Spaß, Vater?«

»Spaß? Ja, Lieutenant in meinen Jahren, das klingt allerdings sehr spaßhaft; es ist also besser, ich werde Hauptmann oder Major, am Allerbesten aber Oberst. Donnerwetter! Was würden sie in Pirna für Augen machen, wenn da plötzlich ein echter mexikanischer Oberst aus der Kutsche stiege und den Leuten erzählte, daß er vor fünfzig Jahren beim alten Schneidermeister Wehrenpfennig in die Schule gegangen ist. Ich kriegte ein Denkmal gesetzt und eine Tafel über die Thür meines Geburtshauses. Kinder, ich mache zu Juarez. Ich verkaufe Alles, ich verkaufe Sack und Back und werde Oberst. Juarez hat mir so viel zu verdanken, daß er mir ein solches Gesuch gar nicht abschlagen kann.«

- - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - -

Einige Zeit später saß der alte, brave Haziendero Petro Arbellez in seiner Stube am Fenster und blickte hinaus auf die Ebene, auf welcher seine Heerden wieder ruhig weiden konnten, da die kriegerische Bewegung sich nach Süden gezogen hatte.

Arbellez sah wohl aus. Er hatte sich vollständig wieder erholt; doch lag auf seinem Gesichte ein schwermüthiger Ernst, welcher ein Widerschein der Stimmung seiner Tochter war, welche sich unglücklich fühlte, da sie den Geliebten verloren hatte.

Da sah Arbellez eine Anzahl Reiter von Norden her sich nähern. Voran ritten zwei Männer und eine Dame, und hinter diesen folgten etwa ein Dutzend Packpferde, welche von drei Männern getrieben wurden.

»Wer mag das sein?« meinte Arbellez zu der alten Maria Hermoyes, welche sich bei ihm befand.

»Wir werden es ja sehen,« meinte diese, nun auch hinaus nach der Ebene blickend. »Diese Leute kommen gerade auf die Hazienda zu und werden also wohl hier einkehren.«

Die Reiter, in solche Nähe angekommen, spornten ihre Thiere zu größerer Eile und ritten bald durch das Thor in den Hof ein. Man denke sich das Erstaunen des Haziendero, als er Pirnero erkannte und die Freude Emma's, als


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sie Resedilla und den schwarzen Gérard erblickte, den sie ja von dem Fort Guadeloupe her kannte.

Es gab auf der Hazienda eine Aufregung, welche sich nur langsam wieder legte, und ein Erzählen und Berichten, welches kein Ende nehmen wollte.

Nur Einer blieb sich gleich, ohne sich aufregen zu lassen, der schwarze Gérard nämlich. Kaum war er dem Haziendero vorgestellt worden, so litt es ihn nicht in dem engumschlossenen Zimmer; er ging hinaus in's Freie. Vor der Thür trat ihm Doctor Berthold entgegen, welcher sich mit Doctor Willmann nebst Pepi und Zilli noch auf der Hazienda befand.

»Ah, welche Ueberraschung,« rief der Arzt. »Monsieur Mason. Sie sind also gesund und wohl?«

»Gott sei Dank, ja,« antwortete der Gefragte. »Ich bin mit Pirnero und Resedilla soeben erst hier angekommen.«

»Diese Beiden sind da?« fragte der Arzt erstaunt.

»Ja.«

»In welcher Angelegenheit?«

»Hm! Ich will es eine Besuchsreise nennen. Pirnero ist ja mit Arbellez verwandt. Da oben giebt es nun eine Menge Scenen, eine Aufregung, ein Fragen und Horchen, daß ich förmlich geflohen bin. Aber, Monsieur, von unseren Bekannten ist ja kein Mensch zu sehen!«

»Wen meinen Sie?«

»Sternau.«

»Ah, der ist verschwunden.«

»Verschwunden? Was soll das heißen? Er ist verreist?«

»Nein. Er ist verschwunden, es muß ihm ein Unfall begegnet sein; das will ich mit diesem Worte sagen.«

»So will ich hoffen, daß Sie sich irren.«

»Leider irre ich mich nicht. Sternau ist fort und die Anderen mit ihm, ohne daß wir wissen, wo sie sich befinden.«

»Die Anderen? Wen meinen Sie?«

Der Arzt zählte ihm die Namen her.

»Tod und Teufel,« rief Gérard. »Das klingt ja grausig. Kommen Sie, kommen Sie, Monsieur. Wir gehen da in den Garten, wo Sie mir das Alles erzählen werden.«

Der Arzt that ihm den Willen und berichtete ihm Alles, was geschehen war von der Ankunft Donnerpfeils bis zum räthselhaften Verschwinden des alten Grafen.

Gérard hatte zugehört, ohne ein Wort dazu zu sagen. Als der Arzt aber geendet hatte, fragte er:

»Hat man nicht nach dem Grafen geforscht?«

»Natürlich hat man dies gethan.«

»Mit welchem Erfolge?«

»Ohne jeden Erfolg.«

»Unmöglich! Hat man keine Spur entdeckt?«

»Keine.«


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»Aber man muß doch irgend etwas gesehen haben - die Tapfen von Menschen oder Pferden.«

»Ach! Wer giebt darauf acht.«

»Aber der Graf kann doch nicht zum Fenster hinausgestiegen sein.«

»Man fand sein Fenster verschlossen.«

»Aber die Thür geöffnet?«

»Ja, wie ich glaube.«

»Sonderbar. War denn nicht ein guter Jäger in der Nähe, der die Umgebung hätte absuchen können?«

»Nein. Uebrigens war die allgemeine Bestürzung ganz außerordentlich. Ein Jeder war auf das Heftigste erschrocken und that, was er nach seiner Weise für das Richtige hielt. So kam es vielleicht, daß man nur Falsches vornahm, und daß grad das einzig Richtige unterlassen wurde.«

»Hatten sich am Tage vorher nicht verdächtige Leute blicken lassen?«

»Nein.«

»War kein Besuch auf der Hazienda?«

»O doch!«

»Wer war das?«

»Der Sohn eines Alkalden, welcher von Sennor Mariano an den Grafen geschickt wurde.«

»Ah! Da scheint es licht zu werden.«

»O nein, es wird vielmehr nur noch dunkler.«

»Wieso?«

»Dieser Bote ist uns auch ein Räthsel gewesen.«

»Das glaube ich,« meinte der schwarze Gérard in fast mitleidigem Tone. »Was sollte er beim Grafen?«

»Sennor Mariano schickte ihn, um sagen zu lassen, daß Josefa gefangen sei, und daß man Pablo Cortejo auch baldigst festnehmen werde.«

»Wer war der Mann?«

»Er sagte, daß er der Sohn des Richters aus Sombrereto sei.«

»Und Ihr habt das geglaubt?«

»Natürlich. Er legitimirte sich ja durch den Ring von Sennor Mariano, welchen er mitbrachte.«

»Und welchen er wieder mitnahm?«

»Nein. Don Ferdinando hat ihn behalten. Der Ring ist Hunderttausende werth, Ihr seht also, daß der Mann ehrlich war.«

»Wann ging er wieder fort?«

»Am anderen Morgen.«

»Wer war bei ihm?«

»Kein Mensch. Ich habe ihn fortreiten sehen, es war am hellen Tage.«

»Ah! Hm!« brummte der Jäger nachdenklich. »Erlauben Sie. Verzeihen Sie. Das ist eine Sache, welche sich um keine Sekunde aufschieben läßt.«

Er drehte sich rasch um und eilte nach dem Hause zurück.

Dort waren Alle im Empfangszimmer versammelt. Pirnero und Resedilla hatten erwartet, Sternau und dessen Freunde auf der Hazienda zu sehen, oder


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wenigstens gute Nachricht über sie zu erhalten. Es war leicht erklärlich, daß Beide nach ihnen fragten, und so kam es, daß auch hier im Empfangszimmer dasselbe Thema verhandelt wurde, wie unten im Garten zwischen dem Arzte und Gérard.

Der alte Haziendero hatte eben von dem räthselhaften Verschwinden des Grafen erzählt, und Alle hatten seinem Berichte gelauscht, als der schwarze Gérard eintrat. Er hörte noch die Worte Petro's, welcher mit der Bemerkung schloß, daß nur der leibhaftige Teufel hier sein Spiel gehabt haben müsse.

Einige der Hörer schlossen sich diesem Urtheile an; Keiner aber kam auf den Gedanken, welcher der allein richtige war. Pirnero meinte sogar zu dem Haziendero:

»Also Ihr habt bis jetzt nicht entdeckt, wohin der Graf verschwunden ist?«

»Nein. Es wird es wohl auch Niemand entdecken.«

»O, da dürftest Du Dich irren.«

»Wieso?«

»Weißt Du, was ein Diplomat ist?«

»Ja.«

»Und ein Politikus?«

»Ja.«

»Nun also! Vor einem Diplomaten und Politikus bleibt nichts verborgen. Auch diese Sache wird bald an den Tag kommen.«

»Du meinst durch einen Politikus?« fragte Arbellez.

»Ja,« antwortete Pirnero in stolzem Tone.

»Wer sollte das sein?«

»Hm! Ahnst Du das nicht?«

»Nicht im Geringsten.«

»So bist Du eben ganz und gar nicht das, was man einen Diplomaticus nennt. Als Juarez bei uns in Fort Guadeloupe war, habe ich ihm höchst wichtige Rathschläge ertheilt, er hat sie befolgt und gewinnt nun Schlacht auf Schlacht und Sieg auf Sieg.«

Arbellez machte ein sehr erstauntes Gesicht und sagte:

»Ah, meinst Du etwa, daß Du selbst - -«

Er vollendete den Satz nicht, weil er die Gaben und Eigenthümlichkeiten seines Schwagers sehr gut kannte.

»Was denn? So rede doch weiter. Daß ich selbst - -«

»Daß Du selbst ein Politikus seist?«

»Ja, gerade dieses meine ich. Oder glaubst Du das nicht?«

»Hm! Es müßte bewiesen werden.«

»Oho! Während der Anwesenheit von Juarez war ich nahe daran, Gouverneur einer der nördlichsten Provinzen zu werden.«

»Oho!« wiederholte Arbellez denselben Ausruf.

»Jaja! Und jetzt bin ich auf dem Wege, mexikanischer Oberst zu werden.«

»Was Du sagst.«

»Ja. Ich habe Euch bereits erzählt, daß ich Alles verkauft habe. Ich bin jetzt frei und mein eigener Herr. Wir Drei, Ich, Resedilla und ihr Verlobter,


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werden große Vergnügungsreisen machen und uns dann in einer Residenz niederlassen, London, Paris oder Pirna. Das kann ich nur im Character eines bedeutenden Mannes thun, und darum will ich Oberst werden. Bin ich nicht ein Politikus?«

»Allerdings, nämlich wenn wirklich Alles so ist, wie Du sagst.«

»Natürlich.«

»Und so meinst Du also, daß Du auch unser gegenwärtiges Räthsel lösen wirst?«

»Das versteht sich ganz von selbst. Wer dem Präsidenten Rathschläge ertheilt und nun Oberst werden will, dem wird es doch wohl gelingen, den Grafen Rodriganda aufzufinden.«

»Aber wie willst Du das anfangen?«

»Hm. Da ich es soeben erst erfahren habe, so hatte ich noch keine Zeit, es mir zu überlegen, aber ich werde schleunigst darüber nachdenken, lieber Schwager.«

Da fiel Gérard ein:

»Das ist nicht nur unnöthig, sondern sogar schädlich.«

»Wieso?«

»Unnöthig, weil Derjenige, der nicht sofort gleich auf das Richtige kommt, es auch durch das schärfste Nachdenken nicht finden wird. Und schädlich, weil man durch das Nachsinnen eine kostbare Zeit verlieren würde, während welcher man zu handeln hat.«

»Ah, mein Junge, willst etwa Du der Politikus sein, welcher hier gebraucht wird?«

»Ja. Ich bin überzeugt, daß ein echter, findiger Prairieläufer dazu gehört, das gut zu machen, was hier unterlassen worden ist.«

»Unterlassen?« fragte Arbellez. »Ich bin überzeugt, daß wir Alles gethan haben, was nothwendig war, Aufklärung zu erhalten.«

»So? Nun, was habt Ihr denn gethan?«

»Nun - hm! Geradezu Alles,« antwortete Arbellez, doch einigermaßen verlegen.

»Ah, ich sehe, wie es steht. Habt Ihr den Boden unter dem Fenster des Grafen untersucht?«

»Nein. Wozu wäre das nöthig gewesen?«

»Der Graf wurde durch das Fenster entführt.«

»Unmöglich.«

»Warum unmöglich?«

»Weil wir das Fenster von innen verschlossen fanden.«

»Jaja!« meinte Gérard unter einem überlegenen Lächeln. »Es gehört eben ein Jäger dazu, Alles zu begreifen und Alles sich zusammenzureimen. Wo liegt das Zimmer, in welchem der Graf damals schlief?«

»Gleich nebenan.«

Gérard trat an eines der Fenster und untersuchte dasselbe.

»Eure Fenster sind sehr alt. Die Rahmen beginnen bereits zu verwittern. Ist das mit dem Fenster in dem betreffenden Zimmer vielleicht ebenso?«

»Es ist ebenso alt wie diese hier.«

»Das ist mir lieb. Wohin führt es?«


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»Nach dem Hofe.

»Ist die Stelle des Hofes, welche unter demselben liegt, viel betreten?«

»Ganz und gar nicht. Es liegen seit einigen Jahren Bausteine und einige Baumstämme da, die ich zur Ausbesserung des Stalles benutzen wollte, aber noch nicht benutzt habe.«

»Ist zwischen diesen Stämmen und Steinen und der Mauer ein Zwischenraum?«

»Ja.«

»Wie breit?«

»Drei Fuß ohngefähr.«

»Und Niemand kommt dorthin?«

»Kein Mensch.«

»Gut. Ihr hättet unbedingt dort suchen lassen sollen. Spuren nach monatelanger Zeit zu finden, ist nicht wahrscheinlich; aber ich will wenigstens nicht versäumen, nachzusehen. Führt mich doch einmal nach dem Zimmer.«

Sein sicheres, bestimmtes Auftreten machte Eindruck. Voll der gespanntesten Erwartung begaben sich Alle nach dem erwähnten Zimmer, wo Gérard sofort zum Fenster trat, um es zu öffnen und zu untersuchen. Sie folgten jeder seiner Bewegungen mit der größten Aufmerksamkeit. Es waren auch kaum drei Augenblicke vergangen, so zeigte es sich, daß er der richtige Mann sei, zu finden, was er suchte. Er wendete sich zu Arbellez:

»Habt Ihr irgend Jemand im Verdacht gehabt, Sennor?«

»Nein,« antwortete der Gefragte.

»Hm! Auch den Boten aus Sombrereto nicht?«

»Nein. Wie kann ein Verdacht auf ihn fallen. Er legitimirte sich durch den Ring, den er brachte.«

»Er ritt am hellen Tage wieder fort?«

»Ja, am hellen Morgen.«

»Habt Ihr seitdem aus Sombrereto eine Nachricht erhalten?«

»Von dem Richter oder seinem Sohne nicht.«

»Von wem sonst?«

»Von Lord Lindsay.«

»Ah! Der war ja auf der Hazienda, als der Graf verschwand.«

»Ja, er und Amy, seine Tochter. Sie begaben sich kurze Zeit darauf nach dem Hauptquartier des Juarez, und auf diesem Wege machte der Lord einen Abstecher nach Sombrereto.«

»Mit welchem Resultate?«

»Er ließ mir mittheilen, daß der Richter von Sombrereto weder einen Sohn habe noch von der Angelegenheit etwas wisse.«

»Das dachte ich mir. Aber man muß vorsichtig sein. War der Bote, den er sandte, zuverlässig?«

»Im höchsten Grade, denn es war einer meiner Vaquero's, welchen der Lord zu diesem Zwecke mitgenommen hatte.«

»Das beweist, daß der Lord klug war und dem vermeintlichen Sohne des Richters gleich von vorn herein mißtraut hat.«

»Das that er allerdings,« meinte die alte Maria Hermoyes.


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»Ihr aber nicht?« fragte Gérard.

»Es war ja gar kein Grund dazu,« antwortete Arbellez.

»Auch jetzt noch nicht?«

»Hm! Das ist eben unbegreiflich. Wir haben ihn kommen und wieder fortreiten sehen; er war allein. Er hat den Ring gleich abgegeben. Wäre er ein schlechter Mensch gewesen, so hätte er denselben behalten, denn der Diamant war ein ganzes Vermögen werth.«

Gérard lächelte still vor sich hin, betrachtete das Fenster noch einmal und sagte dann:

»Auch dieser Fensterrahmen ist ziemlich morsch. Betrachtet Euch doch einmal diese Stelle im untersten Theile des Rahmens.«

Die Anwesenden thaten, wozu er sie aufgefordert hatte und blickten ihn dann hilflos an.

»Nun, was habt Ihr gesehen, Sennor Arbellez?« fragte er.

»Einen Strich, eine schmale Vertiefung im Rahmen,« antwortete derselbe.

»Wie sieht diese Vertiefung aus?«

»Hm! Als ob man mit einem schmalen, stumpfen Gegenstande auf den Rahmen gedrückt hätte.«

»Nicht genau so,« entgegnete der Jäger. »Hier ist nicht gedrückt worden, sondern hier hat man etwas über den Rahmen gezogen. Seht Euch die Vertiefung genau an. Rührte sie von einem Stricke, so wäre sie glatt. Wie aber findet Ihr sie?«

»Rauch.«

»Ja, sie rührt augenscheinlich von einem Lasso her, welcher aus verschiedenen Riemen zusammengeflochten war. Dieses Lasso war nicht dasjenige eines Jägers, denn es war sehr schlecht und holprig gearbeitet. Aber weiter. Welche Richtung haben die Holzfasern, welche von dem Lasso am Rahmen abgeschliffen wurden?«

»Sie gehen nach außen,« antwortete Arbellez.

»Gut. Das beweist, daß am Lasso eine Last gehangen hat, welche man nicht in das Zimmer, sondern aus demselben hinaus und hinunter in den Hof transportirt hat. Jetzt kommt mit hinab.«

Er verließ den Raum und begab sich in den Hof. Die Anderen folgten. Sie begannen, dem, was er sagte, zu glauben.

»Ein verdammt gescheidter Kerl. Nicht wahr?« fragte Pirnero seinen Schwager leise.

»Es scheint so,« nickte dieser.

»Ja ja, das kommt daher, daß er der Verlobte von Resedilla ist. Kennst Du die Abstammung vom Vater auf die Tochter hinüber?«

»Nein.«

»Ich werde Dir das zur passenden Zeit erklären. Von dieser Abstammung nimmt natürlich auch der Schwiegersohn seinen Profit. Doch sieh einmal, wie er hier unter den Steinen sucht.«

Gérard war über die Steine und Stämme hinüber auf den schmalen Raum gestiegen, welcher zwischen denselben und der Mauer lag. Er betrachtete jeden Zollbreit des Bodens mit schärfster Aufmerksamkeit. Da richtete er sich auf.


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Er mußte etwas gefunden haben, denn in seinem Gesichte machte sich ein Ausdruck der Genugthuung geltend.

»Kommt einmal herüber, Sennores und Sennoritas,« sagte er. »Aber nehmt Euch in Acht hierher zu treten.«

Er deutete dabei nach der Stelle, welche er meinte. Sie folgten seiner Aufforderung, und Gérard fragte:

»Was erblickt Ihr hier am Boden, Sennor Arbellez?«

Der Haziendero betrachtete die Stelle sehr genau und antwortete verlegen:

»Hm! Nicht eben sehr viel.«

»Also wenig. Aber was ist das Wenige?«

»Der Boden ist hart von Sand und Lehm; aber da giebt es doch einige Eindrücke.«

»Wieviel? Zählt sie einmal.«

»Eins, zwei, drei - vier.«

»Richtig. Aber, wovon mögen sie herrühren?«

Arbellez wollte auch scharfsinnig sein. Er betrachtete die Spuren mit der größten Aufmerksamkeit, und antwortete dann:

»Mit zwei Instrumenten sind sie hervorgebracht.«

»Zwei Instrumente?« fragte Gérard lächelnd.

»Ja, ein breites und ein schmales, rund geformtes. Das Letztere ist tiefer eingedrungen.«

»Hm! Ihr seid nicht gar sehr weit vom Richtigen entfernt,« bemerkte Gérard. »Das Dach des Hauses springt vor und hält den Regen von dieser Stelle ab, kein Mensch ist hergekommen, und so ist es zu begreifen, daß diese Spuren sich bis heute erhalten haben. Freilich sind sie nicht mehr scharf und neu. Aber ich will Euch gleich anschaulich machen, wie sie entstanden sind.«

Er stellte sich aufrecht und blickte empor.

»Nehmen wir an,« fuhr er fort, »es werde da oben an einem Lasso ein Mann herabgelassen, den ich empfangen soll. Ich strecke die Arme nach ihm aus, um ihn zu erfassen. Seht her. So! Wie stehen meine Füße dabei?«

»Auf den Zehen.«

»Gut. Meine Sohle macht also einen Eindruck auf den Boden. Das ist das breite Instrument, von dem Ihr redetet, Sennor Arbellez. Aber weiter. Ich halte jetzt den Mann gefaßt, den er herabläßt. Ich bücke mich mit dieser Last langsam nieder, um sie auf die Erde zu legen. Paßt auf. Grad so.«

Er that ganz so, als ob er wirklich eine solche Last in den Armen habe und ahmte die beschriebenen Bewegungen nach. Indem er sich jetzt langsam bückte, fragte er:

»Seht meine Füße genau an. Welche Stellung haben sie?«

»Ihr kauert auf den Absätzen,« antwortete Arbellez.

»Richtig! Diese Absätze sind das scharfe, runde Instrument, von dem Ihr redetet. Nun will ich zur Seite treten. Seht Euch die Spur an. Wird sie in drei oder vier Wochen nicht genau so sein, wie die andern?«

»Wahrhaftig! Gewiß! Sicher!« rief es aus Aller Munde.

»Nun seht also. Es ist Einer zum Grafen gegangen, hat ihn im Schlafe


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überwältigt und am Lasso durch das Fenster in den Hof hinabgelassen. Hier unten haben zwei Männer - denn wir haben die Eindrücke von vier Füßen - die Last in Empfang genommen. Jedenfalls sind noch Mehrere dabei thätig gewesen. Der Hauptthäter aber ist jener Bote aus Sombrereto.«

Eine solche Erklärung hatte Keiner erwartet. Sie sahen einander erstaunt an. Endlich meinte Petro Arbellez:

»Ihr mögt recht haben, Sennor Gérard, aber den Boten halte ich doch für unschuldig.«

»Wieso?« lächelte der Jäger.

»Er ging allein fort.«

»Das beweist nichts.«

»Wäre er der Thäter, so hätte er sich des Nachts gleich mit den Anderen entfernt.«

»Mein lieber Sennor Petro, Ihr betrachtet diese Sache nicht mit dem richtigen Auge. Dieser Bote war ein Schlaukopf. Was hättet Ihr wohl gethan, wenn er früh verschwunden gewesen wäre?«

»Hm. Das wäre uns aufgefallen.«

»Nicht wahr. Und wenn mit ihm zugleich der Graf fehlte?«

»Wir wären seiner Spur gefolgt.«

»Richtig. Das hat er zu vermeiden gesucht. Er ist geblieben, um seinen Helfershelfern einen genügenden Vorsprung zu sichern.«

»Mein Gott, das klingt allerdings ganz wahrscheinlich. Aber er hat ja den Ring ehrlich übergeben.«

»Deshalb haltet Ihr ihn für ehrlich?«

»Natürlich.«

»Ei, ei, Sennor,« meinte Gérard kopfschüttelnd. »Wem gab er diesen werthvollen Ring?«

»Dem Grafen.«

»Wo ist jetzt der Graf?«

»Fort - natürlich!«

»Und der Ring?«

»Donnerwetter! Auch mit fort - natürlich!«

»Nun, seht Ihr noch nichts ein?«

Jetzt erst begann es im Kopfe des guten Haziendero zu tagen.

»Heilige Madonna! Jetzt begreife ich, was Ihr meint,« rief er.

»Nun?«

»Der Kerl konnte dem Grafen den Ring leicht geben, weil er wußte, daß sie Beide wieder in seine Hände fallen würden.«

»Und das ist Euch nicht früher aufgefallen?«

»Wahrhaftig nicht.«

»Unbegreiflich. Selbst auch dann nicht, als Ihr die Nachricht des Lords aus Sombrereto erhieltet?«

»Selbst dann nicht. Wir glaubten nämlich, daß wir uns verhört, daß wir den Boten falsch verstanden hätten. Es giebt nämlich auch ein Sombrera und ein Ombereto.«


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»Daran glaube ich nicht. Uebrigens hat sich der Bote einer sehr großen Unvorsichtigkeit schuldig gemacht. Liegt nicht Sombrereto nach Südsüdwest von hier?«

»Ja. Es liegt seitwärts von Santa Jaga.«

»Sind nicht die Spuren von Büffelstirn und den Anderen nach Santa Jaga gegangen?«

»Allerdings.«

»Das giebt eine sehr bemerkenswerthe Uebereinstimmung. Dieser Mensch hat uns, allerdings unwillkürlich und ganz gegen seine Absicht, einen Wink gegeben, nach welcher Richtung hin wir suchen müssen.«

»Gott sei Dank. Endlich giebt es einen Punkt, an den man sich halten kann,« rief der Haziendero.

Resedilla betrachtete den Geliebten mit stolzen Augen. Ihr Vater aber spreizte die Beine weit auseinander und fragte:

»Nun, Schwager, glaubst Du nun, daß es in Fort Guadeloupe Diplomaten und Politikusse giebt?«

»O, darüber wollen wir nicht streiten,« antwortete Arbellez. »Jetzt ist es Hauptsache, sofort Boten auszusenden.«

»Wohin?« fragte Gérard rasch.

»Nach Santa Jaga, nach Sombrereto. Sie müssen die ganze dortige Gegend absuchen.«

»Gemach, gemach, lieber Sennor. Eure Boten würden Alles verderben. Ein einziger genügt.«

»Nur einer?« fragte Arbellez betroffen.

»Ja. Mehrere würden sich unter einander nur irre machen. Sie würden auffallen. Einer aber kann suchen, ohne auffällig zu werden.«

»Natürlich muß es ein Mann sein, der so etwas versteht.«

»Hm. Ich weiß ja Einen, auf den wir uns vollständig verlassen können,« meinte Gérard, indem ein lustiges Lächeln um seine Lippen zuckte.

»Wer ist das?« fragte Arbellez.

»Hier unser guter Sennor Pirnero.«

Pirnero warf einen erstaunten Blick auf den Sprecher, faßte sich aber sofort und antwortete:

»Ja, ja, das weiß ich selbst. Giebt es Einen, der sich zur Lösung dieser Aufgabe eignet, so bin ich es.«

»Ganz gewiß,« nickte Gérard.

Pirnero nahm eine sehr stolze, siegesgewisse Miene an und fuhr fort:

»Es gehört ein tüchtiger Pfiffikus dazu, der zugleich ein sehr tapferer Kerl ist.«

»Gewiß, lieber Schwiegervater. Darum mache ich den Vorschlag, daß Ihr nach Santa Jaga und Sombrereto reitet, um diese Angelegenheit endlich einmal aufzuklären.«

Da trat Pirnero einen Schritt zurück, streckte alle zehn Finger abwehrend von sich und rief:

»Ich?!«

»Natürlich.«


Ende der einhundertersten Lieferung - Fortsetzung folgt.



Karl May: Waldröschen

Karl May – Forschung und Werk