Lieferung 47

Deutscher Wanderer

9. August 1884

Die Liebe des Ulanen.

Original-Roman aus der Zeit des deutsch-französischen Krieges von Karl May.


// 737 //

Einige Wochen später fuhr eine Droschke erster Klasse an einem breiten Hauseingange einer der belebtesten Straßen Berlins vor. Der Insasse, ein langer, schmächtiger Herr in elegantem Reiseanzuge, aus dessen ganzem Aeußeren man den Franzosen vermuthen konnte, stieg aus und trat in den Flur. Dort gab es linker Hand eine Glasthür, an deren Scheibe dieselben Worte wie auf der über dem Thore angebrachten Firma zu lesen waren: »Samuel Cohn, Bank-Geschäft und Länderagentur.«

Der Fremde öffnete diese Thür, trat ein und fragte den in diesem Raume befindlichen Commis in französischer Sprache:

»Ist Monsieur Cohn zu sprechen?«

»Ja, Monsieur; der Chef ist soeben gekommen,« antwortete der Commis mit einer sehr gewandten Verbeugung, aber in einem desto weniger gewandten Französisch.

»Hier, mich melden!«

Er gab dem Jünglinge die Karte. Kaum hatte dieser einen Blick auf dieselbe geworfen, so zog er, fast wie ein Kautschukmann eine abermalige Verbeugung, welche aber alle zweiunddreißig Richtungen der Windrose durchlief, und sprang dann mit einer Eilfertigkeit davon, als sei er in jeder dieser Richtungen von fünf Taranteln und zehn Scorpionen gezwickt und gebissen worden.

Er durcheilte das nächste lange, aber schmale Zimmer, in welchem mehrere Commis an Stehpulten arbeiteten, riß dann eine Thür auf und schrie hinein:

»Herr Cohn, Herr Cohn, Herr Samuel Cohn, beeilen Sie sich schleunigst zu beginnen sich zu erheben, um aufzustehen von dem Stuhle, auf welchem Sie doch nicht in sitzend ausruhender Stellung empfangen können den Herrn, welcher auf französische Manier präsentirt eine Karte mit der Krone eines Grafen und begehrt zu sprechen das Bankgeschäft und die Länderagentur des Herrn Samuel Cohn in Berlin.«

Der Prinzipal riß dem Commis die Karte aus der Hand, betrachtete sie nur den fünfzigsten Theil einer Secunde und antwortete dann, dem Jüngling eine tiefe Verbeugung machend, welche eigentlich dem zu erwartenden Besuche galt:

»Eine Krone, ein Graf! Seltene Ehre! Feines Geschäft jedenfalls! Mag eintreten!«

Der Commis wollte zurück, rannte dabei im Umdrehen aber an den Fremden, welcher bereits hinter ihm stand, da er es nicht für opportun gehalten hatte, zu warten.

»Monsieur Cohn?« fragte er in stolzem Tone.

»Habe die Ehre, habe die große Ehre! Bin Cohn selbst, Samuel Cohn vom Bank- und Ländergeschäft!«

Diese Worte stieß der Chef unter einem Dutzend seiner tiefsten Verbeugungen hervor und zog die Thür dabei hinter dem schnell eintretenden Fremden zu. Dieser ließ sich ohne Aufforderung und alle Umstände in den hier befindlichen Divan nieder, zog eine Cigarre hervor, setzte sie in Brand und sagte dann:

»Ich bin Graf Jules Rallion - - -«

Der Bankier wollte mit einer Fluth von Höflichkeiten antworten; aber der Franzose schnitt ihm dieselbe durch eine rasche Handbewegung ab und fuhr fort:

»Keine überflüssigen Worte! Ich liebe im Geschäfte die Kürze. Ich will mit Ihnen ein Geschäft machen.«

»Da wird Heil wiederfahren meinem - - -«

»Lassen Sie das Heil fahren, wohin es will! Die Hauptsache ist das Geschäft. Ist Ihnen der Name Königsau bekannt?«

»Königsau? Ja, ja! Guter Name, gute Zahler, feine Leute, pünktliche - - -«


// 738 //

»Gut, gut! Wissen Sie, wo die Familie wohnt! Aber antworten Sie möglichst mit kurzen Worten.«

»Ganz wie der Herr Graf befehlen! Diese Familie bewohnt das Gut Breitenheim in der Nähe von Nordenburg. Sie besitzt noch ein zweites Gut, welches an das erstere grenzt und - - -«

»Schon gut! Ich weiß das! Wissen Sie vielleicht, ob diese beiden Güter verkauft werden?«

Der Jude zog ein langes Gesicht und antwortete dann in verwundertem Tone:

»Verkauft? Nein. Warum sollten werden die Güter verkauft? Hat doch die Familie nicht einen Heller Schulden, oder Hypothek auf ihnen.«

»Das ist mir egal!« antwortete der Graf in zurechtweisendem Tone. »Ich will die Güter kaufen. Ich bin durch jene Gegend gekommen, und sie hat mir gefallen. Ich suche Ihre Vermittelung. Wenn Sie denken, daß Sie nichts thun können, so wende ich mich an einen anderen Agenten.«

Der Jude erschrak. Er versuchte zwar noch einmal den Einwand:

»Aber der Besitzer beabsichtigt ja gar nicht, zu verkaufen.«

Doch da erhob sich der Graf von seinem Sitze und meinte:

»Gut! Wenn Sie kein Geschick haben, den Besitzer zum verkaufen zu bewegen, so suche ich mir einen gewandteren Vermittler.«

Da sprang ihm der Agent in den Weg und rief:

»Bleiben Sie, erlauchter Graf! Gehen Sie nicht fort, durchlauchtigster Monsieur! Was ein Anderer kann, das bringt Samuel Cohn auch zu Stande. Sagen Sie mir nur, ob Sie die Güter partout haben wollen.«

»Partout.

»Das heißt, um jeden Preis?«

»Um jeden Preis.«

»Aber das wird Ihnen kosten ein großes und schweres Geld.«

»Was geht das Sie an! Wissen Sie, welchen Werth sie haben?«

»Nein. Wie viel wollen Sie an diesen Besitz wenden?«

»Bieten Sie, bis man zuschlägt. Die Summe bezahle ich.«

»Wann, und in welcher Weise, gnädigster Herr?«

»Sofort und baar.«

»Anweisung würde genügen.«

»Ich bezahle baar; dabei bleibt es,« meinte Rallion hartnäckig.

So ein Geschäft und so ein Mann war dem Bankier noch nicht vorgekommen. Dieser Franzose trat auf wie ein Engländer, der seine Guineen gar nicht zählen kann.

»Gut! Schön!« meinte Cohn. »Ich werde sprechen in eigener Person mit Herrn von Königsau. Wann soll ich reisen?«

»Sofort.«

»Wohin soll ich geben die Nachricht von meinem Erfolge?«

»Ich reise mit Ihnen bis Rastenburg. Dort erwarte ich Ihren persönlichen Bericht. Ihr Honorar können wir unterwegs besprechen. Vorher aber muß ich eine Bedingung machen. Mein Name darf nicht genannt werden. Der Besitzer darf nicht wissen, daß ich es bin, welcher die Güter kauft. Ist dies möglich zu machen?«

»Es ist nicht leicht; aber Samuel Cohn verspricht, möglich zu machen, was möglich ist.«

»Wohlan, so fahre ich nach dem Bahnhofe voraus; beeilen Sie sich nachzukommen! Ich bin nicht gewohnt, zu warten.«

Er ging und ließ den Agenten in einem Seelenzustand zurück, welcher die größte Aehnlichkeit mit einem Rausche hatte. Trotz dieser Aufregung und trotz Allem, was in größter Eile noch zu besorgen war, gelang es dem Agenten, den Bahnhof noch vor Abgang des betreffenden Zuges zu erreichen. Er nahm die Beiden mit sich fort.

Und einige Tage später rollte ein eleganter Miethswagen auf der Straße dahin, welche von Nordenburg nach Darkehmen führt. Diese Straße durchschneidet den zu dem Gute Breitenheim gehörigen Wald, wo links ein Fahrweg abgeht, auf welchem dasselbe zu erreichen ist.

In diesen letzteren bog die Kutsche ein und fuhr nach ungefähr fünf Minuten in den offenen Hof der Besitzung. Ein junger, elegant gekleideter und wohlfrisirter Herr stieg aus. Zwei der auf dem Hofe befindlichen Knechte eilten herbei zu seinem Dienste. Er trat ihnen entgegen und fragte in einem ein wenig fremden Dialecte:

»Dieses Gut gehört Herrn von Königsau?«

»Ja, mein Herr,« antwortete der Eine der Beiden.

»Ist dieser Herr zu Hause und zu sprechen?«

»Er ist daheim und hoffentlich auch zu sprechen. Wollen Sie die Güte haben, mir zu folgen.«

Er wurde über den sehr sauber gehaltenen Hof nach dem Herrenhause geführt und dann, in einem Vorzimmer angelangt, wo er seine Karte abgab, gebeten, einen Augenblick zu verziehen. Der Knecht, welcher in augenblicklicher Abwesenheit eines Dieners dessen Stelle vertrat, kehrte sehr rasch zurück und bat den Fremden, ihm zu folgen. Sie gelangten durch zwei Zimmer hindurch in ein drittes, welches augenscheinlich die Bibliothek des Besitzers war. Karten und Pläne lagen auf den Tischen und Stühlen, und an allen drei Wänden ragten Gestelle voller Bücher bis zur Decke empor. Hier war alles einfach; keine Spur von Luxus ließ sich sehen, und doch machte dieses Arbeitszimmer den Eindruck einer anspruchslosen und unbewußten Vornehmheit.

An dem mittleren der drei hohen und breiten Bogenfenster stand ein bequemer Sorgenstuhl, in dessen Kissen eine männliche Gestalt ruhte, deren Eindruck man gleich auf den ersten Augenblick einen imponirenden nennen mußte.

Schneeweißes aber kurz geschnittenes Haar ließ die Formen eines edel gewölbten Schädels deutlich erkennen; ein dichter Vollbart von eben derselben Farbe umrahmte ein leicht gebräuntes schönes Greisenangesicht, aus welchem ein Paar Augen blickten, so hell, so klar, wie man es bei so hohem Alter selten zu bemerken pflegt. Ueber diesem Angesichte lag es wie ein milder Seelenfrieden ausgebreitet, und doch konnte man bei näherer Betrachtung zwei kleine Fältchen nicht unbemerkt lassen, welche, obwohl von den Spitzen des Schnurrbartes leicht verdeckt, sich an den Mundwinkeln schräg vorüberzogen und eine leichte Störung dieses Seelenfriedens zu bedeuten schienen. Die Gestalt dieses Mannes, welcher ein geöffnetes Buch in der Hand hielt, in welchem er soeben mit noch unbewaffnetem Auge gelesen hatte, war hoch und breit. So und nicht anders mußten die Recken Carls des


// 739 //

Großen gebaut gewesen sein, welche mit größter Leichtigkeit Rüstungen von solcher Schwere trugen, daß ein jeder Andere zur Erde niedergedrückt worden wäre.

Seinem Stuhle gegenüber, an dem Pfeiler, an welchem ein hoher und breiter Spiegel befestigt war, stand ein zweites Ruhemöbel, halb Bette und halb Stuhl. In den darauf befindlichen Kissen erblickte man, halb sitzend und halb liegend, eine Frauengestalt, welche nicht weniger Interesse erregte als der vorher Beschriebene.

Unter starken und langen schneeweißen Locken, welche jetzt zu einer Art Kranz geflochten waren, erblickte man einen unbeschreiblich schönen Matronenkopf. Zwar zeigte das Gesicht desselben eine krankhafte, fast wächserne Blässe; aber das milde Licht, welches aus den großen, dunklen Augen strahlte, der versöhnliche Ernst, welcher auf der trotz des Alters noch faltenfreien Stirn thronte, die fast noch jugendlich zu nennende Rundung der Wangen, das Kinn, welches weder zu voll noch zu spitz und scharf in den weißen Hals überging, sie bildeten zusammen eine löbliche Demonstration der Wahrheit, daß der Mensch nicht alt werden kann, so lange das Herz gesund bleibt. Nur die Lippen, einst jedenfalls voll, schön entworfen und zum Küssen einladend, waren dünner und bleicher geworden, und ihre etwas zusammengezogene Stellung gegen einander ließ vermuthen, daß diese Greisin in unbewachten und unbeobachteten Augenblicken den Mund heimlich zusammenpresse, um innere Schmerzen zu unterdrücken und zu verbergen, welche von den Ihrigen nicht geahnt und entdeckt werden sollten.

Der untere Körper dieser Dame war bis über die Füße herab mit einer wollenen Decke verhüllt. Sollte diese Greisin, deren Auge noch so froh und jugendlich zu lächeln verstand, ein von ihr aus Liebe nicht eingestandenes Leiden in sich tragen, welches von den Füßen auf begonnen hatte, dem Körper die so nothwendige Lebenswärme zu entziehen?

Diese Beiden, der Greis und die Matrone, wer waren sie? Hugo von Königsau, der einstige Liebling Blüchers, und Margot, seine Frau, welche das Glück an seiner Seite der Liebe eines Kaisers vorgezogen hatte.

Aus dem ehrwürdigen Haare Hugo's lief ein rother, fingerbreiter Streif schräg bis über die Hälfte der Stirn herab. Das war die Narbe jenes verhängnißvollen Hiebes, welcher ihm fast das Leben gekostet und in sein Gedächtniß eine unausfüllbar scheinende Lücke gerissen hatte.

Margot hielt die Hände wie zum Gebete gefaltet, aber nicht zu einem Gebete, welches sich in Worte kleidet, sondern zu jenem Gebete, welches unbewußt aus dem Auge blickt, von der Wange strahlt, um die Lippen lächelt und um den ganzen Menschen weht, wie der süße, reine Duft den Kelch der bescheidenen Resedablüthe umzittert.

Ihr Auge war auf die Mitte des Zimmers gerichtet, wo ein Knabe auf Händen und Füßen hin und wieder trabte, um den englischen Zelter vorzustellen, auf welchem eine kleine allerliebste Reiterin saß und seinen Rücken mit den quatschigen Fäustchen tractirte, um den armen, bereits schwitzenden Gaul aus dem Trabe gar noch in den Galopp zu treiben. So ein kleines Tausendschönchen weiß eben auch bereits schon ganz genau, daß es sich ungestraft erlauben darf, das gutmüthige stärkere Geschlecht in Zaum und Zügel zu nehmen.

Und daneben stand, diese Gruppe betrachtend, mit glückstrahlendem Auge eine liebe, milde Madonnengestalt, die Mutter dieser beiden schönen Kinder, und doch noch so jungfräulich angehaucht, als ob die Liebe noch gar nicht da gewesen sei, ihr Herz, Mund und Sinn zu erschließen - Ida von Rallion, die Frau Gebhardt von Königsaus, welcher leider jetzt in der Ferne weilte.

Dieses Stilleben wurde durch den Knecht unterbrochen, welcher eintrat, um eine Karte zu überbringen und dabei zu melden, daß ein fremder Herr angekommen sei und nach Herrn von Königsau gefragt habe. Hugo nahm die Karte, warf einen Blick auf dieselbe und las laut:

»Henry de Lormelle. Diesen Namen kenne ich nicht. Hast Du ihn vielleicht einmal gehört, beste Margot?«

»Nie,« antwortete die Matrone.

»Oder Du, liebe Ida?«

»Ich auch nicht, Papa.«

»Nun, wir werden ja gleich sehen. Ich bitte den Herrn, einzutreten.

Diese Worte waren an den Knecht gerichtet, welcher sich entfernte, um den Fremden herbei zu bringen. Als derselbe eintrat, grüßte er stumm, aber mit einer Verbeugung, welche bewies, daß er gewohnt sei, sich in guter Gesellschaft zu bewegen. Er wurde nicht mit jenen kalten, neugierig oder gar zudringlich fragenden und taxirenden Blicken empfangen, mit denen in manchen Familien der zum ersten Male Zutritt Nehmende begafft, beleidigt oder gar verwundet wird, sondern Königsau legte sein Buch weg, erhob sich, ging ihm entgegen, reichte ihm die Hand und begrüßte ihn französisch, da er aus dem Namen schließen konnte, daß der Besuch ein Franzose sei.

»Willkommen, Monsieur de Lormelle! Ich heiße Königsau, und diese Damen sind meine Frau und die Gattin meines Sohnes. Die Enkel spielen dort Cavallerie, was ich gütigst zu entschuldigen bitte. Ebenso mögen Sie verzeihen, daß meine Frau sich nicht erheben kann. Ihr Leiden verhindert sie, Sie anders als sitzend zu begrüßen.«

Das klang so warm, so herzlich, als ob der Franzose bereits seit Jahren Bekannter der Familie sei. Er schritt auf Margot zu, küßte ihr die Hand und sagte:

»Ich würde es sehr beklagen, wollten Sie sich meinetwegen auch nur eine Spur von Schmerz bereiten, Madame. Gott lasse Sie gesunden durch die Freude, welche Sie an diesem herzlichen Bild haben müssen, eine Freude an welcher die Mama dieser reitenden Cavallerie sicherlich theilnehmen wird!«

Dabei deutete er mit der Linken auf die beiden Kinder und ergriff mit der Rechten auch die Hand Idas, um sie zum chevaleresken Gruße an seine Lippen zu ziehen.

Das Alles geschah so gewandt, so ungesucht, daß es auf die Familie den besten Eindruck machte.

»Nehmen Sie Platz!« meinte Königsau. »Und denken Sie, bei Freunden oder Bekannten zu sein.«

Der Fremde verbeugte sich dankend und antwortete deutsch:

»Unter Bekannten pflegt man sich der Sprache des Hauses zu bedienen. Gestatten Sie mir, in der Ihrigen zu sprechen und verzeihen Sie mir die Regelwidrigkeiten, welche zu unterlassen, ich nicht vermögen werde.«

»Wir werden möglichst milde Richter sein,« meinte Margot, indem sie ihm mit einem freundlichen Lächeln zunickte.

»Davon bin ich überzeugt,« antwortete er. »Ich werde ja bereits im ersten Augenblicke von der angenehmen Gewißheit berührt, mich einem Familienkreise genähert zu haben, in


// 740 //

welchem Liebe, Güte und Milde das Scepter führen. Dies ist mir um so wohlthuender, als ich wirklich in der Ueberzeugung, hier einen Freund zu finden, um Erlaubniß zum Zutritt ersuchte.«

»Einen Freund?« fragte Ida. »O, da ist es ja nicht anders möglich, als daß Sie meinen Gatten meinen.«

»Gebhardt?« fragte die Matrone. »Solltest Du richtig rathen?«

»Die gnädige Frau hat sich nicht geirrt,« sagte Henry. »Ich berührte auf meiner Reise nach Petersburg diese Gegend und erinnerte mich dabei der Heimath meines Freundes Gebhardt von Königsau, welchen ich in Algerien kennen gelernt habe.«

»In Algerien?« fragte Hugo. »Herr de Lormelle, Sie bereiten uns da eine höchst angenehme Ueberraschung. Mein Sohn ist leider gegenwärtig von der Heimath abwesend, aber Sie sollen trotzdem in Ihrer Ueberzeugung, hier Freunde zu finden, nicht getäuscht werden. Ich heiße Sie nochmals und zwar von ganzem Herzen willkommen.«

Er gab ihm die Hand zum zweiten Male und fuhr dann fort:

»Sie lassen uns doch hoffen, daß Petersburg Sie nicht gar zu sehnlichst erwartet?«

»Ich reise allerdings nur zum Vergnügen,« antwortete Henry, »werde aber in der Stadt an der Newa doch vielleicht bereits erwartet.«

»O, was das betrifft, so hat man jenseits der Grenze genugsam gelernt, sich in Geduld zu üben. Eine kurze Ruhepause auf Breitenheim wird Ihnen wohl erlaubt sein. Nicht wahr, Richardt?«

Diese letztere Frage war lächelnd an den Knaben gerichtet worden, welcher sein Schwesterchen abgeworfen hatte, um herbei zu treten und, die Hände auf den Rücken gelegt, mit komisch wirkender Kennermiene den Fremden zu betrachten.

»Es wird sich gleich finden, ob ich es ihm erlaube, lieber Großpapa,« antwortete der Knabe wichtig.

»So, so!« lachte der Großvater und Alle stimmten in sein Lachen ein.

Der kleine Richardt aber blieb ernsthaft und fragte:

»Sie haben meinen Papa gesehen, Monsieur?«

»Ja,« antwortete Henry, sich zu gleichem Ernste zwingend.

»Hat er Sie lieb gehabt?«

»Ja, und ich ihn auch, wie ich gern gestehen will.«

»Nun, das ist die Hauptsache, und so können Sie also hier bleiben.

Gerade der gravitätische Ernst, mit welchem diese Worte ausgesprochen wurden, wirkte so Heiterkeit erregend, daß es gar nicht möglich war, an Worte wie »kindlich vorlaut« oder »von den Eltern verzogen« zu denken. Die ausdrücklich gegebene Genehmigung des Kindes, daß der Gast dableiben dürfe, bildete den Ausgangspunkt eines sehr animirten Gespräches, an welchem Alle gleich Antheil nahmen. Das kleine Enkelchen war in den Schooß der Mama geklettert; Richardt aber hatte sich in eine Ecke zurückgezogen und sich auf die unterste Stufe einer Treppenleiter gesetzt. Indem er dort eine Bildermappe durchstöberte, schien es, als ob er seine Aufmerksamkeit ganz allein auf diese richte; aber doch schweiften seine Augen häufig zu dem Gaste hinüber und blieben an dem Gesichte desselben hangen. Niemand bemerkte dies, als nur der allein, dem diese Blicke galten.

Später wurden dem Franzosen zwei Zimmer angewiesen, wobei man ihn bat, sich zunächst von der unbequemen Fahrt auszuruhen. Als er sich dort allein und ungestört wußte, trat er an den Spiegel, um sein Ebenbild zu studiren.


Ende der siebenundvierzigsten Lieferung - Fortsetzung folgt.



Karl May: Die Liebe des Ulanen

Karl May – Forschung und Werk