Lieferung 9

Karl May

20. Januar 1883

Waldröschen
oder
Die Rächerjagd rund um die Erde.

Großer Enthüllungsroman
über die
Geheimnisse der menschlichen Gesellschaft

von

Capitain Ramon Diaz de la Escosura.


// 193 //

 

Siebentes Kapitel.

Errettende Liebe.

»Es deckt der Schnee die Gräber zu,
   Daß Nichts den tiefen Schlummer störet,
Kein Lebenslaut, den in der Ruh
   Der wintersstarren Nacht man höret.

Es glänzen in dem Sternenschein
   Die alten halb verfall'nen Mauern,
Und die Cypressen schauen d'rein,
   Als ob die Todten sie bedauern.

Und auf dem hart gefror'nen Schnee,
   Und mitten unter Leichensteinen,
Kniet sie so ohne Freud' und Weh',
   Die weder lächeln kann, noch weinen.

Es ist, als ob der eis'ge Hauch
   Ihr Leben ganz getödtet hätte,
Als winkt' ihr nur da unten auch
   Erlösung in des Grabes Bette.«

Als Gräfin Rosa ihre Freundin in Pons der Diligence übergeben hatte, kehrte sie in Eile nach Rodriganda zurück. Es war ihr, als ob ihr etwas Schlimmes passiren könne, so lange sie sich nicht unter dem starken und energischen Schutze Sternau's befinde. Es lag wie eine Ahnung in ihr, daß ihr ein schweres Unglück bevorstehe. Darum befahl sie dem Kutscher, die Pferde ausgreifen zu lassen, die nun im schnellsten Galoppe auf der Straße dahinflogen.

Als sie auf Rodriganda ankam und sich schnell umgekleidet hatte, stieg sie zunächst zum Kastellan empor. Sie fand die beiden braven Leute in ihrem Lieblingsthema, das heißt im Gespräche über Doctor Sternau begriffen.

»Ist er daheim?« fragte sie.

»Nein,« antwortete Alimpo.

»Wo ist er?«

»Er ist ausgefahren, gnädige Contezza. Meine Elvira sagt es auch.«

»Wohin?«

»Wir wissen es nicht,« meinte die Kastellanin.

»Hat er es Euch nicht gesagt?«

»Leider nein.«

»Ist er allein fort?«

»Nein. Er fuhr in einer fremden Kutsche; mein Alimpo sagt es auch.«

»Und wem gehörte die Kutsche?«

»Dem Regidor von Manresa.«

»Ah!« rief sie erschrocken und sogleich ein Unheil ahnend. »Elvira, erzähle, wie es gewesen ist!«

»Das war so,« begann die Kastellanin. »Es kam eine Kutsche gefahren, aus welcher der Regidor stieg. Er ging hinauf zu Sennor Gasparino und dann zu Sennor Sternau; nach kurzer Zeit fuhr er mit Sennor Sternau fort.«

»Wohin?«


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»Auf der Straße nach Manresa; mein Alimpo sagt es auch.«

»Gut! Alimpo, es sollen sofort zwei frische Pferde vorgespannt werden!«

»Ihr wollt wieder ausfahren, gnädige Contezza?«

»Höchst wahrscheinlich!«

Sie ging und zwar geradewegs nach dem Zimmer des Advokaten. Dieser saß bei einer Schreiberei. Die Gräfin war nur selten einmal bei ihm eingetreten, darum erstaunte er, sie jetzt bei sich zu sehen.

»Ah, Donna Rosa, Ihr kommt zu mir! Habt die Güte, Platz zu nehmen!« sagte er, sich erhebend und ihr einen Stuhl bietend.

»Ich werde mich nicht setzen,« sagte sie in energischer Eile. »Ich komme nur, eine Frage zu thun.«

»Welche?«

»Habt Ihr Sennor Sternau gesehen?«

»Jetzt nicht.«

»Er ist ausgefahren.«

»Ich weiß nichts davon.«

»Mit dem Regidor von Manresa?«

»Ist mir unbekannt,« antwortete er, wie sich wundernd mit dem Kopfe schüttelnd.

»So wißt Ihr gar nicht, daß der Regidor in Rodriganda war?«

»Nein.«

»Auch nicht, daß er bei Euch gewesen ist?«

»Nein.«

»Ihr lügt, Sennor!« rief sie leidenschaftlich. »Ihr lügt sogar unverschämt, Sennor!«

»Contezza!« antwortete er in beinahe drohendem Tone.

»Ah, welchen Ton erlaubt Ihr Euch gegen mich! Ich werde jetzt zu dem Regidor fahren und mich erkundigen. Finde ich, daß eine neue Teufelei angezettelt ist, bei der Ihr wieder die Hand im Spiele habt, so werde ich Euch das Handwerk legen, Euch und den beiden Anderen. Adios!«

Sie rauschte hinaus, während er vor Erstaunen über diese Energie ganz fassungslos zurückblieb. Dann trat er an das Fenster und sah sie wirklich einsteigen und fortfahren. Sofort begab er sich zu seiner Verbündeten, der frommen Schwester Clarissa. Auch diese stand am Fenster und hatte Rosa beobachtet.

»Sie fährt wieder fort,« sagte sie. »Weißt Du vielleicht wohin?«

»Ja. Nach Manresa zum Regidor.«

»Ah! Was will sie da?«

»Sich erkundigen, wohin dieser Sternau ist.«

»Höre, Gasparino, auch sie beginnt, gefährlich zu werden!«

»Ich sehe es und werde meine Maßregeln darnach treffen. Weißt Du nicht, auf welche Weise man ihr einige Tropfen beibringen könnte?«

»Es ginge, wenn ich die Tropfen hätte.«

»Wann?«

»Beim Abendthee.«

»Und wenn sie ihn auf ihrem Zimmer trinkt?«


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»Sie trinkt stets nur eine Tasse, welche ihr die Kastellanin macht. Laß mich nur sorgen!«

»Gut, Du sollst die Tropfen haben!«

»Und mein Honorar?« fragte sie lauernd.

Er machte eine ungeduldige Bewegung mit der Hand und antwortete:

»Nun ja, Dein alter Wunsch soll erfüllt werden!«

»Sie tritt in mein Stift?«

»Ja, und zwar mit der Hälfte ihres Vermögens.«

»Mit der Hälfte nur?! Was soll mit der andern Hälfte geschehen?«

»Ich bekomme sie. Alfonzo darf nicht verkürzt werden, folglich theilen wir Beide uns in Rosa's Vermögen.«

»Zugestanden! Also laß mich die Tropfen bald haben!«

Er kehrte in sein Zimmer zurück, füllte ein kleines Flacon mit Wasser und träufelte zwei Tropfen des Giftes hinein. Nachdem er diese Verdünnung gut durchgeschüttelt hatte, brachte er sie zu Clarissa, welcher er die nöthige Instruction ertheilte, wie die Tropfen zu handhaben seien.

Unterdessen fuhr Rosa auf Manresa zu. Dort angekommen, ließ sie vor dem Hause des Regidors halten. Die Frau desselben kam heraus, erstaunt über den vornehmen Besuch, und führte diesen in ihr bestes Zimmer.

»Ist der Sennor zu sprechen?« frug die Gräfin.

»Leider nein. Er ist nicht daheim.«

»Verreist?«

»Ja.«

»In Geschäften

»Jedenfalls, denn er ließ sich von vier bewaffneten Gendarmen begleiten.«

»Ah!« hauchte Rosa erbleichend. »Wohin ging die Reise?«

»Das weiß ich leider nicht. Der Sennor ist in Beziehung auf Geschäftssachen sehr verschwiegen.«

»Und wissen Sie nicht, wer, oder was ihn zu dieser Reise veranlaßt haben könnte?«

»Jedenfalls Ihr gnädiger Bruder Don Alfonzo.«

»Alfonzo? War er hier?«

»Ja. Er kam geritten und hatte es sehr eilig. Mein Mann sandte sofort nach den Gendarmen.«

»Hat er nicht gesagt, wann er zurückkehren wird?«

»Nein.«

»So werde ich morgen wiederkommen.«

Sie ging. Sie hatte genug gehört, um zu wissen, daß Etwas im Werke sei, und kehrte im vollen Galopp nach Rodriganda zurück. Dort ließ sie den Bruder zu sich bitten. Dieser war bereits von dem Notar verständigt worden und ging der Unterredung mit großer Ruhe entgegen.

»Du warst heut' in Manresa?« frug sie ihn.

»Ja,« antwortete er gleichgiltig.

»In welcher Angelegenheit?«

»Mein Gott, in welcher Angelegenheit soll dies gewesen sein? In der heutigen!«


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»Welche verstehst Du unter der heutigen?« fragte sie scharf.

»Nun, das Auffinden der Leiche!«

»Ah! Ist dies wahr?«

»Was sonst? Du kommst mir sehr sonderbar vor. Es scheint Dich Etwas aufgeregt zu haben.«

»Allerdings. Warum requirirte der Regidor in Deiner Angelegenheit vier Gendarmen?«

»Es soll sich doch noch herausgestellt haben, daß die Leiche in die Schlucht geworfen worden ist,« log er mit dreister Miene. »Die Gendarmen sind hinter den muthmaßlichen Thätern her.«

Sie ließ sich täuschen.

»Ha! Ist es so! Apropos, hast Du Sternau gesehen?«

»Nein.«

»Ich suche ihn.«

»Ich niemals.«

»Es ist gut. Du kannst gehen!«

Er machte ihr eine ironische Verbeugung und sagte:

»Der Graf Alfonzo de Rodriganda geruhen nicht, sich von allerhöchst Seiner Schwester wie einen Domestiken verabschieden zu lassen. Ich werde bleiben!«

Sie blickte ihn erstaunt an.

»Wieso? Warum?«

»Nun, um meine Schwester zu amüsiren!«

»Sie amüsirt sich ohne Dich am Besten!«

»Ich bleibe dennoch!«

»Unverschämter!«

»Bah! Ich weiß nicht, was Du gegen mich hast. Ist dies eine Einbildung oder ein wirklicher Widerwille, denn ich vermisse die ruhige Zärtlichkeit, welche man zwischen Geschwistern voraussetzt. Ich werde mit einem Kusse den Anfang machen, diese Kluft zu überbrücken.«

Er näherte sich ihr, um seine Worte wahr zu machen, sie aber stieß ihn mit Abscheu von sich zurück.

»Komme mir nicht zu nahe!« gebot sie ihm. Ich habe nichts mit Dir zu schaffen.«

»Nichts?« fragte er, indem er mit begierigem Auge ihre herrliche Gestalt überflog. »O doch! Rosa, Du bist schön, sehr schön, und was Dein Mann später genießen darf, das kann der Bruder im Voraus haben.«

Er wollte den Arm um sie schlingen, sie aber holte aus und gab ihm einen schallenden Schlag in das Gesicht.

»Weiche von mir!« rief sie. »Ich hasse, ich verabscheue Dich! Wenn ich es nicht bereits wüßte, so würde Dein Verhalten es mich lehren!«

»Was?« fragte er zornig, die Hand an die getroffene Stelle legend.

»Daß Du nicht mein Bruder, sondern ein Betrüger, ein elender Fälscher bist!«

»Oh, nicht Dein Bruder? Was denn sonst?«

»Das wird sich zeigen, sobald Sternau zurückkehrt. Und kehrt er nicht zurück,


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so macht Euch nur gefaßt auf eine Entlarvung, welche das ganze Land in Zorn und Aufruhr versetzen soll.«

»So also ist es!« meinte er zischend. »Einen Betrüger, einen Fälscher nennst Du mich! Die Ohrfeige nehme ich hin, denn Du bist ein Weib; das Andere aber sollst Du mir theuer bezahlen müssen.«

Er schritt mit dem Trotze eines schlechten Menschen hinaus, der eine Niederlage zu rächen weiß. Sie aber schickte zu der Kastellanin, um nicht allein zu sein, sondern sich von ihr Gesellschaft leisten zu lassen.

»Haben Sie Sennor Sternau gesehen, meine gnädige, liebe Contezza?« fragte diese sofort, als sie kam.

»Nein.«

»Ach, wo muß er sein!«

»Er ist arretirt worden.«

Frau Elvira machte eine Bewegung des Schreckens und sagte:

»Arretirt! Mein Gott! Weshalb?«

»Ich habe es nicht erfahren können.«

»Arretirt! O, heilige Madonna, diesen braven, guten Sennor arretirt! Er hat gewiß nichts gethan, gar nichts, denn er ist der beste und bravste Mann, den es nur geben kann. Und so fest und treu, so stolz und stark! Sie hätten ihn nur sehen sollen, als er draußen an der Bateria den Grafen Alfonzo packte und über den Abgrund hinaus hielt! Das ist prächtig gewesen; mein Alimpo sagt es auch!«

»Davon weiß ich ja gar nichts!«

»Nicht?«

»Nein. Er hat mir erzählt, wie er sich um die Leiche bemüht hat, dies jedoch nicht mit.«

»Ja, er prahlt nicht; er ist kein Aufschneider. Graf Alfonzo hat ihn schlagen wollen, da aber hat er es gemacht wie jener August der Starke von Sachsen, der den Trompeter zum Thurme hinaushielt, er hat den jungen Grafen gefaßt und über den Abgrund gehalten und ihn dann mit solcher Force über sich hinweg geworfen, daß er eine große Strecke fortgeschleudert und dann zur Erde gefallen ist.«

Rosa's Augen leuchteten vor Stolz.

»Ja, er ist nicht zu besiegen!« sagte sie. »Das habe ich gesehen, als er im Parke überfallen wurde. Er hätte es mit dreimal so viel Männern aufgenommen, als zugegen waren.«

»Ja, er hat sogar gesagt,« fügte Elvira zögernd hinzu, »daß Alfonzo erst beweisen solle, daß er der Sohn des Grafen Emanuel sei; ja, das hat er gesagt; mein Alimpo hat es auch gehört.«

»Ach, er hat das gesagt? Da muß er allerdings ganz außerordentlich beleidigt worden sein.«

»Und die Leute alle haben sich bereits schon längst so Etwas gedacht. Der Sennor Lieutenant -«

»Nun, was ist mit ihm?« fragte Rosa die Stockende.

»Er sah dem gnädigen Grafen so sehr ähnlich, hatte ganz dieselben Augen und auch ganz seine Stimme. Haben Sie das nicht auch bemerkt?«


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»Ja, und der Vater, als er ihn erblickte, hielt ihn auch sofort für seinen Sohn.«

»Ob er es wohl sein wird?« fragte Elvira sehr angelegentlich.

»Sennor Sternau glaubt es ganz bestimmt. Er weiß auch, daß man ihn auf das Schiff entführt hat.«

»Entführt! Auf das Schiff!« rief die Kastellanin, die Hände zusammenschlagend. »Weshalb denn?«

»Damit er die Betrüger nicht entlarven kann. Aber davon können wir später sprechen, meine gute Elvira. Du sollst nämlich den ganzen Abend bei mir sein und mir auch meinen Thee besorgen.«

Mehrere Stunden später, als es bereits dunkel geworden war, hielt ein einsamer Reiter am Rande des Waldes. Er sprang vom Pferde und führte dasselbe in das Dickicht hinein, wo er es anband. Dann schritt er auf das Schloß zu, stieg die Treppe empor und bat einen der Diener, ihn bei Sennor Gasparino Cortejo anzumelden.

»Wer seid Ihr?« fragte der Diener.

»Ein Freund des Sennor, der ihn überraschen will,« lautete die etwas barsche Antwort.

Er wurde angemeldet und trat ein. Cortejo befand sich allein in seinem Zimmer. Er betrachtete sich den Fremden, und da er ihn nicht kannte, so fragte er ihn:

»Ihr habt Euch als einen Freund von mir melden lassen?«

»Ja.«

»Ich kenne Euch doch nicht!«

»Nicht? So werde ich nachhelfen.«

Er nahm den falschen Bart vom Gesichte und die Perrücke vom Kopfe und wurde nun allerdings erkannt.

»Der Kapitano!« rief Cortejo.

»Ja, der Kapitano, der Euch eine Frage vorlegen will.«

»Redet!«

»Wo ist der Lieutenant de Lautreville?«

»Weiß ich es!«

»Ihr wißt es! Ihr mögt Andere täuschen, mich aber nicht. Der Lieutenant ist verschwunden.«

»Das geht mich Nichts an!«

»O viel, sehr viel! Ich habe mir unsere letzte Unterredung später überlegt. Ihr wolltet ihn getödtet wissen; Ihr habt ihn erkannt.«

»Nicht ihn allein, sondern auch diesen deutschen Arzt. Warum habt Ihr Euer Wort nicht gehalten?«

»Weil ich erst wissen wollte, ob Ihr das Eurige in Beziehung auf den Lieutenant halten würdet.«

»Gut, spielen wir kein Versteckens! Gebt Ihr zu, daß jener Lieutenant der eigentliche Graf Alfonzo de Rodriganda war?«

»Ja.«

»Warum schicktet Ihr ihn hierher?«

»Das ist meine Sache.«


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»Wußte er, wer er ist?«

»Nein. Wo ist er?«

»Todt.«

Der Räuber trat einen Schritt zurück; dabei entfiel ihm der Mantel und nun bemerkte man die reiche Garnitur der Waffen, welche in seinem Gürtel steckten.

»Todt!« rief er. »Ach, das werdet Ihr mir büßen!«

»Ich fürchte Euch nicht!«

»Ich werde aufdecken, was Ihr für ein Schurke seid!«

»Pah! Ihr selbst habt dann Alles zu fürchten; denn Ihr wart ja mein Werkzeug.«

»Ich werde den Schein, welchen Ihr unterschriebt, beim Gericht deponiren. Ich brachte ihn mit, um den Lieutenant gegen denselben auszuwechseln. Sagt, ob derselbe in Wirklichkeit todt ist!«

Ueber das Stößergesicht des Advokaten glitt ein blitzschnelles, freudiges Lächeln. Er antwortete:

»Ihr habt den Schein wirklich mit?«

»Ja. Ist der Lieutenant todt?«

»Ich werde Euch den Brief zeigen, den ich in dieser Angelegenheit erhalten habe. Wartet ein wenig!«

Er trat in das anstoßende Gemach, wo er eine geladene Pistole und einen Brief zu sich nahm.

»Er kommt mir grad' recht,« flüsterte er höhnisch in sich hinein. »Jetzt erhalte ich meine Unterschrift zurück und werde den gefährlichsten Zeugen los. Ich bin nun Sieger auf der ganzen Schlachtlinie!«

Er kam wieder zurück, den Brief in der Hand.

»Aber ich muß überzeugt sein, daß Ihr das Papier wirklich bei Euch habt,« sagte er mit forschendem Blicke auf den Räuber.

»Hier steckt es,« antwortete dieser, auf seine Brust klopfend.

»So lest!«

Er reichte ihm den Brief entgegen. Der Kapitano öffnete das Schreiben und sah auf den ersten Blick, daß es ein ganz gewöhnlicher Geschäftsbrief war, der gar nichts den Lieutenant Betreffendes enthielt. Als er, erstaunt über eine solche Täuschung, aufblickte, fiel sein Auge auf die Mündung einer auf ihn gerichteten Pistole.

»Schach und Matt! Stirb, Hund!« rief der Notar.

Der Schuß krachte, und der Räuber stürzte augenblicklich todt zu Boden. Die Kugel war ihm grad' in die Stirn gedrungen. Sofort verriegelte der Notar die Thür und riß dann dem Todten den Rock auf. Die Taschen waren leer. Auch die übrigen Kleidungsstücke enthielten nicht die Spur eines Papieres.

»Betrogen!« murmelte der Notar. »Elend betrogen! Bei ihm war das Papier sicher. Wenn es seine Leute finden, so bin ich verloren!«

Jetzt ertönten Schritte auf dem Corridore. Man hatte den Schuß gehört und kam herbei, um nachzusehen, was vorgefallen sei. In fieberhafter Eile brachte er die Kleidung des Räubers wieder in Ordnung, riß ihm ein Pistol aus dem Gürtel, welches er zu Boden legte und öffnete die Thür.

»Hierher!« gebot er. »Ich bin überfallen worden.«


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Die Dienerschaft stürzte herbei. Auch Graf Alfonzo, Schwester Clarissa und der Kastellan kamen.

»Seht diesen Menschen,« sagte Cortejo. »Er ließ sich als meinen Freund anmelden, und als wir allein waren, drohte er mir mit dem Tode, wenn ich ihm nicht mein Geld aushändige. Ich that, als ob ich es ihm geben wolle, griff aber nicht nach dem Gelde, sondern nach der Pistole und schoß ihn nieder.«

»O Gott, ein Räuber, ein richtiger Räuber!« rief Clarissa entsetzt. »Seht hier die Perrücke und den falschen Bart! Aber Gott hat ihn gefällt durch einen Stärkeren, als er war, und ihn in seinen Sünden zu sich genommen. Er wird für seine Missethaten büßen müssen in alle Ewigkeit!«

»Durchsucht ihn, aber genau!« gebot Cortejo.

Auf diese Weise bekam er das Schreiben doch noch in die Hände, wenn es sich unerwarteter Weise irgendwo vorfinden sollte. Aber es wurde Nichts gefunden als die Waffen und eine gefüllte Börse.

»Schafft ihn hinunter in eines der Gewölbe; ich werde morgen Anzeige machen. Dieses Zimmer wird natürlich sofort gereinigt.«

Man folgte dieser seiner Anordnung. Als die Dienerschaft sich entfernt hatte und die Drei allein waren, fragte Alfonzo:

»Kanntest Du ihn?«

»Nein.«

»Hm, es war möglich, daß es Dein »Kapitano« sei, von dem Du zuweilen sprichst. Ich dachte, in diesem Falle hättest Du ein kleines Rencontre mit ihm gehabt und Dich von ihm befreit.«

»Ich kenne ihn nicht! Aber wie ist es, trinken wir heut den Thee mit Rosa?«

»Nein,« antwortete Clarissa. »Sie trinkt ihn auf ihrem Zimmer.«

»Später?«

»Sie hat ihn schon.«

Aus dem Tone, in welchem diese Worte gesprochen waren und einem raschen Blicke, der sie begleitete, ersah der Notar, daß die Tropfen in den Thee gekommen seien.

Als der Schuß fiel, saß Rosa mit der Kastellanin im Gespräch beisammen. Die Letztere hatte soeben den Thee aus der Küche geholt und der Gräfin servirt. Da erscholl über ihnen ein lauter Krach.

»Was war das!« rief Elvira.

»Ein Schuß!« antwortete Rosa. »Was ist vorgefallen? Ich werde gehen, nachzusehen!«

»O nein, nein, meine theure Contezza! Bleiben Sie! Es giebt hier täglich immer neues und größeres Unglück; ich lasse Sie nicht fort!«

»Aber wer soll mir Etwas thun? Der Schuß fiel, wie es scheint, in der Wohnung Cortejo's. Hörst Du die Schritte und die Stimmen?«

»Ja, aber wir bleiben. Mein Alimpo ist sehr ruhig; er wird hingehen, um zu sehen, was es ist, und es uns dann melden.«

Diese Voraussage erwies sich als richtig, denn der Kastellan kam wirklich recht bald und meldete, daß der Notar von einem Räuber überfallen worden sei, diesen aber erschossen habe. Dieser Gegenstand bildete das Object des abendlichen Gespräches, aber nachdem Rosa ihre Tasse Thee getrunken hatte, erklärte sie, schlafen gehen zu


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wollen, da sie von all' der Aufregung heut ein schmerzliches Brennen im Kopfe fühle. Sie legte sich zur Ruhe.

Am andern Morgen kam das Kammermädchen der Contezza in höchster Aufregung zu der Kastellanin gerannt und bat sie weinend:

»Meine gute Frau Elvira, kommen Sie doch schnell mit zur Contezza. Es ist etwas mit ihr!«

»Was denn?«

»Sie muß krank sein.«

»Heilige Madonna, ist es wahr? Sie klagte bereits gestern Abend über Kopfschmerz. Ich komme!«

Sie ließ Alles liegen und folgte der Zofe. Als sie in Rosa's Schlafzimmer traten, kniete dieselbe vor dem Bette und schien zu beten. Sie hatte ein wachsbleiches Aussehen und sah wie eine Statue.

»Liebe Contezza, stehen Sie doch auf!« bat das Mädchen.

Rosa bewegte sich nicht.

»Sehen Siel« klagte das Mädchen, »so fand ich sie, als ich kam, um sie zu wecken. Ich hob sie auf und setzte sie auf den Stuhl, aber immer wieder kniet sie nieder. Helfen Sie mir!«

Sie faßten die Gräfin an und zogen sie empor, kaum aber hatten sie sie auf den Divan gesetzt, so glitt sie wieder herab und faltete die Hände, als ob sie beten wolle.

»Ja, sie ist krank, sie ist sehr krank!« schluchzte die Kastellanin. »Wenn doch nur Sennor Sternau hier wäre! Sie scheint ganz ohne Besinnung und Gefühl zu sein.«

»Was ist zu thun? Was thun wir, Sennora Elvira?« fragte die Zofe, gleichfalls weinend.

»Ja, ich weiß es nicht! Mein Gott, ich kann nichts thun, als meinen Alimpo fragen. Holen Sie ihn!«

Das Mädchen rannte fort und brachte den Kastellan herbei, der ein ganz erschrockenes Aussehen hatte. Die Kranke kniete mit halb geschlossenem Auge und gefalteten Händen vor dem Divan. Der Kastellan half sie wieder aufrecht setzen, aber sie sank sogleich wieder in ihre betende Lage zurück. Auch ihm traten die Thränen in die Augen, und als er um Rath gefragt wurde, sagte er:

»Legt sie in's Bett und macht ihr kalte Umschläge; das wird vielleicht helfen.«

Die beiden Frauen folgten seinen Worten, während er sich betrübt entfernte. Draußen traf er die fromme Schwester, welche lauernd in der Nähe verweilt hatte.

»Waren Sie bei der Gräfin?« fragte sie.

»Ja.«

»So ist sie bereits munter?«

»Sie ist krank,« antwortete er.

»Was fehlt ihr?«

»Ich weiß es nicht.«

»So muß ich sie besuchen, um ihr Gottes Wort zu bringen, den besten Trost der Leidenden.«

Sie ging hinein, kam aber bereits nach einer Minute wieder herausgeschossen


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und flog förmlich nach der Wohnung des Notars. Als dieser sie in so heftiger Weise eintreten sah, fragte er:

»Nun? Gelungen; ich sehe es Dir an!«

»Ja, sie ist verrückt.«

»Was thut sie?«

»Sie betet.«

»Ah, sonderbar! Laut?«

»Nein. Wenn man sie stellt oder setzt oder legt, so bleibt sie nicht in dieser Stellung, sondern sie kniet und faltet die Hände, als wolle sie beten. Dabei aber bewegt sie weder die Lippen noch ein anderes Glied. Es ist sicher, daß ihr kein Rest des Verstandes geblieben ist.«

»Ah, der Wahnsinn ist während des Gebetes über sie gekommen, und nun hat sie nur noch den einen Gedanken des Betens. Ich werde sogleich die nöthigen Schritte thun. Komm' mit!«

Er ging mit ihr nach Rosa's Wohnung und erklärte dem Kammermädchen und der Kastellanin, daß die fromme Schwester Clarissa die Pflege der kranken Gräfin übernehmen werde. Von jetzt an wurde jedermann von Rosa abgeschlossen. Man sah und hörte nichts von ihr; sie war so gut wie gar nicht mehr vorhanden.

Einen Tag später kam ein Mönch auf der Straße von Manresa nach Rodriganda daher. Als er das Dorf erreichte, trat er in die Venta und ließ sich ein Glas Wein reichen. Er wollte es sofort bezahlen, aber der Wirth nahm kein Geld.

»Ich nehme Nichts,« sagte er. »Trinkt noch eins oder zwei, mein frommer Vater, und betet dafür einige Ave Maria's und Paternoster für eine Kranke, die Gott uns erhalten wolle!«

»Wer ist es?«

»Unsere Gräfin Rosa de Rodriganda.«

»Diese ist krank?«

»Ja, sehr!«

»Was fehlt ihr?«

»Es soll Wahnsinn sein.«

»Himmlischer Vater, das wäre ja schrecklich!«

»Ja, mein frommer Vater, Ihr habt Recht. Dieses Haus Rodriganda wird jetzt wahrhaft schrecklich heimgesucht. Zunächst wurde der Graf blind; als er hergestellt war, wurde er wahnsinnig; dann stürzte er sich gar vom Felsen herab. Nun ist seine Tochter über seinen Tod selbst wahnsinnig geworden. Es ist, als ob der Teufel in und um Rodriganda wohne. Zuerst überfällt man im Parke den guten Doktor Sternau, der jetzt ganz plötzlich verschwunden ist; sodann überfällt man die Gräfin selbst mit ihrer Freundin; dann verschwindet ein Gast, ein Husarenoffizier, und endlich überfällt man den Notar in seinem eigenen Zimmer. Der Thäter hat aber sofort seinen Lohn erhalten.«

»Wie heißt der Notar?«

»Gasparino Cortejo.«

»Und wer war der Thäter, der seinen Lohn erhielt?«

»Ein fremder Räuber. Er trug einen falschen Bart und eine Perrücke. Er


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liegt in einem Gewölbe des Schlosses. Er soll morgen eingescharrt werden, heute aber ist die Beisetzung des verunglückten Grafen, zu welcher alle in der Umgegend wohnenden adeligen Herrschaften und auch die obersten Spitzen der Behörden kommen werden.«

»Wo wird er beigesetzt?«

»In der Schloßkapelle.«

»So wird nun wohl der junge Graf Alfonzo Euer neuer Herr?«

»Ja.«

»Ist er beliebt?«

Der Wirth zauderte ein Wenig mit der Antwort, dann sagte er:

»Eigentlich sollte man darüber gar Nichts sagen, Ihr jedoch, frommer Vater, werdet mich nicht verrathen. Graf Alfonzo ist nicht gern gesehen. Viele lieben ihn nicht, und die Anderen hassen ihn gar. Das Glück ist von Rodriganda geschwunden, und ich glaube nicht, daß es wieder einkehren wird. Die Dienerschaft wird es nicht lange auf dem Schlosse aushalten; sie wird sich zerstreuen; dann werden neue Leute engagirt, deren Character zu dem des Grafen und des Sachwalters paßt. Wir sehen böse Tage herbeikommen.«

»Bei welchem der Diener könnte man sich wohl am Besten erkundigen, wenn man sich über die Ereignisse der letzten Tage näher erkundigen will?«

»Geht zu Sennor Alimpo, dem Kastellane. Er ist der treueste und ehrlichste Mann unter Allen.«

»Wird er mir Auskunft geben?«

»Gewiß, denn ein so frommer Mann, wie Ihr seid, hat keine bösen Absichten, wenn er nach Etwas fragt.«

»So will ich aufbrechen. Lebt wohl, und habt Dank für den Trunk, den ich von Euch erhalten habe!«

Er verließ die Venta und pilgerte langsam dem Schlosse zu.

Dort herrschte ein reges, aber geräuschloses Leben. Die Leute huschten eilig über die Gänge und Corridore, um die Vorbereitungen zur Bewirthung der erwarteten Gäste zu treffen, und mit ihren lautlosen Schritten, bleichen Gesichtern und ernsten Mienen glichen sie eher Gespenstern als lebenden Wesen, durch deren Adern rothes, warmes Blut pulsirt. Der Pater Dominikaner frug nach dem Kastellan und wurde nach dessen Wohnung gewiesen.

Der gute Alimpo saß mit Elvira in seiner Stube und schien ganz außerordentlich betrübt zu sein.

»Ich halte das nicht aus!« seufzte er.

»Ich auch nicht!« antwortete sie wehklagend.

»Es ist aus; es ist alle hier!«

»Ganz aus, ganz alle!«

»Es ist am Besten, wir nehmen unsere kleinen Ersparnisse und gehen damit in die weite Welt.«

»Nur nicht zu weit!« warf sie ein.

»Und gerade recht weit, ganz und gar weit!« sagte er zornig. »Zu den Kaffern und Hottentotten, oder zu den Lappländern. Was sollen wir noch hier? Warum willst Du nicht mit weit fort gehen?«


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»Hast Du denn nicht gehört, daß die gnädige Contezza fortgeschafft werden soll?«

»Ja.«

»Nun gut; ich werde sie nicht verlassen; ich werde mit ihr gehen, meinetwegen bis an das Ende der Welt.«

»Wird man Dir die Erlaubniß dazu ertheilen?«

»Hei, ja! Das wird man nicht, wie ich vermuthe. Höre, mein lieber Alimpo, es ist ein Kreuz und ein Elend!«

»Ja, ein Kreuz und ein Elend!« stimmte er bei.

Da klopfte es bescheiden an die Thür und der Pater trat ein.

»Seid Ihr Sennor Alimpo, der Kastellano?« fragte er, nachdem er höflich gegrüßt hatte.

»Ja,« antwortete der Gefragte, indem er sich erhob.

Auch Frau Elvira stand ehrerbietig von ihrem Stuhle auf, und nun der Pater die beiden dicken, gutmüthigen Leute vor sich sah, erkannte er auf den ersten Blick, daß er brave Menschen vor sich habe. Er nahm den angebotenen Sessel an und begann mit ernster, mitleidsvoller Stimme:

»Es ist eine schwere Trübsal eingezogen in dieses Haus. Ich bin ein Bote des Erlösers, welcher sagt: »Kommt her zu mir Alle, die ihr mühselig und beladen seid; ich will Euch erquicken!« Ich biete Euch von ganzem Herzen die Tröstung an, welche unser heiliger Glaube bietet, und bin vielleicht im Stande, Euch auch in anderer Weise Erleichterung und Beruhigung für Eure erregten Herzen zu bringen.«

»Seid uns willkommen, frommer Vater!« sagte Alimpo. »Ja, wir sind sehr betrübt. Es ist ein Unglück nach dem anderen über uns hereingebrochen, und es scheint auch nicht, daß es ein Ende nehmen will.«

»Gott ist in dem Schwachen mächtig,« antwortete der Pater, »und er sendet die Hilfe sehr oft gerade dann, wenn wir es am Wenigsten erwarten. Vielleicht bin ich ein Bote seiner Hilfe. Wollt Ihr mir vertrauen?«

»Gern!« meinte die Kastellanin. »Wir befinden uns in großer Noth; nicht wahr, Alimpo?«

»Ja, meine Elvira!« antwortete er mit trübseligem Kopfnicken.

»Und wir haben keinen Menschen, dem wir unser Leid klagen können; nicht wahr, Alimpo?«

»Ja, meine Elvira.«

»Aber Ihr habt doch Kameraden hier im Schlosse, die mit Euch fühlen werden,« meinte der Pater.

»Ja, die haben wir,« erklärte der Kastellan. »Aber sie sprechen nicht mehr mit uns.«

»Warum nicht?«

»Sie fürchten sich vor dem jungen Grafen und vor Sennor Cortejo.«

»Haben diese es ihnen denn verboten, mit Euch zu verkehren?«

»Direkt nicht; aber ich bin in Ungnade gefallen, und so ziehen sich die Anderen selbst von uns zurück.«

»In Ungnade? Warum?«

»Weil ich die gnädige Contezza nicht fremden Händen überlassen wollte; ich


// 205 //

und meine Elvira wollten sie in ihrer Krankheit bedienen. Wir wurden abgewiesen; aber wir haben die Contezza lieb und versuchten dennoch, zu ihr zu kommen. Da bin ich vorhin von meinem Amte suspendirt worden. Ich habe hier nichts mehr zu thun und zu sagen; ich soll das Schloß baldigst verlassen, und darum mögen Die nichts mehr von uns wissen, welche wir für unsere Freunde gehalten haben.«

»Sie werden sich Eurer recht gut erinnern, wenn erst die arbeitsvollen Tage vorüber sind. Ich höre, daß der verstorbene Graf heute beigesetzt werden soll?«

»So sagt man, ich aber glaube es nicht,« meinte Alimpo in sehr trotzigem Tone.

»Ihr glaubt es nicht?« fragte der Pater erstaunt.

»Ja, ich glaube es nicht.«

»Daß der Graf beigesetzt wird?«

»Ja.«

»Aber, was sollen sie denn mit ihm thun?«

»Ah, er ist es ja gar nicht!«

»Der Todte?«

»Ja; der Todte ist nicht der Graf, sondern ein Anderer.«

»Wer sagt das?«

»Sennor Sternau.«

»Wer war das?«

»Der deutsche Arzt, welcher den Grafen behandelte. Ich habe an seiner Seite gestanden, als er behauptete, daß die Leiche ein ganz Anderer sei, als der Graf.«

»Ah! Erzählt mir doch von diesem Arzte!«

Das Ehepaar war froh, jemand zu haben, dem es sich ohne Gefahr anvertrauen konnte, und so erzählten sie dem Pater Alles, was in der jüngst vergangenen Zeit sich zugetragen hatte. Er hörte ihnen aufmerksam zu und fragte, als sie zu Ende waren:

»Ihr glaubt also, daß sich jener Lieutenant de Lautreville nicht freiwillig entfernt hat?«

»Wir glauben das, was Sennor Sternau und die Contezza gesagt haben. Der Lieutenant ist geraubt und nach dem Schiffe geschafft worden.«

»Ich kannte ihn.«

»Ihr? Ihr kanntet ihn?« fragte Alimpo erstaunt.

»Ja. Ich habe ihn erzogen. Ich liebe ihn wie meinen Sohn, und werde Alles thun, um zu erfahren, wo er sich befindet. Und dieser Sternau ist auch verschwunden?«

»Ja, ganz plötzlich.«

»Und Niemand weiß, wohin?«

»Kein Mensch.«

»Aber bei dem Richter in Manresa muß es zu erfahren sein!«

»Dieser wird es keinem Menschen sagen. Also Ihr kennt den Sennor de Lautreville! Er war wirklich ein Franzose und Offizier?«

»Fragt mich nicht nach ihm! Sein Leben war ein geheinmißvolles. Es wird sich einst aufklären, so Gott will.«

»Sennor Sternau hielt ihn für den richtigen Grafen Alfonzo.«

»Ah, dieser Sternau muß ein außerordentlicher Mensch sein. Wer die Ge-


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heimnisse von Rodriganda aufklären will, der muß sich zunächst seiner Hilfe versichern. Er soll aufgefunden werden; ich werde ihn suchen!«

»Thut das, o thut das, frommer Vater!« bat die Kastellanin. »Nur er allein kann der Contezza und uns Andern Hilfe bringen.«

»Ich werde mir alle Mühe geben. Kann man den Räuber sehen, welchen Sennor Gasparino erschossen hat?«

»Ja. Er liegt unten im Gewölbe,« sagte Alimpo.

»Führt mich zu ihm!«

Die beiden Männer begaben sich hinab nach dem Gewölbe, in welchem der Todte lag. Der Kastellan stand eben im Begriffe, die Thür zu öffnen, als Cortejo vorüber kam. Er blieb stehen und frug:

»Was wollt Ihr hier?«

»Dieser fromme Vater will den Räuber sehen,« entschuldigte sich Alimpo.

»Was hast Du damit zu thun!« rief der Notar zornig. »Du bist nicht mehr Kastellan; Du darfst keinen Raum des Schlosses mehr betreten. Uebrigens soll der Todte in Ruhe gelassen werden.«

»Entschuldigt, Sennor,« sagte der Mönch in einem höflichen aber sehr bestimmten Tone. »Ich bin ein Diener der heiligen Kirche und bitte Euch um die Erlaubniß, die Leiche sehen zu dürfen!«

»Was habt Ihr davon? Geht weiter!«

»Ich stehe hier an Stelle der heiligen Kirche; ich habe die letzte Verfügung eines Sterbenden zu erfüllen; ich verlange unbedingt, dieses Gewölbe betreten zu können!«

»Was? Ihr verlangt! Ihr wagt, hier gebieten zu wollen!«

Cortejo sagte diese Worte in einem drohenden Tone und trat einen Schritt näher heran.

»Ja, ich verlange!« antwortete der Mönch ruhig. »Ihr seid Sennor Cortejo?«

»Ja.«

»Nun gut; Ihr habt mir hier Nichts zu befehlen; ich trete ein, ohne Euch weiter zu befragen!«

Er öffnete die Thür und trat in das Gewölbe. Der Notar folgte ihm. Das Gewölbe war vollständig leer, nur in der Mitte sah man einige schmutzige Bretter am Boden liegen, auf denselben die Leiche, welche nicht einmal zugedeckt worden war. Das unerschrockene Auftreten des Mönches hatte seinen Eindruck auf Cortejo nicht verfehlt. Dieser Letztere betrachtete sich den Dominikaner mißtrauisch und fragte:

»Wer war der Sterbende, dessen letzte Verfügung Euch hierher führt?«

Der Pater deutete auf den Todten und sagte:

»Dieser hier!«

»Dieser? Pah! Ihr wart ja gar nicht bei ihm, als er starb.«

»Er war dennoch ein Sterbender, als er mit mir sprach, denn er ging in den Tod.«

»Ihr habt ihn gekannt?«

»Ja, ebenso gut wie Ihr.«

»Ich?« meinte der Notar besorgt. »Ich kannte diesen Menschen nie!«


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»Lügt nicht!« sagte der Pater. »Wollt Ihr leugnen, daß Ihr den Kapitano nicht gekannt habt?«

»Ein Kapitano war er?« fragte Cortejo lauernd.

»Verstellt Euch nicht! Ich bin kein Kind der Welt, aber Ihr werdet mich doch nicht täuschen. Dieser Todte mußte in Eurem Auftrage den Sohn des Grafen Rodriganda umtauschen lassen; dieser Todte mußte den deutschen Arzt überfallen; dieser Todte sollte den Lieutenant de Lautreville tödten. Ihr habt ihn erschossen, um ihn unschädlich zu machen, aber an seiner Stelle stehen andere Zeugen gegen Euch auf. Gasparino Cortejo, Du bist der größte Bösewicht, den ich kenne; triumphire nicht zu früh! Der arme Pater-Dominikaner wird für Dich ein Gegner sein, den Du nicht verschwinden lassen kannst! Noch ehe der Kapitano Dich aufsuchte, kam er zu mir. Er sagte mir, daß er Dir nicht traue. Wenn er nicht zurückkehren werde, sollte ich mich erkundigen, ob ihm Etwas geschehen sei. In diesem Falle gab er mir die Rache über. Ich werde ihn nicht rächen, denn die Rache ist des Herrn, aber ich werde die verborgenen Wege aufdecken, welche Du gegangen bist. Lebe wohl, auf Wiedersehen!«

Er schob den Notar zur Seite, schritt aus dem Gewölbe hinaus und verließ das Schloß. Cortejo stand da, als ob er einen Schlag auf den Kopf erhalten habe. Seine Augen waren weit vorgetreten; die Adern seiner Stirn waren dick und angespannt; er blickte dem sich Entfernenden wie abwesend nach; dann aber raffte er sich zusammen und wandte sich an den Kastellan, welcher Alles deutlich gehört hatte:

»Was wollt Ihr noch hier? Fort!« gebot er ihm.

Dieser Ton gab dem guten Alimpo einen ungewöhnlichen Muth.

»Sennor,« sagte er, »ich werde mir Alles genau merken, was ich jetzt mit angehört habe!«

»Fort!« brüllte Cortejo jetzt. »Noch heut' verlaßt Ihr das Schloß!«

»Ich habe Kündigung!« sagte Alimpo, der noch nie einen solchen Muth besessen hatte wie jetzt.

»Ihr sollt ein Vierteljahrsgehalt ausgezahlt erhalten; aber noch heute packt Ihr Euch!« -

Der Pater-Dominikaner schritt das Dorf entlang und überlegte, was zu thun sei, um den Aufenthalt des Doctor Sternau zu erfahren. Gräfin Rosa hatte in Manresa nichts erfragen können, also war es doch wahrscheinlich, daß man gegen ihn ebenso verschwiegen sein werde. Er beschloß, in den umliegenden Ortschaften nachzuforschen, ob eine Kutsche gesehen worden sei, welche von vier Gendarmen begleitet wurde. Dies war nun freilich nicht so leicht und ging auch nicht so schnell, als er gedacht hatte. Zudem war er gezwungen, einmal nach der Höhle zurückzukehren, wo man sich über das Verbleiben des Hauptmanns vollständig im Unklaren befand. Er brachte die Nachricht von dem Tode desselben dorthin und wartete die Wahl eines neuen Kapitano mit ab. Dann begab er sich wieder nach der Gegend von Rodriganda, um seine Nachforschungen fortzusetzen.

Endlich gelang es ihm, zu erfahren, daß eine von vier Gendarmen begleitete Kutsche nach Barcelona gefahren sei. Sie mußte dort vor dem Gefängnisse gehalten haben, und er beschloß, mit dem Schließer Bekanntschaft anzuknüpfen. Dies war noch schwerer als Alles, was er bisher unternommen hatte, aber in Folge seines


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geistlichen Standes gelang es ihm schließlich doch, das Vertrauen des Alten zu gewinnen und Zutritt in dessen Wohnung zu erlangen. Er besuchte ihn sehr oft und wurde nach und nach zu einigen Gefangenen gelassen, welche krank waren und des geistlichen Zuspruches bedurften.

Endlich erfuhr er auch, daß sich ein gewisser Doctor Sternau unter den Gefangenen befinde.

Nun begann er, direct an die Befreiung desselben zu denken. Zu dieser gehörte zunächst Geld. Das hatte er leider nicht. Er sann nach und dachte schließlich an den Kastellan, von dem er unterdessen erfahren hatte, daß er Rodriganda verlassen habe und in Manresa wohne. Er ging zu ihm und wurde mit großen Freuden aufgenommen.

»Gott sei Dank, Ihr seid es, frommer Vater!« sagte Alimpo. »Ich glaubte bereits, daß Ihr mich und alle unsere Freunde vergessen hättet. Meine Elvira sagte es auch.«

»Ich habe weder Euch noch sie vergessen,« sagte der Dominikaner. »Ich habe vielmehr unausgesetzt daran gearbeitet, Sennor Sternau zu befreien.«

»Sennor Sternau? Ah! Ihr wißt, wo er sich befindet?«

»Ja, ich habe es kürzlich erst erfahren können.«

»Wo ist er?«

»In Barcelona.«

»Was thut er da? Warum läßt er sich nicht sehen?«

»Er ist gefangen.«

»Gefangen! Oh! Oh! Hörst Du es, meine liebe Elvira?«

»Ja, ich höre es, mein Alimpo,« sagte die Gefragte. »Daran ist sicher Cortejo schuld!«

»Kein Anderer! Wird er noch lange gefangen sein, frommer Vater?«

»Er wird niemals wieder frei sein, wenn wir ihn nicht erlösen.«

»Wir? O wie gern!« rief Alimpo. »Aber was können wir dabei thun?«

»Hm, viel und wenig. Habt Ihr Geld, Sennor Alimpo?«

»Geld? Wieviel? Wozu?«

»Sennor Sternau hat natürlich in seiner Gefangenschaft keine Mittel; will er fliehen, so bedarf er des Geldes, um über die Grenze zu kommen, und ich - ich bin ja nur ein armer Diener Gottes, der von den Spenden wohlthätiger Menschen lebt.«

Da sprang Alimpo von seinem Stuhle auf, riß den Kasten einer Kommode hervor, griff hinein und brachte mehrere große, gefüllte Beutel und eine Brieftasche zum Vorscheine.

»Hier, hier, nehmt!« rief er ganz begeistert. »Ich habe Geld, viel Geld, und Ihr sollt Alles haben!«

»Wie viel ist es?«

»Vier oder fünf Tausend Duros, unser Ersparniß während der ganzen Lebenszeit. Für den guten Sennor Sternau geben wir es gern, sehr gern. Nicht wahr, meine gute Elvira?«

»Ja,« nickte sie. »Wenn er nur wieder frei ist. Dann kann er vielleicht auch unsere liebe Contezza heilen.«


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»Wo ist sie?« fragte der Pater. »Wohl in einer Heilanstalt für Geisteskranke?«

»Nein. Sie ist in Larissa, im Stifte der heiligen Veronika, dessen Vorsteherin die fromme Schwester Clarissa ist.«

»Aber sie gehört doch nicht in ein Stift, sondern in eine Heilanstalt!«

»Kann sie sich wehren? Die Anstalt soll die Hälfte ihres Vermögens bekommen. Ich habe erfahren, daß Schwester Clarissa mit ihr abgereist ist.«

»Hat sie sich gewehrt?«

»Nein. Sie ist ganz ohne Willen; sie weiß auch gar nicht mehr, wer sie ist.«

Der Pater dachte nach. Dann fragte er:

»Und Ihr denkt, daß Sennor Sternau sie heilen würde?«

»Gewiß, ganz gewiß!«

»Gut. Ich werde mir die Anstalt in Larissa einmal ansehen. Also Ihr werdet mir so viel Geld anvertrauen, als ich brauche, Sennor Alimpo?«

»Nehmt so viel Ihr wollt; nehmt Alles; habe es Euch ja bereits gesagt! Nicht wahr, meine Elvira?«

»Ja,« antwortete seine dicke Frau.

»Nun gut,« sagte der Pater. »Ich muß ein Pferd für ihn haben, vielleicht auch für mich eins. Gebt mir zweihundert Duros.«

»Zweihundert? Das ist zu wenig. Nehmt fünfhundert!«

»Ich brauche nicht so viel, wenigstens jetzt nicht; aber ich werde es doch nehmen, denn bei solchen Angelegenheiten ist es besser, man hat mehr als weniger.«

Er nahm das Geld und ging. Von Manresa waren nur zwei Wegstunden. Sein geistliches Gewand verschaffte ihm in der Anstalt leicht Zutritt. Er sah die Gräfin Rosa. Er erfuhr, daß sie niemals ein Wort spreche und nur sehr wenig genieße. Sie war noch immer schön; aber ihre Schönheit war diejenige eines Wesens, welches dem Grabe entgegengeht. Sie hielt sich stets auf dem kleinen Friedhof auf, welcher zur Anstalt gehörte, sie betrat ihn bereits früh, betete daselbst den ganzen Tag und konnte des Abends nur mit Gewalt nach ihrer Zelle gebracht werden. Es war jetzt Winter geworden, und der Schnee lag fußhoch auf dem Friedhofe; der Aufenthalt auf demselben mußte die körperliche Gesundheit der bereits geistig Kranken vollständig untergraben, aber es kümmerte sich Niemand um dieselbe.

Nachdem der Pater das Alles erfahren und gesehen hatte, kehrte er nach Barcelona zurück. Hier kaufte er ein Pferd und einen Maulesel; das Erstere für Sternau und den Letzteren für sich, ließ aber die Thiere bei dem Händler stehen, um sie erst im Augenblicke des Gebrauchs abzuholen.

So vergingen abermals Wochen, und die Weihnachtszeit rückte heran. Da, am heiligen Abend, hatte er den Schließer besucht und erfuhr von demselben, daß ein Gefangener im Sterben liege; er sei nicht allein in seiner Zelle, sondern stecke mit dem deutschen Arzte zusammen. Der Pater jubelte im Stillen, ließ sich jedoch äußerlich nichts merken. Der Schließer bat ihn, mitzukommen. Er steckte den großen Schlüsselring zu sich und brannte die Laterne an. In der Nähe der Thür hingen zwei große Thorschlüssel. Sie gehörten zwei Beamten, welche sie hier abzugeben hatten. Während der Schließer sich mit der Laterne zu schaffen machte,


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gelang es dem Pater, einen der Thorschlüssel unbemerkt an sich zu bringen; dann gingen sie nach der Zelle des Sterbenden.

Was dort und später passirte, wissen wir. Sternau mußte die Leiche tragen und entkam. Unterdessen hatte der Pater die beiden Thiere geholt und erwartete ihn auf der Straße nach Rodriganda. Es war zwar kein Wort zwischen ihnen gefallen; aber der Pater war überzeugt, daß der Arzt seine Flucht nur in der Richtung nach Rodriganda richten werde.

Als Sternau ein Pferd und ein Maulthier erblickte, auf welch' Letzterem ein Mann in geistlicher Kleidung saß, ahnte er, daß dies derselbe sei, der im Gefängnisse gewesen war.

»Erwartet Ihr Jemanden, frommer Vater?« fragte er.

»Ja.«

»Wen?«

»Euch, Sennor!«

»Ah, ich ahnte es. Man hat Euch abgesandt, mich zu befreien.«

»Ja. Steigt auf! Ihr seid doch ein Reiter?«

»Ja.«

»Wir müssen in zwei Stunden nach Manresa, selbst wenn die Thiere stürzen.«

»Warum so schnell? Warum nach Manresa und nicht nach Rodriganda?«

»Steigt nur auf, Sennor; ich werde Euch unterwegs Alles sagen, was Ihr erfahren müßt.«

Sternau stieg auf, und nun flogen sie so schnell auf der Strecke dahin, wie die Thiere laufen konnten. Der Arzt athmete die reine Winterluft mit Wonne ein. Nach einer langen Weile frug er:

»Ich kenne Euch noch nicht; ich habe Euch noch niemals gesehen. Nicht wahr, Contezza Rosa sendet Euch?«

»Nein.«

»Nein? Wer sonst?« fragte er erstaunt.

»Sennor Alimpo.«

»Der Kastellan? Ach so, also doch im Auftrage der Contezza.«

»Nein. Die Contezza ist krank; sie giebt keinen Auftrag mehr.«

Da erschrak Sternau auf das Tiefste.

»Krank?« fragte er. »Welche Krankheit hat sie?«

»Sie ist - -« Der Pater stockte vorsichtig und fuhr dann fort: »Sie hat dieselbe Krankheit, welche ihr an ihrem Vater heilen solltet.«

Es durchzuckte Sternau wie ein plötzlicher Schlag.

»Höre ich recht?« frug er. »Sie ist - - wahnsinnig?«

»Ja.«

»Wahnsinnig!«

Dieses Wort sagte er nicht, nein, er rief, er brüllte es förmlich in die stille, lautlose Nacht hinaus. Dann hielt er plötzlich sein Pferd an.

»Wo ist sie?« fragte er in höchster Angst.

»Im Stift der heiligen Veronika zu Larissa.«

»Dessen Oberin die Schwester Clarissa ist?«

»Ja.«


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»Ah, ich errathe!« knirschte er mit den Zähnen. »Die sogenannte Leiche des Grafen Emanuel ist begraben?«

»Ja.«

»Graf Alfonzo ist Nachfolger?«

»Ja.«

»Gasparino Cortejo ist bei ihm?«

»Ja.«

»Wo ist Schwester Clarissa?«

»Jetzt in ihrem Stifte.«

»Und der Kastellan?«

»Wohnt in Manresa. Er wurde fortgejagt; er gab mir Geld, diese zwei Thiere zu kaufen; er wird Euch noch mehr Geld geben, so viel Ihr zur Flucht braucht, Sennor.«

»Und Ihr? Wer seid Ihr? Warum interessirt Ihr Euch für mich?«

»Das werdet Ihr später erfahren.«

»Nein. Ich muß es jetzt wissen. In diesem Augenblicke entscheidet es sich, was ich zu thun haben werde.«

»Nun wohl, Sennor; ich befreie Euch, damit Ihr mir helfen sollt, den Lieutenant de Lautreville aufzusuchen.«

»Kennt Ihr ihn?«

»Ja; er ist der Graf Alfonzo de Rodriganda.«

»Ah! Also ganz wie ich es ahnte! Ihr werdet mir mehr sagen, jetzt aber kein Wort weiter; ich weiß genug. Aber, frommer Vater, habt Ihr einmal einen Mann gesehen?«

»Einen Mann?« frug der Pater verwundert.

»Ja. Wenn Ihr noch keinen gesehen habt, so sollt Ihr heute einen kennen lernen. Vorwärts!«

Er setzte sein Pferd wieder in Bewegung, und sie flogen durch die Nacht mit einer Schnelligkeit, daß sie von einem Sturmwinde kaum hätten erreicht werden können. Es waren noch nicht zwei Stunden vergangen, so sahen sie Manresa vor sich liegen.

»Wir lassen die Pferde hier vor der Stadt im Gasthaus,« sagte Sternau. »Es ist besser, wenn uns Niemand sieht.«

Sie stiegen ab, banden die dampfenden und vor Anstrengung zitternden Thiere im Stalle an und schlichen sich nach der Wohnung des Kastellans, welche sie unbemerkt erreichten.

Alimpo saß in seinem Stübchen und unterhielt sich mit seiner Elvira. Sie hatten einander ihre Weihnachtsgaben bescheert und gedachten Derer, welche heute wohl kein Weihnachtsfest feiern konnten. Da ging die Thür auf und Sternau trat herein, gefolgt von dem Pater, der hinter sich sogleich die Thür verriegelte.

»Sennor Sternau!« rief der Kastellan, indem er emporsprang.

»Sennor Sternau!« rief auch die Kastellanin.

Im nächsten Augenblicke hatten sie Beide seine Hände ergriffen, welche sie mit Küssen bedeckten.


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»O, nun ist Alles, Alles gut!« frohlockte Frau Elvira unter Freudenthränen. »Nun wird auch unsere liebe, gute Contezza wieder frei sein!«

»Ja, sie soll frei sein!« gelobte Sternau. »Frei und gesund! Und wehe diesen Giftmischern, wenn ich finden sollte, daß sie nicht zu heilen ist. Ich zermalme sie! Wir haben nicht viel Zeit, Sennor Alimpo, aber erzählt mir dennoch, was geschehen ist, doch schnell, sehr schnell!«

Der Kastellan folgte dieser Aufforderung. Als er geendet hatte, sagte Sternau nachdenklich:

»Die Contezza ist in der Gewalt dieser Menschen, gegen die ich nicht öffentlich auftreten kann, so lange ich mich in Spanien befinde. Ich bin aus dem Gefängnisse entflohen; ich will die Gräfin aus dem Stifte entführen; ich muß nach Rodriganda, um mir Einiges zu holen, was ich brauche; ich bin also von jetzt an ein dreifacher Verbrecher; ich muß noch heute mit der Contezza über die Grenze. Alimpo, gebt mir Geld! Ihr sollt es sehr bald wieder haben!«

»Alles, Alles sollt Ihr haben, Sennor Sternau!« lautete die Antwort.

Da trat Elvira vor und fragte:

»Ihr werdet die Gräfin befreien?«

»Ja, noch diese Nacht.«

»Und wohin geht Ihr mit ihr?«

»Ueber die Grenze nach Frankreich, und noch weiter dann, bis nach Deutschland, in mein Vaterland.«

»Sennor, ich gehe mit! Nicht wahr, mein lieber Alimpo?«

»Ja, wir gehen mit!«

Diese Worte waren mit einer solchen Entschiedenheit ausgesprochen, daß man hörte, es sei den beiden guten Leuten wirklicher Ernst damit. Sternau antwortete:

»Das geht nicht. Ich freue mich über Eure Treue; auch brauche ich sehr nothwendig eine Bedienung für unsere kranke Gräfin, aber Ihr könnt nicht so schnell fort von hier. Ihr habt Eigenthum und Sachen.«

»Sennor, wir gehen dennoch mit!« sagte Alimpo. Ich schwöre es, daß wir Euch und unsere liebe Gräfin nicht verlassen! Dieses Haus, in welchem wir wohnen, gehört meinem Neffen. Er wird uns nicht verrathen, er mag heute hören und sehen, was er wolle. Er wird auch unsere Sachen später verkaufen und mir den Ertrag nach Deutschland schicken.«

»Gut,« antwortete Sternau. »Wir haben keine Zeit, uns zu streiten. Ihr sollt mit uns gehen!«

»Dank, tausend Dank, Sennor!« rief Alimpo. »Nicht wahr, meine Elvira?«

»Ja, das werden wir dem Sennor niemals vergessen!« antwortete sie.

»Also Ihr wollt auch nach Rodriganda?« fragte er den Arzt.

»Ja.«

»Ich habe noch den Schlüssel zu einer der Seitenpforten.«

»Ich danke! Ich werde frei und offen in das Schloß gehen,« sagte Sternau stolz. »Sind noch viele der früheren Diener da?«

»Mehrere.«

»Gut. Habt Ihr eine Waffe, Alimpo?«

»Ja.«


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»Gebt sie mir!«

»Sennor, ich gehe mit!«

»Nein, Ihr bleibt! Ihr sollt Nichts thun, was Euch später Schaden bringt. Ich reite allein.«

»Sennor Sternau, allein lasse ich Euch nicht gehen,« sagte da der Mönch. »Ich begleite Euch auf alle Fälle!«

»Ihr werdet Euch nur Schaden machen, frommer Vater!«

»Ich mir? Nein! Ihr werdet später erfahren, daß ich Recht habe; ich brauche mich nicht zu fürchten!«

»So reitet mit! Alimpo mag sich unterdessen zur Abreise vorbereiten.«

»Soll ich einen Wagen besorgen?« fragte der Kastellan.

»Nein,« antwortete Sternau. »Es liegt jetzt auf allen Wegen Schnee, was in Spanien allerdings eine Seltenheit ist; nicht Wagen brauchen wir, sondern Schlitten. Ich bringe welche mit.«

»Woher?«

»Aus Schloß Rodriganda.«

»Sennor!« rief da Alimpo erschrocken. »Ihr werdet Euch verrathen!«

»Pah, ich werde mich offen zeigen und für die Gräfin Rosa zwei Reiseschlitten verlangen. Ich werde sehen, ob man es wagt, sie mir zu verweigern. Vorwärts, Pater!«

Er steckte die geladene Waffe zu sich, dann verließen sie das Haus. Er fühlte, daß er jetzt tausend Leben wagen würde, auch den stärksten Widerstand zu besiegen. Rosa mußte frei werden, um jeden Preis!

Nach kurzer Zeit flogen sie auf der Straße von Larissa dahin. Es war nicht viel über eine halbe Stunde vergangen, als sie das Städtchen erreichten. Der Pater lenkte um dasselbe hinum, auf einen einzeln stehenden Gebäudecomplex zu, der sich finster aus dem schneebedeckten Felde erhob.

»Wie kommen wir hinein?« fragte Sternau.

»Ueber die Friedhofsmauer,« lautete die Antwort.

Diese Mauer lag gerade vor ihnen. Sie war nur drei Ellen hoch, so daß sie, da sie zu Pferde saßen, über dieselbe hinweg blicken konnten. Jetzt hielten sie hart daran. Sternau sah hinüber und deutete nach einer dunklen Gestalt, welche vollständig unbeweglich zwischen den Gräbern kniete.

Sternau sah hinüber und deutete nach einer dunklen Gestalt,

»Was ist das?« fragte er. »Ein Monument?«

Der Pater sah schärfer hin und antwortete entsetzt:

»Bei Gott, das ist sie!«

»Wer? Doch nicht etwa die Gräfin!«

»Und doch! Sie ist es!«

»Zu dieser Zelt! In dieser Kälte! In diesem Schnee! Ah, ich verstehe! Sie soll erfrieren; sie soll auch körperlich erkranken! Daß sie entflieht, braucht man ja nicht zu besorgen. O, Ihr Schurken! Aber Ihr macht es mir dadurch um so leichter!«

Er stieg vom Sattel auf die Mauer und sprang dann jenseits von derselben herab. Nun schritt er auf die Gestalt zu. Sah sie ihn? Hörte sie sein Kommen? Nein. Sie kniete zwischen den Gräbern im tiefen, hart gefrorenen Schnee; sie


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bewegte nichts als nur die Lippen - sie betete. Er erkannte sie sofort, trotz des härenen Gewandes, in welches sie gekleidet war, trotz der eingesunkenen Augen und Wangen und trotz der leichenhaften Blässe, welche der helle Sternenschimmer auf ihrem Gesichte erkennen ließ.

»Rosa!« sagte er mit zitternder Stimme.

Sie hörte es nicht.

»Rosa,« bat er sie, »blicke mich an!«

Auch dies hörte sie nicht.

Er kniete neben ihr nieder und nahm sie in seine Arme. Er küßte sie und nannte sie bei den zärtlichsten Namen, sie aber hörte und fühlte es nicht. Sein Herz krampfte sich zusammen vor unendlichem Schmerz über den Anblick des einst so holden Wesens; er aber durfte nicht zaudern. Er nahm sie auf die Arme und trug sie zur Mauer. Dort gab er sie dem Pater hinüber und nahm sie dann, als er die Mauer übersprungen hatte und wieder aufgestiegen war, zu sich auf das Pferd.

»Nun wieder zurück!« sagte er.

Im eiligsten Laufe schlugen die beiden Reiter jetzt den Weg nach Rodriganda ein. Als sie das Schloß vor sich erblickten, hielt Sternau sein Pferd an und sagte:

»Jetzt habt Ihr genug für uns gethan, mein guter Vater. Was nun kommt, das ist zu gefährlich. Es kann als ein Verbrechen gelten; seid so gut, nach Manresa zu reiten und dort auf mich zu warten!«

»Sennor, ich bleibe bei Euch!« sagte der Pater.

»Ich gebe dies nicht zu!«

»Nun, so will ich Euch sagen, daß dieser Graf Alfonzo und dieser Cortejo auch meine Todfeinde sind. Sie mögen mich zeihen, wessen sie wollen, ich fürchte sie nicht. Reitet nur zu, Sennor!«

»Steht es so, so sollt Ihr Euren Willen haben!«

Sie ritten durch das Dorf. In der Venta erblickte man noch Licht. Sternau drängte sein Pferd an das kleine Fenster, durch welches es schimmerte, und klopfte. Nach einiger Zeit wurde es sehr vorsichtig geöffnet und ein mit einer großen Nachtmütze bewaffneter Kopf ließ sich bei dem Scheine der Lampe erkennen.

»Was giebt es?« fragte der Mann. Es war der Wirth.

Der Arzt neigte sein Gesicht vom Pferde bis zu dem Fenster nieder und fragte:

»Blickt einmal her! Kennt Ihr mich?«

»O Gott! Sennor Sternau!« rief der Besitzer der Venta. »Ist dies möglich?«

»Ja, ich bin es. Wollt Ihr mir einen Gefallen thun?«

»Gern! Welchen?«

»Geht einmal zum Alkalden und sagt ihm, er soll mit den Dorfältesten nach dem Schlosse kommen!«

»Was sollen sie dort?«

»Das werden sie erfahren.«


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Sie eilten weiter und der Wirth sah ihnen kopfschüttelnd nach.

»Der Sennor Doktor!« brummte er. »Woher kommt er? Was hatte er auf dem Pferde? Das sah aus, gerade wie eine menschliche Gestalt! Und der Andere war ein Mönch. Fast möchte ich behaupten, daß es ganz derselbe sei, der damals hier in meiner Venta einkehrte!«

Als die beiden Reiter das Schloß erreichten, stiegen sie vom Pferde. Man sah kein einziges Fenster erleuchtet, und nur aus der Portiersloge schimmerte ein halber Lichtschein. Sternau klopfte, und gleich darauf trat der Portier an das Gitter.

»Wer ist draußen?« fragte er. »Es wird zur Nachtzeit nicht geöffnet!«

»Und dennoch wirst Du öffnen, Henrico!« sagte Sternau. »Ich hoffe, daß Du mich noch kennst?«

Der Portier war bei dem Klange dieser Stimme freudig erstaunt zurückgefahren.

»Sennor Sternau! Mein Gott! Ja, ja, ich öffne sogleich!«

Er beeilte sich, das Gitter aufzuschließen, und Sternau trat ein, die Wahnsinnige auf dem Arme. Der Portier sah es und erkannte sie. Fast hätte er das Licht fallen lassen.

»Heilige Madonna!« rief er. »Das ist ja die Contezza!«

»Allerdings. Weißt Du nicht, ob sich ihre Zimmer noch in der alten Ordnung befinden?«

»Es ist gar nichts daran geändert worden. Ich habe die Schlüssel hier, denn es ist noch kein Kastellan wieder angestellt worden.«

»So nimm den Schlüssel und leuchte uns voran.«

»Soll ich nicht den Grafen wecken?«

»Wecken werden wir erst später. Komm'!«

»Oder doch die Dienerin der Contezza?«

»Ist diese noch da?«

»Ja. Sie hat die Schwester Clarissa zu bedienen, wenn diese zu Besuch nach Rodriganda kommt.«

»So wecke sie. Aber das soll Alles in der Stille geschehen.«

Es war dem Arzte jetzt vor allen Dingen darum zu thun, den Eindruck zu beobachten, welchen die bekannte Wohnung auf die Kranke machen werde. Die Zimmer wurden aufgeschlossen, Sternau trug Rosa hinein und ließ sie auf den Divan nieder. Sofort aber glitt sie zu Boden, um mit gefalteten Händen zu beten. Sie bemerkte es gar nicht, daß sie den kalten Friedhof mit ihrer früheren Wohnung vertauscht hatte. Sternau ließ sich gar nicht merken, was er fühlte; übrigens trat jetzt das Mädchen herein. Diese war ganz außer sich vor Freude, ihre Herrin zu sehen, und Sternau befahl ihr, die Gräfin zu einer weiten Reise an- und umzukleiden. Sodann gab er dem Portier die Ordre, sämmtliche Diener im Speisesaale zu versammeln. Er selbst schritt nach der Wohnung des Grafen Alfonzo. Im Vorzimmer schlief ein Diener, der sich sehr erstaunt aufrichtete, als er Sternau erkannte. Der Doktor wies ihn hinaus und trat bei Alfonzo ein.

Dieser lag im Bette und schlief. Eine Ampel erleuchtete das Gemach zur


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Genüge. Ohne nur einen Augenblick zu zaudern, erhob Sternau die Faust und schlug sie dem Schläfer vor die Stirn.

»So,« meinte er lächelnd, »todt ist er nicht, aber besinnungslos. Ich werde ihn nun fesseln.«

Er fand einige Tücher, die als Fesseln und Knebel verwendet wurden; dann verließ er das Zimmer, schloß es hinter sich zu und steckte den Schlüssel ein. Sein Weg führte ihn nun zu der Wohnung des Advokaten. Diese war verschlossen. Er klopfte.

»Wer ist da?« frug nach einer Weile die Stimme Cortejo's von innen.

»Ich. Oeffne mir!« antwortete Sternau, indem er die Stimme Alfonzo's nachahmte.

»Donnerwetter! Was giebt es denn? Hat es keine Zeit?« frug er Advokat gähnend.

»Nein.«

»So komm'! Aber neugierig bin ich.«

Man hörte, daß er aus dem Bette stieg und den Schlafrock anzog. Dann kam er näher geschlürft und öffnete. Es war dunkel auf dem Corridore, so daß er nicht sah, wer draußen stand.

»Nun, nur näher, Alfonzo!« sagte er. »Was kommt Dir denn in den Sinn, daß Du so spät - - -«

Er hielt mitten in der Rede inne, denn der Schreck raubte ihm die Sprache. Sternau war eingetreten und hatte die Thür hinter sich zugezogen. Das Nachtlicht beleuchtete ihn zur Genüge, so daß der Notar ihn erkannte und vor ungeheurer Bestürzung vergaß, seine Rede zu vollenden.

»Ihr scheint meine Stimme verkannt zu haben,« sagte Sternau in einem Tone, der kalt wie Eis und spitz wie Stahl klang.

»Sternau!« murmelte jetzt der Notar.

Zu einem lauten Worte konnte er es noch nicht bringen; aber er machte doch eine Bewegung, als wolle er nach der Thür springen. In demselben Augenblicke jedoch schlug ihm der Arzt die Faust vor den Kopf, daß er wie ein Sack zu Boden stürzte. Eine Minute später war er gefesselt und geknebelt, wie vorher Graf Alfonzo. Sternau schloß ihn ein und begab sich nach dem Saale, wo die Diener in Erwartung dessen standen, was da kommen solle. Auch der Alkalde mit dem Aeltesten des Dorfes war bereits zugegen. Das hatte Sternau wissen wollen. Er gebot den ,Leuten, den Saal nicht zu verlassen und auf seine Rückkehr zu warten, und begab sich wieder zu dem Advokaten, welcher unterdessen wieder zur Besinnung gekommen war. Er setzte sich neben ihm nieder und begann:

»Sennor Cortejo, ich habe Euch gefesselt, um ungestört ein Wort mit Euch zu sprechen. Hört mich an! Daß Ihr der größte Hallunke der Erde seid, wißt ihr ja, und ich brauche es Euch also nicht erst zu sagen, aber ebenso wenig werdet Ihr Euch darüber verwundern, daß ich Euch als Hallunken behandele. Ihr habt mich verrathen und in die Gefangenschaft verkauft - - -«

Der Gefesselte machte vor Angst eine verneinende Kopfbewegung. Sternau aber fuhr fort:

»Lügt nicht! Es hilft Euch nichts! Ich bin wieder frei; Euer Verrath hat


Ende der neunten Lieferung - Fortsetzung folgt.



Karl May: Waldröschen

Karl May – Forschung und Werk