Lieferung 6

Karl May

30. Dezember 1882

Waldröschen
oder
Die Rächerjagd rund um die Erde.

Großer Enthüllungsroman
über die
Geheimnisse der menschlichen Gesellschaft

von

Capitain Ramon Diaz de la Escosura.


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dunklen Raum gethan, so erhielt er einen Faustschlag an die Schläfe und dann einen ebenso wohl gezielten zweiten, daß er die Besinnung verlor, ehe er einen Laut auszustoßen vermochte.

»Holt das Licht heraus,« gebot der Kapitän. »Wir wollen uns den Burschen einmal ansehen.«

Das Licht wurde gebracht. Man leuchtete ihn an.

»Ah, ein feiner Bursche!« meinte Henrico Landola. »Hm, er sieht irgend Einem ähnlich, den ich kenne. Werde es mir wohl noch aussinnen. Gebt ihm einen Knebel; wickelt ihn in das Segeltuch und bindet dann die Taue fest, daß es ein hübsches, steifes und ruhiges Bündel ist, mit dem wir keine Noth haben.«

Das Licht wurde ausgelöscht, und noch war nicht lange Zeit seitdem vergangen, als es leise an die vordere Thüre klopfte. Es wurde geöffnet und der Notar kam hereingehuscht.

»Habt Ihr ihn?« fragte er.

»Ja.«

»Hat er sich gewehrt?«

»Pah! Das werden wir uns verbitten! Eine Seemannshand weiß gut zu treffen.«

»Er ist wohl noch ohne Besinnung?«

»Das wird sich finden. Kann es fort gehen? Draußen ist's geheurer als hier.«

»So kommt!«

Er führte sie auf ganz demselben Wege zurück, den sie gekommen waren, und sie erreichten den Wagen, ohne von irgend einem Menschen bemerkt worden zu sein. Zwei Männer hatten den Geraubten bis hierher getragen. Er wurde von ihnen zunächst auf die Erde geworfen. Der Advokat zog eine Blendlaterne hervor, welche er ansteckte. Er konnte es sich nicht versagen, sein Opfer noch einmal anzusehen, und ihm ein peinigendes Wort mit auf den Weg zu geben.

Das Licht der Laterne fiel auf das Gesicht des Gefangenen. Er hatte die Augen offen.

»Ah, Bursche, Du bist munter!« grinste der Notar ihn an. »Deine Rechnung mit Rodriganda ist gemacht. Du wirst keinem Menschen mehr schaden. Lebe wohl und vergiß mich nicht!«

Er schlug dem Wehrlosen mit der geballten Faust einigemale in das Gesicht und gab dann das Zeichen, ihn in den Wagen zu heben. Während dies geschah, wurde er von dem Kapitän auf die Seite genommen und gefragt:

»Also wie, Sennor? Soll er sterben oder -«

»Hm, todt ist am besten!«

»Dann verliere ich aber ein Bedeutendes!«

»So schreibt Euch zweihundert Duros mehr auf Euer Conto.«

»Das ist etwas Anderes! Für diesen Preis kann man es machen. Da sind die Jungens ja fertig. Gute Nacht, Sennor! Ihr laßt Euch doch noch sehen, ehe ich in See steche?«

»Einmal noch, ja.«


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»Adieu!«

»Adieu!«

Der Wagen rasselte davon, und der Advokat kehrte nach Rodriganda zurück.

Er nahm dorthin nun die feste Ueberzeugung mit, daß sein Spiel jetzt gar nicht mehr zu verlieren sei. - -

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Fünftes Kapitel.

Zum Wahnsinn verurtheilt.

»Kennst Du die Nacht, die auf die E r d e sinkt
Bei hohlem Wind und scheuem Regenfall,
Die Nacht, in der kein Stern am Himmel blinkt,
Kein Aug' durchdringt des Nebels dichten Wall?
So finster diese Nacht, sie hat doch einen Morgen,
O, lege Dich zur Ruhe, und sei ohne Sorgen!

Kennst Du die Nacht, die auf das L e b e n sinkt,
Wenn Dich der Tod auf's letzte Lager streckt,
Und nah der Ruf der Ewigkeit erklingt,
Daß Dir der Puls in allen Adern schreckt?
So finster diese Nacht, sie hat doch einen Morgen,
O, lege Dich zur Ruhe und sei ohne Sorgen!

Kennst Du die Nacht, die auf den G e i s t Dir sinkt,
Daß er vergebens laut um Hilfe schreit,
Die schlangengleich sich um's Gedächtniß schlingt
Und tausend Teufel in's Gehirn Dir speit?
O sei vor ihr ja stets in wachen Sorgen,
Denn diese Nacht allein hat keinen Morgen!«

Am andern Morgen hatte sich Miß Amy Lindsay bereits zu einer sehr frühen Morgenstunde erhoben. Oft hat das Glück ganz dieselbe Wirkung auf die Nachtruhe, wie das Unglück: es verscheucht den Schlaf. Es trieb sie, hinaus zu gehen in den kühlen, thaufrischen Morgen. Als sie aus ihrem Zimmer trat, sah sie Frau Elvira von oben kommen, ein Körbchen im Arme. Sie grüßte mit einem tiefen Knixe, und Amy dankte ihr auf das Freundlichste.

»Wie es scheint, ist unsere gute Sennora Elvira schon sehr in Geschäften,« sagte sie.

»Ja wohl, meine verehrte Donna Amy Lady,« antwortete die Kastellanin, die von ihrem guten Alimpo gelernt haben mochte, die spanische Titulatur mit der englischen zu vereinigen. »Ich habe nämlich einen großen Fehler auszugleichen.«

»Darf man ihn kennen lernen?«

»Warum nicht! Denkt Euch, Donna Lindsay Miß, wir haben gestern überall Blumen und Kränze gehabt, und grade dem, der den Tag zum Feste machte, dem hat man nicht eine einzige Blüthe auf sein Zimmer gestellt. Das ist höchst undankbar! Das sagt mein Alimpo auch.«

»Ah, Sie meinen Sennor Sternau?«


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»Ja, ihn und keinen Andern. Denkt Euch, Miß Lady, daß er den gnädigen Grafen nicht nur sehend gemacht, sondern auch von einer sehr lebensgefährlichen Krankheit geheilt hat! Man muß ihm sehr dankbar sein. Darum sagte Donna Rosa, ich solle heut früh für Rosen sorgen.«

»Er hat bisher bei Don Emanuel stets gewacht?«

»Ja. Es scheint, er traut gewissen Leuten zu, daß sie die Heilung des gnädigen Herrn verhindern wollen. Er ist ein sehr energischer Mann; das sagt mein Alimpo auch. Selbst auch heut hat er beim gnädigen Grafen gewacht; jetzt nun ist er in den Park gegangen.«

»So werden wir ihn vielleicht treffen. Ich werde Ihnen helfen, Blumen brechen.«

»O, wie gütig Ihr seid, theure Sennora Miß Amy Donna! Ich nehme diese große Ehre an.«

Amy hatte richtig vermuthet. Sie waren noch nicht lange beschäftigt, so sahen sie den Arzt herbei kommen. Er zog den Hut grüßend, und die Engländerin trat auf ihn zu.

»Darf ich mich Ihnen anschließen, Sir Sternau, oder sind Ihre Gedanken mit etwas Besserem beschäftigt, als ich ihnen bieten kann?« fragte sie.

»Sie sind mir herzlich willkommen, Miß,« antwortete er, »denn Sie bieten mir die Wirklichkeit dessen, womit sich meine Gedanken beschäftigten. Ich dachte nämlich an Sie.«

»An mich?« frug sie mit scherzhaftem Erstaunen.

»Ja. Und der Gedanke an Sie führte mich im Geiste nach dem fernen Lande, welches Ihnen bald zur Heimath werden soll.«

»Sie meinen Mexiko. Kennen Sie es?«

»Sehr gut. Ich bin von den Prairie'n Nordamerika's durch Texas und Neu-Mexiko geritten, kam dann durch die Wüste nach Mapimi und der Hauptstadt des Landes, wo ich einige Monate verweilte, und ging hierauf nach Kalifornien, um das Leben und Treiben in den Minenregionen näher kennen zu lernen.«

»Ah, Sie waren wirklich in Mexiko?«

»Wie ich Ihnen sagte, ja.«

»O, das befreundet mich mit diesem Lande!« rief sie. »Sie werden mir von ihm erzählen müssen, Sir. Ich kann Ihnen nämlich gestehen, daß ich eine ganz entsetzliche Angst vor Mexiko habe.«

»Warum?«

»Weil es das Land der Grausamkeiten und Gewaltthätigkeiten ist. Denken Sie an seine Geschichte!«

»Ja, diese Geschichte ist allerdings mit Blut geschrieben, und die Verhältnisse sind selbst heut noch immer keine geordneten; aber so schlimm, wie es Ihnen zu sein scheint, ist es allerdings doch nicht. Mexiko ist eins der schönsten Länder der Erde; es bietet die seltensten Genüsse und Annehmlichkeiten, und besonders wird das Leben und Treiben der Hauptstadt Ihnen die beste Befriedigung gewähren.«

»Aber das Leben und Treiben der Provinzen, Sir! Man spricht sogar von Räuber- und Mörderbanden, die es dort geben soll!«

»Nun,« lächelte der Arzt, »man möchte freilich fast behaupten, daß ein jeder


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Mexikaner so ein wenig Räuber, Mörder oder Freibeuter ist, aber man wird dies sehr bald gewöhnt.«

»Gewöhnt!« rief sie. »Wie kann man gewöhnt werden, mit Räubern, Mördern und Freibeutern zusammen zu sein?«

»Sehr leicht, Miß Amy. Diese Räuber sind nämlich die feinsten und höflichsten Kavaliere, welche es nur geben kann. Sie machen die Bekanntschaft eines hohen Offiziers, welcher Sie bezaubert, eines Richters, dessen Gerechtigkeit Ihnen imponirt, eines Gelehrten, dessen Wissen Sie anstaunen, eines Geistlichen, dessen Frömmigkeit Sie bis in's tiefste Herz erquickt und rührt; eines schönen Tages werden Sie von Räubern angefallen und Sie erkennen in dem Anführer derselben Ihren Offizier oder Richter, Ihren Gelehrten oder Geistlichen. Das ist dort gar nicht sehr auffällig, obgleich es Ihnen ungewöhnlich vorkommen und ein kleines Lösegeld kosten wird. Sie werden von den Leuten mit aller Höflichkeit behandelt und wenn der Anführer Ihnen nächster Tage in irgend einem Salon wieder begegnen sollte, so wird er Ihnen mit aller Courtoisie den Arm bieten und nichts verlangen, als daß Ihnen das kleine Abenteuer nicht mehr erinnerlich ist.«

»Das ist ja ganz erstaunlich romantisch! Es ist in solchen Fällen also blos auf die Kasse und nicht auf das Leben abgesehen?«

»Meist. In den entfernten Provinzen ist es allerdings etwas gefährlicher. Wer sich da nicht jeder Gegenwehr enthält, der kann seinen Muth leicht mit dem Tode büßen. Man reist in diesen Gegenden deshalb nur unter militärischer Bedeckung. Doch sind solche Kleinigkeiten keineswegs mit den Gefahren der wilden Savanne zu vergleichen. Dort ist jeder wider Jeden; man schwebt in jedem Augenblicke in Todesgefahr und wer da nicht gut beritten und ebenso gut bewaffnet ist, Körperstärke und Erfahrung besitzt, der soll lieber daheim bleiben.«

»Ja, ich habe davon gelesen. Ist es wahr, daß die Leute, welche diese Wildnisse durchziehen, die Spur eines jeden Menschen, eines jeden Thieres zu entdecken vermögen?«

»Allerdings. Es gehört dazu nicht nur Uebung, sondern vor allen Dingen ein Scharfsinn, den man sich nicht anzueignen vermag; er muß angeboren sein. Man muß jedes Sandkörnchen, jeden Grashalm, jeden Zweig befragen können, man muß tausend Umstände berücksichtigen, an welche kein Anderer denken würde.«

»Haben Sie das auch gethan?«

»Ich war ja dazu gezwungen,« antwortete er leichthin.

»Ah, da sind Sie also einer jener berühmten Pfadfinder gewesen, welche ein so romantisches Leben führen?«

Er verbeugte sich mit komischem Stolze und meinte:

»Zu dienen, Miß Amy!«

»Könnte man doch einmal ein Beispiel erleben, um den Scharfsinn eines solchen Prairiejägers bewundern zu können!«

»Dieser Wunsch wird Ihnen in Mexiko sehr leicht zu erfüllen sein, hier aber, meine theure Miß - ah, vielleicht ist es auch hier bereits möglich, denn ich sehe hier eine Fährte, welche uns als Beispiel dienen kann.«

Sie hatten sich im Verlaufe ihres Gespräches von den Blumen und von der Kastellanin entfernt und waren nach demjenigen Theile des Parkes gekommen,


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welcher an die hintere Seite des Schlosses grenzte. Kein gewöhnliches Auge hätte in dem Sande des Weges den Eindruck von Füßen entdecken können, aber der geübte Blick des Arztes, angeregt und geschärft durch den Gegenstand des Gespräches, erkannte sofort, daß hier mehrere Personen gegangen seien.

»Eine Fährte?« fragte die schöne Engländerin, indem sie den Boden musterte. »Ich sehe ja nichts!«

»Das glaube ich Ihnen gern, Miß Amy,« antwortete Sternau. »Es gehört allerdings das Auge eines wilden Indianers oder eines erfahrenen Prairienjägers dazu, aus der Lage der Sandkörnchen zu schließen, daß dieser wenig gangbare Pfad während dieser Nacht betreten worden ist.«

»Während der Nacht? Mein theurer Sir, das klingt ja nach irgend einem heimlichen Abenteuer!«

»O, wir brauchen nicht sogleich an einen Roman zu denken,« lächelte er. Und indem er ihren Arm ergriff, um sie zurückzuhalten, fuhr er fort: »Bitte, bleiben Sie zunächst hier stehen, damit Ihr Fuß die Spuren nicht verwischt!« Dann bückte er sich nieder, um den Sand zu untersuchen, und fragte: »Jetzt blicken Sie her, Miß Lindsay! Sehen Sie, daß hier die Körner niedergedrückt worden sind?«

Sie folgte seiner Aufforderung, betrachtete den Boden genau und sagte dann überrascht:

»Wirklich, ich sehe einen Eindruck! Und Sie denken, daß er von einem Fuße herrührt?«

»Allerdings. Er rührt von einem großen Stiefel her, von einem Stiefel, der einen sehr breiten und niedrigen Absatz hat, ungefähr so, wie von einem Wasserstiefel, wie ihn die Fischer und Schiffer tragen. Und hier ist die Spur eines zweiten Stiefels, ganz derjenigen des ersten entsprechend. Und weiter; hier rechts haben Sie noch mehrere Spuren; es sind also hier mehrere Männer gegangen. Und betrachtet man den Rand der Fußeindrücke genau, so sieht man, daß derselbe bereits vollständig eingefallen ist, er ist nicht mehr scharf abgegrenzt, wie es der Fall sein würde, wenn die Leute erst vor kurzer Zeit hier gegangen wären. Sie sind also zur frühen Nachtzeit hier gewesen.«

»Aber solche Stiefel trägt im Schlosse Keiner,« bemerkte das Mädchen, welches sich für diese eigenthümliche Angelegenheit zu interessiren begann.

»Das läßt also vermuthen, daß diese Männer fremd hier waren,« antwortete er. »Ich beginne fast, einen kleinen Verdacht zu hegen.«

»Ah, wirklich?« fragte sie ängstlich.

»Ja. Sie sind vom Schlosse hergekommen. Lassen Sie uns sehen, aus welcher Thüre!«

Sie verfolgten die Spur nach dem Schlosse zurück und kamen an den hinteren Eingang, welchen die Seeleute als Passage benutzt hatten.

»Ah!« rief Sternau, »sehen Sie, man hat auf dem Herwege eine andere Richtung eingeschlagen, als auf dem Rückwege. Diese Männer sind hier links zwischen den Sträuchern herausgekommen, dann aber hier rechts durch den Park gegangen. Es waren also wirklich Fremde. Die Sache wird wirklich bedenklich. Lassen Sie uns eilen! Wir müssen schnell sehen, wohin sie gegangen sind.«


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Sie verfolgten die Spur nach dem Parke. Amy Lindsay wurde von Minute zu Minute aufgeregter. Sie sah, mit welchem Scharfblicke ihr Begleiter die geringste Kleinigkeit berücksichtigte, mit welcher Sicherheit er die Richtung bestimmte, und erstaunte fast, als er, an einer Stelle angekommen, wo der Pfad breiter wurde und der Sand vom Thau noch feucht war, den Boden mit noch größerer Sorgfalt als bisher untersuchte und dann sagte:

»Miß, das wird wunderbar. Es ist ein Schloßbewohner bei den Fremden gewesen. Sehen Sie, dieser Eindruck rührt von einem feinen Herrenstiefel her. Ich werde ihn mir genau abzeichnen.«

Er zog ein Zeitungsblatt, welches er zufällig bei sich trug, und einen Bleistift hervor und zeichnete die Umrisse des Stiefels so genau nach der Spur, daß die Konturen der Zeichnung streng an die Sohle des Stiefels passen mußten.

»So, das ist das Eine,« sagte er. »Das Andere ist fast noch merkwürdiger. Hier sind zwei Männer gerade hinter einander gegangen. Bemerken Sie, daß die Absätze ihrer Stiefel tiefer in den Sand eingedrungen sind als die Sohle?«

»Ja, Sir!«

»Sie sind also fester und schwerer aufgetreten als die Anderen, sie haben eine Last zu tragen gehabt, welche nicht leicht gewesen ist. Kommen Sie, Miß Amy, gehen wir jetzt noch weiter!«

Er verfolgte die Spur noch längere Zeit, ohne ein Wort zu sagen; endlich aber blieb er stehen und meinte ganz erstaunt:

»Ah, hier hat ein Wagen gestanden!«

»Wirklich?« fragte sie. »Was thut ein Wagen hier zwischen den Büschen!«

»Diese Frage werfe auch ich auf. Es ist hier die Grenze des Parkes. Sehen Sie die Geleise? Es waren zwei Pferde vorgespannt. Hier hat man die Last niedergelegt, hier neben dem Wagen.«

Er bückte sich nieder, um den Eindruck, den die Last im weichen Moose gemacht hatte, sorgfältig zu betrachten. Das Moos hatte sich fast vollständig wieder erhoben und es schien, als ob Sternau nicht mit sich in's Klare kommen könne; da aber fiel sein Blick auf einen niedrigen Schlehdorn, seine Hand griff darnach aus, zog etwas vorsichtig von dem Dorne weg und dann schnellte er empor. Sein Angesicht war bleich geworden und erschrocken rief er aus:

»Wissen Sie, was für eine Last es war, welche man vom Schlosse holte und in den Wagen warf?«

»Mein Gott, Sir, Sie erschrecken mich!« antwortete Amy Lindsay. »Was war es denn?«

»Ein Mensch.«

»Ein Mensch?« wiederholte sie. »Nicht möglich!«

»Doch! Sehen Sie hier diese wenigen Haare, welche ich an dem Dorn gefunden habe! Sie sind hängen geblieben, als man ihn niederlegte. Sie sind schwarz und lang, fast so, wie Sennor de Lautreville sie trägt. Sie gehörten keiner Dame, sondern einem Herrn.«

Jetzt kam die Reihe, zu erbleichen, an die Engländerin.

»Sennor de Lautreville?« fragte sie erschrocken. »Sir, es ist ein Unglück, ein


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Verbrechen geschehen! Lassen Sie uns eilen. Wir müssen fragen, wer von den Schloßbewohnern fehlt.«

»Hm!« antwortete er nachdenklich. »Ungewöhnlich erscheint mir diese Sache, sehr ungewöhnlich; aber auf ein Unglück oder gar ein Verbrechen möchte ich denn doch nicht so schnell schließen. Wir befinden uns nicht in einem amerikanischen Urwalde; wir leben hier in geordneten Verhältnissen und unser Spursuchen a la Savane hat unsere Phantasie erhitzt.«

»Nennen Sie es auch geordnete Verhältnisse, daß man Sie hier im Parke tödten wollte und daß ich mit Rosa überfallen wurde?« fragte sie ängstlich.

»Das ist allerdings wahr,« antwortete er. »Kommen Sie, Miß, wir wollen eiligst umkehren!«

Sie gingen mit schnellen Schritten dem Schlosse zu, dessen Bewohner sich unterdessen von ihrer Ruhe erhoben hatten.

»Bitte, Miß Amy, sagen Sie jetzt Niemandem etwas,« bat Sternau. »Lassen Sie einstweilen noch mir die Angelegenheit über. Vor allen Dingen müssen wir den Grafen schonen. Er ist noch Patient und darf nicht aufgeregt werden. Begeben Sie sich nach dem Salon und schweigen Sie so lange, bis ich Sie wieder gesprochen habe.«

Sie versprach es ihm und schritt nach oben, während sich Sternau in die Wohnung des Portiers begab, wo, wie er wußte, um diese Zeit das Schuhwerk sämmtlicher Bewohner des Schlosses gereinigt wurde. Er fand den Portier nebst dessen Gehilfen bei dieser Beschäftigung und zog wortlos und ohne ihnen eine Erklärung zu geben, das Zeitungsblatt hervor. Er fand sehr bald einen Herrenstiefel, welcher ganz genau zu der Zeichnung paßte, welche er sich von dem Fußabdrucke gemacht hatte.

»Wem gehört dieser Stiefel?« fragte er den Portier, welcher ganz erstaunt diesem ihm unerklärlichen Beginnen zugesehen hatte.

»Er gehört Sennor Gasparino Cortejo,« lautete die Antwort.

Hierauf begab sich der Arzt zum Kastellan, um weitere Erkundigungen einzuziehen. Er erfuhr hier, daß alle Bewohner von Rodriganda bereits wach seien, den Lieutenant ausgenommen, den Alimpo noch nicht gesehen hatte.

»Kommt, Sennor Kastellano, wir wollen ihn wecken!« gebot er.

»Wecken?« fragte Alimpo ganz erstaunt. »Wird er es nicht übel nehmen, wenn wir ihn jetzt in seiner Ruhe stören?«

»Nein.«

Sie fanden die Wohnung des Lieutenants unverschlossen und leer. In dem Schlafzimmer war das Bett noch unberührt, und verschiedene Anzeichen deuteten darauf hin, daß, wenn auch nicht ein Kampf hier stattgefunden hatte, sich doch etwas Ungewöhnliches ereignet haben müsse. Ein Stück starke Schnur lag am Boden; es schien das Ende einer alten Logleine zu sein, wie man sie braucht, um auszumessen, mit welcher Schnelligkeit ein Schiff segelt. Die Kopfbedeckung, welche der Lieutenant am gestrigen Abend getragen hatte, war vorhanden, aber sie lag auf der Diele.

Jetzt schien es dem Arzt als gewiß, daß Sennor de Lautreville etwas zugestoßen sei. Er erkundigte sich im Schlosse sehr genau und erfuhr, daß ihn heute


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noch Niemand gesehen hatte. Kurz entschlossen, begab er sich nach der Wohnung Cortejo's. Er ließ sich nicht anmelden, sondern trat nach kurzem Klopfen sogleich ein. Der Sachwalter war beschäftigt, seine Morgencigarrette zu rauchen; er schien sehr erstaunt über den frühen Besuch zu sein und fragte, als ein kurzer Gruß gewechselt war:

»Ah, Sennor Sternau! Womit kann ich dienen?«

»Mit einer Auskunft, welche ich mir erbitten möchte,« antwortete der Gefragte.

»So redet; aber macht es kurz! Ich bin nicht gewohnt, mich zu einer so ungewöhnlichen Stunde stören zu lassen.«

Er sagte diese Worte in strengem Tone und mit einer Miene, welche kaum feindseliger sein konnte. Sternau ließ sich dadurch keineswegs beirren; er trat hart an den Sachwalter heran, faßte denselben scharf und fest in die Augen und sagte:

»Ich werde gewiß nicht weitschweifig sein, Sennor, sobald Eure Antwort so kurz und aufrichtig ist wie meine Frage: Wo ist der Lieutenant Sennor de Lautreville?«

Diese Frage hatte der Sachwalter nicht erwartet. Er erbleichte sichtlich und es dauerte eine Zeit, ehe er sich zusammenraffte. Dann jedoch meinte er mit desto größerem Nachdrucke:

»Sennor Sternau, ich glaube, Ihr seid in ein unrechtes Zimmer gekommen. Was geht mich dieser Lautreville an!«

»Jedenfalls ebenso viel, als jeden anderen Bewohner Rodriganda's. Der Lieutenant ist nämlich verschwunden und nicht aufzufinden.«

»Ah! Verschwunden? So sucht ihn, Sennor. Wenn er sich wirklich salvirt hat, so wundere ich mich nicht darüber. Ich habe ihn sogleich für einen Abenteurer gehalten,« lautete die Antwort, welche in einem höhnischen Tone gegeben wurde.

»Ah pah, es giebt hier andere Abenteurer, als den Lieutenant,« antwortete Sternau ruhig. »Wer waren die Männer, mit denen Ihr den Verschwundenen überfallen und nach dem Wagen geschafft habt, welcher an der Grenze des Parkes wartete?«

Wäre ein Blitz vor ihm niedergefahren, so hätte der Sachwalter nicht mehr erschrecken können, als jetzt bei dieser Frage. Er hatte geglaubt, daß Alles vollständig unbemerkt geschehen sei, und mußte nach der Frage Sternau's doch vermuthen, daß es einen Lauscher gegeben habe. Er zuckte erschreckt zusammen und griff mit der Hand nach der Lehne des neben ihm stehenden Stuhles, um sich auf dieselbe zu stützen. Im nächsten Augenblicke aber dachte er daran, daß man doch jedenfalls versucht haben würde, die That zu verhindern; dies war nicht geschehen, folglich hatte es keinen Beobachter gegeben und die Frage Sternau's gründete sich jedenfalls auf eine bloße Vermuthung, deren Veranlassung wohl noch zu erfahren war. Dies gab dem Advokaten seine Fassung wieder und er antwortete mit möglichster Kaltblütigkeit:

»Seid Ihr verrückt, Sennor, oder wandeln Sie mondsüchtig am hellen, lichten Tage? Macht Euch von dannen, sonst helfe ich mir, wie ich kann!«

Sternau lächelte bei dieser Drohung und antwortete:

»Sennor Cortejo, wir wollen aufrichtig sein. Bereits, seit ich Euch zum


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ersten Male sah, habe ich Euch unendlich lieb gewonnen. Ich habe Euch daher im Stillen beobachtet und bin zu der Ueberzeugung gekommen, daß Ihr diese Liebe vollständig verdient. Ich will Euch mit derselben jetzt nicht länger beschwerlich fallen, besonders da es nur meine Absicht war, Euch zu zeigen, daß ich Euren wirklichen Werth erkenne, wenn jedoch meine Liebe zu Euch so groß werden sollte, daß ich mich nicht mehr beherrschen kann, dann nehmt es mir nicht übel, wenn ich Euch vor lauter Zuneigung umarme und - erdrücke. Bei Gott, Sennor!«

Nach einer kurzen, ironischen Verneigung verließ er das Zimmer.

Der Advokat blieb in einer sehr unangenehmen Stimmung zurück.

»Was war dies?« fragte er sich. »Welch' ein Hohn! Dieser Mensch durchschaut mich; er blickt mir in die Karte. Ich muß ihn unschädlich machen. Woher weiß er, daß Fremde hier gewesen sind, welche den Lieutenant nach dem Wagen geschafft haben, und daß ich dabei war? Ah, er soll noch heute so viel von dem fremden Gifte bekommen, daß er genug hat! Es ziehen sich überhaupt finstere Wolken über mich zusammen; aber ich werde sie zertheilen. Auch der Graf soll einige Tropfen des Giftes haben. Eigentlich sollte ich ihn tödten, aber ich muß mich überzeugen, ob das Gift wirklich wahnsinnig macht, und der Wahnsinn ist ebenso schlimm wie der Tod. Der Wahnsinnige kommt unter Curatel und Alfonzo wird den ungeheuren Besitz antreten, gerade so, als ob der Graf gestorben wäre. Bei Gott, ich werde siegen, trotzdem sich Feinde auf allen Seiten gegen mich erheben!«

Während der Schurke auf diese Weise monologisirte, rief Sternau die hervorragendsten Bewohner des Schlosses, den Grafen Emanuel ausgenommen, zusammen und theilte ihnen mit, daß der Lieutenant de Lautreville verschwunden sei. Diese Kunde brachte eine außerordentliche Aufregung hervor, besonders als er erwähnte, daß er im Parke Spuren entdeckt habe, welche auf eine gewaltsame Entführung schließen ließen. Seinen Verdacht gegen den Advokaten verschwieg er einstweilen noch.

Am tiefsten ergriffen war die Engländerin. Sie bat den Arzt, doch Alles anzuwenden, um das Dunkel aufzuklären. Er hingegen bat die Anwesenden, dem Grafen ja nichts von der Angelegenheit merken zu lassen. Man berieth sich über die geeignetsten Mittel, den Lieutenant wieder aufzufinden, und gab zu, daß die Möglichkeit doch immerhin vorhanden sei, daß Lautreville sich freiwillig entfernt habe. Ja, es konnte sogar angenommen werden, daß er sich auf einem Morgenspaziergange befinde, während man sich in dieser Weise um ihn sorgte; die Spuren im Parke konnten sich ja auf ein ganz anderes und ganz gewöhnliches Ereigniß beziehen. Darum wurde beschlossen, den heutigen Tag noch abzuwarten und erst nachher zunächst über den Verschwundenen in Paris, welche Stadt er als seine Garnison angegeben hatte, Erkundigungen einzuziehen.

Sternau war mit diesem Entschlusse einverstanden, nahm sich jedoch im Stillen vor, nichts zu versäumen, was Licht in das Dunkel bringen könne. Darum erbat er sich von dem Grafen unter dem Vorgeben, daß er in einer unaufschiebbaren Angelegenheit nach Barcelona müsse, einen Urlaub und ließ sich ein Pferd satteln. Nachdem er sich bei dem Diener des Lieutenants nochmals erkundigt hatte, daß


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auch diesem das unbegreifliche Verschwinden seines Herrn ein Räthsel sei, stieg er in den Sattel und verließ das Schloß.

Auch der Advokat hatte mit Alfonzo und der Schwester Clarissa jener Berathung beigewohnt. Er hatte da erfahren, warum der Verdacht Sternau's gerade auf ihn gefallen sei, und nahm sich desto fester vor, den Arzt unschädlich zu machen. Als er hörte, daß für den Letzteren ein Pferd gesattelt werde, vermuthete er sofort, daß der Ritt Sternau's mit dem Verschwinden des Lieutenants im Zusammenhange stehe. Vielleicht wollte der Arzt die aufgefundene Spur weiter verfolgen, darum verließ der Advokat noch vor ihm das Schloß und eilte auf einem Umwege nach der Stelle, an welcher während der Nacht der Wagen gestanden hatte. Er brauchte nicht lange zu warten, so sah er seinen Gegner kommen.

Sternau hatte geahnt, daß er beobachtet werde, und deshalb den Weg nach dem Dorfe eingeschlagen; dann jedoch war er zur Seite abgebogen und kam nun zu der erwähnten Stelle, um die Spur von neuem aufzunehmen. Er brauchte, um das Wagengeleise zu erkennen, gar nicht vom Pferde zu steigen und ritt der Fährte nach, ohne den verborgenen Lauscher zu bemerken. Dieser ließ ihn fort und kehrte dann nach dem Schlosse zurück.

»Es ist so, wie ich dachte,« murmelte er ergrimmt in sich hinein. »Er geht der Spur nach, wird sie aber auf der nächsten Straße, wo so viele Geleise zusammenführen, sicher bald verlieren. Dennoch aber darf ich nicht langsam sein; ich muß schnell handeln, um allen Eventualitäten zuvor zu kommen.«

Als er das Schloß wieder betreten hatte, begegnete er einem Diener, welcher die Morgenchokolade nach dem Zimmer des Grafen Emanuel trug, und zugleich bemerkte er, daß Gräfin Rosa zu dem Kastellan ging, jedenfalls um mit Frau Elvira die wirthschaftlichen Vorkommnisse des laufenden Tages zu besprechen.

»Ah,« dachte er, »Jetzt ist der Graf allein; also jetzt oder nie!«

Er eilte nach seiner Wohnung, um das Fläschchen, welches Kapitän Landola ihm gegeben hatte, zu sich zu stecken. Sodann nahm er ein kleines Aktenheft zur Hand und begab sich damit zu seinem Gebieter.

Der Graf saß ganz allein an seinem Frühstückstische, und da nur ein Service aufgelegt war, so ließ sich vermuthen, daß seine Tochter nicht so bald zurück erwartet werde. Er trug zwar einen Schirm über die Augen, um sie noch einige Zeit zu schonen, doch war sein Aussehen ein recht befriedigendes, und der freundliche Zug um seinen Mund gab die Gewißheit, daß er sich in einer recht guten Stimmung befinde. Als er den Advokaten erblickte, meinte er:

»Guten Morgen, Cortejo, Ihr kommt mir wie gerufen. Ich wollte nach dem Frühstücke Euch zu mir rufen lassen.«

»Ich stehe Eurer Erlaucht zu jeder Zeit und mit allen Kräften zu Diensten,« antwortete der Sachwalter im Tone der tiefsten Ergebenheit.

»Ich weiß es, Cortejo. Ihr habt mir lange Jahre treu und ehrlich gedient und ich hoffe, daß die Zeit kommt, in welcher ich Euch dankbar sein kann. Ich mag zuweilen einmal unleidlich gewesen sein, das muß auf Rechnung meiner Krankheit geschrieben werden, sonst aber bin ich Euch stets wohl gewogen gewesen. Und heute, da mir das kostbare Licht meiner Augen wiedergegeben ist, fühle ich, wie schön es ist, die Seinen alle glücklich zu sehen. Habt Ihr vielleicht eine Bitte?«


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»Ja, Erlaucht.«

»So sprecht sie aus. Ich bin gern bereit, Euch eine Freude zu bereiten.«

»Don Emanuel, ich spreche niemals einen Wunsch aus, welcher mich selbst betrifft,« meinte der Notar mit stolzem Nachdrucke. »Meine Bitte betrifft eine rein geschäftliche Angelegenheit. Darf ich den Entwurf zum neuen Kontrakt für den Pächter Antonio Firenza vorlesen?«

»Vorlesen? Hm, ich möchte doch einmal versuchen, ob ich ihn selbst lesen kann. Doktor Sternau ist nicht da, er ist nach Barcelona geritten und wird mich also nicht überraschen, wenn ich seinem Befehle einmal ungehorsam bin. Gebt den Kontrakt her!«

Cortejo überreichte das Aktenheft. Warum zitterte seine Hand dabei? Die Worte des Grafen waren schuld an der Schwäche, welche sich seiner für einen kurzen Augenblick bemächtigte. Also der Arzt war nach Barcelona! Warum? Wußte er bereits, daß der Geraubte dorthin transportirt worden war? Dieser Sternau war ein höchst gefährlicher Mensch! Cortejo beschloß im Stillen, ihm nachzureisen und ihn in Barcelona zu beobachten, vielleicht auch ganz zu beseitigen.

Der Graf hatte das Papier zur Hand genommen und war mit demselben an den Schreibtisch getreten, an welchem er sich niederließ. Er gab dem Notar mit der Hand ein Zeichen, auch Platz zu nehmen, und begann dann die Lektüre des Kontraktes. Seiner schwachen Augen wegen war das Fenster noch immer von einem Vorhange verhüllt, so daß in dem Zimmer ein magisches Halbdunkel herrschte. Aus Freude darüber, seine Augen nach so langer Blindheit wieder gebrauchen zu können, las er laut, wie um seine eigene Stimme zu hören.

Cortejo hatte sich zum Sitze einen Sessel gewählt, welcher ganz nahe am Frühstückstische stand, so daß er mit der Hand die Tasse des Grafen erreichen konnte. Während die laute Stimme des Grafen jedes andere, leise Geräusch unhörbar machte, Zog er das Fläschchen hervor und öffnete es. Der Graf kehrte ihm den Rücken zu. Cortejo erhob sich ein wenig und streckte den Arm mit dem Fläschchen aus. Wurde er entdeckt, so war sehr leicht eine Ausrede gefunden. Er hielt das Fläschchen über die Tasse, hob es vorsichtig und zählte zwei Tropfen ab, welche in die Chokolade fielen. In diesem Augenblicke hatte Don Emanuel einen größeren Satz beendet und drehte sich herum, ganz unwillkürlich, als ob er sehen wolle, ob Cortejo ihm auch aufmerksam zuhöre. Er sah die Hand des Sachwalters über der Tasse schweben.

»Sennor, was thut Ihr?« frug er überrascht.

»Verzeihung, Erlaucht; es war nur eine Fliege, welche ich verjagte!« antwortete der Giftmischer gefaßt.

Er hatte das kleine Fläschchen so in der hohlen Hand, daß der Graf es mit seinen ohnehin so schwachen Augen nicht zu sehen vermochte. Darum drehte sich dieser befriedigt wieder um und las weiter. Als er geendet hatte, sagte er:

»Der Contrakt ist ganz nach meinem Wunsche. Ich werde ihn unterschreiben. Besorgt ihn zu dem Pächter, damit auch dieser seine Unterschrift giebt!«

Der Graf kehrte ihm den Rücken zu.

Dann trat er an den Tisch und griff zur Tasse. Cortejo hatte sich erhoben und folgte mit gespanntem Auge den Bewegungen des Grafen. In seinem Blicke lag kein Erbarmen, keine milde Regung und keine Reue, sondern nur die kalte, fühllose


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Gier des Raubthieres. Der Graf hob die Tasse zum Munde, setzte sie an und trank; er leerte sie bis zum letzten Tropfen des süßen, jetzt so heimtückischen Getränkes und setzte sie dann langsam wieder ab. Ein Seufzer der Erleichterung, der Befriedigung klang leise durch das Zimmer; er kam aus dem Munde des Advokaten, der nun mit dem demüthigen Tone eines Dieners den Grafen fragte, ob er noch etwas zu befehlen habe. Dieser antwortete:

»Ich habe allerdings eine kleine Arbeit für Euch, Sennor Cortejo. Ich beabsichtige nämlich, den Doktor Sternau länger an mein Haus zu binden. Setzt doch einmal eine Bestallung auf, ähnlich wie sie dem Doktor Cielli vorgelegt wurde, aber bemerkt dabei ein jährliches Gehalt von drei Tausend Duro's. Ich werde sie dem Doktor Sternau vorlegen, um zu sehen, ob er sie acceptirt.«

»Ich werde mich noch heut an die Arbeit machen, Erlaucht. Dürfte ich mir die Frage erlauben, ob zu diesem Gehalte außerdem noch vollständig freie Station auf Rodriganda kommt?«

»Das versteht sich! Haltet Ihr diese Stellung für zu glänzend?«

»Allerdings.«

»Sennor Sternau hat sie verdient. Leider ist es noch sehr die Frage, ob er sie annehmen wird. Für jetzt sind wir fertig. Lebt wohl!«

Der Notar entfernte sich nach einer tiefen Verbeugung. In seinem Zimmer angekommen, warf er den wieder mit zurückgebrachten Contrakt mit einem höhnischen Lachen auf den Tisch und grollte:

»Dreitausend Duro's! Da könnte dieser Mensch leben wie ein Baron! Aber es soll ihm nicht so wohl werden. Die Bestallung wird nicht ausgearbeitet. Ich werde ihm jetzt sofort nach Barcelona nachgehen. Während meiner Abwesenheit wirkt die Medicin, und auf mich wird kein Verdacht fallen, da ich ja nicht hier gewesen bin. Hahaha, der Teufel ist mein Genosse; er ist oft mächtiger als dieser Gott, vor dem sich Tausende fürchten, ohne daß sie sagen können, daß er auch wirklich existirt!«

Kaum eine halbe Stunde später ritt er auf der Straße dahin, welche vor ihm Sternau eingeschlagen hatte. Es begann mit diesem Ritte eine neue Episode im Kampfe des Bösen gegen das Gute.

Und abermals eine halbe Stunde später kam der Kastellan aus seiner hoch gelegenen Wohnung herab, um sich für heute die Befehle des Grafen zu erbitten. Er gehörte zu denjenigen, welche sich nicht anmelden zu lassen brauchten, und trat daher wie gewöhnlich, ohne den Diener voran zu senden, in das Zimmer. Er wäre vor Schreck beinahe sofort aus demselben entflohen, denn der Graf kauerte wie ein Thier in der äußersten Ecke und stieß ein klägliches Wimmern aus.

»O, thut mir nichts - nichts - nichts!« bat er jammernd. »Ich weiß ja nicht, wer - wer - wer ich bin!«

Der Kastellan war kein Held, aber die Liebe zu seinem guten Herrn gab ihm Muth, zu bleiben.

»Erlaucht! Don Emanuel!« rief er. »Ich komme, um zu fragen -«

»O, fragt doch nicht!« bat der Graf, ihn unterbrechend. »Ich weiß - weiß - weiß es ja nicht mehr!«


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»Mein Gott!« rief der Kastellan. »Was ist hier geschehen! Mein lieber, theurer Don Emanuel, steht doch auf! Erlaubt, daß ich Euch aufrichte!«

Er näherte sich dem Grafen; dieser jedoch drückte sich noch tiefer in die Ecke hinein, streckte seine Hände abwehrend aus und sagte:

»Bleibt fort von mir! Thut mir nichts - nichts - nichts! Ich weiß es ja nicht - nicht - nicht!«

»Aber, Erlaucht, kennt Ihr mich denn nicht mehr? Ich bin ja Euer treuer Alimpo!«

»Alimpo? A- -lim- -po?« fragte der Graf sinnend. Er richtete sich langsam empor, trat einen Schritt vor und fügte hinzu: »Alimpo, oh richtig! Ich bin der treue Alimpo. O ja, jetzt weiß - weiß - weiß ich es. Ich bin Alimpo!«

Seine starren Augen erhielten einen belebteren Ausdruck. Er schritt leise im Zimmer auf und ab, ohne den Kastellan weiter zu beachten und murmelte bald mit freudigem, bald aber auch mit schmerzlichem Ausdrucke:

»Ja, ja, ich bin der treue Alimpo, ja, ja, jetzt weiß ich es. Mein Name ist Alimpo!«

Jetzt gerieth der Kastellan in solche Angst, daß er schleunigst fortlief, und zwar zu seiner Elvira. Es gab ja Niemand, dem er das, was er gesehen hatte, besser anvertrauen konnte als ihr. Sie befand sich gerade beim Plätten eines Wäschestückes, als er bei ihr eintrat.

»Elvira!« rief er, vom schnellen Laufen ganz außer Athem.

»Was ist es?« fragte sie.

»O, meine Elvira!«

Jetzt erhob sie die Augen von ihrer Arbeit und ließ bei dem Besorgniß erregenden Anblicke ihres Mannes vor Schreck die glühend heiße Plattglocke mit einem lauten Krach zu Boden fallen.

»Heilige Madonna!« jammerte sie. »Was ist geschehen? Du siehst ja ganz verzweifelt aus, mein Alimpo!«

»Ja, ja, ganz verzweifelt!« ächzte er, nach Luft schnappend.

»Worüber denn? Weshalb?«

»Ueber den gnädigen Grafen.«

»Was ist mit ihm?«

»Er ist - o, ach! Er ist - er ist verrückt geworden!«

Elvira trat einen Schritt zurück und öffnete den Mund, um etwas zu sagen; aber das Wort kam nicht heraus und der Mund blieb offen stehen.

»Ja, ja, verrückt geworden, vollständig verrückt!« ergänzte der Kastellan.

Erst jetzt bei der Wiederholung des Schrecklichen fand Elvira die Sprache wieder, aber es war kein Klagelaut, den sie ausstieß, sondern sie sagte in einem strengen, entrüsteten Tone:

»Mein theurer Alimpo, Du selbst bist verrückt!«

»Ich?!« fragte er beinahe zornig. »Höre, meine liebe Elvira, solche Anzüglichkeiten muß ich mir verbitten! Du begehst eine großartige Verwechselung; nicht ich, sondern der Graf ist verrückt!«


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»So? Und wer hat Dir dies weiß gemacht?« fragte sie mit examinatorischer Miene und Stimme.

»Niemand. Ich habe es selbst gesehen.«

»Unmöglich! Wer weiß, was Du gesehen hast, mein theurer Alimpo!«

Ein solcher Zweifel war zu viel für ihn. Er faßte seine dicke Gattin beim Arme, um sie aus dem Zimmer zu ziehen und bat dabei:

»Komm mit, Elvira! Du sollst sehen, daß ich recht habe.«

»Ja, gleich!« antwortete sie. »Laß mich nur erst den Plattstahl aufheben!«

Sie nahm die Plattglocke vom Boden auf, in den sie bereits einen schwarzen Flecken gesengt hatte, brachte sie in Sicherheit und folgte dann ihrem Manne nach dem Zimmer des Grafen. Dort angekommen, fanden sie denselben, noch immer mit leisen, heimlichen Schritten in dem Raume auf- und abgehend. Dabei sagte er immer:

»Ja, ja, thut mir nichts, denn jetzt weiß - weiß - weiß ich es; ich bin der treue Alimpo!«

Dabei sah er so verstört aus, daß gar kein Zweifel möglich war, daß der plötzliche Wahnsinn aus ihm redete. Die Kastellanin hatte kaum den ersten Blick auf ihn geworfen, so schlug sie die Hände zusammen und schrie:

»O heilige Madonna, es ist wahr; er ist wahnsinnig!«

Sie sank in einen Stuhl; sie war keiner Bewegung fähig. Der Graf hatte ihre Stimme gehört; er wandte sich mit einem unheimlichen, gläsernen Blicke um und sagte:

»Wahnsinnig? Wer? Ich bin Alimpo - Alimpo - - ja, der treue Alimpo!«

Dann setzte er sein Hin- und Hergehen wieder fort.

»Laufe, laufe, Alimpo!« stöhnte die Kastellanin. »Hole schnell die gnädige Contezza herbei!« jammerte die Kastellanin.

Er folgte diesem Gebote und fand nach einigem Suchen Rosa in dem Zimmer der Engländerin. Auch sie sah es ihm sogleich an, daß etwas nicht Gutes geschehen sein müsse, und fragte ihn:

»Welche Eile, Alimpo! Was giebt es?«

»O, meine gute, gnädige Contezza, erschreckt ja nicht!« bat er, beinahe zitternd.

»Mein Gott, das klingt ja höchst beunruhigend!« sagte sie erschrocken. »Rede schnell, Alimpo; was ist geschehen?«

»Etwas Fürchterliches, etwas ganz und gar Fürchterliches!«

»Nun, so rede doch! Du spannst mich ja auf die Folter!«

Sie war von ihrem Sitze aufgesprungen und faßte den Kastellan bei der Schulter.

»Es ist - es ist Jemand - verrückt geworden!« stammelte er.

»Verrückt? Meinst Du wahnsinnig?« fragte sie in dem Tone des Unglaubens.

»Ja, wahnsinnig!« nickte er.

»Unmöglich! Der Wahnsinn kommt nicht, wie ein Dieb in der Nacht.«

»Und doch ist er wahnsinnig,« behauptete der Kastellan. »Meine Elvira sagt es auch.«

»Aber wer denn?«


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»O, meine theure Contezza, verzeiht mir, daß ich es Euch sagen muß! Es wird Euch großen Schmerz bereiten. Ich spreche von Don Emanuel.«

»Mein Vater?« fragte Rosa, ganz starr vor Erstaunen.

»Ja.«

Da lächelte sie und antwortete ihm:

»Mein guter Alimpo, da liegt jedenfalls ein ganz gewaltiger Irrthum vor!«

»Nein, nein,« betheuerte er. »Don Emanuel ist wirklich wahnsinnig! Meine Elvira hat ihn auch gesehen. Sie ist sogar noch jetzt bei ihm.«

»Wie zeigt sich denn sein Wahnsinn?« fragte Rosa, noch immer lächelnd.

»Er knurrte wie ein Hund in der hintersten Ecke, als ich zu ihm kam. Er hatte starre, angstvolle Augen; er wimmerte und bat mich, ihm ja nichts zu thun. Er hatte vergessen, wer er ist, jetzt aber hält er sich für mich, für den Kastellan Alimpo.«

Sie blickte den Sprecher ungläubig an, plötzlich jedoch ergriff sie wortlos den Arm der Freundin und zog diese im eiligsten Laufe mit sich fort. Der Kastellan folgte. Als sie die Wohnung des Unglücklichen betraten, saß die Kastellanin noch immer händeringend auf dem Stuhle; der Graf schritt katzengleich im Zimmer auf und ab und wiederholte noch immer dieselben Worte.

Rosa hatte bis zu diesem Augenblicke an irgend einen drolligen Irrthum geglaubt, um desto größer aber war der Schlag, welcher sie bei dem Anblicke ihres Vaters traf. Es wurde ihr schwarz vor den Augen, sie griff mit den Händen in die Luft, um einen Halt zu suchen, und sank in die Arme Amy Lindsay's. Die Ohnmacht wollte sich ihrer Sinne bemächtigen, aber sie raffte sich zusammen, machte sich von der Freundin los und stürzte auf den Grafen zu.

»Vater, um Gottes willen, Vater, was hast Du, was ist mit Dir?« rief sie.

Er blieb stehen und blickte sie mit seinen stieren, ausdruckslosen Augen an.

»Was mit Dir ist?« fragte er. »Ich weiß es nicht. Du brauchst mir nichts zu thun, denn ich bin ja der treue Alimpo!«

Er sprach diese Worte langsam und monoton, ohne allen Ausdruck.

»Vater, Vater!« jammerte sie, die Arme um ihn schlingend. »Was ist geschehen? Du bist krank. Kennst Du mich nicht?«

»Kennen?« fragte er, leise mit dem Kopfe schüttelnd. »Ich kenne Niemand. Ich bin Alimpo.«

»Nein, Du bist nicht Alimpo,« rief sie. »Du bist mein Vater, mein lieber, lieber Vater. Komm und besinne Dich!«

Mit lautem, herzbrechenden Weinen warf sie sich an seine Brust; sie streichelte ihm die Wangen und das wirre Haar, sie küßte ihm den Mund und die erkaltete Hand, sie drängte sich mit ihrer ganzen Liebe und ihrem ganzen Schmerze an ihn. Er aber blieb theilnahmlos in ihren Armen, wehrte sie endlich von sich ab und sagte:

»Du brauchst mich nicht zu erdrücken; Du brauchst mir nichts zu thun, denn ich weiß nun, wer ich bin. Ich bin Alimpo, ja, der treue Alimpo!«

Das war zu viel. Rosa sank mit einem stöhnenden Schluchzen auf den Divan; ihre Freundin eilte herbei und schlang laut weinend die Arme um sie, und auch der Kastellan nebst seiner Frau weinten trostlos, als ob sie Beide


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Kinder seien. Der Graf stand vor ihnen, blickte sie mit gläsernen, geistlosen Augen an und sagte:

»Weint nicht! Ich habe Euch ja nichts gethan. Ich bin der treue Alimpo.«

»O, Gott, was sollen wir thun!« jammerte Rosa, vor Schmerz ganz fassungslos.

»Ist Sennor Sternau denn nicht da?« fragte Amy unter Thränen.

Da sprang die Gräfin auf.

»Sternau!« rief sie. »O, wie konnte ich den vergessen! Er allein kann helfen, ja, er wird helfen. Aber er ist nach Barcelona, Alimpo, rasch einen Boten ihm nach! Er soll sofort umkehren.«

»Nach Barcelona?« sagte der Kastellan, bereits auf dem Sprunge. »Wo ist er da zu finden?«

»Ach Gott, das weiß ich nicht! Schicke drei, vier, fünf Boten. Sie mögen jagen, sie mögen die Pferde todtreiten, wenn sie ihn nur finden. Schnell, schnell! Hier ist jede Minute kostbar.«

Sie dachte nicht an ihren Bruder, sie dachte an Niemand, als an den Geliebten. Der Kastellan stürzte förmlich nach den Ställen und nach kaum zwei Minuten jagten drei Boten auf den schnellsten Pferden aus Rodriganda fort.

Graf Alfonzo stand in dem Zimmer der Schwester Clarissa am Fenster. Er sah die Reiter und wandte sich an die fromme Dame mit der Bemerkung:

»Es muß etwas Ungewöhnliches geschehen sein, Mutter. Der Graf sendet soeben drei Expresse ab.«

»Ah! Wohin?«

»Das läßt sich nicht sagen. Sie eilten rechts nach der Straße von Mataro oder Barcelona hinüber.«

»Ich könnte mir keine Veranlassung denken. Willst Du Dich nicht einmal erkundigen, mein Sohn? In unserer Lage ist Alles von Bedeutung, zumal ein so ungewöhnliches Ereigniß, wie die Absendung von drei Boten zugleich. Wer unter so sündhaften Menschen lebt, kann nicht vorsichtig genug sein.«

Alfonzo öffnete ein Fenster und winkte den Kastellan herauf, welcher in diesem Augenblicke aus den Ställen heimkehrte.

»Wer hat die drei Reiter abgesandt?« fragte er ihn, als er eingetreten war.

»Ich, gnädiger Herr,« antwortete Alimpo.

»Wohin?«

»Nach Barcelona.«

»In welchem Auftrage?«

»Die gnädige Contezza hat es befohlen.«

»Ah! Was sollen diese Leute denn in Barcelona? Drei zu gleicher Zeit!«

»Sie sollen Sennor Sternau suchen.«

Der Kastellan hatte nicht die mindeste Sympathie für Alfonzo; darum ließ er sich seine kurzen Antworten von ihm förmlich abkaufen.

»Warum soll der Arzt gesucht werden?« fragte der junge Graf weiter.

»Seine Erlaucht, Don Emanuel sind plötzlich erkrankt,«

»Ah! Was fehlt ihm?«

»Ich glaube, daß er wahnsinnig geworden ist.«


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»Wahnsinnig? Donnerwetter!« Diesen Fluch stieß er im Tone des Schreckens aus, ein aufmerksamer Beobachter aber hätte sehr leicht bemerken können, daß sein Auge wie unter einer unerwarteten Freude aufleuchtete. Dann sagte er zu dem Kastellane: »Es ist gut. Ich werde sofort erscheinen!«

Kaum hatte der sich entfernende Alimpo die Thür hinter sich geschlossen, so sprang die fromme Schwester auf, faßte den jungen Grafen bei der Hand und jauchzte:

»Gewonnen, Alfonzo, gewonnen! Der Herr erhört das Gebet der Seinigen. Weißt Du, wer diesen Wahnsinn hervorgebracht hat?«

»Nun, wer?«

»Dein Vater.«

»Ah! Nicht möglich! Kann man Menschen wahnsinnig machen, die vor einer Stunde noch gesund waren?«

»Jawohl. Dein Vater hat mir die Einzelnheiten nicht mitgetheilt, aber er sagte mir noch gestern Abend spät, daß heut mit dem Grafen etwas passiren werde.«

»Alle Teufel, das ist klug! Es ist kein Mord, und doch bin ich der Erbe!«

»Ja. Gehe sofort hinab, mein Sohn, um Dich in den Besitz der Gewalt zu setzen. Der Herr segnet die Seinigen mit Reichthum und großen Gütern. Ihm sei Preis in alle Ewigkeit. Amen!«

Alfonzo begab sich nach dem Zimmer des Grafen. Er fand denselben, wie vorher, ruhelos auf- und abschreitend. Rosa hatte ihre Fassung wieder erlangt und gab sich Mühe, dem Vater ein denkendes Wort, einen Aufblitz des Verstandes zu entlocken. Amy unterstützte sie dabei, und auch die Kastellanin war noch mit zugegen, um die Fluth ihrer Thränen unversiecht zu erhalten.

»Was geht hier vor?« fragte Alfonzo, als er eingetreten war.

»Denke Dir, mein Bruder, der Vater ist plötzlich so krank geworden, daß er irre redet,« versetzte Rosa, indem sie Alfonzo entgegen ging.

»Das ist allerdings ein höchst unglückliches Ereigniß,« sagte er in einem Tone, welcher sein kindliches Bedauern ausdrücken sollte, aber dennoch so kalt und gefühllos klang, daß die Gräfin ihre bereits nach ihm ausgestreckte Hand wieder zurückzog.

»Und da sendet man reitende Boten nach diesem Sternau, während man den Sohn und Bruder ohne Nachricht läßt!«

»Sternau ist der Arzt,« entschuldigte sich Rosa, »und der Arzt ist in solchen Fällen wünschenswerther und nothwendiger als jeder Andere.«

»Ah, wirklich?« frug er mit einem impertinenten Lächeln. »Ich denke im Gegentheil, daß nur der Sohn es ist, welcher die nöthigen Schritte zu thun und zu befehlen hat, er also mußte zuerst und vor allen Dingen benachrichtigt werden. Ich denke, Doktor Sternau ist Chirurg?«

»Allerdings.«

»Auch Irrenarzt?«

»Ich habe ihn darüber noch nicht gefragt, glaube aber, daß man ihm die nöthige Kenntniß und Erfahrung, den Vater zu behandeln, zutrauen darf.«

»Von Glauben ist hier keine Rede. Sternau wird den Vater nicht behandeln; ich werde vielmehr nach Manresa zu Doktor Cielli senden.«

Da streckte Rosa die Hand abwehrend aus und


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sagte:

»Doktor Cielli wird den Vater nicht behandeln; das gebe ich nicht zu. Der Vater hatte kein Vertrauen zu ihm.«

»Desto größer ist das meinige. Ich bin der Erbe; ich habe hier zu befehlen.«

»Ah, Du denkst angesichts dieses fürchterlichen Falles bereits an das Erbe. Gut. Warte einen Augenblick!«

Es schien auf einmal alles mädchenhaft Schüchterne von ihr gewichen zu sein. Sie trat mit festen Schritten in das Nebengemach, in welchem sich der Waffenschrank des Grafen befand, entnahm demselben einen gezogenen Revolver, kehrte mit demselben zurück, verschloß die Thür und steckte den Schlüssel zu sich. Dann fuhr sie in drohendem Tone fort:

»Wer Erbe ist und wer hier zu befehlen hat, das wird sich finden. Zunächst werde ich den armen Vater bis zur Rückkehr Doktor Sternau's unter meine Obhut nehmen.«

»Und ich erkläre, daß dieser obskure Sternau nicht über diese Schwelle kommen soll,« antwortete Alfonzo. »Was soll dieser Revolver?«

»Ich werde Jeden niederschießen, der es wagt, dieses Gemach ohne meine Erlaubniß zu betreten.«

»Ah! Ein Mädchenscherz!«

»Pah! Versuche ja nicht, zu sehen, ob es Ernst wird!«

»Soll auch ich erschossen werden?« lachte er.

»Auch Du!« drohte sie mit ernster Stimme.

»Sei keine Närrin. Gieb die Waffe her!«

Er trat auf sie zu, sie aber erhob den Revolver.

»Zurück, Mensch! Ich schieße Dich sonst nieder. Bei Gott, ich scherze nicht! Sennora Elvira, eilen Sie hinaus und rufen Sie die Dienerschaft herbei!«

Als sich die Kastellanin erhob, gebot ihr Alfonzo:

»Ihr bleibt! Wir brauchen keine Dienerschaft.«

Da aber antwortete die wackere Kastellanin mit großer Entschiedenheit:

»Ich habe meiner lieben Contezza zu gehorchen, nicht aber Euch!«

Mit diesen Worten verließ sie das Zimmer. Der junge Graf wendete sich jetzt an die Engländerin, welche ihre Freundin bisher schweigend aber mit blitzenden Augen beobachtet hatte:

»Ist ein solches Verhalten nicht wahrhaft kindisch, Miß Amy?«

Die Angeredete erröthete vor Zorn und antwortete:

»Don Rodriganda, ich finde nichts wahrhaft Kindisches, sondern vielmehr viel wahrhaft Kindliches in dem muthigen Verhalten meiner wackeren Freundin, auf welche ich stolz bin. Sie vertheidigt den kranken, beklagenswerthen Vater gegen die Herzlosigkeit, die ihm gefährlich werden will. Uebrigens habe ich Euch noch nie Erlaubniß gegeben, mich bei meinem Taufnamen zu rufen. Für Euch bin ich nicht Miß Amy, sondern Sennora Lindsay und werde es wohl auch für immer bleiben!«

»Ah!« zischte er grimmig. »Sie vergessen, daß Sie hier nur Gast sind!«

»Nicht der Ihrige, Sennor; das tröstet und beruhigt mich.«

Von jetzt an aber doch der meinige. - Ein Wahnsinniger steht unter Curatel!«


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In diesem Augenblicke trat Elvira ein und meldete, daß die Dienerschaft sich im Vorzimmer befinde. Rosa wandte sich an Alfonzo:

»Nun, wirst Du uns allein lassen, oder soll ich zeigen, wem man hier lieber gehorcht, Dir oder mir?«

Er sah sich rücksichtslos in die Enge getrieben; er erkannte, daß er für den Augenblick sein Spiel aufgeben müsse und antwortete daher mit Hohn:

»Der neue Graf de Rodriganda-Sevilla hat nicht nothwendig, mit seinem Gesinde zu verhandeln; er wird sich auf anständige Weise Gehorsam verschaffen. Auf Wiedersehen!«

Er verließ das Gemach.

»Meine liebe Elvira, ich wünsche, daß die Leute jetzt nur mir gehorchen; das Weitere müssen wir abwarten,« sagte jetzt die Gräfin mit Ruhe.

»Ich werde es den Leuten sogleich sagen,« erklärte die Kastellanin. »Giebt es sonst noch etwas?«

»Ja. Diese Zimmer bleiben stets verschlossen. Ich werde versuchen, den Vater zur Ruhe zu bringen. Schlaf und eine kalte Compresse werden ihm wohl thun.«

Während dies in Rodriganda geschah, ritt der Advokat auf der Straße nach Barcelona dahin. Aber nicht lange, so bog er auf einen Fußweg ein. Dieser führte über mehrere Dörfer und Meierhöfe. Sternau war hier unbekannt; er hatte, gerade wie der Wagen, dessen Spur er folgte, die Straße einhalten müssen. Schlug nun der Advokat diesen Richteweg ein, so kam er dem Arzte um eine geraume Zeit zuvor und konnte sorgen, daß diesem es nicht gelang, etwas zu erfahren.

Der Wagen war von dem Wirthe zum Gasthause »L' Hombre grand« geborgt worden. Zu diesem ritt der Advokat, als er in Barcelona angekommen war, und sagte ihm, daß er keine Auskunft geben solle, wenn er gefragt werde, an wen er den Wagen verliehen habe. Dann begab er sich nach dem Hafen, um Kapitän Landola aufzusuchen, den er an Bord anwesend fand.

»Ah, Sennor Cortejo,« sagte dieser, ihn begrüßend. »Ich habe Euch nicht so bald erwartet, aber doch ist es mir lieb, daß Ihr kommt.«

»Warum?«

»Weil ich fertig bin und auch meine Papiere alle in Ordnung gebracht habe. Ich kann absegeln.«

»Das ist gut, sehr gut!«

»Sehr gut? Ich hoffe nicht, daß etwas Unangenehmes passirt ist!«

»Nein. Ich habe Euch nur zu sagen, daß man Euren Wagen bemerkt hat und auch vermuthet, wen Ihr aufgeladen hattet. Es kommt in vielleicht einer Stunde Einer nach Barcelona, der Eurer Fährte folgt.«

»Schön. Er mag in das Wasser springen und mir nachschwimmen. Habt Ihr Zeit zum endgültigen Abschluß?«

»Ja.«

»Nun, der ist in einer Viertelstunde beendet, und dann stechen wir sofort in See. Die Ebbe ist bereits eingetreten.«

»Und Euer Gefangener?«

»Befindet sich sehr wohl. Er liegt unten im Kielraume und hat bis jetzt weder sprechen, noch essen oder trinken dürfen.«


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»Ihr nehmt ihn also wirklich mit nach dem ostindischen Archipel?«

»Ich verkaufe ihn auf Borneo; dabei bleibt es. Kommt herab zur Kajüte, Sennor!« -

Eine halbe Stunde später befand sich Cortejo wieder am Lande und das Schiff »La Pendola« lichtete den Anker, um seine Reise anzutreten, eine Reise, auf welcher sich das Schicksal des armen Mariano entscheiden sollte. -

________

Sechstes Kapitel.

Die Weihnacht des Gefangenen.

»Und der Priester legt die Hände
Segnend auf des Todten Haupt:
Selig ist, wer bis an's Ende
An die ew'ge Liebe glaubt.

Selig, wer aus Herzensgrunde
Nach der Lebensquelle strebt,
Und noch in der letzten Stunde
Seinen Blick zum Himmel hebt.

Suchtest Du noch im Verscheiden
Droben den Versöhnungsstern,
Wird er Dich zur Wahrheit leiten
Und zur Herrlichkeit des Herrn.

Darum gilt auch Dir die Freude,
Die uns widerfahren ist,
Denn geboren wurde heute
Auch Dein Heiland, Jesus Christ!«

Als Doktor Sternau Rodriganda verlassen hatte, führte ihn die Spur des Wagens, welcher er folgte, nach der großen Heerstraße, welche Lerida mit Barcelona verbindet. Hier nun verlor sich diese Spur unter den vielen Geleisen der Straße, so daß ein Verfolgen im wörtlichen Sinne nicht denkbar war.

Es gab für Sternau nur einen einzigen Anhaltepunkt; er kannte aus den Fußtapfen, welche er im Parke beobachtet hatte, die ungefähre Anzahl der Leute, welche auf dem Wagen Platz genommen hatten. Doch war dies auch sehr unsicher.

Glücklicherweise hielt da, wo der Weg von Rodriganda her in die Heerstraße einbog, ein Schäfer, welcher seine Merinoschafe auf dem abgebauten Acker weidete. Er hatte eine Karrenhütte bei sich, und so ließ sich vermuthen, daß er auch während der Nacht auf dem Felde gewesen sei. Sternau ritt zu ihm hin und fragte nach einem kurzen Gruße:

»Hast Du in vergangener Nacht hier geschlafen?«

»Ja, Sennor,« lautete die Antwort.

Der Arzt hielt ihm ein Silberstück entgegen und fragte weiter:

»War es hier während der Nacht sehr belebt?«

»Nein. Nur ein einziger Wagen passirte.«

»Woher?«


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»Da von der Straße her.«

»Und wohin?«

»Nach Rodriganda zu.«

»Wie viel Uhr?«

»Eine Stunde vor Mitternacht, vielleicht auch bereits früher.«

»Kehrte er zurück oder nicht?«

»Ja.«

»Wann?«

»Vielleicht zwei Stunden später.«

»Wer saß darin?«

»Es waren mehrere.«

»Kanntest Du Einen?«

»Nein.«

»Was waren für Thiere angespannt? Maulthiere?«

»Nein, Pferde.«

»Von welcher Farbe?«

»Ein Brauner und ein Schimmel.«

»Weißt Du dies genau?«

»Ja. Ich hatte mir hart an der Straße ein Feuer angebrannt, um mir Kastanien zu rösten, als sie vorüberfuhren. Ich habe die Pferde ganz gewiß erkannt.«

»Hast Du nicht gesehen, wie die Männer gekleidet waren?«

»Sie fuhren schnell vorüber, aber ich denke, sie hatten Jacken an und Mützen auf, wie man sie bei den Seeleuten sieht.«

»Gut, ich danke Dir. Mit Gott!«

Er ritt weiter. Was er gehört hatte, gab ihm doch einigen Anhalt. Er hielt nun bei allen an der Straße liegenden Einkehrhäusern an und erkundigte sich, ob der Wagen hier vorübergefahren sei, konnte aber nichts Genaues erfahren. Auf diese Weise kam er nur sehr langsam vorwärts. Endlich, als er vielleicht drei Stunden weit geritten war, kam er an eine einsam liegende Venta, vor welcher mehrere Krippen standen, zum Zeichen, daß man hier mit Pferd und Geschirr Obdach erhalten könne. Er stieg ab, band sein Pferd außen an und trat in die niedrige Stube, in welcher er sich ein Glas Wein geben ließ.

Der Wirth schien ein alter, freundlicher und sehr gesprächiger Mann zu sein, denn er begann sofort mit Sternau eine Unterhaltung über das Wetter und tausend Dinge, für welche sich der Arzt kaum interessiren konnte. Endlich fragte der Alte auch:

»Wohin will der Sennor reiten?«

»Nach Barcelona vielleicht.«

»Vielleicht? So ist es noch nicht gewiß?«

»Nein.«

»Aha! Geschäfte unterwegs?«

»Eigentliche Geschäfte allerdings nicht. Ich suche Jemand.«

»Wo?«

»Hier auf der Heerstraße.«


// 142 //

»O Gott! Ein so feiner Sennor sucht etwas auf der Heerstraße!« lachte der Redselige.

»Versteht mich recht! Ich suche einen Wagen, der hier vorüber gefahren sein muß.«

»Einen Wagen? Hm! Vielleicht habe ich ihn gesehen. Ich bin alt, kann nicht viel mehr verrichten und sitze daher stets hier am Fenster. Was war es für ein Wagen?«

»Es war ein Brauner und ein Schimmel vorgespannt. Es saßen mehrere Männer darauf, welche wie Seeleute gekleidet gewesen sind.«

»Aha!« nickte der Alte. »Wann ist dies geschehen?«

»Vielleicht drei Stunden vor Mitternacht sind sie hier aufwärts Und ungefähr vier Stunden später wieder abwärts hier vorüber gekommen.«

»Stimmt!« nickte der Wirth.

»Habt Ihr sie gesehen?«

»Ja, Sennor.«

»Vorüberfahren?«

»Nein. Es war beide Male, als sie vorüber kamen, finster, ich hätte sie also nicht sehen können. Aber das erste Mal, als sie aufwärts fuhren, sind sie bei mir hier eingekehrt.«

»Ah! Alle?«

»Alle!«

»Ich würde Euch dieses Goldstück geben, wenn Ihr mir sagen könnt, wem der Wagen gehört!«

Die Augen des alten Mannes leuchteten vor Freude auf. Seine Venta war ein kleines, armseliges Häuschen; er schien nicht wohlhabend zu sein und das Goldstück mußte ihm daher wohl recht willkommen sein.

»Gebt her, Sennor!« sagte er schmunzelnd.

»Später! Erst Auskunft!«

»Ah, Ihr denkt, ich weiß nichts!« lachte er listig. »Für dieses Goldstück werdet Ihr wohl noch mehr erfahren, als Ihr verlangt habt.«

»Nun!«

»Der Wagen gehört einem Wirthe in Barcelona.«

»Welchem?«

»Sein Haus ist das Hotel »L' Hombre grand«.«

»Irrt Ihr Euch nicht?«

»Nein. Ich kann es beschwören.«

»War er selbst mit dabei?«

»Wird sich hüten!«

»Sich hüten! Wieso? Warum?«

»Mit dem Landola ist nicht gut Kirschen essen.«

»Wer ist dieser Landola?«

»Ein Seekapitän, dessen Schiff »La Pendola« heißt.«

»Was hat dieser Mann mit dem Wagen zu thun, den ich meine?«

»Heilige Madonna! Er saß ja darauf; er machte den Kutscher!«

»Ah!«


// 143 //

»Jawohl! Er wird wohl nach Rodriganda gefahren sein.«

»Zum Grafen?«

»Fällt ihm nicht ein!«

»Zum Teufel, nur heraus mit der Sprache!« rief Sternau, ungeduldig über die kurzen Antworten.

»Sennor,« sagte der Wirth phlegmatisch, »ein Goldstück ist viel; dafür muß ich Euch sehr viel beantworten, und daher müßt Ihr auch sehr viel fragen!«

»Schön!« lachte der Arzt. »Also zu wem denkt Ihr, daß dieser Landola gefahren ist?«

»Zu Sennor Gasparino Cortejo.«

»Alle Wetter! Kennen sie einander?«

»Das versteht sich. Sie machen sogar Geschäfte mit einander, wie sich die Leute so in die Ohren flüstern.«

»Was für welche?«

»Hm, sauber sind sie nicht. Dieser Henrico ist ein ganz verzweifelter Mensch. Ein Menschenleben gilt ihm nichts. Er soll ein halber Pirat sein, vielleicht auch ein ganzer; auch sagt man sich, daß er zuweilen eine Ladung Ebenholz (Neger) mit verhandelt.«

»Und dabei soll Cortejo betheiligt sein?«

»Ja,« nickte der Alte.

»In wiefern?«

»Hm, das werde ich Euch erklären, Sennor. Kennt Ihr den Grafen von Rodriganda?«

»Ein wenig.«

»Er ist blind?«

»Ja, oder vielmehr, er war blind.«

»Heilige Madonna, so ist es also wahr! Ich habe gehört, daß seine Tochter einen furchtbar klugen und geschickten Arzt hat kommen lassen, der hat ihm zuerst den Blasenstein aus dem Leibe gebohrt und ihm sodann auch gar die Augen aufgeschnitten, so daß er nun sehen kann. Das ist also keine Lüge, Sennor?«

»Nein,« lächelte Sternau.

»Das muß ja ein Ausbund von Kunst und Klugheit sein! Vielleicht hat er gar den Teufel, behüte mich der liebe Gott vor ihm! Ich will doch lieber sterben, als mir einen Blasenstein, der so groß ist wie hier dieser Fenstersimms, aus dem Leibe herausbohren lassen! Also dieser Graf Emanuel von Rodriganda war blind und mußte sich ganz auf seinen Sachwalter verlassen.«

»Das läßt sich leicht erklären.«

»Der Graf ist unermeßlich reich.«

»Ich habe es gehört.«

»Und der Sachwalter, nämlich dieser Cortejo, ist ein Schurke.«

»Könnt Ihr dies beschwören?«

»Jedermann beschwört es, Sennor. Nun aber passen dieser Reichthum und dieser Schurke so gut zusammen, wie das Lamm, welches von dem Geier zerrissen und gefressen wird. Verstanden?«

»Sehr gut!«


// 144 //

»Damit nun Niemand merken soll, wie reich Cortejo mit dem Reichthum des Grafen geworden ist, hat er seinen Raub auf dem Seehandel angelegt. Er und der Kapitain Landola besitzen das Schiff gemeinsam und theilen den Gewinn.«

»Wißt Ihr das genau?«

»Man sagt es. Aber ich habe auch gestern davon pfeifen hören, als die Matrosen hier bei mir einkehrten. Sie flüsterten so Einiges, was ich recht gut verstanden habe, obgleich es nicht für mein Ohr bestimmt war.«

»Habt Ihr nicht gehört, wem die gestrige Fahrt gegolten hat?«

»Nein. Aber zu wem sollte Landola gefahren sein, wenn nicht zu Cortejo?«

»Und bei ihrer Rückkehr habt Ihr sie nicht bemerkt?«

»Nein.«

»Gut! Hier ist das Goldstück, mein Lieber; Ihr habt es ehrlich verdient!«

Der Wirth steckte es mit freudig glänzender Miene ein. Sternau bezahlte außerdem die kleine Zeche und stand eben im Begriffe aufzubrechen, als sich draußen eiliger Hufschlag vernehmen ließ. Sternau blickte heraus und erkannte einen Reitknecht aus Rodriganda, welcher auf schweißbedecktem Pferde daher gesprengt kam und sofort anhielt, als er das Pferd erblickte, welches Sternau draußen angebunden hatte. Er sprang ab und kam herein.

»O, welch ein Glück, daß ich Euch finde, Sennor Doktor!« rief er, als er den Arzt sah.

»Sie suchen mich?« rief dieser erstaunt.

»Ja.«

»Weshalb?«

»Die gnädige Contezza sendet mich. Wir sind zu Dreien ausgeritten und haben uns getheilt, um Euch ja nicht zu verfehlen.«

»Dann muß die Angelegenheit höchst wichtig sein.«

»Ja.«

»Was ist es?«

»Don Emanuel ist plötzlich sehr erkrankt.«

»Nicht möglich! Auf den Augen?« frug Sternau erschrocken.

»Nein.«

»Wie sonst?«

»Hier!«

Der Knecht deutete nach dem Kopfe, so daß der Wirth es nicht bemerkte.

»Da? Nicht möglich, nicht möglich! Das muß ein Irrthum sein!«

»Es ist so, Sennor!« behauptete der Knecht.

»So trinken Sie schnell ein Glas Wein und dann geht es nach Rodriganda zurück.«

Der Wirth brachte das Glas und meinte dabei:

»O, Sennor, ich bitte sehr um Verzeihung!«

»Weshalb?«

»Wegen dem »Teufel« vorhin!«

»Wieso?«

»Ich höre jetzt, daß Ihr der Sennor Doktor seid, der den großen Stein herausgebohrt hat. Vorhin sagte ich, daß Ihr den Teufel hättet. Wollt ihr mir verzeihen?« fragte der Wirth kleinlaut.


Ende der sechsten Lieferung - Fortsetzung folgt.



Karl May: Waldröschen

Karl May – Forschung und Werk