Lieferung 54

Deutscher Wanderer

27. September 1884

Die Liebe des Ulanen.

Original-Roman aus der Zeit des deutsch-französischen Krieges von Karl May.


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Der lustige Diener steckte die Depesche nebst der Abschrift zu sich, versah sich mit dem Laternchen und trat den Gang nach dem Bureau des Telegraphen an. Dasselbe war jetzt allerdings geschlossen, aber gegen eine unbedeutende Erhöhung der Gebühr mußte der Nachtbeamte zur Verfügung stehen. Dieser blickte verwundert über die Ziffern hin und meinte mürrisch:

»Verdammte Arbeit! Können Sie nicht in Worten telegraphiren?«

»O ja, das kann ich. Können Sie es?« antwortete Martin.

Der Mann blickte ihn grimmig an und sagte:

»Wie meinen Sie das, Monsieur?«

»Sie erkundigten sich nach meiner Fertigkeit, und da glaubte ich das Recht zu haben, auch in Beziehung auf die Ihrige Nachfrage zu halten.«

»Meine Fertigkeit steht über allen Zweifel erhaben, sonst hätte man mich nicht angestellt. Das lassen Sie sich gesagt sein! Uebrigens, wenn Sie sagen, daß Sie sich auch der Worte hätten bedienen können, warum haben Sie das nicht gethan?«

»Weil es mir frei steht, mich sowohl der Worte wie auch der Ziffern zu bedienen. Und wenn ich irgend einem Bekannten zehntausend Gedankenstriche zusenden will, so müssen Sie dieselben auf den Apparat übertragen. Uebrigens habe ich mich für die Ziffern entschieden, weil nicht jeder Telegraphenbeamter zu wissen braucht, wie viel ich meinem Wichslieferanten schuldig bin!«

»Sie führen eine hier sehr ungewöhnliche Sprache! Ich werde sofort die Gebühr berechnen und dann die Depesche abgehen lassen.«

»Ich bitte um eine Bescheinigung, daß sie abgegangen ist!«

»Die sollen Sie haben!«

Das Formelle der Sache wurde abgemacht; Martin bezahlte und erhielt die Bescheinigung ausgestellt. Aber anstatt sich zu entfernen, blieb er ruhig stehen. Der Beamte blickte ihm zornig in das Gesicht und fragte:

»Nun? Was stehen Sie noch? Warum gehen Sie nicht?«

»Weil ich mir eine ergebene Frage gestatten muß!«

»Sprechen Sie! Aber machen Sie es kurz. Ich habe für solche Querulanten keine Zeit übrig.«

Martin that, als ob er das beleidigende Wort gar nicht vernommen habe. Er machte das ehrlichste, treuherzigste Gesicht, welches ihm möglich war, und fragte sehr freundlich:

»Ist die Depesche schon abgegangen?«

Da fuhr der Beamte zornig auf.

»Herr, was denken Sie!« rief er. »Meinen Sie etwa, daß es nur der Uebergabe dieses Papieres bedarf, um den Inhalt desselben nach Berlin zu übermitteln? So weit haben wir es denn doch noch nicht gebracht!«

»Ah, ich dachte, sie wäre bereits fort,« meinte Martin unbefangen. »Hier auf meiner Bescheinigung steht, daß die Depesche Elf Uhr vier Minuten hier aufgegeben worden sei. Ich glaubte also, ein Recht zu meiner Frage zu haben. Aber Sie geben doch zu, daß diese Bescheinigung eine Lüge enthält, wenn meine Correspondenz noch unerledigt sich in Ihren Händen befindet!«

Der Beamte richtete seine Augen mit einem Ausdrucke auf ihn, aus welchem zu ersehen war, daß er sich in Ungewißheit darüber befinde, wie er ihn beurtheilen solle. Er sah die Depesche noch einmal durch und sagte dann barsch:

»Warten Sie!«

Nach diesen Worten entfernte er sich nachdenklich und


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trat in ein Nebenzimmer. Martin nickte lächelnd vor sich hin und flüsterte, indem er eine sehr zufriedene Miene machte:

»Er wollte die Ziffern nach dem Bureau des Grafen Rallion zum Entziffern schicken, ehe er sie dem Apparate übergiebt. Nun erkundigt er sich bei irgend einem Vorgesetzten, was zu machen sei, da ich nicht von der Stelle gehe. Wie wird der Bescheid lauten? Natürlich wird man mich täuschen wollen und so thun, als ob man telegraphire. Schön! Das giebt mir Spaß!«

Nach einiger Zeit trat der Telegraphist wieder ein und fragte:

»Wer ist denn dieser Herr Walther, an welchen die Depesche gerichtet ist?«

»Ich weiß es nicht, werde es aber schleunigst erfahren.«

»Wieso? Sie telegraphiren an Jemand, den Sie gar nicht kennen? Das ist mir unbegreiflich!«

»Mir nicht. Ich hörte vor einer Viertelstunde, daß in Berlin auf der Behrenstraße ein Mann wohnt, welcher Walther heißt. Ich habe niemals Etwas von diesem Herrn gehört; das machte mich wißbegierig. Und da ich ahnte, daß auch Sie neugierig würden, so beschloß ich, ihn zu fragen, was und wer er eigentlich sei. Ich hätte das mit viel weniger Kosten brieflich thun können; um aber Ihre Neugierde schleunigst zu befriedigen, zog ich es vor, zu telegraphiren. Nun werden Sie mich wohl begreifen!«

Jetzt endlich sah der Beamte ein, daß er es mit einem überlegenen Kopfe zu thun habe. Er wollte in eine zornige Bemerkung ausbrechen, befürchtete aber eine nochmalige Zurechtweisung und sagte daher kurz nur:

»Sie thäten weit besser, Ihre Gedanken bei sich zu behalten. Ich werde sofort telegraphiren.«

»Ich bitte darum, da bereits zwanzig Minuten über die Zeit vergangen sind, welche Sie mir hier auf der Bescheinigung angegeben haben.«

Der Beamte trat an den Apparat und setzte ihn in Bewegung. Das Ticken und Klappern begann und wurde einige Male durch das Glockenzeichen unterbrochen. Nach einer Weile hörte es auf. Der Telegraphist trat auf Martin zu und sagte in stolz verächtlichem Tone:

»So, jetzt ist es gethan! Sie können sich entfernen!«

»Ich muß mir noch eine Frage erlauben,« meinte Martin in dem gleichmüthigsten Tone der Welt.

»Ich habe keine Zeit mehr für Sie! Gehen Sie!«

»Ich bleibe. Wenn Sie für mich nicht zu sprechen sind, so werde ich unter Ihren Vorgesetzten doch einen finden, welcher Zeit für meine Beschwerde hat.«

»Beschwerde? Was fällt Ihnen ein! Sie haben keine Veranlassung zur mindesten Beschwerde!«

»O doch! Ich habe vielmehr Veranlassung zur größten Beschwerde. Ich werde anfragen, ob der Apparat dieser Station den Zweck hat, Lügnern und Fälschern als Mittel ihrer Unterschlagungen zu dienen.«

»Herr!« braußte der Beamte auf.

»Uebernehmen Sie sich nicht im Athmen. Sie haben meine Aufgabe gar nicht depeschirt!«

»Wie können Sie das sagen!«

»Sie haben nicht nach Berlin, sondern nach Epernay telegraphirt. Das ist die Station, bis zu welcher die Leitung augenblicklich offen war.«

Der Telegraphist machte ein verlegenes Gesicht. Er konnte gar nicht begreifen, wie Martin das so genau wissen könne. Dennoch nahm er schnell eine strenge Miene an und entgegnete in drohendem Tone:

»Monsieur, Sie beleidigen mich! Sie haben ferner vorhin von Lügnern und Fälschern, von Unterschlagung gesprochen. Ich habe das Recht, Sie sofort arretiren zu lassen!«

»Thun Sie das!« antwortete Martin kalt. »Das würde der beste und kürzeste Weg für mich sein, Genugthuung für mich und Bestrafung für Sie zu erlangen. Ich will an Herrn Walther eine Depesche aufgeben, um ihm, der ein bedeutender Banquier ist, zu sagen, welche Papiere er morgen früh auf der Börse kaufen soll; es hängen Hunderttausende, ja vielleicht Millionen davon ab, daß er die Depesche frühestens erhält, und Sie weigern sich, sie aufzulegen. Sie sollen Ihren Willen meinetwegen haben, aber wir werden wissen, an welcher Stelle wir uns den Ersatz des Schadens, welchen wir erleiden, auszahlen lassen.«

Jetzt wurde der Mann in Wirklichkeit verlegen, so verlegen, daß er es nicht verbergen konnte.

»Aber, wie kommen Sie denn zu der wunderbaren Ansicht, daß Ihre Depesche nicht abgegangen ist?« fragte er.

»Soll ich Ihnen etwa sagen, was Sie telegraphirt haben?« entgegnete Martin, sich zornig stellend.

»Nun? Ich bin begierig, es zu hören!«

»Ja, Sie sollen es hören! Zunächst haben Sie angefragt, ob die Strecke frei sei, und dann lauteten Ihre Worte »Lieber College. Hier steht Einer, welcher nach Berlin telegraphiren läßt und nicht eher fortgeht, als bis er mich in Thätigkeit gesehen hat. Seine Depesche ist chiffrirt, ich muß sie zum Entziffern einsenden. Um ihm nun glauben zu machen, daß sie abgeht, will ich mich mit Ihnen unterhalten.« Ah, Sie werden blaß. Ich brauche also nicht weiter fortzufahren!«

Der Beamte stand da, als hätte ihn der Schlag gerührt.

»Mein Gott, wie können Sie das wissen!« stammelte er.

»Das ahnen Sie nicht?«

»Nein.«

»Sie dauern mich. Daß ich Ihre Worte dem Apparate abgelauscht habe, muß Ihnen doch sagen, daß ich selbst ein erfahrener Kenner des Telegraphen bin, vielleicht ein besserer Kenner als Sie! Ich frage Sie ernstlich, ob meine Depesche abgehen wird, oder ob ich mich augenblicklich an die Behörde wenden soll!«

»Warten Sie!«

Er wollte sich wieder in das Nebenzimmer begeben, aber Martin hielt ihn mit den Worten auf:

»Halt. Sie wollen Erkundigungen einziehen. Sagen Sie bei dieser Gelegenheit, daß ich, während der Apparat in Thätigkeit ist, dabei stehen werde, um die Worte genau zu collationiren.«

Der Mann zog es vor, keine Antwort zu geben und entfernte sich. Bereits nach kurzer Zeit trat er mit einem anderen Beamten ein. Dieser warf einen finsteren, forschenden Blick auf Martin und fragte dann:

»Sie sind selbst bewandert im Telegraphiren?«

»Ja.« lautete die Antwort.

»Wer sind Sie?«


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»Monsieur, befinde ich mich gegenwärtig im Telegraphen oder im Polizeibureau?«

»Im Ersteren natürlich. Ich wollte nur gern wissen, wer der Mann ist, welcher uns so viel Stoff zur Unterhaltung giebt. Handelt es sich wirklich um eine rein geschäftliche Depesche?«

»Ich habe keine Veranlassung, mich abermals darüber zu äußern.«

»Gut. Sie sollen Ihren Willen haben! Treten Sie näher und hören Sie. Ich werde die Depesche selbst abgehen lassen.«

Martin zog seine Abschrift hervor und verglich aufmerksam, während der Apparat arbeitete. Als es zu Ende war, fragte der Beamte in ironischem Tone:

»So. Sind Sie nun zufrieden?«

»Ja.«

»So werden Sie nun endlich gehen!«

»Allerdings. Zuvor jedoch mache ich die Bemerkung, daß ich Ihre Bescheinigung, welche übrigens bereits jetzt nicht stimmt, sofort brieflich nach Berlin senden werde, um von dort aus Recherchen zu veranstalten, ob die soeben abgegangene Depesche vielleicht unterwegs noch, nachdem ich mich von hier entfernt habe, von Ihnen aufgehalten und cassirt wird. Ich warne Sie hiermit, dies zu thun! Gute Nacht!«

Er ging.

»Ein entsetzlicher Mensch!« hörte er hinter sich, noch bevor er die Thür wieder zugemacht hatte.

Draußen stellte er sich gegenüber in den Schatten eines Thorweges, um aufzupassen.

»Sie haben,« dachte er, »meine Depesche unentziffert absenden müssen; nun aber werden sie den Zettel schleunigst nach dem Bureau des Grafen Rallion bringen, um doch noch zu erfahren, um was es sich handelt. Haha, vergebliche Mühe! Unser Schlüssel ist so complicirt, daß selbst ein Meister der Dechiffrirkunst ihn nicht finden kann!«

Er hatte noch nicht zwei Minuten gestanden, so kam ein Mann drüben heraus und lief eiligen Schrittes davon.

»Ah, das ist der Bote, der den Zettel hat! Viel Glück, Ihr armen Leute! Ihr werdet Euch vergeblich die Köpfe zerbrechen!«

Er ahnte nicht, wie bald er seine Schrift wieder vor die Augen bekommen werde, und wie wenig es Demjenigen, der sie hatte, einfiel, sich den Kopf darüber zu zerbrechen.

Jetzt entfernte auch er sich. Beschleunigten Schrittes kam er durch zwei Straßen und blieb da auf dem Trottoir stehen. Seine Blicke suchten die Fenster der zweiten Etage eines Hauses, welchem er gegenüberstand.

Da oben war noch ein Fenster erleuchtet; es stand offen, und ein weiblicher Kopf sah heraus.

»Das ist Alice,« murmelte er. »Sie wird ihren Bruder erwarten. Oder sollte sie vielleicht meinen, daß ich doch noch kommen könne? Ich werde ihr zeigen, daß ich da bin.«

Er trat auf die Mitte der Straße und hustete einige Male halblaut. Als er dies wiederholt hatte, bog sich der Kopf noch weiter heraus, und eine unterdrückte Stimme fragte:

»Robert, bist Du es?«

Das war der Name ihres Bruders.

»Nein!« antwortete der Diener empor.

»Monsieur Martin?«

»Ja.«

»Warten Sie!«

Der Kopf verschwand. Martin trat zur Thüre. Nach kurzer Zeit wurde im Schlosse derselben leise ein Schlüssel herumgedreht; sie öffnete sich, und das Mädchen trat heraus.

»Ah, Sie Böser!« flüsterte sie. »Ich habe so lange gewartet. Warum kamen Sie nicht?«

Er ergriff ihre Hand, zog dieselbe an seine Lippen und antwortete ebenso leise, wie sie gesprochen hatte:

»Und ich habe so lange, so sehr lange wie auf der Tortur gesessen. Ich freute mich auf Sie; ich sehnte mich so sehr nach Ihnen und konnte doch nicht fort!«

»Wo waren Sie, was hielt Sie ab?«

»Es gab Berichte nach Hause zu senden. Monsieur Belmonte dictirte, und ich mußte schreiben. Erst vor zwei Minuten sind wir fertig geworden.«

»Dieser böse Belmonte!«

»O, ich bin sonst sehr zufrieden mit ihm; heute konnte er selbst nicht anders. Werden Sie mir verzeihen?«

»Ich muß wohl, da Sie nicht der Schuldige sind! Aber ich darf nicht hier stehen. Man könnte kommen und mich hier überraschen. Waren da oben noch viele Fenster erleuchtet?«

»Nein, nur das Ihrige.«

»So sind alle Bewohner zur Ruhe gegangen. Ich werde das auch thun, nun ich Sie wenigstens gesehen habe.«

»O nein, nein, thun Sie das noch nicht! Wann ging Monsieur, Ihr Bruder fort?«

»Er war noch gar nicht hier; er ist seit Mittag gar nicht nach Hause gekommen. Ich hätte Sie also gar nicht oben bei mir empfangen können.«

»Auch jetzt nicht?«

»Nein. Er kann an jedem Augenblicke nach Hause kommen.«

»Das befürchte ich nicht. Er hat viel und nothwendig zu arbeiten gehabt, so daß er zum Abendessen doch zu spät gekommen wäre; daher hat er vorgezogen, das Souper in seiner Weinstube einzunehmen. Da befindet er sich noch. Und Sie kennen ihn ja: Ist er einmal dort, so bleibt er bis längere Zeit nach Mitternacht.«

»Das ist leider wahr!« seufzte sie.

»Darum bliebe uns immer ein Stündchen übrig, vielleicht auch zwei. Wollen Sie mich wirklich abweisen, nachdem ich mich so sehr nach Ihnen gesehnt habe?«

Sie ging ein Weilchen mit sich zu Rathe; dann meinte sie:

»Man kann doch unmöglich so spät noch einen Herrenbesuch empfangen!«

»Es wird ja Niemand Etwas bemerken.«

»Ich möchte nicht haben, daß Sie eine ungute Ansicht von mir erhalten, Monsieur Martin!«

»O, wenn es nur das ist, so kann ich Sie sehr leicht beruhigen!«

Er nahm auch ihre andere Hand in Beschlag und fuhr dann fort:

»Sagen Sie mir einmal, Mademoiselle Alice, ob es Ihnen lieb sein würde, wenn wir wieder auseinander gehen müßten!«

»Lieb? Wie könnte mir das lieb sein!«


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»Sie meinen also, daß es besser sei, wir lernen uns kennen?«

»Ja,« flüsterte sie.

»Nun wohl! Wie aber wollen wir das bewerkstelligen? Des Tages muß ich in dieser großen Stadt herumgehen, um für unser Geschäft thätig zu sein, also können wir uns doch nur allein des Abends sehen und sprechen.«

»Aber nicht so spät!«

»Wenn ich nun nicht eher kann?«

»So müssen wir unsere Zusammenkünfte auf solche Abende verlegen, an denen Sie Muse dazu haben.«

»So glauben Sie also, daß ich sehr lange hier bleiben werde?«

»Ja. Ist es nicht so?«

»Nein. Wir haben auch anderwärts sehr viel zu thun. Es kann bereits morgen für mich die Weisung eintreffen, Paris zu verlassen.«

Sie erschrak; das fühlte er am Zucken ihrer Hände.

»Das habe ich nicht gewußt,« meinte sie im bedauernden Tone.

»Sie sehen also ein, daß mir ein jeder Augenblick, an welchem ich bei Ihnen sein kann, kostbar und theuer sein muß. Ich wünsche, daß Sie mich kennen lernen sollen, und Sie versagen es mir!«

»O nein, Monsieur Martin, ich versage es Ihnen ja nicht!«

»Aber Sie wollen mich ja fortschicken! Wie nun, wenn ich morgen abreisen muß!«

»Es würde mir sehr, sehr leid thun! Aber Sie würden doch wohl wiederkommen?«

»Wenn wir hier einmal fertig sind, können Jahre vergehen, ehe ich zurückkehre. Hätte ich eine Geliebte, eine Braut hier zurückgelassen, so würde ich gern die Erlaubniß erhalten, sie zu besuchen. Aber einer Dame wegen, welche ich nur flüchtig kennen gelernt habe, erhalte ich diese Erlaubniß nicht.«

Sie schwieg nachdenklich, und erst nach einer Weile sagte sie:

»Sie mögen Recht haben. Aber ist die Stunde nicht zu spät?«

»Mißtrauen Sie mir etwa? Ich gebe Ihnen die Versicherung, daß ich gegen Sie nicht anders sein werde, als ich sein würde, wenn Vater und Mutter sich dabei befänden.«

»Glauben Sie nicht, daß ich Ihnen mißtraue, Monsieur Martin! Wäre das der Fall, so wäre ich jetzt nicht herunter gekommen. Ich befürchte jedoch, daß mein Bruder zurückkehren und uns überraschen könnte.«

»Er würde mich nicht sehen.«

»Wie wollten Sie das bewerkstelligen?«

»O, diese kleine, allerliebste Alice würde wohl scharfsinnig genug sein, irgend eine Weise zu ersinnen, auf welche es mir möglich wäre, mich seinem Blicke zu entziehen. Vielleicht würde sie mir ein Zimmer oder die Küche anweisen, wo ich mich dann erst entfernte, wenn er zur Ruhe gegangen ist.«

»Das ist immerhin bedenklich, Monsieur!«

»Der Liebe fällt nichts zu schwer!«

Da ließ sie ein leises, munteres Lachen hören und fragte:

»Sie glauben also, daß ich Sie liebe?«

Er legte den Arm um ihre Taille, zog sie an sich heran, strich ihr mit der Hand liebkosend über das weiche Haar und antwortete:

»Ich möchte es glauben, meine theure Alice! Es ist der größte Wunsch meines Lebens, mein Bild recht tief, tief in Ihr gutes, reines Herzchen einzugraben, so daß Sie es nie und nimmer wieder vergessen können.«

Sie lehnte ihr Köpfchen leise an ihn an und sagte:

»Das sagt man oft als bloße Redensart.«

»Bei mir aber ist es die reine, wirkliche Wahrheit!«

»Ist das wahr, Monsieur?«

»Ja; ich schwöre es Ihnen!«

»So will ich es wagen, Sie heute nicht fortzuschicken, obgleich die Mitternacht bereits sehr nahe ist. Kommen Sie! Aber bitte, wir müssen sehr leise sein!«

Er trat in den nur spärlich erleuchteten Flur. Sie verschloß die Thür hinter ihm, und dann stiegen sie geräuschlos die beiden Treppen empor. Die Wohnung, welche sie betraten, war nicht luxurios eingerichtet; aber es glänzte hier Alles von Sauberkeit. Man sah, daß hier ein Wesen waltete, welches bereits an der Wiege von dem Geiste der Häuslichkeit geküßt worden war.

Sie führte ihn in den kleinen Salon. Dort nahm sie auf dem Sopha Platz und er auf einem Stuhle neben demselben. Jetzt beim Scheine der Lampe konnte man sehen, daß Martin nicht ohne Geschmack gewählt hatte. Alice war ein hübsches Mädchen. Alles an ihr war schmuck und nett; sie war wirklich zum Küssen.

»Nun sagen Sie einmal, daß ich, um Ihnen gefällig zu sein, nichts wage,« meinte sie, ihn mit offenem Auge anblickend.

»Ich wollte, ich könnte Ihnen beweisen, daß ich um Ihretwillen noch mehr wagen würde,« antwortete er. »Ich bin Ihnen herzlich dankbar für das kleine Wagniß. Vielleicht schickt es Gott, daß wir einst in einer ebenso traulichen Häuslichkeit bei einander sitzen, ohne Befürchtungen hegen zu müssen!«

Sie erröthete leise. Ihre Fingerchen glitten irr über die kleine Stickerei, welche sie zur Hand genommen hatte; ihr Busen hob sich unter einem tiefen Athemzuge, und dann bemerkte sie:

»Gott ist es allerdings allein, den man um ein solches Glück zu bitten hat.«

Da ergriff er schnell ihr Händchen, zog es zu sich heran und fragte in innigem Tone:

»Würden Sie es wirklich für ein Glück halten, mit mir ein liebes Heim Ihr Eigen nennen zu können?«

Da schlug sie die Augen groß zu ihm auf und antwortete:

»Monsieur Martin, ich habe keine Eltern mehr, und mein Bruder bekümmert sich um mich nicht sehr. Ich bin fast nur allein auf mich angewiesen und sehne mich doch nach Jemand, der gut zu mir ist, dem ich vertrauen kann und dem es eine liebe Beschäftigung wäre, sich ein wenig mit meinen kleinen Gedanken und Gefühlen zu bemühen. Das hat bisher noch Niemand gethan. Ich lebte einsam, bis Sie kamen und mir sagten, daß Sie gern an mich dächten. Ich habe mir dann vorgestellt, wie schön es sein würde, wenn Sie mir Vater, Mutter und Bruder sein


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wollten. Ich würde glücklich sein. Ich sage Ihnen das aufrichtig und bitte Sie von ganzem Herzen, ebenso ehrlich zu mir zu sein. Ich fürchte mich vor dem Unglücke des Lebens; aber an der Seite eines geliebten Mannes würde mich alles Leid und alle Sorge angstlos lassen. Ihm würde ich gehören, nur ihm allein; für ihn würde ich schaffen und arbeiten; mein Herz, meine Seele, mein ganzes Leben, mein Denken und Empfinden müßte wie ein Krystall sein, welchen er durchblicken könnte. Ich bin nicht schön; ich bin auch keine feine Dame; aber ich möchte stets so hübsch sein, daß er mich immer lieben möchte, und ich würde immer Mittel finden, mir sein Herz warm und offen zu erhalten. Würden Sie mit einer solchen Frau glücklich sein können, Monsieur Martin?«

Das war die Sprache eines reinen Herzens, eines warmen Gemüthes. Martin fühlte sich davon so ergriffen, daß seine Augen feucht wurden. Er saß im nächsten Augenblicke neben ihr, er wußte gar nicht, wie es gekommen war. Er schlang seine beiden Arme um sie, zog ihr kleines Köpfchen an seine Brust und sagte:

»Ja, mit einer solchen Frau würde ich sehr, sehr glücklich sein. Und dieses Glück werde ich nur bei Ihnen finden. Alice, sagen Sie, ob dieses kleine, gute, reine Herzchen mir gehören möchte!«

Er legte ihr die Hand auf den leise sich bewegenden Busen, da wo unter demselben das Herz klopfte, von welchem er sprach. Sie duldete diese Berührung, schlug die Augen zu ihm auf und antwortete unter hervorquellenden Thränen:

»Ja, es soll Ihnen gehören, Ihnen ganz allein, ganz allein! Wollen Sie es denn auch haben?«

»Ob ich es haben will! Ein solches Herz ist ja kostbar, so werthvoll, daß es mit allen Schätzen der Erde nicht zu erkaufen ist. Ja, ja, und tausendmal ja, ich will es haben. Und wenn ich es nicht bekommen sollte, so würde ich Alles, Alles thun, um es endlich doch noch zu erlangen!«

»So lieben Sie mich? Wirklich, wirklich?«

»Wie sehr, o wie sehr!«

Er legte ihr die Hand unter das zarte Kinn, hob ihr Gesichtchen zu sich empor und küßte sie auf die warmen Lippen, welche seinen Kuß leise und verschämt erwiderten. Dann aber legte sie plötzlich die Arme um seinen Nacken und sagte in bittendem Tone:

»Martin, laß dies keinen bloßen Scherz sein. Viele tausend Männer giebt es, welche solche Worte sagen, um für kurze Zeit eine Unterhaltung zu haben. Ich würde sterben und vergehen, wenn ich Dir heute mein Herz und meine Seele schenkte und Du stießest sie dann wieder von Dir.«

Da drückte er sie fest und innig an sich, so fest, daß Beide gegenseitig ihre Herzen schlagen fühlten, und betheuerte:

»Alice, Du sollst mein Leben, meine Wonne sein, und eher will ich Alles meiden und Alles von mir geben, ehe ich Dir entsage. Willst Du das glauben, Geliebte?«

»Ich glaube es!« flüsterte sie, indem ein strahlender Blick durch Thränen hindurch ihn traf.

»Und wenn ich Paris verlassen muß und einige Zeit lang nicht wiederkommen kann, wirst Du da immer an mich denken und mir treu bleiben?«

»Immer und immer! Ich werde nur an Dich denken und täglich und stündlich zu Gott beten, daß er Dich recht bald wieder zu mir bringen mag. Und dann -«

Sie stockte, und bei dem Gedanken, was sie, hingerissen von der Aufrichtigkeit ihres Herzens, noch hatte hinzufügen wollen, trat eine tiefe Röthe in ihre Wangen.

»Und dann - -?« fragte er. »Willst Du nicht weiter sprechen?«

»Ich darf es nicht sagen!« antwortete sie in holder Scham.

»Warum?«

»Kein Mädchen soll das sagen dürfen.«

»O doch! Versprachst Du mir nicht, stets wie ein Krystall zu sein, dessen Klarheit ich durchschauen könne?«

»So meinst Du, daß ich es wirklich sagen soll?« fragte sie zagend.

»Ja. Bitte, bitte! Und dann -?«

»Und dann, wollte ich sagen, wenn Du zurückgekehrt bist, dann können wir wie die Schwalben sein, welche mit einander davon zwitschern, wohin sie ihr Nestchen bauen wollen.«

Er war ganz hingerissen von dieser kindlichen, natürlichen Naivität. Er küßte und küßte sie entzückt auf Stirn, Mund und Wangen und antwortete:

»Ja, meine Alice, mein Schwälbchen, dann sprechen wir von dem Nestchen, welches wir bauen wollen. Groß wird es allerdings nicht werden!«

»O, groß soll es auch nicht sein, groß will ich es gar nicht haben. Es soll gerade so groß sein, daß zwei Vögel, welche sich lieben, Platz darin haben und lustig aus- und einfliegen können, um sich Mücken und allerlei andere Leckerbissen zu fangen. Und wie schön würde ich es einrichten! Und wie sehr, wie sehr würde ich mich freuen, wenn es Dir darin gefiele!«

So sprachen und flüsterten sie weiter. Für die Liebe hat ja selbst das sonst Werthlose Bedeutung, wenn man nur die Stimme Dessen hört, den man liebt. Sie achteten nur auf sich; sie hatten vergessen, daß die Zeit für den Unglücklichen Schneckenfüße, für den Glücklichen aber Flügel hat, bis Alice plötzlich aufhorchte.

Draußen an der Vorsaalthüre wurde ein Schlüssel umgedreht. Das Mädchen wurde vor Schreck leichenblaß; sie flog aus den Armen Martins fort, schlug die Hände angstvoll zusammen und flüsterte:

»Gott, mein Bruder! Was thun wir?«

»Ich verstecke mich!«

»Wohin aber so schnell?«

»Hier herein.«

Er raffte seinen Hut vom Stuhle auf und öffnete die nächste Thür.

»Um Gotteswillen, da nicht! Das ist ja seine Schlafstube!«

Ihre Warnung kam bereits zu spät. Martin hatte die Thür schon hinter sich zugezogen. Der Raum war finster, aber beim Oeffnen der Thüre war ein Lichtstrahl hereingefallen, und der junge Mann hatte die hier stehenden Möbel ziemlich deutlich erkennen können. Es befand sich hier ein Bett, ein Waschtisch, ein Spiegel, ein Kleiderschrank und außer drei Stühlen noch ein Tisch, welcher in der Mitte stand.

Martin meinte es ehrlich mit der Geliebten, er sagte sich also, daß er eigentlich keine Veranlassung habe, den Bruder


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derselben zu scheuen. Unter anderen Umständen wäre er demselben jedenfalls ruhig entgegengetreten, um ihm den Grund seiner Anwesenheit offen zu erklären. Hier aber war er nicht bloß der Geliebten wegen anwesend; er hatte sich nebenbei eine weitere Aufgabe noch gestellt.

Er hätte leicht in das Schlafzimmer Alicens treten können, wohin zu kommen, ihrem Bruder wohl nicht eingefallen wäre, aber einestheils war ihm die Geliebte zu rein und heilig erschienen, als daß er selbst aus Angst vor einer Entdeckung ihr Sanctuarium hätte entweihen mögen, und sodann kam es ihm darauf an, Zutritt zu dem Zimmer des Secretärs zu finden. Daher hatte er es vorgezogen, in dasselbe zu treten.

Er probirte den Kleiderschrank. Er war verschlossen, und der Schlüssel steckte nicht an. Ob er in der nächsten Stube, dem Arbeitszimmer des Secretärs, einen Zufluchtsort finden werde, war zweifelhaft; die Arbeitszimmer unverheiratheter Männer sind gewöhnlich mit Möbels nicht sehr überladen. Daher blieb ihm nur der Tisch und das Bett übrig.

Sich unter dem Bette zu verbergen, das war eine ebenso unbequeme wie gefährliche Geschichte; aber auf dem Tische lag eine große Decke ausgebreitet, deren Ecken bis auf den Fußboden nieder reichten. Er hob also eine dieser Ecken auf, kroch hinunter und machte es sich in sitzender Stellung zwischen den vier Beinen so bequem wie möglich.

Als ihr Bruder eintrat, hatte Alice ihren Schreck noch nicht vollständig bemeistert; aber er bemerkte es nicht. Sein Gang war wankend, und seine Augen zeigten einen trüben, gläsernen Glanz. Er befand sich jedenfalls in demjenigen Zustande, welchen Martin dem Changeur gegenüber mit Käfer, Aal und Affen bezeichnet hatte. Damit waren Steigerungen der Betrunkenheit bezeichnet. Welcher Ausdruck hier der treffende sei, ob der kleine Käfer oder der große Affe, das war sehr leicht zu erkennen: Der Secretär hatte einen riesigen Affen, einen Chimpansen, einen Oran-Utang oder gar einen riesenhaften und schrecklichen Gorilla.

»Noch nicht schlafen?« brummte er. »Warum bist Du denn noch auf?«

»Ich wollte Dich erwarten,« antwortete sie. »Du hast ja noch gar nicht zu Abend gespeist.«

»Speist, Abend -« stotterte er. »Habe gegessen - Weinstube - fameuser Wein - vier Flaschen, ah!«

Er taumelte auf die Thür seines Schlafzimmers zu, hinter welcher Martin verschwunden war. Alice bekam Angst, sie faßte ihn am Arme und sagte:

»Nimm doch hier erst noch ein wenig Platz!«

»Platz?« fragte er, sie erstaunt anstierend. »Hier - erst noch -? Warum? Oh!«

»Ich habe mit Dir zu reden.«

»Reden? Oh - - nein. Mag nicht - nicht reden. Kann nicht - - nicht mehr reden.«

Er faßte die Klinke; aber sie ließ ihn nicht los.

»Nur einen Augenblick setze Dich hier nieder!« bat sie.

»Au - augenblick - blick? Unsinn, Blick! Mag nichts erblicken - nichts sehen. Aergere mich nicht, Mädchen. Habe mich - - schon - schon sehr - sehr genug geärgert - ärgert!«

»Worüber denn?« fragte sie, indem sie den Versuch machte, ihn wenigstens durch das Gespräch noch eine kurze Zeit fest zu halten.

Da stellte er sich kerzengerade auf, sah sie zornig an, fuchtelte mit dem Stocke, welchen er noch in der Hand hielt, wild um sich herum und antwortete:

»Wo - rüber? Donnerwetter. Verdamm - - dammte Depesche - pesche. Kann der Teufel holen - holen.«

»Welche Depesche denn?«

»Hatte lange - lange gearbeitet - beitet. Sitze beim Glas Wein. Kommt der Kerl - Kerl, - Bureaudiener. Noch eine Depesche - pesche angekommen, zum Entziffern, - ziffern. Kein Mensch mehr dagewesen. Muß sie also - also mir bringen - bringen. Depesche nach - Berlin - lin. Gebracht worden von - - von einem Kerl - - frecher Kerl. Muß sie einmal, - - einmal ansehen - sehen.«

Er öffnete die Thür, sie konnte es nicht mehr verhindern und folgte ihm mit der Lampe. Er setzte sich sofort auf einen der Stühle. Ihr Auge schweifte angstvoll im Zimmer umher. Es war keine Spur von Martin zu erblicken. Sie glaubte in Folge dessen, er müsse draußen in der Arbeitsstube seine Zuflucht gesucht haben. Nun galt es, den Bruder vom Betreten derselben abzuhalten.

Dieser kramte gähnend in seinen Taschen herum.

»Was suchst Du?« fragte sie.

»Du? Du nicht. Ich suche!« meinte er, sich verbessernd.

»Ja. Was aber denn?«

»Die - die De die die De - Donnerwetter, die De De Diepesche - pesche!«

»Hier wird sie sein.«

Sie zog aus seiner Seitentasche ein Schriftstück hervor. Das war aber keine Depesche; dazu war es zu dick.

»Depesche?« fragte er. »Unsinn. Das ist - ist der Feld - Feldzugsplan - plan, gegen die Preu - reußen.«

Sie legte das Schriftstück auf den Tisch und meinte:

»Ein Feldzugsplan gegen die Preußen?«

»Ja,« nickte er. »Preu - reußen und Süddeut - deutschen.«

»Mein Gott. Giebt es denn Krieg?«

»Krieg, ja! Krieg - Sieg - Keu-keule und Revan-vanche! Aber pst! Still! Ruhig! Kein Mensch darf - darf es jetzt erfahren - fahren! Ich soll den Plan - - Plan auf's Reine schrei - schreiben. Famos! Bismarck kriegt tüchtige Prü-rügel. Die Preu-reußen die Bay-ayern, die Würtember-erger, die Westpha-phalen, die Sach-achsen und die Pom-pommer-pommeranzen. Alles kriegt Hie - Hiebe! Wo - wo - Donnerwetter, wo ist die De Die De Diepesche?«

Sie half ihm suchen und brachte schließlich den Zettel, welchen Martin nach dem Telegraphenbureau getragen hatte, in einem höchst zerknitterten Zustande aus seiner Westentasche hervor.

»Ist sie das?« fragte sie.

»Ja - ja! Muß sie le-le-lesen, entziff-siff-schiff-schiffern.«

Er klaubte den Zettel mühsam auseinander und rückte mit Lebensgefahr seinen Stuhl zum Tische.

»Aber,« meinte seine Schwester, »Du wirst doch nicht noch lesen und arbeiten wollen!«

»Wa-rum nicht? Muß - muß! Pflicht-licht! Muß morgen wissen - - was in der De-Depesche steht!«


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»Lege Dich doch lieber schlafen!« rieth sie ihm.

Sie hatte die ganz richtige Ansicht, daß Martin desto eher entkommen könne, je früher ihr Bruder schlafen gehe. Dieser sagte:

»Schla-lafen! Nein! Ich bin nicht schlä-läferig! Ich muß die de de Diepesche entziff - ziff - liff - liffern.«

»Aber Du kannst ja kaum mehr lallen!«

»Lall - -!« Er warf ihr einen zornigen Blick zu. »Lallen? Ich nicht - nicht mehr lall - -! Ich der Sec- secre - retär des Grafen Ralli - - lion! Mä - mädchen, packe Dich hina-naus!«

Er stand vom Stuhle auf, packte sie an und schob sie trotz ihres Widerstrebens zu der noch offen stehenden Thüre hinaus. Und als sie sich den Eintritt wieder erzwingen wollte, rief er grimmig:

»Mache mich nicht - - nicht zo-zornig! Hinaus mit Dir - Dir; ich muß arbei - bei - beiten.«

Bei diesen Worten drehte er den Schlüssel um und schob sogar den Riegel vor. Er hatte sich und Martin eingeschlossen.

»Wo - wo - ist die De - Depesche - pesche?« fragte er dann.

Sie war ihm entfallen und lag am Boden. Er suchte eine Weile, fand sie aber nicht. Dies ermüdete ihn. Das mühsame und in seinem Zustande gefährliche Bücken hatte ihn drehend gemacht und die Geister des Weins in doppelte Aufregung versetzt.

»Fort! - Weg!« meinte er. Werde morgen su-suchen und sie morgen entziff - liff - - liffern. Ah!«

Er gähnte, wankte zum Bette und warf sich in voller Kleidung auf dasselbe nieder.

Alice klopfte noch einige Male an die Thür, vergebens. Er antwortete gar nicht. Er drehte sich von einer Seite auf die andere und verfiel zuletzt in den tiefen Schlaf, welchen ein tüchtiger Rausch mit sich bringt.


Ende der vierundfünfzigsten Lieferung - Fortsetzung folgt.



Karl May: Die Liebe des Ulanen

Karl May – Forschung und Werk