Lieferung 49

Deutscher Wanderer

23. August 1884

Die Liebe des Ulanen.

Original-Roman aus der Zeit des deutsch-französischen Krieges von Karl May.


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Kunz von Goldberg war mit der Post weiter gefahren und hatte über das Zusammentreffen mit Rallion ein innerliches Gaudium gefühlt. Welche Bedeutung diese Begegnung für die Familie Königsau haben sollte, davon hatte er keine Ahnung.

Auf Breitenheim richtete sein Erscheinen große Freude an. Er eilte gleich nach dem Aussteigen in das ihm wohlbekannte Zimmer, in welchem sich die Familie zu befinden pflegte, und traf hier Margot und Ida, ihre Schwiegertochter. Er umarmte Beide herzlich und fragte dann nach Königsau.

»Er befindet sich bei den Gästen,« antwortete Margot. »Ah, ich habe noch gar nicht gesagt, wen wir hier haben.«

»Ich werde es wohl erfahren.«

»Es ist der polnische Graf von Smirnoff, welcher sich als Käufer präsentirt, und ein Berliner Banquier, welcher seine finanzielle Beihilfe zu sein scheint. Mein Mann hat mit Sehnsucht auf Ihre Antwort gewartet, lieber Kunz.«

»Ich habe es vorgezogen, sie persönlich zu bringen und Ihnen meinen Beirath anzubieten, da Gebhardt nicht anwesend ist.«

»Wir sind Ihnen zu großem Dank verbunden. Welchen Bescheid aber bringen Sie uns?«

»Einen guten. Man sieht nicht die Spur eines Grundes ein, einer rein geschäftlichen Entschließung Eurerseits hindernd in den Weg zu treten, sondern, was ich mir gleich dachte, man sagt sich, daß Ihr Herr Eures Besitzes seid und mit demselben thun könnt, was Euch beliebt.«

»So befürchte ich, daß Hugo verkaufen wird!«

»Sie befürchten es?« fragte Goldberg, das mittlere Wort betonend. »Warum befürchten?«

»Glauben Sie nicht, daß man nur ungern von hier scheidet?«

»Das glaube ich Ihnen ohne alle Versicherung. Aber bedenken Sie die Vortheilhaftigkeit des Handels, welcher Ihnen in Aussicht steht.«

»Wiegt dieser pecuniäre Vortheil das auf, was wir nach unserm Wegzuge von hier vermissen werden?«

»Ja, das bin ich überzeugt, liebe Tante. Ich habe gar wohl geahnt, daß Sie gegen diesen Verkauf sein werden, und darum bin ich ja gekommen, um mit Ihnen zu sprechen.«

»Sie wollen mir zureden?«

»Ja, das gestehe ich Ihnen offen. Ich möchte Sie bitten, nicht allein Ihre Gefühle zu berücksichtigen, sondern vor allen Dingen an Ihre Kinder zu denken. Ihr kleiner Richard soll Offizier werden; da ist eine Vergrößerung des Vermögens um hunderttausend Thaler, oder gar noch mehr, sehr mit in Rechnung zu ziehen.«

»Das mag sein. Wir Frauen rechnen weniger nach Zahlen; unser Einmaleins ist das Gefühl, und das ist nicht immer untrüglich.«

»Sie werden also nicht dagegen sein, liebe Tante?«

»Nein,« antwortete sie mit einem milden Lächeln, in welchem sich fast eine Art Entsagung aussprach.

»Was hat Gebhardt geantwortet?«

»Auch er ist Ihrer Meinung. Wir sollen verkaufen.«

»Sehen Sie! Ich bin überzeugt, daß Sie die mit dem Verkaufe in Verbindung stehende Ortsveränderung bald überwinden werden, und hoffe, daß Onkel Königsau mir beistimmt.«

Er hatte richtig vermuthet. Königsau hatte fünfzigtausend Thaler mehr verlangt, und der Pole war mit der Bitte um eine kurze Ueberlegungsfrist hervorgetreten. Während derselben hatte er sich bei Rallion Instruction geholt und den Auftrag erhalten, die geforderte Summe zu zahlen. Rallion war ja überzeugt, nicht nur in den Besitz der beiden Güter


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zu gelangen, sondern die Kaufsumme auch wieder zu erhalten, welche er dann mit dem Capitän theilen wollte.

Der Handel wurde abgeschlossen und unter Hinzuziehung giltiger Zeugen mit gerichtlicher Hilfe rechtskräftig gemacht. Dann zahlte Smirnoff die vollständige Kaufsumme vor allen Anwesenden in baarem Gelde auf. Der geringste Theil bestand in wohlgezählten Goldrollen, das Andere aber in gewichtigen Kassenscheinen. Das Geld wurde geprüft und für richtig erklärt.

Diese hohe Summe hatte sich in dem Köfferchen befunden, welches Rallion bei sich geführt hatte. Auf die Frage nach der Rückgabe desselben hatte Smirnoff aus Höflichkeit erklärt, da er nun nicht mehr im Besitze des Geldes sei, so habe auch der Koffer keinen Werth mehr für ihn, und ihn dem Verkäufer geschenkt. Er ahnte gar nicht, wie schwer dieser Umstand in die Wagschale fallen werde.

Hugo von Königsau hatte den Koffer eigenhändig in sein Zimmer getragen und dort eingeschlossen. Ganz wie zufällig war ihm dabei auf dem Corridore Henry begegnet und dann nach den beiden Zimmern gegangen, welche ihm zur Wohnung angewiesen worden waren.

Dort öffnete Henry den großen Reisekoffer, welchen er mitgebracht hatte, räumte einige Wäschesachen zur Seite und zog zwei Gegenstände hervor. Der eine derselben war ein Köfferchen von ganz genau derselben Arbeit und Größe wie dasjenige, welches die Kaufsumme enthielt.

»Steine darin!« murmelte der Franzose. »Was für Augen wird der Alte machen, wenn er sie anstatt des Geldes findet.«

Dann nahm er den anderen Gegenstand in die Hand. Es war ein Bund mit zahlreichen Nachschlüsseln.

»Ein Dietrich ist doch eine hübsche Erfindung,« flüsterte er leise vor sich hin. »Dieser Schlüssel öffnet die Zimmerthür und dieser andere hier den Schrank, in welchen der Alte allem Vermuthen nach den Koffer eingeschlossen hat. Jetzt nun gilt es, zur raschen That zu schreiten!«

Er steckte die beiden Schlüssel ein; da hörte er, daß Sand gegen sein Fenster geworfen wurde. Er lauschte. Abermals Sand! Schnell versteckte er den kleinen Koffer wieder in den großen und verschloß den Letzteren. Dann trat er an das Fenster und öffnete es.

»Pst!« hörte er es unten erklingen.

»Wer ist da?« fragte er so leise wie möglich.

»Sind Sie Herr de Lormelle?«

»Ja.«

»Können Sie einmal herunterkommen?«

»Wozu?«

»Das kann ich nicht so da hinauf rufen. Kommen Sie sogleich nach der großen Kastanie im Garten!«

»Wer sind Sie?«

»Das erfahren Sie nachher!«

»Ist es so sehr nothwendig?«

»Ja.«

»Gut, ich komme.«

Er verließ das Zimmer, verschloß es und ging nach dem Garten.

Da der bei einem Kaufe gebräuchliche Schmauß gegeben wurde, so hatten sich die Bewohner des Schlosses mit den Gästen im Speisesaale versammelt, und die Diener waren so beschäftigt, daß Henry gar nicht beachtet wurde. Er gelangte ganz gut in den Garten und an die erwähnte Kastanie, unter welcher ihm eine lange, dunkle Gestalt entgegentrat.

»Henry?« flüsterte dieselbe fragend.

»Ja,« antwortete er. »Wer sind Sie?«

»Ah, die Verkleidung scheint sehr gut zu sein, da Du mich nicht erkennst.«

Diese Worte waren mit der natürlichen, unverstellten Stimme gesprochen worden. Der Diener trat bestürzt zurück.

»Wie? Höre ich recht?« fragte er.

»Jedenfalls!«

»Sie sind es, Herr Capitän?«

»Ja, ich.«

»Aber was wollen Sie hier? Wenn man Sie erwischt und festhält, so ist Alles verrathen.«

»Wieso? Erstens wird man mich nicht erwischen, festhalten aber gar nicht. Und selbst wenn dies geschähe, so wäre doch noch nicht das Mindeste verrathen. Ich vermuthe, daß das Geld soeben erst in den Besitz Königsaus gelangt ist?«

»Vor einer Viertelstunde.«

»Du hast es also noch nicht?«

»Nein.«

»Nun, was sollte denn da verrathen sein, wenn man mich erwischte! Uebrigens hat meine Anwesenheit einen wohl überlegten Zweck. Ich komme nämlich um Deines eigenen Vortheiles willen und bin froh, Dich getroffen zu haben.«

»Darf ich fragen, in wiefern und weshalb?«

»Natürlich! Es war verabredet, daß Du Dich mit dem Gelde sofort entfernen solltest.«

»Das werde ich auch.«

»Nein; das geht nicht.«

»Warum nicht?«

»Weil man sofort wissen würde, wer der Thäter ist.«

»Das mag man immerhin wissen, wenn wir nur das Geld haben.«

»Nein. So unvorsichtig wollen wir denn doch nicht sein! Man würde Dir sofort nachforschen und könnte leicht auf Deine Spur kommen. Dann bist Du verrathen und verloren, und wir sind es mit Dir. Nein, Du mußt bleiben.«

»Da wird man auch bei mir suchen und das Geld finden. Das ist doch dumm und noch viel schlimmer als das Andere.«

»Sei nicht blödsinnig! Das Geld bleibt nicht bei Dir liegen, sondern Du bringst es mir hierher, und ich schaffe es sofort in Sicherheit.«

»Ah, nicht übel.«

Wäre es Tag gewesen, so hätte der Capitän über das Gesicht, welches Henry dabei machte, erschrecken können. So aber meinte er:

»Nicht wahr, nicht übel?«

»Ja, allerdings.«

»Man wird den Verlust bemerken und Alles aussuchen, aber nichts finden. Der Diebstahl wird in das tiefste Dunkel gehüllt bleiben, und Du reisest dann ruhig ab.«

»Das wird mir nicht gut möglich sein.«

»Wieso?«

»Man wird, da ich hier fremd bin, nach meinen Verhältnissen forschen und da entdecken, daß ich gar nicht ein Herr de Lormelle bin. Dann bin ich verloren.«


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»Wie könnte man das entdecken? Die Papiere, welche Dir Graf Rallion gegeben hat, sind gut.«

»Ja, aber wie nun, wenn man an Gebhardt von Königsau telegraphirt, ob es wahr ist, daß wir uns in Algier getroffen haben und daß ich sein Freund bin?«

»Das wird man nicht!«

»Man wird es, gerade wie man an ihn telegraphirt hat, ob er dem Verkaufe der Güter seine Beistimmung ertheilt.«

»Du besitzest als sein Freund das Vertrauen der Seinigen.«

»Aber nicht das Vertrauen der Polizei, welche jeden Schloßbewohner scharf in das Auge nehmen wird, mich also auch.«

»Ich werde Dich benachrichtigen, sobald man telegraphirt.«

Diese beiden Männer durchschauten sich einander; ein Jeder von ihnen wollte den Andern betrügen. Henry war heute der Klügere. Er beschloß, den Capitän sicher zu machen.

»Werden Sie das erfahren?« fragte er.

»Ja. Ich werde genau beobachten.«

»Nun, wenn das ist, so denke ich allerdings, daß Ihre Ansicht die richtige ist. Ich lade keinen Verdacht auf mich, brauche nicht zu fliehen und kann jederzeit in mein Vaterland zurück.«

»Gut, daß Du das einsiehst! Das sind Vortheile, welche man nicht genug berücksichtigen kann.«

»Wo aber treffe ich Sie dann später?«

»Es ist gar nicht nöthig, Dir einen Ort dazu anzugeben.«

»Ah! Wieso?«

»Graf Rallion kauft diesem Smirnoff Alles ab und tritt sodann als Besitzer auf. Du brauchst also gar nicht nach ihm und mir zu suchen. Verstanden?«

»Das ist nun allerdings zu verstehen.«

»Gut also! Wann bringst Du das Geld herunter?«

»Das kann ich jetzt unmöglich wissen. Ich muß den geeigneten Augenblick abwarten.«

»Wo ist der Koffer?«

»Im Zimmer des Alten.«

»Die Nachschlüssel hast Du jedenfalls probirt?«

»Ja, sie passen. Aber sehen Sie da oben die beiden erleuchteten Eckfenster?«

»Ich sehe sie. Was ist mit ihnen?«

»Das ist das Zimmer des Alten. Die Kinder sind mit der Gouvernante darin, und ich muß warten, bis sie fort sind.«

Das war eine Lüge. Das Zimmer Hugos lag auf der anderen Seite der Vorderfronte.

»Das ist unangenehm,« meinte der Capitän. »Ich werde wohl lange warten müssen.«

»Hoffentlich nicht so sehr lange. Uebrigens wenn es sich um eine solche Summe handelt, so ist es nicht zu viel verlangt, sich ein Wenig in Geduld zu fassen.«

»Predige keine Moral, Spitzbube, sondern gehe jetzt. Ich lege mich hier in das Gras und bin bei Deiner Geschicklichkeit überzeugt, daß Alles gelingen wird. Gieb Dir Mühe.«

»Das versteht sich ganz von selbst.«

Henry ging. Der Capitän streckte sich auf den Boden nieder und vertrieb sich die Langeweile, welche allerdings nicht ohne Spannung war, damit, daß er an seinem Schnurrbart herumkaute.

»Ein dummer Kerl, dieser Henry!« dachte er. »Er ahnt gar nicht, daß er von dem Gelde nicht einen Heller erhalten wird. Er muß froh sein, unerwischt davonzukommen. Habe ich erst den Koffer, so hat er auch etwas, nämlich das Nachsehen. Und diese guten Königsau sind dann ruinirt fürs ganze Leben. Da oben befindet sich meine liebe, gute Schwester Margot, die Liebe Napoleons. Wenn sie wüßte, daß ich hier unten liege und auf ihr Geld laure. Ihre Verwandten wissen nichts davon, aber ich habe doch erfahren, daß ihr Arzt von einem Leiden gesprochen hat, welches innerlich an ihr zehrt. Kommt der Schreck über den Verlust des ganzen Vermögens dazu, so ist es leicht möglich, daß sie den Tod davon trägt. Darüber wollte ich mich freuen! Das wäre eine Rache, wie ich sie mir besser und leichter gar nicht wünschen könnte. Ich würde sogar noch fürstlich dafür bezahlt sein!«

Und Henry, welcher betrogen werden sollte, schlich sich vorsichtig nach dem Schlosse zurück und dachte dabei:

»Der alte Schlaukopf will mich betrügen; aber das soll ihm nicht gelingen. Wie würde er lachen, wenn er das Geld hätte und mir nichts davon zu geben brauchte. Ich könnte kein Wort dagegen sagen, denn ich bin der Dieb, der Einbrecher und würde nur mich selbst in Strafe bringen. Dieser alte Capitän weiß gut zu rechnen; aber dieses Mal soll er sich doch getäuscht haben!«

Er gelangte in sein Zimmer zurück und zog ein Fläschchen hervor, um die beiden Nachschlüssel einzuölen. Dabei schritt er nachdenklich in der Stube auf und ab. Plötzlich flog ein lustiges Lächeln über sein Gesicht.

»Donnerwetter,« murmelte er; »da kommt mir ein famoser Gedanke! Ja, der wird ausgeführt! Alle Teufel! Ich möchte das Gesicht des Alten sehen, wenn er den Koffer öffnet und den Zettel zu sehen bekommt.«

Er setzte sich an den Tisch, nahm ein Stück Papier und schrieb mit Dinte in großer Schrift darauf:

»Seinem lieben Freunde und Collegen Richemonte zum Andenken an den Schatz, nach welchem ihm umsonst der Mund gewässert hat. Henry de Lormelle.«

Nachdem die Schrift getrocknet war, legte er das Blatt zusammen und steckte es zu sich. Dann begab er sich nach dem Speisesaale, wo man ihn nicht vermißt zu haben schien. Hier blieb er eine ganze Weile, bis er die Ueberzeugung hegen durfte, daß jetzt Niemand den Saal verlassen werde. Dann kehrte er in sein Zimmer zurück, nahm eine sehr lange und feste Schnur und das kleine Köfferchen aus dem großen Koffer heraus. Aus dem Letzteren steckte er Alles zu sich, was beim Auffinden ihm hätte schädlich werden können, und dann verließ er das Zimmer. Er schloß die Thür zu und steckte den Schlüssel ein.

Auf dieser Seite des Corridors war Alles still und ruhig. Der Speisesaal lag auf der anderen Seite des Hauses.

Rasch und unhörbar huschte er bis an die Thür, welche in das Zimmer Königsaus führte. Ein leises Klirren, und sie war geöffnet. Er trat ein und verriegelte die Thür hinter sich. Er war auf diese Weise sicher, daß er nicht erwischt werden könne. Selbst wenn Jemand kam, konnte er die Flucht durch das offene Fenster ergreifen.

Es brannte kein Licht in dem Raume. Ein Streichholz flackerte in seinen Fingern auf. Beim Scheine desselben be-


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merkte er, daß der gesuchte Koffer nicht zu sehen war und also eingeschlossen sein mußte. Er zog den zweiten Schlüssel hervor und öffnete mit demselben den bewußten Schrank. Richtig, er fühlte den gesuchten Gegenstand mit der Hand und nahm ihn heraus. Er stellte dafür den mitgebrachten kleinen Koffer hinein, welcher von derselben Schwere war. Dann verschloß er den Schrank wieder.

Nun entwickelte er die mitgebrachte Leine, band den gestohlenen Koffer daran und ließ ihn zum Fenster hinab. Er hatte sich am Tage genau orientirt und wußte, daß der Raub auf diese Weise hinter ein kleines Nachtschattengesträuch zu liegen komme. Es war so finster, daß selbst Jemand, der sich in ganz unmittelbarer Nähe befand, nichts bemerkt hätte.

Jetzt zog er den Thürriegel wieder zurück. Ein Blick durch die nur eine Spalte breit gemachte Thüröffnung belehrte ihn, daß Niemand zugegen sei, und so trat er heraus auf den Corridor, schloß zu, steckte den Schlüssel ein und begab sich hinab vor das Fenster.

Der Raub war gelungen. Der Schlüssel steckte im Köfferchen. Er trug denselben nach dem hintersten Theile des Gartens, öffnete ihn, nahm den Inhalt heraus und steckte ihn sorgfältig in die Ecke der Mauer. Dort lagen mehrere Steine, welche von schadhaften Stellen der Mauer gefallen waren. Mit diesen und mit herumliegendem Laube füllte er den Koffer, that den Zettel dazu, welchen er geschrieben hatte, und verschloß ihn dann.

Erst nun trug er ihn nach dem entgegengesetzten Theile des Gartens, wo unter der Castanie der Capitän auf ihn wartete. Dieser hörte ihn kommen und zog sich hinter den Stamm des Baumes zurück. Der Nahende konnte ja auch ein Anderer sein.

»Pst!« machte Henry.

Der Alte regte sich nicht.

»Pst, Herr Capitän!«

»Wer ist da?« fragte dieser leise.

»Ich, Henry!«

»Ah,« athmete Richemonte erleichtert auf. »Nun? Gelungen?«

»Ja.«

»Wo ist das Geld?«

»Hier habe ich es!«

»Zeig her.«

Henry gab ihm den Koffer in die Hände. Als der Capitän denselben fühlte, mußte er sich Mühe geben, nicht laut aufzujubeln.

»Donner!« meinte er. »Also wirklich gelungen.«

»Wirklich und vollständig.«

»Hat Niemand etwas bemerkt?«

»Kein Mensch. Aber, Herr Capitän, ich werde das Versprochene doch auch wirklich erhalten?«

»Natürlich! Oder traust Du mir etwa nicht?«

»Warum sollte ich Ihnen nicht trauen? Es war nur so ein Gedanke, welcher mir plötzlich kam. Aber ich wünschte doch, ich könnte, da Sie so viel in den Händen haben, wenigstens einen kleinen Abschlag auch in meine Hand bekommen. Mein Geld ist fast alle; wer weiß, was passirt, und es wird immerhin einige Zeit vergehen, ehe ich zu Graf Rallion kommen kann.«

Der Capitän fühlte ausnahmsweise auch einmal ein leichtes menschliches Rühren. Er wußte sich im Besitze des Reichthumes; es war, als sei eine Art von Rausch über ihn gekommen, und im Eindrucke desselben griff er in die Tasche, zog seine Börse hervor, gab sie Henry und sagte:

»Da! Es sind einige Goldstücke drin; ich habe nicht mehr bei mir. Du wirst später desto zufriedener sein. Jetzt aber will ich mich schleunigst aus dem Staube machen. Ich habe sehr weit zu gehen und schwer zu tragen. Gute Nacht, lieber Henry.«

»Gute Nacht, lieber Herr Capitän.«

Richemonte verschwand im Dunkel der Nacht. Jenseits des Gartens angekommen blieb er aufathmend stehen.

»Ich bin doch besser, als ich dachte,« brummte er. »Gegen fünfzig Thaler werden es sein, die ich ihm gegeben habe. Lieber Herr Capitän, sagte er. Was er wohl später sagen wird, wenn er merkt, daß er nichts weiter bekommt? Am Liebsten möchte ich Alles für mich behalten. Aber das geht nicht. Der Einfluß Rallions ist groß; ich kann durch ihn weit mehr Vortheile ziehen, als die Hälfte dieses Diebstahls beträgt. Gute Nacht, Königsau! Gute Nacht, Madame Margot. Ihr werdet an diesen Abend lebenslang gedenken.«

Und Henry murmelte, zum Schlosse zurückkehrend, bei sich:

»Dummkopf! Giebt mir auch noch eine Hand voll Goldstücke obendrein. Wie ihn das wurmen wird, wenn er die Christbescheerung erkennt! Es ist dem alten Spitzbuben recht! Nun aber muß ich machen, daß ich in Sicherheit komme.«

Er kehrte in das Innere des Schlosses zurück und gab einem Diener den Auftrag, sobald nach ihm gefragt werde, zu sagen, daß ihn ein leichtes Unwohlsein befallen habe und er um Entschuldigung bitten lasse. Dann suchte er sein Zimmer auf. Dort warf er seinen Reisemantel und eine lederne Reisetasche, welche er bei seiner Ankunft getragen hatte, durch das Fenster und ließ sich selbst dann an der Leine hinab, welche er, als er den Boden erreicht hatte, hinter sich herzog.

Dann schlich er sich nach der Gartenecke, wo er den Schatz versteckt hatte. Seine Taschen langten zu, Alles aufzunehmen, und nun sagte er dem Orte Ade, an welchem er so freundlich aufgenommen worden war. -

Das Mahl hatte zu einer so späten Stunde geendet, daß die Theilnehmer es vorgezogen hatten, im Schlosse zu übernachten, anstatt noch während der Nacht abzureisen. Aber am frühen Morgen brachen Alle auf. Smirnoff und Samuel Cohn waren die Ersten, welche anspannen ließen, um nach Drengfurth zu Rallion zu fahren, welcher ganz sicher sehnlichst auf sie wartete. Sie fanden ihn in Reisekleidern, worüber sie sich wunderten.

»Wie?« fragte der Pole. »Hat dies nicht den Anschein, als ob Sie den Ort verlassen wollten?«

»Das beabsichtige ich allerdings. Ich habe nämlich ein Leiden, welches mich öfters ganz plötzlich überfällt. Gestern in der Dämmerung erlitt ich einen solchen Anfall, daß ich nach einer Wärterin schicken mußte, welche bis zum Morgen bei mir bleiben mußte. Auch der Wirth hat während der Nacht nicht schlafen können. Ich muß schleunigst nach Berlin, um einen bessern Arzt zu sprechen, als ich hier finde.«

Er hatte Alles aus Berechnung gethan. Die Wärterin und das Hotelpersonal konnten beschwören, daß er sein Zimmer nicht verlassen hatte. Das bezweckte er.

»Und wir?« fragte Smirnoff.


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»Nun, wie ist es gegangen?«

»Nach Wunsch. Ich stelle mich Ihnen als den gerichtlich anerkannten Besitzer Ihres Eigenthumes vor.«

»Zeigen Sie die Papiere.«

»Hier! Kauf, Quittung, Alles ist vorhanden. Wo es sonst mehrerer Wochen bedarf, um mit den Herren vom Amte auf das Reine zu kommen, sind wir hier schnell fertig geworden.

Geld ist eine Macht, und ich wünschte, daß ich mich im Besitze dieser Macht befände.«

»Das wird bald der Fall sein. Wir werden den zweiten Theil unseres Geschäftes in Berlin zum Abschluß bringen; das ist dort ja ebenso gut möglich wie hier. Ich halte es überhaupt für besser und klüger, es dort zu thun als hier. Wir reisen zusammen. Sind wir fertig, erhalten Sie Beide Ihr Salair.«

Dieses schnelle Abreisen war auch vorher zwischen ihm und dem Capitän, welcher schleunigst nachkommen wollte, verabredet. Sie hatten sogar ein Wirthshaus geringeren Ranges als Rendezvous bestimmt, obgleich Beide in besseren Hotels absteigen wollten.

Nach diesem Gasthause begab sich Rallion bereits am zweiten Tage nach seiner Ankunft und erkundigte sich dort nach Richemonte, der hier natürlich einen anderen Namen trug. Er war angekommen. Rallion erhielt die Nummer des Zimmers genannt und begab sich zu ihm.

»Endlich!« rief der Capitän. »Mir ist die Zeit bis zu Ihrem Eintreffen unendlich lang geworden.«

»Wieso? Hatten Sie keine Beschäftigung?«

»Ah pah! Was hätte ich thun sollen?«

»Geld zählen!«

»Fällt mir doch ganz und gar nicht ein!«

»Warum nicht?«

»Aus Vorsicht.«

»Ah, so! Ich befürchtete bereits, zu hören, daß Sie kein Geld zählen könnten, weil keins vorhanden sei.«

»Sie glaubten, der Coup sei nicht gelungen?«

»Das war doch immerhin möglich. Also Henry hat seine Schuldigkeit gethan?«

»Er hat Alles ausgezeichnet gemacht.«

»Gut, aber bekommen wird er nichts. Das soll die Strafe sein für seine früheren Spitzbübereien. Sind Sie mit dem Koffer vorsichtig gewesen?«

»Ja. Ich habe ihn in einen Korb gepackt und diesen als Behälter von Mineralienproben declarirt.«

»Das ist klug gehandelt. Wo ist er?«

»Hier.«

Er zog den Korb unter dem Bette hervor, zerschnitt die Stricke und öffnete ihn. Er enthielt Steine und das kleine Köfferchen, welches von Beiden mit liebevollen Blicken beäugelt wurde.

»Eine Mineralienprobe!« lachte der Graf. »Köstlicher Gedanke! Jedenfalls wird nach diesem Koffer bereits geforscht. Das Geld nehmen wir; die Mineralien aber füllen wir hinein und senden ihn dann der Polizei. Ueberhaupt ist der ganze Coup ein wahres Meisterstück Ihrer Spitzfindigkeit, Capitän. Zwei Rittergüter kaufen und baar bezahlen, das Geld aber sich sofort wieder zurückstehlen; das ist grandiös! Aber, öffnen Sie!«

»Der Schlüssel fehlt leider.«

»Warum?«

»Henry hat ihn jedenfalls nicht vorgefunden. Königsau wird ihn zu sich gesteckt haben.«

»So müssen wir uns nach Werkzeugen umsehen.«

»Ich habe bereits Hammer und Meißel besorgt. Ich werde öffnen.«

Das Köfferchen war nicht so außerordentlich durabel gemacht, daß es lange Widerstand hätte leisten können. Der Deckel sprang bereits nach einigen Schlägen auf. Die Augen der beiden Männer fielen neugierig auf den Inhalt.

»Was ist das?« fragte der Graf. »Laub!«

»Und ein Zettel darüber,« fügte der Capitän hinzu. »Dieser Königsau ist doch ein eigener Kauz, das Geld mit Laub zu bedecken. Diese Deutschen sind überhaupt alle halb verrückte Kerls. Was mag auf dem Zettel stehen?«

»Jedenfalls hat er sich die Nummern der Werthpapiere aufgezeichnet und dieses Verzeichniß mit zum Gelde gelegt. Wie unsinnig! Nun ist das Geld mit sammt dem Verzeichnisse fort, und es wird ihm unmöglich sein, der Polizei die Nummern anzugeben. Wir brauchen uns mit der Ausgabe dieses Geldes gar nicht zu genieren.«

Der Capitän hatte den Zettel ergriffen und warf einen Blick darauf. Seine Augen wurden weit und er ließ ein Schnaufen hören wie von einem Thiere, welches in Zorn gerathen ist.

»Himmel und Hölle!« rief er. »Mir scheint allerdings, daß wir uns mit der Ausgabe ganz und gar nicht zu genieren brauchen!«

»Nicht wahr?«

»Ja, und zwar, weil wir es gar nicht ausgeben können.«

»Nicht? Warum? Was haben Sie? Was ist mit Ihnen?«

»Wir können es nicht ausgeben, weil wir es nicht haben.«

Der Graf blickte ihn bestürzt an.

»Wir haben es nicht? Das ist ja der Koffer, in welchem es sich befand,« meinte er.

»Ja.«

»Aber was steht da auf dem Zettel?«

»Da, lesen Sie selbst.«

Der Graf nahm den Zettel und las laut die Worte:

»Seinem lieben Freunde und Collegen Richemonte zum Andenken an den Schatz, nach welchem ihm umsonst der Mund gewässert hat. Henry de Lormelle.«

Er blickte den Capitän rathlos an. Dieser meinte:

»Das ist sehr deutlich. Oder verstehen Sie es vielleicht nicht?«

»Verstehen? Ah, der Schurke wird uns doch nicht betrogen haben!«

»Was sonst? Was anders? Da, lassen Sie uns einmal nachsehen!«

Sie besahen sich den Inhalt des Koffers; sie durchwühlten den Letzteren und warfen Alles heraus.

»Alle Teufel! Steine und Laub!« rief der Graf.

»Laub und Steine!« wiederholte der Capitän im grimmigsten Tone.

»Er hat uns betrogen!«

»Betrogen und bestohlen! Aber ich werde den Schurken suchen; ich werde ihn ganz sicher finden und zermalmen!«

Sein Gesicht nahm einen schrecklichen Ausdruck an; sein Schnurrbart ging in die Höhe und ließ die langen, gelben Zähne sehen.


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»Oder handelt er im Einverständnisse mit Königsau?« bemerkte Graf Rallion.

Richemonte fühlte sich von diesem Gedanken betroffen.

»Donner!« meinte er. »Auch das ist möglich!«

»Vielleicht hat er geahnt und errathen, daß er nichts bekommen sollte, und Königsau Alles mitgetheilt!«

»Das ist mir doch nicht sehr wahrscheinlich. Er hätte sich ja als Spitzbuben hinstellen müssen!«

»Das ist richtig!«

»Ja, er hat uns betrogen; er hat das Geld an sich genommen und uns diese Steine dafür gegeben!«

»Mineralienproben!« meinte der Graf mit einem bösen Fluche.

»Brechen wir auf! Kehren wir sofort zurück, um ihn zu fangen!«

»Pah! Wir bekommen ihn doch nicht! Er wird schon längst über alle Berge sein!«

»Aber ich suche seine Spur! Ich finde sie und bringe ihn zur Anzeige. Ich werde der Polizei melden, daß er der Dieb ist!«

Der Capitän ließ sich von seinem Grimme hinreißen. Der Graf zeigte sich besonnener. Er entgegnete:

»Damit würden wir nur uns selbst schaden. Nimmt man ihn gefangen, so wird er Alles gestehen, und es geht dann uns ebenso wie ihm an den Kragen!«

»Wir bestreiten Alles! Er ist ein Lügner!«

»Man wird ihm dennoch glauben. Das Klügste ist, daß wir heimlich nach ihm forschen. Meine Geschäfte hier sind abgemacht. Ich habe den Kauf hier in den Händen. Vernichten wir den Koffer! Stecken wir ihn hier in den Ofen, um ihn zu verbrennen. Dann brechen wir auf. Die Güter sind mein; die Rache an Königsau ist gelungen; nur das ist verloren, was wir zu viel bezahlt haben. Und wenn wir es klug anfangen, wird es uns vielleicht doch gelingen, dieses Schurken habhaft zu werden und ihm seinen Raub wieder abzujagen.«

Die beiden Männer erkannten, daß sie betrogen worden seien und in ihrem ehemaligen Diener ihren Meister gefunden hatten. Die Gier nach Rache überstieg noch den Grimm über den Betrug, welcher an ihnen verübt worden war. Sie verbrannten den Koffer und saßen einige Stunden später im Bahnwagen, um den gegen Königsau gerichteten Schlag auszuführen und zugleich nach Spuren Dessen zu suchen, der sie um ihren Raub gebracht hatte.

Was Königsau betrifft, so hatte er am Morgen nach dem Kaufe Smirnoff und Samuel Cohn abfahren lassen, ohne eine Ahnung von dem schweren Verluste zu haben, welcher ihn betroffen hatte. Erst als beim Frühstücke der Gerichtsamtmann, welcher die actuelle Handlung geleitet hatte, die Bemerkung machte, daß vorsichtigermaßen ein Verzeichniß der Nummern der Staatspapiere anzulegen sei, öffnete er den Schrank und nahm den Koffer hervor.

Der Schlüssel fehlte. Das fiel ihm auf, denn er wußte ganz genau, daß er denselben stecken gelassen hatte. Da er ihn trotz alles Suchens nicht fand, so wurde ihm ängstlich zu Muthe. Er ließ die noch anwesenden Herren rufen und theilte ihnen die beunruhigende Entdeckung mit, welche er gemacht hatte.

Es wurde beschlossen, gar nicht erst auf die Ankunft eines Schlossers zu warten, sondern den Koffer sofort aufzubrechen. Das geschah. Der Schreck und die Aufregung, welche sich nun Aller bemächtigte, ist gar nicht zu beschreiben. Der Amtmann gab den Befehl, daß kein Mensch, welcher sich auf dem Schlosse befinde, dasselbe ohne Erlaubniß verlassen dürfe. Ein sicherer Bote wurde nach der Polizei geschickt, und dann begann eine allgemeine Aussuchung. Die gestohlene Summe war so bedeutend, daß an eine Schonung der Gefühle des Einzelnen gar nicht gedacht werden konnte.

Diesem ersten Schlage folgte ein zweiter, noch größerer.

Frau Margot hatte sich noch in ihrem Zimmer befunden, als die schlimme Entdeckung gemacht wurde. Sie war schon längere Zeit unfähig, allein zu gehen. Jetzt hörte sie ein Rennen und Rufen, ein Klagen und Fragen. Sie klingelte, sie rief nach Dienerschaft, aber vergeblich. Jetzt bemächtigte sich ihrer eine ungewöhnliche Angst, und diese Angst nahm zu, je lauter der Lärm wurde, und je weniger man sich um sie bekümmerte.

Sie versuchte, sich von ihrem Stuhle zu erheben. Es gelang ihr, aber unter großen Schmerzen. Sie griff sich an der Wand und an den Möbeln hin bis an die Thür, öffnete dieselbe und schob sich hinaus. Einer der Diener kam gerannt und wollte vorüber, ohne sie zu beachten.

»Wilhelm! Wilhelm!« rief sie. »Was giebt's? Was ist geschehen?«

Erst jetzt bemerkte er sie.

»O Gott, gnädige Frau,« rief er ganz außer sich; »man ist eingebrochen; man hat Sie bestohlen, fürchterlich bestohlen!«

»Eingebrochen? Uns bestohlen? Um Gott, was ist es denn, was man gestohlen hat?«

»Alles! Alles! Das ganze Vermögen!«

Es war ihr, als ob sie einen Keulenschlag auf den Kopf erhielte.

»Das ganze Vermögen?« ächzte sie. »Wo denn?«

»Das Kaufgeld, die ganze Kaufsumme, aus dem Koffer, in welchem sie verschlossen war.«

»O - Gott - Gott - - Gott - - - ver - verkauft - - ver - - verloren - meine - Ah - Ah - Ahn - - -!«

»Ahnung!« wollte sie sagen, aber sie vermochte nicht, das Wort vollständig auszusprechen; sie brach zusammen.

Der Diener rannte zu Königsau, welcher rath- und fast gedankenlos unter den Seinen stand.

»Gnädiger Herr,« rief er. »Schnell, schnell! Die gnädige Frau ist in Ohnmacht gefallen!«

Alles eilte mit ihm fort; aber Hugo vermochte nicht, ihm zu folgen. Hätten ihn nicht Zwei ergriffen und gehalten, so wäre er zu Boden gesunken. Auf diese gestützt, vermochte er erst nach einiger Zeit, fortzuwanken, um nach seiner Frau zu sehen. Man hatte sie auf das Ruhebette gebracht; sie schien todt zu sein; ihre Augen waren starr und offen, und vor ihrem Munde stand ein bräunlicher Schaum. Er brach mit einem lauten Aufschrei neben ihr zusammen.

Der Amtmann schickte sofort einen reitenden Boten nach dem Arzte. Als dieser kam, untersuchte er die Beiden und erklärte, daß Frau Margot vom Schlage getroffen sei und nur noch einige Tage, vielleicht nur Stunden zu leben habe, bei Herrn Hugo aber sei ein hitziges Fieber im Anzuge, welches sein Leben in die größte Gefahr bringen könne; nur die sorgsamste Pflege werde ihn zu retten vermögen.

In diesem Jammer zeigte es sich, was ein zartes Frauen-


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herz vermag, wenn die Wolken des Unglücks sich zu entladen beginnen. Ida, die Schwiegertochter der beiden Kranken, hatte von dem Augenblicke an, an welchem sie die Kunde von dem Unglücke vernommen, kaum ein Wort gesprochen. Ihr ganzes Wesen schien in Thränen erstarrt zu sein, und doch war sie die Einzige, welche Ruhe und Fassung zeigte und durch entschiedene Winke erklärte, daß sie die Sorge um die Eltern nur allein auf sich nehme und einem jeden Andern verbiete, sich ihnen zu nahen.

In all diesem Jammer und Wehklagen, in diesem Schrecke und dieser Angst war es keinem Menschen eingefallen, an den französischen Gast zu denken. Nur Einer dachte an ihn, und der war - ein Kind.

Der kleine Richardt hatte noch in seinem Bettchen gelegen, als sich das Rennen und Rufen erhob. Er war, neugierig geworden, aufgestanden, hatte die Thür geöffnet und blickte auf das Durcheinander hin und her rennender Menschen, ohne zu wissen, was er davon halten solle. Da aber kam Einer weinend den Seitencorridor herauf, Einer, von welchem er wußte, daß dieser mit ihm sprechen werde. Es war der alte Kutscher Florian, welcher, vom Schreck auch fast gelähmt, herbeigewankt kam in der Haltung eines Menschen, welcher Mühe hat, seine Gedanken in Ordnung zu halten.

»Florian, Florian!« rief der Knabe. »Komm her, Florian! Warum eilen diese Leute so?«

Der Alte trat herbei, nahm den Kopf des Knaben zwischen seine Hände, beugte sich nieder, küßte ihn auf das weiche Haar und antwortete weinend:

»Richard, lieber Richard, es ist Dir ein großes, sehr großes Unglück geschehen! Die Großmama und der Großpapa - - -«

Er hielt inne; er besann sich, ob es denn auch klug und erlaubt sei, dem Kleinen Alles zu sagen.

»Der Großpapa und die Großmama?« fragte Richard. »Was ist mit ihnen, lieber Florian?«

»Nichts, o nichts! Sie schlafen. Aber man hat ihnen Geld gestohlen, viel Geld, alles Geld!«

Da richtete der Kleine die klugen Augen auf den Sprecher und fragte:

»Deshalb weinst Du wohl, Florian?«

»Ja.«

»Man wird das viele Geld wiederbringen müssen!«

»O nein; der Dieb wird es behalten!«

»Wer ist der Dieb?«

»Wir wissen es nicht, aber wir suchen ihn.«

»Wo hat sich das Geld befunden?«

»In dem Zimmer Deines Großpapa.«

Da schlug der Kleine vor Freude jauchzend die Hände zusammen und rief aus:

»O, Florian, dann weiß ich, wer der Dieb ist!«

Der alte Kutscher glaubte, daß es sich hier auch, wie so oft, um einen kindlichen Einfall handle, und antwortete:

»Das wirst Du wohl nicht wissen, Richardt!«

»Grad weiß ich es! Ich weiß es sehr genau!«

»Nun, wer ist es?«

»Herr de Lormelle.«

»Um Gottes willen!« rief Florian, »Laß das ja Niemand hören!«

»Warum denn nicht?«

»Weil Herr de Lormelle ein vornehmer Herr ist und ein Freund Deines guten Papa, aber kein Dieb!«

»Er ist ein vornehmer Herr, aber ich habe ihn nicht lieb. Er ist gestern Abend ganz allein im Zimmer des Großpapa gewesen.«

Jetzt wurde der Diener aufmerksam.

»Hast Du das gesehen?« fragte er.

»Ja.«

»Wann war es?«

»Als die vielen Herren im Saale speisten und ich schlafen gehen mußte.«

»So ist er mit dem Großpapa im Zimmer gewesen.«

»Nein. Großpapa war mit den Herren im Saale. Ich konnte nicht schlafen; ich war so allein, denn das Schwesterchen schlief. Ich wollte auch mit speisen im Saale, und da stand ich auf und wollte Dich rufen. Du solltest mich ankleiden. Aber als ich die Thür öffnete, da sah ich Herrn de Lormelle kommen. Er trat so leise auf, als ob er mich fangen wolle, und da zog ich die Thür heran und ließ nur ein ganz, ganz kleines Lückchen.«

Der alte Diener lauschte beinahe athemlos.

»Und was sahst Du da?«

»Ich sah, daß er einen Schlüssel aus der Tasche nahm und Großpapas Thür aufschloß; er trat ein und kam erst nach langer, langer Zeit wieder heraus.«

»Hatte er Etwas in der Hand?«

»Nein, lieber Florian; ich habe nichts gesehen.«

»Merkwürdig, sehr merkwürdig! Würdest Du das auch Andern so erzählen, wie Du es mir erzählt hast?«

»Wem denn?«

»Dem Onkel Kunz.«

»Ja, dem werde ich es erzählen.«

»Auch wenn der Herr Gerichtsamtmann dabei ist, lieber Richardt?«

»Auch dann.«

»So warte einmal. Ich werde die Beiden sogleich holen.«

Er ging und brachte Kunz von Goldberg nebst dem Amtmanne herbei, denen der Knabe seine Entdeckung in kindlich stolzer Weise mittheilte. Der Jurist folgte der Erzählung mit aller Aufmerksamkeit und fragte dann Herrn von Goldberg:

»Haben Sie diesen Herrn de Lormelle heute bereits gesehen?«

»Nein. Ich denke erst jetzt an ihn.«

»Ich ebenso. Merkwürdig ist es, daß er sich bei diesem Lärm noch nicht hat sehen lassen. Gehen wir nach seinem Zimmer.

Dort angekommen, fand man dasselbe verschlossen. Das war im höchsten Grade auffällig. Als auch auf wiederholtes Klopfen nicht geöffnet wurde, befahl der Amtmann, die Thür zu erbrechen. Dies geschah, und als man nun eintrat, fand man das Bette noch unberührt. Der Franzose mußte sich durch das Fenster entfernt haben, denn die Thür war von innen verschlossen gewesen. Das Fenster stand offen, und als man hinabblickte, bemerkte man die Leine, welche unten lag.

Nun wurden zunächst die Habseligkeiten des Verdächtigen untersucht. Sein Koffer stand offen. Er enthielt etwas Wäsche und einige Kleidungsstücke, die aber weiter keinen


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Anhalt boten. Aber zwischen dem Koffer und der Wand lag - ein Gebund falscher Schlüssel. Henry hatte vergessen, gerade die Hauptsache mitzunehmen.

»Er ist der Dieb,« rief der Amtmann. »Diese Nachschlüssel erklären Alles. Er hat mit einem derselben das Zimmer Herrn von Königsaus geöffnet und dann auch den Schrank, in welchem sich das Geld befand. Er hat das Köfferchen gerade so gut öffnen können wie der Besitzer, da dieser Letztere den Schlüssel stecken ließ. Mit dem Gelde in den Taschen hat er sich dann entfernt. Ich werde sofort seine Verfolgung veranlassen.«

Die Combinationen des Beamten waren nicht vollständig richtig, aber der Schuldige war doch entdeckt. Es wurden schleunigst alle möglichen Maßregeln ergriffen, seiner habhaft zu werden, doch vergeblich. Er war und blieb für jetzt und lange Zeit verschollen.


Ende der neunundvierzigsten Lieferung - Fortsetzung folgt.



Karl May: Die Liebe des Ulanen

Karl May – Forschung und Werk