Lieferung 29

Karl May

9. Juni 1883

Waldröschen
oder
Die Rächerjagd rund um die Erde.

Großer Enthüllungsroman
über die
Geheimnisse der menschlichen Gesellschaft

von

Capitain Ramon Diaz de la Escosura.


// 673 //

»Bei wem?«

»Erst bei einem Bankier Salmonno und dann bei dem Herzog von Olsunna.«

»Und lebt sie noch?«

»Ja.«

»Hat sie Kinder?

»Zwei. Einen Sohn und eine Tochter.«

»Was ist der Sohn?«

»Er ist Arzt; er war in der letzten Zeit in Spanien bei einem Grafen de Rodriganda.«

Bei diesem Namen horchte der Diener Gerard auf.

»Ah! Wie ist sein Vorname?«

»Karl Sternau.«

»Wo befindet er sich?«

»Er befindet sich auf Schloß Rheinswalden bei dem Hauptmanne von Rodenstein.«

»Was thut er da?«

»Er lebt da zur Heilung seiner Braut, welche eine Gräfin de Rodriganda ist.«

»Ah! Kommt er zuweilen zu Ihnen?«

»Niemals.«

»Woher wissen Sie so genau, daß er hier ist?«

»Ich würde es nicht wissen, da wir jetzt keinen Verkehr mit einander haben, aber ein Jäger des Schlosses war in der Nähe Gevatter; er suchte mich mit auf, da er unsere Verwandtschaft kennt und erzählte mir dies Alles.«

»Warum hat jene Frau Sternau die beiden Bilder von sich gegeben?«

»Sie hat sie selbst gezeichnet, vor langen Jahren, den Einen aus Rache und die Andere aus Liebe; aber sie hat beide Bilder nicht bei sich haben wollen, um nicht an eine Zeit erinnert zu werden, in welcher sie sehr unglücklich gewesen ist, und darum hat sie dieselben dem Vater meines Mannes in Aufbewahrung gegeben.«

»Sie sprechen von Rache?«

»Vielleicht habe ich da einen falschen Ausdruck gewählt. Man mag die Leute nicht vergessen, welche man liebt, und vielleicht auch die nicht, welche man haßt.«

»Haben Sie von den Erlebnissen dieses Doktor Sternau in Spanien Etwas gehört?«

Jetzt wurde Frau Wilhelmi aufmerksam. Warum frug der Kranke so angelegentlich nach diesem Allen?

»Kennen Sie ihn, Monsieur?« fragte sie.

»Nein,« antwortete er.

»Oder haben Sie von ihm gehört?«

»Nein. Ich interessire mich nur für ihn, weil Jemand, der als deutscher Arzt eine spanische Gräfin als Braut besitzt, Interessantes erlebt haben muß.«

Die Frau fühlte sich durch diese Antwort beruhigt und sagte:

»Da haben Sie Recht. Es ist wahrhaft Romanhaftes, was dieser Karl Sternau erlebt hat.«

»Darf man es erfahren?«

»Gern; aber Sie sind zu schwach dazu.«

Die Röthe des Fiebers färbte seine Wangen, aber das gab ihm gerade ein


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recht munteres Aussehen. Er fühlte sich zum Tode matt; der Arm schmerzte ihn fürchterlich und der Kopf ebenfalls, aber er wollte, er mußte hören, was diese Frau von der Sache wußte.

»Ich bin nicht schwach,« sagte er. »Bitte, erzählen Sie immerhin!«

Während der Diener mit außerordentlicher Spannung horchte, sagte die Lehrerin:

»Der alte Graf de Rodriganda war blind, und Karl Sternau sollte ihn operiren. Die Operation gelang, aber dafür wurde der Graf wahnsinnig.«

»Es wird ihm bei der Operation ein Gehirnnerv verletzt worden sein.«

»Nein; man hat ihm ein Gift eingegeben, welches wahnsinnig macht.«

»Ah!«

Alfonzo war ganz erstarrt, in diesem versteckten Winkel Deutschlands einen Bericht über jene Vorkommnisse anhören zu müssen. Es begann ihm unheimlich zu werden; er fühlte, daß eine neue Ohnmacht ihre Arme nach ihm ausstreckte, aber er strengte alle seine Kräfte an, sie von sich fern zu halten. Er mußte Alles hören, was diese Frau wußte.

»Doktor Sternau hat das Gift entdeckt und auch das Gegenmittel gewußt,« fuhr die Lehrerin fort, »aber da hat man den alten Grafen geraubt.«

»Geraubt? Unmöglich!«

»Ja, doch!«

»So Etwas kommt nur in Romanen vor!«

»O, auch in der Wirklichkeit.«

»Weshalb sollte man ihn geraubt haben?«

»Man hat ihn entführt, damit er nicht wieder hergestellt werden könne. Sogar seiner Tochter hat man dieses fürchterliche Gift gegeben.«

»Und ist auch sie wahnsinnig geworden?«

»Ja.«

»Und jetzt ist sie Braut! Wie läßt sich dies vereinigen?«

»Man hat dann Doktor Sternau falsch beschuldigt und ihn eingesteckt, damit er sie nicht heilen könne. Aber es ist ihm gelungen, zu entkommen; er hat die Gräfin auch befreit und ist mit ihr nach Deutschland gekommen. Hier hat er sie wie durch ein Wunder geheilt. Sie ist seit zwei Tagen gesund, und nun wird es wohl bald eine Hochzeit geben.«

»Das wird nicht so schnell gehen!«

»Warum nicht?«

»Weil Verschiedenes dazu erforderlich ist, ehe eine spanische Gräfin mit einem deutschen Arzte getraut werden kann.«

»O, ich kenne diesen Karl Sternau; für ihn giebt es niemals Hindernisse.«

»Aber, wozu hat man denn dem Grafen und der Gräfin Gift gegeben? Es muß doch einen Grund dazu haben!«

»Der Erbfolge wegen.«

»Ah! Sehr romanhaft!«

»Ja, es soll ein Sohn da sein, der gar nicht der Sohn des Grafen ist.«

»Donnerwetter!«

Dieser Fluch sollte wohl ironisch klingen, aber er klang mehr nach Ueberraschung und Schreck. Sogar die Röthe des Fiebers wich dabei aus dem Gesichte des Kranken.


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»Ja,« fuhr die Frau des Lehrers fort. »Der Hauptspitzbube ist ein gewisser Gasparino Cortejo, eben der, dessen Jugendbild Sie hier erblicken.«

Gerard Mason horchte auf. Hatte sein Herr nicht gesagt, daß es das Bild seines Vaters sei? War dieser falsche Marchese d'Acrozza der Sohn dieses Gasparino Cortejo? Aber wie kam er da zu dem Notizbuche, in welchem »Alfonzo, Graf de Rodriganda y Sevilla« zu lesen war?

»Inwiefern der Hauptspitzbube?« fragte der Kranke.

»Er hat den richtigen Sohn des alten Grafen umgetauscht und seinen eigenen Pankert an dessen Stelle geschoben.«

»Alle Teufel!« rief Alfonzo, jetzt noch mehr erschrocken als vorher.

»Ja, nun ist der Sohn dieses Cortejo der junge Graf de Rodriganda; aber Doktor Sternau wird dafür sorgen, daß er es nicht lange bleibt.«

Gerard warf einen Blick auf das Bild und dann auf seinen Herrn; er nickte leise mit dem Kopfe; er wußte nun, woran er war. Er hatte seinen Herrn gesehen, bevor er sich bei Papa Terbillon in Paris sein Aeußeres verändern ließ; er wußte also, wie ähnlich dieser Marchese dem Gasparino Cortejo war. Die Lehrerin freilich konnte dies nicht sehen.

»Und dies Alles hat Ihnen der Jäger erzählt?« fragte Alfonzo.

»Ja.«

»Von wem weiß er es?«

»Auf Schloß Rheinswalden wissen es Alle.«

»Bedientenphantasie!«

»Nein, Wahrheit! Wie der gute Ludewig es erzählte, mußte man es glauben, obgleich es einen Punkt gab, welcher Lächerlichkeit war.«

»Welcher?«

»Er sagte, er kenne das Gift, welches der Graf und die Gräfin bekommen haben.«

»Ah! Welches sollte es sein?«

»Spanische Fliege.«

»Aeußerlich?«

»Nein, innerlich.«

»Bringt diese Wahnsinn hervor?«

»Möglich, obgleich die Wirkung vorher eine andere ist; aber der Wahnsinn des Grafen und der Gräfin scheint mir nicht der Art gewesen zu sein, daß er durch den Genuß von Kanthariden hervorgebracht worden sein kann.«

»Eine Geschichte, ein Roman, ein ganz schöner Roman,« sagte Alfonzo, indem seine Stimme immer müder wurde.

»O, Monsieur, das ist wieder Ohnmacht!« rief die Lehrerin.

Sie wollte ihm beispringen, aber Gerard hielt sie davon ab.

»Lassen Sie!« flüsterte er. »Die Ohnmacht wird ihn stärken. Bitte, kommen Sie heraus!«

Er führte die Frau leise aus dem Zimmer und sagte dann zu ihr:

»Madame, wollen Sie mir versprechen, meinem Herrn nichts zu sagen, daß ich dieser Unterredung beigewohnt habe. Ich habe triftige Gründe zu dieser Bitte.«

»Und diese Gründe darf ich nicht erfahren?«

»Jetzt noch nicht, aber später werde ich sie Ihnen mittheilen.«


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»Ihr Herr scheint der Familie Rodriganda nicht fern zu stehen, vielleicht ist er verwandt mit ihr?«

»Das ist mir nicht wahrscheinlich. Sie sprachen von einem Jäger, von welchem Sie das Erzählte erfahren haben; ist er noch in der Nähe?«

»Er wollte erst nächsten Mittag abreisen. Sie wollen mit ihm sprechen in dieser Angelegenheit?«

»Vielleicht.«

»Er hat Gevatter gestanden bei dem zweiten Bahnwärter von der Unglücksstätte aufwärts, und dort ist er jedenfalls zu finden.«

»Ah, es war auf der Unglücksstelle ein Mann, welcher Jägeruniform trug. Er kam mit einem Bahnwärter herbei.«

»Das ist er ganz sicher gewesen.«

»So werde ich warten, bis der Arzt hier gewesen ist, und dann hin zu ihm gehen.«

»Das können Sie, da ich glaube, Ihren Herrn bis zu Ihrer Rückkehr pflegen zu können.«

Als jetzt Gerard wieder in das Zimmer trat, lag Alfonzo mit offenen Augen im Bette. Er hatte einen abwesenden Blick, der aber wieder zu sich kam, als er auf den Diener fiel.

»Gerard!« sagte er leise.

»Monsieur!«

»Warst Du fort?«

»Ja.«

»War die Wirthin jetzt bei mir?«

»Ja.«

»Hast Du gehört, was ich mit ihr gesprochen habe?«

»Sie sehen ja, daß ich nicht hier gewesen bin!«

»Hm! Gieb mir einmal Deinen Taschenspiegel her!«

Gerard griff in die Tasche und gab ihm das Verlangte entgegen. Alfonzo betrachtete sich sehr aufmerksam in dem Spiegel, und sein Diener dachte bei sich:

»Jetzt will er sehen, ob bei dem Zusammenprall die Toilettenkünste gelitten haben.«

Der Graf schien das Resultat seiner Forschung für ein befriedigendes zu halten; er gab den Spiegel zurück und meinte:

»Ich sehe nicht so leidend aus, als ich glaubte. Hast Du schon einmal ein Glied gebrochen oder einer Deiner Bekannten? Das Einrichten muß sehr wehe thun -«

»Hm! Jaques Guijard, mein Meister, brach einst den Arm. Und als der Arzt denselben zurecht gezogen hatte, meinte er, das hätte nicht weher gethan, als ob Einen ein Floh sticht.«

»Das war ein Schmied?«

»Ja.«

»Aber kein Marchese. Du hättest das viel besser ausgehalten als ich. Warum mußte doch mein Wagen umstürzen und nicht der Deinige. Du bist auch ein Schmied!«


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»Sie fuhren erster Classe und ich dritter, Monsieur, und der gute Gott scheint der dritten günstiger zu sein, als der ersten.«

Das lange Gespräch mit der Wirthin hatte die Kräfte des Grafen doch zu sehr angestrengt. Er fiel wieder in seine Apathie zurück. Es war dieses Mal keine wirkliche Ohnmacht, sondern eine Stumpfheit, eine Unempfänglichkeit gegen äußere Eindrücke.

Erst gegen Morgen kam der Arzt. Auch er sah außerordentlich angegriffen aus; er hatte sich über seine Kräfte anstrengen müssen und kam nun doch noch zu dem entfernten Patienten, dem er seine Hilfe versprochen hatte. Er kam in Begleitung des Lehrers, welcher bis jetzt an der Unglücksstätte mit gearbeitet hatte, den Verunglückten die erste Hilfe zu bringen.

Die Lehrerin empfing sie.

»Wie steht es?« fragte sie. »Ist das Unglück groß?«

»Es sind der Opfer weit mehr als wir erwarteten,« antwortete Wilhelmi. »Wie geht es unserm Marchese?«

»Er fällt aus einer Ohnmacht in die andere.«

»So sind edle Theile verletzt,« sagte der Arzt. »Wir haben glücklicher Weise Alles bei uns, was wir bedürfen. Kommen Sie, Wilhelmi!«

»Soll ich mit?« fragte die Frau.

»Nein, das ist nichts für Sie.«

Die beiden Männer gingen nach oben, und bald hörte die lauschende Lehrerin das laute Wimmern des Patienten, der nicht die Kraft besaß, seiner Schmerzen Herr zu werden.

Nach langer Zeit erst kamen die Herren wieder herab. Gerard war bei ihnen.

»Das war ein böser Act,« sagte der Arzt. »So ein feiner Herr hat keine Widerstandsfähigkeit. Er wird aufopfernder Pflege bedürfen.«

»Daran soll es nicht fehlen,« sagte die Lehrerin. »Ist die Einrichtung des Armes gelungen?«

»Ich glaube es. Aber sein Kopf macht mir Sorgen; er hat eine mehr als kräftige Contusion erlitten. Wir müssen unausgesetzt Eisumschläge machen. Haben Sie Eis?«

»Ja,« sagte der Lehrer. »Im Walde draußen giebt es trotz des milden Wetters desselben mehr als genug. Wir haben da Schluchten, wohin keine Sonne dringen kann. Ich werde mir sogleich welches holen lassen.«

»Kann ich jetzt einmal fort?« fragte Gerard.

»Ja,« sagte der Arzt. »Ihr Herr ist so angegriffen, daß er vor einigen Stunden sicher nicht erwachen wird.«

»Bis dahin bin ich zurück.«

»Ich werde mich seiner in Ihrer Abwesenheit annehmen,« sagte die brave Lehrerin.

Gerard ging. Es war nun Tag geworden, so daß er den Weg gut finden konnte. Je mehr er sich der Bahn näherte, desto deutlicher sah er, welche Verwüstung der Fluß angerichtet hatte. Der fürchterliche Anprall der Wogen hatte den Bahndamm gerade in dem Augenblicke zerrissen, an welchem der Zug an die Stelle kam. Jetzt nun waren zahlreiche Arbeiter beschäftigt, den Durchbruch zu verstopfen.


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Das war bei der Macht, mit welcher sich die Fluthen hindurchdrängten, eine sehr schwierige Arbeit. Man rollte schwere Baumstämme hinab, welche sich vor die Dammöffnung legten und so einen ersten Anhalt boten. Darauf warf man riesige Quaderstücke, welche die Kraft des Wassers zum großen Theile brachen und nun durch Steinschutt verbunden wurden, welcher die Wogen vollends zur Seite lenkte, so daß man zur Ausfüllung durch Erde schreiten konnte. Oben auf dem Damme war man bereits beschäftigt, die beschädigten Schienen zu entfernen und durch neue zu ersetzen.

Das sah Gerard, als er kam. Am Fuße des Dammes standen die Herren der Commission, welche gekommen waren, den Sachverhalt zu untersuchen und dabei zu ermitteln, wen die Schuld treffe. Es hatte sich bereits herausgestellt, daß der Wärter, auf dessen Strecke das Unglück geschehen war, seine Pflicht gethan habe. Die Hauptentlastungszeugen waren sein College und der Jäger Ludewig, welcher auch vernommen worden war. Beide konnten beschwören, daß der Betreffende vor der Ankunft des Zuges seine Strecke besichtigt habe.

Die einzige Ursache bildete der Fluß, welcher seine Ufer durchbrochen und sich nun mit aller Macht gegen den Bahndamm geworfen hatte.

Aus fernen Maschinenwerkstätten waren kräftige Eisenarbeiter herbeigeeilt, welche mit ihren schweren Werkzeugen unter den Wagentrümmern aufräumten. Ihnen sah Gerard eine Weile zu, bis er bemerkte, daß der Jäger sich einmal allein befand und nun zu sprechen sei. Er trat zu ihm.

»Erlauben Sie, daß ich mich bei Ihnen bedanke!« sagte er sehr höflich zu ihm.

»Warum?« frug Ludewig; aber er besann sich sofort und fügte hinzu: »Ah, ich habe Sie heute Nacht bereits gesehen.«

»Ja; Sie kamen sofort, nachdem das Unglück geschehen war, um uns zu helfen.«

»Sie sind unverletzt dahier?«

»Ja, Gott sei Dank. Aber mein Herr hat den Arm zweimal gebrochen und auch eine Contusion am Kopfe.«

»Das ist schlimm dahier! Wo liegt er?«

»Drüben im Dorfe Genheim, beim Lehrer Wilhelmi.«

»Da ist er an einem guten Orte.«

»Sie kennen diese braven Leute?« fragte Gerard.

»Sehr gut. Sie sind ja mit meiner Herrschaft verwandt dahier. Ich war gestern dort.«

»Mit Ihrer Herrschaft? Darf ich fragen, wer das ist?«

»Jawohl. Ich stehe da drüben in Rheinswalden beim Oberförster Hauptmann von Rodenstein in Dienst. Er ist unverheirathet, und seinem Hause steht eine Frau Sternau vor, welche mit dem Lehrer Wilhelmi verwandt ist.«

»Diese Dame ist nicht verheirathet?«

»Nein; sie ist Wittwe dahier.«

»Sternau, Sternau -!« sagte Gerard nachdenklich.

»Ist dieser Name Ihnen bekannt?«

»Ja, von Paris her.«

»Ah! Möglich!«


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»Ich kannte dort einen Doctor Sternau, der ein Deutscher war.«

»Vielleicht ist dies der Sohn unserer Frau Sternau.«

»Er war bei Professor Letourbier -.«

»Das stimmt, das stimmt dahier! Der junge Herr war bei diesem Professor.«

»Ah! Wo befindet er sich jetzt?«

»In Rheinswalden, bei uns.«

»Er hat eine Dame aus Spanien bei sich?«

»Ja. Er hat sie von einer fürchterlichen Fliege geheilt dahier.«

»Und einen Spanier nebst einer Spanierin als Dienerschaft?«

»Ja; das ist unser Alimpo und unsere Elvira. Aber woher wissen Sie das?«

Gerard durfte nicht zu viel sagen; er antwortete also:

»Ich erfuhr es ganz zufällig. Ich sprach mit einer Dienerin des Professors, welche mir es im Laufe des Gespräches erzählte.«

»So sind Sie ein Franzose dahier?«

»Ja.«

»Und Ihr Herr auch?«

»Nein; er ist ein Italiener, ein Marchese d'Acrozza.«

»Ein Marchese? Das ist so viel wie ein Marquis dahier?«

»Ja.«

»So freut es mich, daß er sich in so guten Händen befindet. Bei Wilhelmi's ist er so gut aufgehoben, daß er gewiß zufrieden sein wird dahier. Ich denke, daß er sich - -«

Er wurde unterbrochen.

Droben auf dem Damme war eine der Schienen gesprungen, und die eine Hälfte derselben stürzte herab, gerade in der Richtung, in welcher die beiden Sprechenden standen.

»Vorsicht! Weg da unten!« rief es von oben.

Es war bereits zu spät. Sie sprangen zwar Beide zur Seite, aber das Schienenstück traf auf einen Stein auf; dadurch wurde die Richtung seines Falles verändert, und es schlug mit seiner ganzen Schwere auf Gerard hernieder, der augenblicklich zusammenbrach.

»Mein Gott, den hat es erschlagen dahier!« rief Ludewig ganz erschrocken.

In Zeit von einer Minute waren alle Anwesenden um den Bewußtlosen versammelt.

»Es ist ein Diener. Wer kennt ihn?« fragte ein Herr der Untersuchungs-Commission.

»Ich,« sagte der Jägerbursche.

»Nun?«

»Er steht bei einem italienischen Marchese in Diensten, der heute Nacht mit verunglückt ist.«

»Und wo befindet sich dieser Herr?«

»Drüben in Genheim beim Lehrer Wilhelmi.«

Der Herr bog sich nieder und untersuchte den Verletzten.

»Er ist nicht todt,« sagte er; »er athmet noch. Der Schlag hat ihn auf die Achsel getroffen. Welch' eine Unvorsichtigkeit, sich hierher zu stellen!«


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Ein anderer Herr schnitt den Livreerock auf und untersuchte die Schulter.

»Die Knochen dieses Mannes müssen von Panzerstahl geschmiedet sein. Ich glaube, daß nur das Schlüsselbein verletzt ist,« sagte er.

Die Schmerzen dieser etwas derben Untersuchung erweckten Gerard aus seiner Betäubung; er schlug die Augen auf und blickte sich im Kreise um.

»Wie befinden Sie sich?« fragte ihn der Herr, welcher ihn zuletzt untersucht hatte.

Er machte sehr erstaunte Augen, besann sich aber, erhob sich und fühlte nach seiner Schulter.

»Donnerwetter, die Clavicule ist caput!« sagte er.

»Die Clavicule? Was ist das dahier?« fragte Ludewig.

»Das Schlüsselbein,« antwortete der Schmied gleichmüthig.

Dann bückte er sich nieder, faßte die Schiene mit der Hand der unverletzten Seite, hob sie empor, wiegte sie prüfend, blickte dann forschend an dem Damme empor und sagte:

»Ein Wunder ist es nicht. Wenn ein solches Stück sieben Meter hoch herunter stürzt, so mag der Teufel ein ganzes Schlüsselbein behalten!«

Die Anwesenden blickten sich ganz erstaunt an; dann begann Einer zu lächeln, nachher zu lachen; die Anderen stimmten ein, und so ernsthaft die Situation eigentlich war, es erschallte rundum ein lautes Gelächter, welches erst verstummte, als einer der Herren rief:

»Aber, Mensch, ich denke, es muß Sie todtgeschlagen haben!«

»Pah! Das müßte anders kommen!«

»Ich wollte Sie eben aufladen und nach Genheim schaffen lassen!«

»Danke sehr, Monsieur! Ich gehe selbst.«

Er machte Miene, den Platz zu verlassen.

»Aber so warten Sie doch!« warnte man ihn. »Nehmen Sie wenigstens Jemand mit. Sie werden unterwegs umfallen!«

»Keine Sorge, meine Herren!« sagte er. »An einem Schlüsselbeinbruch fällt man nicht um; der heilt unter Umständen sogar von selbst. Besten Dank, und Adieu!«

Er ging. Die Leute blickten ihm nach, so lange sie ihn sehen konnten, aber sie konnten nicht das leiseste Zittern oder Wanken an ihm bemerken. Er war ein Garotteur; seine Nerven waren von Eisen, seine Flechsen von Stahl und seine Knochen von einer Materie, welche einen Bruch wohl auszuhalten vermag. - -

Auf das außerordentlich milde Wetter folgte plötzlich eine ganz ungewöhnliche Kälte, welche die übergetretenen Gewässer zu Eis erstarren ließ und in Feld und Wald alles Leben zu ertödten schien.

Das war eine böse, schwere Zeit für die armen Heimgesuchten, deren Obdach von den Fluthen der Ueberschwemmung zerstört worden waren. Sie litten am Meisten, wenn auch nicht allein. Die Armuth getraute sich nicht in die grimmige Kälte hinaus, um ein Bündel Leseholz für die kalte Stube zu holen; die Sperlinge fielen von den Dächern, und das Wild kam in die unmittelbare Nähe der Menschen, um bei ihnen Hilfe gegen Frost und Hunger zu suchen.

Aber nicht blos Frost und Hunger drohte den anmuthigen Bewohnern des


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Waldes, es gab noch andere, gefährlichere Feinde, welche der Frost aus den Höhen der Gebirge herbeigezogen hatte.

Der Hauptmann von Rodenstein saß in seiner Arbeitsstube qualmte seine Morgenpfeife und brachte allerlei Rechnungen zu Papiere, was nicht gerade seine Lieblingsbeschäftigung war. Daher lag seine Stirn in Falten, und sein Auge warf grimmige Blicke auf die Ziffern, welche er an einander reihen mußte, wie die Soldaten einer Kompagnie.

Da klopfte es.

»Herrrrein!« rief er.

Die Thür ward geöffnet und der kleine Kurt Helmers trat ein. »Guten Morgen, Herr Hauptmann!« grüßte er.

»Morgen!« brummte der Alte, indem er weiter schrieb.

Erst nach längerer Zeit warf er einen forschenden Blick auf den Knaben, der noch immer in Achtung an der Thür stand.

»Donnerwetter!« rief er da. »Wo hast Du Deine Pelzjacke, Junge?«

»Drüben, Herr Hauptmann, im Kleiderschrank.«

»Im Kleiderschrank! So!«

Er warf die Feder von sich und erhob sich mit drohender Geberde.

»Sage einmal, wozu Du die Jacke hast, Bube!«

»Zum Anziehen, Herr Hauptmann!« antwortete Kurt furchtlos.

»Gut, zum Anziehen! Im Sommer oder im Winter, he?«

»Im Winter.«

»Was ist denn jetzt? Etwa Sommer?«

»Es ist Winter, Herr Hauptmann.«

»Na, warum ziehst Du sie denn nicht an, he?«

»Der Vater hat's verboten.«

»Der Va - - -! Ah, den soll der Teufel reiten! Warum hat er es verboten, he?«

»Er sagt, ich würde eine alte Frau, wenn ich mich so einmummele.«

»So, so! Hm, hm! Eine alte Frau! Jetzt, bei zweiundzwanzig Grad Reaumur! Sage einmal, wer hat da drüben auf dem Vorwerke die Herrschaft?«

»Der Vater.«

»Und hier im Schlosse?«

»Der Herr Hauptmann von Rodenstein.«

»Und wo bist Du jetzt?

»Auf dem Schlosse.«

»Wem hast Du also zu gehorchen?«

»Dem Herrn Hauptmanne.«

»Gut! Ja! Also! Jetzt packst Du Dich hinüber, ziehst die Pelzjacke an, setzest die Pelzmütze auf die Ohren und kommst wieder.«

»Und wenn es der Vater nicht leiden will?«

»So sagst Du ihm, daß ich hinüber komme und ihm einige Pfund Rehposten auf den Pelz brenne. Pasta! Abgemacht! Rechtsum kehrt! Marsch!«

Der Knabe hatte bis jetzt in Achtung gestanden. Jetzt machte er kehrt und stampfte mit militärischem Schritt zur Thür hinaus.


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Der Hauptmann konnte bei diesem Anblicke doch ein Lächeln nicht beherrschen.

»Wetterjunge!« brummte er. »Ist mir weiß Gott an's Herz gewachsen wie das Kraut an den Strunk!«

Er dachte keineswegs daran, daß dieser Vergleich für ihn ganz und gar nicht schmeichelhaft sei; er setzte sich wieder nieder, nahm die Feder zur Hand und schrieb neue Ziffern. Aber schon nach wenigen Minuten wurde er von Neuem gestört. Es klopfte abermals.

»Herrrrein!« rief er.

Kurt war es wieder; aber in Pelzjacke und einer gewaltigen Fuchsmütze, unter welcher seine Augen hell und lustig in die Welt blickten.

»Guten Morgen, Herr Hauptmann!« grüßte er zum zweiten Male.

»Morgen!« brummte der Alte.

Erst nach einer ganzen Weile warf er einen Blick auf den Knaben, und nun erheiterte sich sein Gesicht. Er warf die Feder abermals fort und sagte:

»Na, ist das nicht etwas Anderes, Junge?«

»Ja, wärmer, Herr Hauptmann.«

»Versteht sich! Du sollst mir keine alte Frau werden; aber bei dieser Kälte fährt man in die Federn oder in den Pelz. Wie steht es mit Deiner Aufgabe?«

»Fertig.«

»Her damit!«

»Hier!«

Er griff in die Tasche und zog eine Papierrolle hervor, weiche er dem Oberförster überreichte. Dieser machte sie auf und sagte:

»Rührt Euch!«

Auf dieses Kommandowort nahm der Knabe eine bequemere Stellung an. Der Alte aber betrachtete mit leuchtenden Augen die Figuren, welche auf das Papier gezeichnet waren. Es waren die Fährten der verschiedensten jagdbaren Thiere. Der Junge mußte seine Sache sehr gut gemacht haben. Plötzlich aber verfinsterte sich das Gesicht des Oberförsters, und er fuhr den Knaben an:

»Wer hat geholfen?«

»Niemand, Herr Hauptmann.«

»Lüge nicht, Kerl!«

Da blitzten die Augen des Knaben zornig auf, er trat schnell an den Schreibtisch, zog einen leeren Bogen herbei, ergriff einen Bleistift und sagte:

»Probiren!«

Er sagte nur dies eine Wort, aber auf seinem jugendlichen Gesichte lag und aus dem Tone seiner Stimme klang eine solche Zuversichtlichkeit, daß der grimmige Alte einsehen mußte, daß er ihm Unrecht gethan habe.

»Papperlapapp!« sagte er. »Wozu probiren! Also Du hast das wirklich ganz allein gemacht?«

»Ja.«

»Auch Niemand gefragt oder gezeigt?«

»Nein.«

»Na, das ist Gottstrampach Alles, was nur möglich ist! Zeichnet mir dieser


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Bube die Fährten so richtig und genau, daß ich es nicht besser machen könnte! Komm' her, Schlingel; ich muß Dir einen Schmatz geben, und zwar einen ordentlichen!«

Gerade als er seine bärtigen Lippen auf den jugendlichen Mund des Knaben drückte, klopfte es abermals an die Thür.

»Herrrrein!« rief er.

Der Bursche Ludewig trat ein.

»Guten Morgen, Herr Hauptmann!«

»Morgen! Was giebt es?«

»Kaffee oder Warmbier?«

»Warmbier! Zweiundzwanzig Grad Reaumur!«

Der Bursche drehte sich um, trat hinaus, nahm dem draußen stehenden Mädchen eines der beiden Services ab, welche sie in den Händen hatte, und setzte es dem Oberförster vor. Es enthielt Warmbier.

»Schön!« sagte der Alte. »Abtreten!«

Aber Ludewig ging nicht, sondern blieb stehen.

»Na, warum nicht?« fragte der Hauptmann. »Was giebt es noch?«

»Etwas Außerordentliches dahier, Herr Hauptmann.«

»Ah, was denn?«

»War heut im Walde, und habe ein Spur gesehen, ah!«

Da griff der Alte nach der Zeichnung des Knaben, reckte sie dem Burschen hin und fragte:

»Welche von diesen?«

Ludewig blickte die Zeichnung durch und rief erstaunt:

»Donnerwetter! Prachtvoll gemacht! Gewiß eine Arbeit des Herrn Hauptmann, noch von der Akademie aus, dahier?«

Der Alte machte ein sauersüßes Gesicht.

»Dummheit, Akademie,« sagte er; »der Junge da hat es gemacht!«

»Der da, der Kurt?« fragte der Bursche ganz erstaunt.

»Ja. Hörst wohl schwer?«

»Da fahre doch das Wetter drein! Der Kerl hat sogar mich über dahier!«

Jetzt lachte der Alte vergnügt.

»Dazu gehört nicht viel,« sagte er, während des Knaben Augen vor Genugthuung leuchteten. »Aber welche Fährte von diesen hast Du heute gesehen?«

»Sie ist hier nicht mit dabei.«

»Dann ist's 'was ganz Außerordentliches!«

»Allerdings.«

»Nun?«

»Darf ich sie hinzumalen, Herr Hauptmann?«

»Ja.«

Ludewig ergriff den Bleistift und zeichnete. Er hatte den dritten Tapfen noch nicht fertig, so sprang der Hauptmann auf und rief:

»Ist's wahr! Ein Wolf!«

»Ja, Herr Hauptmann, ein Wolf, und was für einer. Er war am Forellenbach.«


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»Donnerwetter! Mache Dich fertig; wir holen ihn.«

»Wer noch mit?«

»Die Andern alle und die Hunde. Ich will erst frühstücken und die Rechnungen fertig machen. In einer halben Stunde geht es fort.«

Der Hauptmann hatte diese Befehle ganz im Tone der Begeisterung gegeben, denn ein Wolf war hier eine Seltenheit.

»Darf ich mit, Herr Hauptmann?« fragte da der Knabe.

»Du? Bist Du gescheidt! Der Wolf würde Dich fressen.«

»Mich?« fragte Kurt, indem seine Augen zornig blitzten.

»Ja. Das ist nichts für Knaben. Ein Wolf ist in solcher Kälte ein gefährliches Thier.«

»Ich habe ja meine Doppelbüchse!«

»Papperlapapp! Habe jetzt keine Zeit! Packt Euch!«

Er schob alle Beide zur Thüre hinaus. Draußen blieb der Knabe stehen und flüsterte:

»Ludewig, geht es wirklich nicht?«

»Nein, mein Junge; er hat es einmal gesagt.«

»Gieb Du ihm doch gute Worte!«

»Ich werde mich hüten. Dieser Wolf ist ein ganz außerordentlicher Kerl dahier; so groß wie ein richtiges Kalb. Da wärst Du verloren.«

Er ließ den Knaben stehen und eilte davon.

Kurt verweilte einen Augenblick ganz betrübt an derselben Stelle; dann erhellte sich plötzlich sein Gesicht, und er eilte davon, zur Treppe hinunter, zum Hofe hinaus und nach dem Vorwerk hinüber.

»Warte, nun grade, nun grade!« raisonnirte er unterwegs bei sich. »Mich soll kein Wolf fressen, mich, mich!«

Im Vorwerk angekommen, ging er nach der Stube. Dort saß sein Vater, der Steuermann, über verschiedenen Seekarten, welche vor ihm auf dem Tische lagen. Er sah, daß der Junge nach seinem Hinterlader griff und Patronen einsteckte.

»Wohin?« fragte er.

»Krähen schießen, Papa.«

»Gut, aber nicht lange; es ist zu kalt.«

Es kam täglich vor, daß Kurt zu seiner Uebung Krähen schoß; darum fiel es heute nicht auf. Der Junge steckte unbemerkt sein kleines Waldmesser und eine feste Leine zu sich; dann ging er. Draußen hinter dem Vorwerke blieb er überlegend stehen.

»Am Forellenbache! Sie dürfen nicht sehen, daß ich vor ihnen hinaus bin. Ich mache einen Umweg, gehe durch die Erlen und dann hinüber nach dem Eichberge; da habe ich auch die Luft für mich.«

Also die Richtung des Windes hatte er doch schon, und zwar ganz unwillkürlich, gesichert. Der muthige Knabe hatte gar keine Ahnung, welcher Gefahr er entgegen ging.

Er huschte auf die Straße hinüber, schritt eine ziemliche Strecke auf derselben hin und trat dann in einen Erlenschlag ein, welcher sich links hinüberzog. Er schritt unbesorgt wohl zehn Minuten lang zwischen den Büschen hin, bis ein trockenerer


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Boden kam, der mit hohen Eichen bestanden war. Er hatte wohl noch eine halbe Stunde bis zum Forellenbach zu gehen, nahm aber doch sein scharf geladenes Doppelgewehr, welches er damals vom Hauptmann geschenkt erhalten hatte, von der Schulter und führte es schußgerecht im Arme.

Er fühlte nichts von der grimmigen Kälte; der Gedanke, einen Wolf zu sehen, erwärmte ihn. Er dachte nicht daran, daß das Thier erst gesucht werden müsse, daß es zwar am Forellenbache seine Fährte gezeichnet habe, jetzt aber bereits stundenweit davon entfernt sein könne. Er schritt weiter und weiter, dem Bache zu.

Da krachte im Forste ein Baum. Ganz unwillkürlich richtete er sein Auge nach der Richtung, aus welcher der Schall gekommen war, und sofort blieb er stehen.

»Ein Hund!« flüsterte er. »Ein fürchterlich großer Hund! Oder ist das der Wolf?«

Rasch trat er hinter die nächste Eiche. Nicht dreißig Schritte von ihm entfernt stand die Gestalt eines hundeähnlichen Thieres, welches auch nach der Richtung äugte, in welcher der Baum gekracht hatte. Die spitzen Ohren waren horchend empor gerichtet, und der buschige Schwanz stak zwischen den hintern Beinen. Es war ein großes, mächtiges aber sehr mageres Thier; es mußte der Wolf sein.

Er mochte sich beruhigt haben und kam jetzt im Troddelschritte näher. Jetzt war er kaum noch zwanzig Schritte entfernt. Die Luft stand gut.

Da hob Kurt sein Gewehr.

Da hob Kurt sein Gewehr. Er zitterte nicht im Geringsten; er hatte ja zwei Schüsse. Er zielte gerade auf die Brust des Thieres und drückte ab. Der Schluß krachte, das Thier fuhr auf die Hinterbeine zurück, that einen halben Sprung vorwärts, brach zusammen, wollte sich wieder aufraffen, stieß ein halbes, abgebrochenes Heulen aus und lag dann verendet am Boden.

Zunächst lud Kurt den abgeschossenen Lauf wieder, dann trat er zu dem Tiere; es bot einen ekelhaften Anblick, so daß der Knabe sofort im Stillen meinte:

»Das ist kein Hund, sondern der Wolf.«

Vor Freude glühend, stand er da.

»Was thue ich?« fragte er sich. »Schaffe ich ihn heim? Nein. Sie werden seiner Fährte folgen und ihn bereits erlegt finden. Dann sehen sie auch meine Fußtapfen. Welch ein großer, großer Aerger! Ich gehe fort und lasse ihn liegen.«

Und das that er. Aber er befand sich nun einmal im Walde und wollte nicht gleich wieder nach Hause gehen, darum schritt er langsam durch den Schnee immer weiter in den Eichwald hinein. Er dachte, auf irgend ein kleines Wild noch zum Schusse zu kommen.

So suchte und suchte er, bis er fühlte, daß er ermüdet sei. Es gab da eine umgebrochene Blutbuche, auf deren Stamm er sich setzten konnte, und er that dies, um ein Wenig auszuruhen.

Hier saß er wohl eine Viertelstunde lang, als er auf einen ganz eigenthümlichen Laut aufmerksam wurde. Es klang, als ob ein Eichkätzchen da oben in den Eichen seine Kletterversuche mache, aber viel lauter und kräftiger. Er blickte nach der Richtung, aus welcher dieses Geräusch kam, empor und - duckte sich im Nu unter den Stamm nieder, auf welchem er gesessen hatte.

»Eine Katze, eine wilde Katze gewiß,« flüsterte er. »Aber was für ein Vieh!«

Es war allerdings ein katzenähnliches Thier, welches er erblickte, aber von einer


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ganz bedeutenden Größe. Es bewegte sich nicht am Boden, sondern oben in den Zweigen von einem Baume zum andern. Es war über anderthalbe Elle lang, sah oben fuchsroth und unten weiß und hatte einen schwarz geringelten Schwanz. Es machte Sprünge von bedeutender Weite und duckte sich, von einem Baume auf dem andern angekommen, erst tief und eng auf dem Aste nieder, um zu gewahren, ob es sicher sei.

»Nein, eine Wildkatze ist es nicht,« dachte Kurt. »Aber was sonst? Ah, mag es sein, was es will, ich schieße!«

Das mußte aber schnell geschehen, denn das Thier nahm seine Richtung nach seitwärts hinüber. Eben schlich es sich nach dem vordern Theile eines starken Astes und erhob sich, um einen Sprung zu thun, da legte der muthige Knabe sein Gewehr an. Das Thier gab ihm in seiner gegenwärtigen Stellung ein schönes Ziel zu einem guten Schusse. Nur einen einzigen Augenblick zielte er, dann krachte der Schuß. Das Thier sprang nach einem Aste des nächsten Baumes, erreichte diesen aber nicht, sondern stürzte, sich in der Luft zweimal wendend, zu Boden herab. Da aber richtete es sich empor und starrte nach der Richtung, aus welcher der Schuß gefallen war. Seine Augen glühten wie Feuer.

»Noch einmal!«

Diese Worte rief Kurt ganz laut. Das Thier bot ihm jetzt gerade die vordere Brust. Er drückte den zweiten Lauf ab, und im nächsten Augenblicke prallte das Thier gegen den Stamm, hinter welchem er lag. Es krallte seine Klauen in denselben ein, aber es kam nicht hinüber; es war zum Tode getroffen. Ein eigenthümliches Pfauchen und Knurren erscholl; dann ertönte ein Schrei, und nun war es still.

Der Knabe hatte nach dem zweiten Schusse die Büchse fortgelegt und das Messer gezogen. Er wußte, daß es so richtig sei. Er hatte auch in knieender Stellung das Messer zum Stoße bereit gehalten, falls das Thier über den Stamm herüber kommen würde, aber was wäre er in diesem Falle gegen ein solches Raubzeug gewesen!

Jetzt erhob er sich, lud sein Gewehr wieder und betrachtete sich das Thier. Er erschrak.

»O, was ist das!« rief er vor Schreck ganz laut. »Das Vieh hat Ohrpinseln; das ist ein Luchs!«

Es schien ihm ganz unglaublich, ein solches Thier erlegt zu haben; aber er erhielt keine Zeit, darüber nachzudenken, denn er vernahm von Weitem her ein Geräusch und drehte sich nach demselben um. Er brauchte nicht lange zu warten, so erschien ein Mann aus dem nächsten Dorfe mit einem Holzschlitten. Er war arm und trotz der Kälte in den Wald gegangen, um sich Fallholz aufzulesen, was ja erlaubt war. Beide kannten einander.

»Ah, wer ist denn das?« sagte der Mann. »Mosjeh Kurt! Guten Morgen!«

»Guten Morgen, Klaus!« sagte der Kleine hoch erfreut. »Höre Klaus, willst Du Dir einen Thaler verdienen?«

Der Mann schlug die Hände zusammen.

»Einen Thaler? O, wie gern! Aber wie?«

»Du sollst mir einen Luchs und einen Wolf nach dem Schlosse fahren.«


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»Einen Luchs und einen Wolf? Die giebt es ja hier bei uns nicht.«

»Nicht?« lachte der Knabe fröhlich. »Wollen wir wetten?«

»Ich bin arm; ich habe Nichts zu verwetten.«

»So schau einmal hierher!«

Kurt deutete hinter den Stamm, und der Mann sah sich das erlegte Thier an.

»Herrgott, das ist wirklich ein Luchs!« rief er. »Wer hat den geschossen?«

»Ich natürlich!«

»Sie, Mosjeh Kurt? Das ist unmöglich!«

»Hast Du die Schüsse nicht gehört und siehst Du andere Tapfen als die meinigen?«

Der Mann blickte sich aufmerksam um und rief dann:

»Es ist bei Gott wahr; Sie sind es gewesen! Aber, Mosjeh Kurt, da hat Sie der liebe Gott beschützt!«

»Ja, aber mach' schnell! Der Luchs und der Wolf müssen aufgeladen werden, ehe der Herr Hauptmann kommt. Er will den Wolf schießen.«

»Denselben?«

»Denselben,« nickte der Knabe lachend. »Ich wollte mit, aber ich durfte nicht, denn der Herr Hauptmann dachte, daß der Wolf mich fressen würde.«

»Und da sind Sie allein gegangen?«

»Ja.«

»Welch ein Wagniß!« rief der Mann ganz entsetzt.

»O, nun kann ich den Wolf essen, und den Luchs dazu! Aber nun schnell; lade auf!«

Die seltene Beute wurde aufgeladen, und eben wollte sich der Mann in Bewegung setzen, da hielt ihn Kurt noch zurück.

»Höre, Klaus,« sagte er, »der Herr Hauptmann wird meine Spur finden, und ihr nachgehen; darum wollen wir sie verbergen. Du trittst in die Tapfen, die ich gemacht habe, und nun vorwärts!« 

Kurt schritt voran, ganz in seinen früheren Fußtapfen, und Klaus folgte, indem er die Tapfen des Knaben größer trat. So gelangten sie zu der Stelle, an welcher der Wolf lag. Auch er wurde aufgeladen, und dann deckte Klaus beide Thiere mit Reißig zu.

Nun ging es auf demselben Wege zurück, auf welchem Kurt durch die Erlen gegangen war, wobei auch hier seine Tapfen verwischt wurden. So jung er war, so klug fing er seine Sache an. Auf diese Weise gelangten sie nach dem Vorwerke.

Der Steuermann trat aus dem Hause und wollte zanken, daß Kurt so spät zurückkehrte, dieser jedoch fiel ihm in die Rede:

»Papa, hast Du einen Thaler?«

»Einen Thaler?« fragte Helmers, ganz erstaunt über diese Forderung. »Für wen?«

»Für den Klaus hier. Da unter dem Reißig steckt Etwas; er hat es mir aus dem Walde hierher gefahren, und ich habe ihm dafür einen Thaler versprochen.«

»Du bist nicht klug!«

»Hältst Du mich für dumm, Papa?«

»Hm! Was ist es denn?«


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»Das darf jetzt nicht gesagt werden, erst wenn der Herr Hauptmann aus dem Walde kommt.«

Helmers überlegte sich die Sache. Der Hauptmann konnte ja Etwas verlegt haben.

»Ist es einen Thaler werth, was Du da bringst?« fragte er den Mann.

»Ja, noch viel mehr!« antwortete dieser.

»Gut, so sollst Du ihn haben. Hier!«

Er gab Klaus das Geldstück und frug dann seinen Sohn:

»Also ich darf nicht wissen, was es ist, und sonst auch Niemand?«

»Nein.«

»Aber Klaus braucht seinen Schlitten; Du mußt also abladen.«

»So gehst Du in die Stube, und wir laden in dem Holzstall ab, dessen Schlüssel ich behalte.«

»Heimlichkeit über Heimlichkeit!« sagte Helmers.

Aber er that doch Kurt seinen Willen und ging in die Stube.

Klaus fuhr mit seinem Schlitten und seinem Thaler ab, ohne das Geheimniß zu verrathen, und Kurt lief den ganzen Vormittage im Vorwerke und im Schlosse umher wie Einer, dem irgend Etwas das Herz abdrücken will.

Endlich kehrte der Hauptmann mit seinen Untergebenen aus dem Walde zurück. Kurt sprang ihm entgegen.

»Haben Sie ihn, Herr Hauptmann?« fragte er.

»Packe Dich zum Teufel, Bube!« lautete die Antwort.

Der Oberförster war augenscheinlich in einer höchst grimmigen Stimmung. Er schob den Knaben einfach bei Seite und ging nach seiner Wohnung. Kurt wartete, bis die Burschen sich in ihrer Stube versammelt hatten, und trat dann dort ein.

»Habt Ihr ihn, Ludewig?« war auch hier seine erste Frage.

»Nein, sondern er hat uns gefoppt,« antwortete der Gefragte.

Er zog den Tabaksbeutel hervor, um sich eine neue Pfeife zu stopfen. Als dies geschehen war und der Tabak brannte, setzte er sich zu den Andern an den Ofen und sagte:

»Kurt, Du bist noch sehr jung dahier, aber man darf Dir schon Etwas sagen.«

»Was?« fragte der Knabe neugierig.

»Ich meine, Etwas, was Du noch nicht zu wissen brauchst, weil dabei selbst uns Großen der Verstand stille steht dahier.«

»Ja, vollständig stille!« stimmte ein Anderer bei.

»Halt's Maul, wenn ich rede!« fuhr ihn Ludewig an. »Dein Verstand steht übrigens stets stille! Kurt, hast Du einmal von der schwarzen Henne gehört, oder von einem dreibeinigen Hasen?«

»Nein.«

»Vom achtbeinigen auch nicht?«

»Nein.«

»Von der Eule mit vier Flügeln, oder vom Hunde mit einem Kopf und Schwanz vorn und hinten?«

»Auch nicht.«


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»Aber vom wilden Hackelberg hast Du gehört, sowie vom wilden Jäger und vom getreuen Eckehardt?«

»Ja.«

»Und von der guten Frau Holle?«

»Ja.«

»Nun gut, wir sollen Dir von solchen Sachen nichts erzählen; der Herr Hauptmann hat es uns verboten, aber aus ihnen geht doch hervor, daß es im Walde nicht ganz ohne ist dahier. Verstanden?«

»Ja.«

»Ich habe auch Vieles nicht geglaubt; aber seit heute glaube ich Alles und Jedes, weil ich ein Gespenst gesehen habe.«

»Ein Gespenst?« fragte der Knabe.

»Ja. - Gottstrampach, es ist wahr dahier!«

»Was denn für eines?«

»Hast Du einmal etwas gehört vom verwünschten Bär, oder vom Geisterwolf?«

»Nein.«

»Nun, siehst Du, Kurt, den habe ich gesehen.«

»Den Geisterwolf?«

»Ja. Wenn Du dem Herrn Hauptmann nichts wiedersagst, will ich es Dir erzählen.«

»Ich sage nichts.«

»Nun gut! Also ich gehe heute Morgen in den Wald und nehme einige Bunde Heu mit für die Rehe. Auf dem Rückwege komme ich an den Forellenbach, und da huscht Etwas, so etwa zwanzig Schritte weit, an mir vorüber in's Gebüsch.«

»Der Wolf?«

»Ja. Als ich hinkomme, sehe ich sofort an der Fährte, daß es ein Wolf ist. Ich ging zum Herrn Hauptmann, zeichnete ihm die Fährte vor, und auch er sagte, daß es ein Wolf sei.«

»Ich war dabei.«

»Ja, Du bist also Zeuge dahier! Darauf ziehen wir mit dem ganzen Hundezeug hinaus, um den Wolf zu stellen. Wir finden seine Fährte, folgen ihr und - - weg ist sie auf einmal, wie fortgeblasen. Sie verlor sich auf einer Schlittenfährte, der wir bis auf die Straße gefolgt sind. Es sieht also ein Jeder sehr leicht ein, daß es der Geisterwolf gewesen ist.«

»Ihr hättet mich mitnehmen sollen!« meinte Kurt sehr ernsthaft.

»Nein, bei Leibe nicht; denn weißt Du, was es bedeutet, wenn der Geisterwolf erscheint?«

»Was?«

»Es stirbt Einer aus der Gesellschaft. Mich mag es immerhin betreffen. Seit ich damals den Sauschuß gethan habe, ist mir Alles egal dahier!« -

Am Nachmittage hatte sich Kurt abermals bei dem Oberförster einzustellen; er erhielt um diese Zeit Unterricht von ihm. Er machte sich also in Pelzjacke und Pelzmütze auf den Weg zu ihm. Er klopfte wie gewöhnlich an, und auf das »Herrrrein!« des Alten trat er ein.


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»Guten Tag, Herr Hauptmann!«

»'n Tag! Was giebt's?«

»Stunde, Herr Hauptmann.«

»Heute ist keine,« brummte der Oberförster. »Werde mir eine Stunde geben! «

Er saß auf seinem Stuhle und starrte durch das Fenster; erst nach langer Zeit wandte er sich zu dem Knaben und fragte:

»Hast Du mit Ludewig gesprochen über den Wolf?«

»Ja.«

»Was sagte er?«

»Ich darf es nicht sagen, Herr Hauptmann, weil ich es versprochen habe.«

»So! Das muß ich gelten lassen. Aber ich kann mir trotzdem denken, wovon die Rede gewesen ist. Von Geistern und Gespenstern. Hm! Junge, glaubst Du, daß ein Thier verschwinden kann?«

»Ja, Herr Hauptmann.«

»Alle Teufel! Du!« rief er zornig.

»Wenn es fortläuft.«

»Ach so! «

»Oder fortgeschafft wird.«

»Hm, nicht übel! Heute ist uns unser Wolf verschwunden.«

»So ist er fortgelaufen.«

»Nein.«

»Oder fortgeschafft worden.«

»Könnte ich diesen Hallunken erwischen! Ein gescheidter Kerl ist er. Ich gäbe gleich zehn Thaler d'rum, wenn ich ihn bekommen könnte!«

»Den Wolf oder den Kerl, Herr Hauptmann?«

»Den Kerl zunächst!«

»Ich kenne ihn.«

Da sprang der Hauptmann auf.

»Wer ist es?«

»Ich darf es nicht sagen.«

»Donnerwetter! Hast Du etwa auch ihm Verschwiegenheit versprochen?«

»Ja. Sagen darf ich nichts; aber zeigen darf ich dem Herrn Hauptmann Etwas, woraus sich gleich errathen läßt, wer der Kerl gewesen ist.«

»Kerl, ich will nicht hoffen, daß Du mit mir Unsinn treibst!«

»Es ist mein Ernst.«

»Wo ist Das, was ich sehen soll?«

»Drüben bei uns.«

»So gehe ich mit, jetzt gleich.«

»Herr Hauptmann, darf der Ludewig mit? Es ist auch für ihn.«

»Gut, meinetwegen!«

»Und die Anderen? Ich bitte darum!«

»Nun gut, sie mögen mitlaufen, Alle mit einander. Aber der Teufel soll Dich holen, wenn es Dir vielleicht einfallen sollte, Unsinn zu treiben!«

Sie brachen auf; die Burschen wurden gerufen, und nun ging es in Gesammt-


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heit hinüber in den Hof des Vorwerks. Dort stand der Steuermann, der große Augen machte über den Zug, der bei ihm einwanderte.

»Guten Tag, Herr Hauptmann!« grüßte er ehrfurchtsvoll.

»'n Tag! Wißt Ihr, was wir hier wollen?«

»Nein.«

»Uns von Eurem Jungen an der Nase führen lassen!«

»Das mag ihm nicht einfallen!«

»Will's ihm auch nicht rathen!«

Kurt machte eine triumphirende Armbewegung und sagte zu seinem Vater:

»Hier, Papa, hast Du den Schlüssel. Mache dem Herrn Hauptmann den Holzstall auf!«

Der Steuermann nahm den Schlüssel.

»Ah,« sagte er, »endlich klärt sich das Geheimniß auf!«

»Ein Geheimniß?« fragte der Hauptmann.

»Ja. Er hat hier Etwas versteckt; wir werden es aber sogleich sehen.«

Er öffnete und trat zur Seite, um dem Hauptmanne den Vortritt zu lassen. Dieser trat ein, blieb unter der Thür stehen und war einige Augenblicke lang ganz sprachlos.

»Himmeldonnerwetter!«

Diesen Ruf hörte man; da man aber nur seinen Rücken sehen konnte, so wußte der Steuermann nicht, ob dies ein Ruf des Zornes oder der Ueberraschung sei. Er warf in Folge dessen seinem Sohne einen drohenden Blick zu und fragte:

»Was ist's, Herr Hauptmann?«

»Kreuzhimmeldonnerwetter!«

»Herr Hauptmann,« sagte Helmers, »wenn der Bube eine Dummheit gemacht hat, so - -«

Da drehte sich der Alte endlich um. Sein Gesicht strahlte vor freudigem Erstaunen, und er unterbrach den Steuermann:

»Maul halten! Ludewig, er hat ihn!«

»Wen?« fragte der Bursche.

»Rathe!«

Ludewig sann eine Weile nach und sagte dann:

»Ja, wer soll sich das denken!«

»Nun, den wir heute suchten!«

Der Bursche machte eine sehr bestürzte Miene und sagte:

»Doch nicht etwa gar den Wolf!«

»Ja, ihn gerade!«

»Den Geisterwolf?«

»Den Geisterwolf, Du Esel!« lachte der Oberförster grimmig.

Er wollte bei Seite treten, um den Anderen einen Einblick in den Holzstall zu lassen, da trat der Briefträger durch das Hofthor. Aller Augen richteten sich für einen Augenblick auf ihn. Er sah den Oberförster und fragte:

»Herr Hauptmann, soll ich Ihre Briefe hinüber tragen, oder darf ich sie sogleich hier abgeben?«

»Gieb her!«


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Er langte ihm einige Briefe zu, darunter ein großes, amtlich versiegeltes Couvert. Der Hauptmann besah es.

»Vom großherzoglichen Oberforstamte!« sagte er erstaunt. »Und ein »Eilig« darauf! Das muß sofort gelesen werden!«

Er steckte die anderen Briefe in die Tasche, öffnete diesen einen und las ihn durch. Sein Gesicht erhielt dabei einen ganz eigenthümlichen Ausdruck. Als er fertig war, rief er:

»Da schlage doch ein hundertneunundneunzigtausendfaches Wetter d'rein!«

»Eine Hiobspost, Herr Hauptmann?« fragte Helmers.

»Nein, eine solche Freudenpost, daß man unbedingt fluchen muß. Hört einmal!«

Er stellte sich in Positur, noch immer unter der Stallthür, so daß Niemand hineinsehen konnte, und las langsam mit erhobener Stimme Folgendes:

»An den Herrn Oberförster Kurt von Rodenstein, Hauptmann a. D.,
                                                                       auf Rheinswalden.
                  Geehrter Herr!
Nachdem die Strenge des Winters aus den Ardennen und anderen Bergen und Wäldern allerlei ebenso seltenes wie schädliches Raubzeug herbeigeführt hat, so werden unsere Ober- und Unterforstämter hiermit bedeutet, allen Ernstes gegen dasselbe vorzugehen.
   Wie vernommen, lassen sich hier und da Wölfe sehen; also theilen wir mit, daß Demjenigen, welcher das erste dieser Thiere im Bereiche unseres Landes schießt, eine Prämie von zwanzig Thalern, jedem Folgenden aber eine solche zu fünf Thalern ausgezahlt werden soll.
   Zu Unserm großen Erstaunen vernehmen wir, daß vorgestern in der Gegend von Winnweiler gar ein Luchs gesehen worden ist, ein Thier von der Gattung, welche man Felis lynae oder Felis lupulinus, zu deutsch Rothluchs nennt. Da nun dieses Thier ohne allen Zweifel das schädlichste Raubthier in Europa ist und auch höchst gefährlich für den Menschen, so ergeht an alle unsere Forstbeamten die Weisung, dasselbe unverweilt aufzusuchen und zu erlegen. Derjenige, welcher es erlegt, soll einen Ehrenpreis von hundert Thalern erhalten, und soll die Meldung davon sofort anhero an Unsere Oberforstdirection geschehen.
   Wornach genau zu achten und sich zu verhalten!
Geschehen zu
      Darmstadt,
den ......                Großherzogl. Oberforstdirection.
                                       Ludwig III.
                                P o s t s c r i p t u m:
Zum Erweise der Wahrheit sind von jedem Wolfe die beiden Ohren, von dem Luchse aber das ganze Fell nach hier abzuliefern, welches Letztere noch extra nach Preis und Umständen honoriret werden soll.
                                                                 D. O. ...«

Man kann sich kaum denken, welchen Eindruck der Inhalt dieses Schreibens auf die Burschen machte.

»Ein Luchs!« rief Ludewig. »Unmöglich!«

»Ist seit Menschengedenken noch gar nicht vorgekommen,« sagte ein Zweiter.


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»Wir müssen sofort eine große, allgemeine Streife vornehmen,« meinte ein Dritter.

»Juchhe, Hurrah!« rief ein Vierter, und dieser Vierte war kein Anderer als Kurt.

Der Oberförster warf ihm einen verweisenden Blick zu und sagte zu ihm:

»Halte den Schnabel, Junge! Bei solcher Streiferei mußt Du hübsch zu Hause bleiben! Aber diese Streiferei ist gar nicht nothwendig, denn hört, Ihr Leute, wir haben sie!«

»Wen?« wagte Ludewig zu fragen.

»Den Wolf und auch den Luchs.«

»Den Wolf und auch den L - -!«

Das Wort blieb dem braven Gehilfen im Munde stecken.

»Ja, seht her!«

Er trat zu Seite und ließ den Zutritt frei. Die Leute traten in den Schuppen, und sofort erscholl ein vielstimmiger Ruf der höchsten Verwunderung.

»Gottstrampach, es ist wahr dahier!« rief Ludewig.

»Weiß Gott, der Wolf!« rief ein Zweiter.

»Und der Luchs!« fügte ein Dritter hinzu.

»Ja, sie sind es,« sagte der Oberförster triumphirend. »Jungens, Ihr sollt heute einen Grog kriegen, der sich gewaschen hat, da mir die Ehre wird, daß dieses Zeug auf meinem Reviere erlegt wurde.«

»Halloh, hurrah, der Herr Hauptmann!« riefen Alle.

»Aber,« fragte dieser den Steuermann, »wo ist denn der Wendelin oder der alte Stengler, he?«

Er meinte seine beiden Unterförster.

»Habe sie nicht gesehen, Herr Hauptmann,« antwortete der Gefragte.

»Sie waren also heute nicht zu Hause?«

»Ich bin heute nicht vom Hofe fortgekommen.«

»So müssen Sie doch auch die Förster gesehen haben oder einen von ihnen!«

»Nein.«

»Na, wer soll denn sonst das Viehzeug gebracht haben!«

»Der alte Klaus.«

»Der alte Klaus?« fragte der Hauptmann erstaunt. »Wer hat ihn denn geschickt? Doch nur der Stengler oder der Wendelin. Ein Anderer hat die Thiere nicht erlegt.«

»Herr Hauptmann, fragen Sie Den da!«

Er zeigte auf seinen Sohn.

»Den da, Dummheit! Was hat der damit zu thun?«

»Er ging mit seinem Hinterlader in den Wald und -«

»In den Wald? Wann denn?«

»Gleich als er von Ihnen kam.«

Das Gesicht des Alten verfinsterte sich.

»Ich habe es ihm ja verboten! Der Sakkerment soll seine Strafe erhalten! Wollte der dumme Junge mit auf die Wolfshatz gehen! Also weiter, Steuermann!«


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»Also,« sagte dieser, »er ging mit seinem Hinterlader in den Wald und kam erst nach ungefähr anderthalb Stunden wieder -

»Der Bengel!« rief der Oberförster zornig. »Anderthalb Stunden! Der Wolf konnte ihn packen, oder gar der Luchs ihn zerreißen. Weiter!«

»Er brachte den alten Klaus mit -«

»Ah, jetzt kommt's!«

»Sie hatten auf einem Schlitten eine Last, die mit Reißig zugedeckt war. Ich sollte nicht wissen, was es war, und da versteckten sie es hier in dem Holzstall. Jetzt nun ist's der Luchs und der Wolf.«

»Und wo ist der Klaus?«

»Gleich wieder fort.«

»Er hat aber doch gesagt, welcher Förster das Zeug schickt?«

»Nein, kein Wort.«

»Dummheit von dem alten Kerl! So Etwas vergißt man doch ganz und gar nicht!«

Nun wandte er sich an Kurt und sagte:

»Hat er es Dir gesagt, Junge?«

»Nein.«

»Hast auch nicht gefragt?«

»Nein.«

»Donnerwetter, nach so Etwas fragt man doch! Warum hast Du das Maul nicht aufgethan?«

Der Knabe that sich eine innerliche Güte, all diese Leute so auf die Folter zu spannen.

»Weil ich es eher wußte als der Klaus, wer es gewesen ist,« lachte er.

»Du weißt es? Nun, heraus damit!«

Sie Alle lauschten in gespannter Erwartung auf den Namen.

»Ich selber!« sagte er triumphirend.

»Du sel - - Junge, mach keine Faxen, sonst fuchtele ich Dich!« schrie der Hauptmann.

»Es ist wahr!«

»Kurt!« warnte sein Vater.

»Es ist aber doch wahr!« behauptete er.

Sie standen Alle sprachlos um ihn her. Der Hauptmann war ganz aus aller Fassung.

»Junge, entweder bist Du ein verdammter Lügner oder Du hast den Teufel!« rief er. »Sag, wie es ist!«

»Ich habe sie geschossen, Herr Hauptmann!«

»Alle Beide?«

»Alle Beide!«

Da machte Ludewig drei Kreuze und sagte:

»Er hat Gottstrampach den Teufel! Sonst ist's nicht die Möglichkeit dahier!«

»Kerl,« sagte der Oberförster, der das unmöglich begreifen wollte, »wenn Du uns jetzt belügst, so ist es ab; Du mußt mir von Haus und Hof!«


// 695 //

Da endlich ging dem Jungen die Geduld aus. Er machte ein finsteres Gesicht, stampfte mit dem Fuße und sagte:

»Sie brauchen mich gar nicht fort zu jagen; ich gehe ja schon ganz von selber!«

»Ah!«

»Ja, ich gehe, und jetzt gleich! Wer da denkt, daß ich wegen eines lumpigen Wolfes und wegen so einer alten Katze ein Lügner werde, der hat's bei mir weg. Da muß ja auch einmal ein Kreuzhimmeldonnerwetter dreinschlagen! Verstanden!«

Er drehte sich um und ging in das Haus. Die Anderen standen da, ganz perplex vor Erstaunen. So Etwas ging ihnen doch über alle Begriffe, sogar dem Hauptmann selbst. Der Steuermann zitterte fast in Erwartung dessen, was nun kommen werde. Er wußte, daß sein Sohn kein Lügner sei, aber er konnte auch nicht glauben, daß so ein Knabe zwei solche Thiere erlegen könne, noch dazu in so kurzer Zeit.

Da endlich faßte sich der Hauptmann. Er holte tief Athem und sagte:

»Himmelbataillon, hat der es mir gesteckt! Helmers, laufe Er und hole Er ihn mir rasch!«

Er beachtete es gar nicht, daß er in seiner Aufregung Er anstatt Sie gesagt hatte.

Der Steuermann ging in die Stube und brachte den Knaben, der ein sehr trotziges Gesicht machte.

»Also, Du bist es wirklich gewesen, Schlingel?« fragte Rodenstein.

»Ich hab's schon zehnmal gesagt; ich sage es nicht wieder!« klang die zornige Antwort.

»Hollah, Kerl, zanke nicht!«

»Brechen Sie das Viehzeug auf!« sagte Kurt, »so werden Sie meine Kugeln finden!«

»Ah ja, daran habe ich noch gar nicht gedacht. Wie sind sie denn getroffen worden?«

Er bückte sich nieder und untersuchte zuerst den Wolf.

»Sapperment, im Feuer zusammengebrochen!« sagte er. »Die Kugel ist ihm vorn grade in's Herz gegangen. Das ist brav! Besser schieße ich selber nicht. Und der Luchs?«

»Er hat zwei Schüsse,« sagte Kurt.

»Wo?«

»Ich sehe sie von Weitem!«

»Ah, ich glaube gar, der Junge untersteht es sich, mir eine moralische oder intellectuelle Maulschelle zu geben! Ja, da sind die Schüsse: der eine von der Seite in die Lunge und der andere grade von vorn in's Herz. Drei Meisterschüsse! Junge, wenn Du sie gethan hast, so hast Du den Teufel! Es ist kein Zweifel daran!«

»Er hat ihn dahier!« murmelte Ludewig.

Dabei aber blickte er doch mit Stolz auf Kurt, der ja sein Zögling war.

»Erzähle einmal!« gebot der Hauptmann.

Der Knabe stellte sich in Positur. Er hatte seine gute Laune wiedergefunden, und sein Gesicht glänzte vor Freude und Genugthuung, als er begann:

»Also ich ging in den Wald - - -«


// 696 //

»Das solltest Du aber doch nicht!« unterbrach ihn der Hauptmann.

»Nun gerade ging ich, denn Sie hatten gesagt, daß der Wolf mich fressen werde. Ich nahm meine Büchse und sagte, daß ich Krähen schießen wolle.«

»Schöne Krähen! Gott sei Dank, daß Alles abgelaufen ist, wie man es sieht!«

»Ich machte einen Umweg durch die Erlen und ging dann nach dem Eichberge; ich wollte nach dem Forellenbach.«

»Wie schlau! Wir sollten seine Spur nicht sehen. Junge, Du hast wahrhaftig den Teufel im Leibe!«

Ludewig machte abermals drei Kreuze und murmelte:

»Er hat ihn! Aber ein tüchtiger Kerl ist er dennoch dahier!«

Kurt fuhr fort:

»Da krachte ein Baum; ich blickte hin und sah den Wolf. Ich sprang sogleich hinter die nächste Eiche.«

»Wie weit war das Vieh von Dir?«

»Dreißig Schritte.«

»Ah, ein prächtiger Schuß!«

»Ich ließ den Wolf bis auf zwanzig herankommen - - -«

»Und hast nicht gezittert?«

»Warum zittern?« fragte der Knabe aufrichtig. »Ich wußte doch, daß ich ihn gut treffen werde. Ich legte an und drückte ab; da brach er zusammen. Er wollte noch einmal auf, aber es ging nicht; er fiel mausetodt um.«

»Ein Kapitalschuß! Junge, ich glaube, Du wirst in Deinem Leben nicht erfahren, was Angst ist oder Furcht. Weiter!«

»Ich lud meinen Lauf wieder - - -«

»Natürlich!«

»Und guckte mir dann den Wolf an. Erst wollte ich ihn mitnehmen; ich hatte eine Leine mit und konnte ihn schleifen; aber ich dachte, Sie würden kommen und ihn finden.«

»Sapperment, das Kerlchen hat uns ärgern wollen!« lachte Rodenstein.

»Ja, weil Sie gesagt hatten, daß der Wolf mich fressen würde,« gestand Kurt aufrichtig. »Nachher ging ich noch ein Bischen in die Eichen hinein. Ich dachte, ich könne vielleicht einen Waldhasen schießen. Aber der Schnee war tief und ich wurde müde. Da setzte ich mich auf die Blutbuche, die neben den zwei großen Eichen umgebrochen ist.«

»Ah, dort!« nickte der Oberförster.

»Da hörte ich Etwas kommen - - -«

»Im Schnee?«

»Nein, sondern oben im Geäst. Ich sah hin und dachte, es wäre eine wilde Katze, denn auf die Ohrlöffel hatte ich gar nicht gesonnen. Das Vieh wollte seitwärts vorüber; es sprang von Ast zu Ast. Ich duckte mich unter die Buche und zielte. Gerade als es springen wollte, hatte ich einen guten Schuß; der Luchs fiel zu Boden - - -«

»War aber nicht todt?«

»Nein.«


Ende der neunundzwanzigsten Lieferung - Fortsetzung folgt.



Karl May: Waldröschen

Karl May – Forschung und Werk