Lieferung 57

Deutscher Wanderer

18. Oktober 1884

Die Liebe des Ulanen.

Original-Roman aus der Zeit des deutsch-französischen Krieges von Karl May.


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Belmonte nahm die Gräfin wieder vom Boden auf. Er konnte nicht sehen, ob sie die Augen noch offen habe. Er fühlte aber, daß sie vollständig bewegungslos war.

Da klirrten die Riegel; das Thor gab nach; es öffnete sich, und nun war nichts, gar nichts mehr zu befürchten.

»Jetzt schnell zur nächsten Polizeistation, nachdem Du wieder zugeschlossen hast!« gebot Belmonte. »Erzähle, was geschehen ist, und laß Alle, welche sich im Keller befinden, aufheben.«

»Wo treffe ich Sie dann?« fragte Martin.

»Daheim.«

»Schön! Ich werde eilen! Na, so ein Wiedersehn beim Weine!«

Er sprang davon. Sein Herr schritt mit Sally und der Comtesse, Letztere natürlich auf seinen Armen, langsam durch das enge Gäßchen hinauf, an dessen Mündung sich eine Fiakerstation befand. Hier stiegen sie in einen Wagen, um nach dem Hotel des Generals zu fahren. Er mochte die Gräfin nicht der Kellnerin anvertrauen; er legte sie vorsichtig neben sich in die Kissen und hielt ihre beiden Hände in den seinigen.

Nach einiger Zeit war es ihm, als ob er einen leisen, leisen Druck fühle. Er neigte sich ihr näher und fragte:

»Sind Sie wieder bei sich, Comtesse?«

»Ja,« hauchte sie.

»Haben Sie Schmerzen?«

»Nein. Ich bin matt, sehr, sehr matt!«

Sie ließ ihre Hände nicht aus den seinigen, als ob sie bei ihrer Mattigkeit auf diese Stütze nicht verzichten könne. Nach einiger Zeit hielt der Wagen vor dem Portale, und Belmonte sprang heraus.

»Bleiben Sie!« flüsterte er hinein. »Ich muß seine Excellenz erst vorbereiten.«

Der Portier erkannte ihn wieder.

»Abermals zum Herrn General?« fragte er ihn.

»Ja. Der Herr Graf sind doch zu sprechen?«

»Versuchen Sie es!«

Belmonte schritt die Treppe empor und trat in das Vorzimmer ein. Dort war Niemand vorhanden; im nächsten auch nicht, und so klopfte er an die Thür, welche zum Cabinet des Generales führte. Ein lautes »Eintreten« ließ sich hören. Als er diesem Gebote folgte, sah er den Kammerdiener neben dem Generale stehen, welcher am Tische saß.

Der alte Herr erhob sich überrascht, als er ihn erkannte.

»Monsieur Belmonte!« sagte er. »Sie wieder? Und zwar unangemeldet! Ah! Ich verstehe! Sie wollen sich die Hunderttausend nebst der übrigen Summe holen.«

»Sie irren von Neuem. Ich will mir nichts holen, sondern ich bringe Ihnen Etwas.«

»So erklären Sie, was - - mein Gott, was ist das? Sie bluten ja ganz entsetzlich!«

Fast erschrocken blickte Belmonte an sich nieder, und nun erst bemerkte er, daß das Blut in schweren, dicken Tropfen aus seinem linken Aermel zur Erde fiel. Er hatte bisher vor Aufregung nicht den mindesten Schmerz empfunden; aber in dem Augenblicke, an welchem er das Blut sah, fühlte er, daß er verwundet sei.

»Entschuldigung, Excellenz!« sagte er. »Ich wußte nicht, daß ich blute; sonst wäre ich nicht hier eingedrungen. Der Hund wird mich in den Arm gebissen haben.«

»Welcher Hund?«


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»Der mich verhindern wollte, Ihnen eine gute Nachricht zu bringen. Ich komme nämlich, Ihnen zu sagen, daß Sie die gnädige Comtesse vielleicht noch heute Abend wiedersehen werden.«

»Wirklich? Wirklich? Wäre das möglich?« rief der Graf freudig. »Sind ihre Peiniger geneigt, sie bereits heute mir zurückzugeben?«

»Ihre Peiniger? Ich glaube nicht - daß - - daß diese - - daß diese - - ah, wie wird - wird -!«

Er konnte kein Wort mehr hervorbringen. Ein dicker Blutstrahl schoß ganz plötzlich aus seinem Aermel hervor. Er griff mit der Rechten nach der Lehne eines nahen Stuhles und verlor, von dem schnell herzutretenden Diener gehalten, die Besinnung.

Nun war es ihm, als träume er, daß er verbunden wurde. Er hörte wie aus weiter Ferne laute Ausrufe und freudiges Schluchzen; dann verschwand diese Vision.

Als er erwachte, lag er in einem prachtvoll ausgestatteten Zimmer auf einem Ruhebette. Er war angekleidet und trug den Arm, welcher ihn sehr schmerzte, in der Binde. Einige Augenblicke später war er wieder eingeschlafen. -

Die Gäste des Vater Main hatten keine Ahnung von Dem gehabt, was unter ihnen im Flaschenkeller und sodann über ihnen vorgegangen war, bis endlich der Kellnerin Betty auffiel, daß Sally sich nicht sehen ließ und ebenso wenig der Student aus Tours. Auch wußte sie, daß ihr Herr in den Keller gegangen war, um Wein zu holen. Warum kam er nicht mit demselben? Befanden sich etwa alle Drei da unten beim Weine?

Sie wurde von Minute zu Minute neugieriger und stieg endlich mit einem Lichte die Kellertreppe hinab. Da hörte sie ein leises Stöhnen. Sie erschrak und eilte zurück zu den Gästen.

»Kommt schnell herab in den Keller; da ist Etwas passirt!« rief sie ihnen zu.

Bei dieser Botschaft hörte natürlich die launige Unterhaltung sofort auf. Es wurden Lichter angebrannt, und dann begab man sich hinab. Da lag der Wirth, halb besinnungslos, hielt die Hand an den hinteren Theil des Kopfes und wimmerte.

»Hier ist Etwas geschehen,« sagte der Emissär. »Er hat einen Hieb erhalten. Schafft ihn herauf und reibt ihm die Stelle mit Branntwein ein! Wer mag das gewesen sein?«

»Sally fehlt,« meinte Betty.

»Sally? Die wird ihn doch nicht überfallen haben!«

»Auch der Student ist hinaus und noch nicht wieder zurück!«

»Wer weiß, wo er steckt! Er wird in die Sally verliebt sein. Diese Beiden sind es nicht gewesen.«

»Was wird es sein,« meinte Einer. »Vater Main ist ganz einfach zur Treppe hinabgestürzt.«

»Zur Treppe hinab und so weit da hinter? Das ist ganz und gar unmöglich!«

»Er hat sich da hinter geschleppt.«

»Warten wir, bis er wieder zu sich kommt; dann werden wir es erfahren.«

Die Einreibung auf dem Hinterkopfe, frisches Wasser in das Gesicht und eine tüchtige Prise Schnupftabak in die Nase brachte den Wirth bald zur Besinnung. Er blickte erst ganz erstaunt um sich her und fuhr sich mit der Hand tastend nach der schmerzenden Stelle. Da aber kehrte ihm das Gedächtniß zurück, und sofort stand er auf.

»Donnerwetter, wo ist der Student?« fragte er.

»Er ist mit der Sally zur Treppe hinauf, wohl in den Hof,« antwortete Betty.

»Dort würde der Hund Beide zerreißen. Der Kerl hat mir einen Hieb gegeben. Ich war gerade im Umdrehen, als er zuschlug, und habe ihn erkannt. Suchen wir ihn!«

Sie fanden die Treppenthür verschlossen, und erst nun merkte der Wirth, daß ihm die Schlüssel fehlten. Er nahm ein Licht und eilte in den Keller. Als er zurückkehrte, rief er:

»Er hat mir die Schlüssel gestohlen; er hat irgend etwas Schlimmes vor. Schnell, schnell, daß wir ihn noch erwischen!«

Er riß hinter den Fässern eine eiserne Brechstange hervor, mit deren Hilfe er die Treppenthüre aufsprengte. Draußen auf dem Hofe lag der Hund erwürgt; außerdem waren ihm mehrere Rippen zertreten oder mit dem Knie zerstemmt worden. Das Hofthor war verschlossen.

Jetzt eilte Main nach oben; aber nur die Drei, welche an dem Mädchenraube theilgenommen hatten, durften ihm dorthin folgen. Dort fanden sie die beiden Leichen; die Gefangene aber war fort.

»Donner und Doria, wie kommt dieser - horcht!«

Auf diese Worte des Wirthes lauschten alle Vier nach unten. Da hörte man den Ruf:

»Die Polizei, die Polizei. Hinten hinaus! Ueber die Mauer!«

»Wir sind verloren!« stöhnte der Wirth. »Nur die Flucht kann uns retten. Schnell zum Dachfenster hinaus und beim Nachbar wieder hinein!«

Martin nämlich hatte sich dem Gebote seines Herrn zufolge nach der nächstliegenden Polizeistation begeben. Dort war er mit großen Augen empfangen worden. Er hatte sich während des Ringens mit dem Hunde im Hofschmutze herumgewälzt und besaß in Folge dessen kein sehr empfehlendes Aeußere.

»Was wünschen Sie?« fragte der Polizeiofficier.

»Sie!« antwortete er.

»Mich?«

»Ja.«

»Wozu? Sprechen Sie sich deutlicher aus.«

»Das kann geschehen. Haben Sie vielleicht bereits gehört, daß die Comtesse von Latreau seit gestern Abend verschwunden ist?«

»Närrische Frage. Natürlich wissen wir dies.«

»Die Polizei sucht nach ihr?«

»Natürlich.«

»Haben Sie sie?«

»Nein. Haben Sie etwa eine Spur von ihr?«

»Nein.«

»Nun, warum sprechen Sie dann über diese Angelegenheit?«

»Weil ich mich ungeheuer für sie interessire. Wir haben nämlich keine Spur, sondern wir haben die Comtesse selbst.«

Der Officier glaubte, es mit einem geistig gestörten Menschen zu thun zu haben; in dieser naiven Weise hatte noch Niemand mit ihm zu sprechen gewagt.


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»Wer sind Sie?«

»Monsieur Arthur Belmonte ist mein Herr, und in Folge dessen bin ich sein Diener.«

»Können Sie sich legitimieren?«

»Ja, hier.«

Er zog eine Karte hervor und zeigte sie dem Beamten hin.

»Das reicht aus,« meinte dieser. »Aber ich bitte sehr, mir Ihr Anliegen in geordneter Weise vorzutragen.«

»Wie sie wünschen, Monsieur. Ich werde also mein Anliegen in die beste Ordnung bringen, um es Ihnen vorzulegen. Da ich aber dazu wenigstens drei Tage brauche und jetzt die Zeit drängt, will ich Ihnen in aller Unordnung sagen, daß wir die Comtesse gefunden haben.«

»Gefunden? Ah! Wieso?«

»Gefunden und befreit.«

»Wer sind diese Wir?«

»Mein Herr und ich. Ist Ihnen die Boudique des sogenannten Vater Main bekannt?«

»Natürlich. Dieser Mann wohnt ja in meinem Bezirke.«

»Nun, bei ihm hat die Comtesse sich als Gefangene befunden. Wir haben sie soeben herausgeholt, und mein Herr schickte mich zu Ihnen, die in der Kneipe anwesende Versammlung zu arretiren.«

»Können Sie mir beweisen, daß sich die Baronesse de Latreau wirklich dort befunden hat?«

»Fragen Sie die Dame.«

»Das erfordert so viel Zeit, daß uns bis dahin die Kerls entgehen würden.«

»So lassen Sie sie ausreißen. Ich gehe auch.«

Damit war er zur Thüre hinaus. Und als der Beamte ihm nachrief, that er gar nicht, als ob er es höre.

Der Polizist war sich aber seiner Verantwortlichkeit bewußt. Er telegraphirte sofort an einige der nahe liegenden Bureaus nach Mannschaft, welche in Zeit von einer halben Stunde beisammen war. Aber ehe er mit diesen Leuten in den Keller eindrang, fanden die Hauptpersonen Zeit, sich in Sicherheit zu bringen. Die Festnehmung der Andern konnte zu Nichts führen.

Martin hatte die Weisung erhalten, nach Hause zu gehen. Er konnte es sich aber doch nicht versagen, einen kleinen Umweg zu machen, um am Hotel des General's vorüber zu gehen. Er wollte wenigstens an der Zahl der erleuchteten Fenster sehen, welchen Eindruck die Rückkehr der Geretteten gemacht habe.

Als er den Portier stehen sah, kam ihm der Appetit sich in dem Ruhme seiner Thaten zu sonnen. Er trat daher an ihn heran, grüßte sehr höflich und fragte:

»Sie entschuldigen, Monsieur, gehört dieses Palais dem General, Grafen de Latreau?«

Der Portier war überzeugt, eine untergeordnete Persönlichkeit vor sich zu haben; er warf sich in Aplomb und antwortete im gewichtigen Tone:

»Ja, Monsieur, es gehört uns.«

»Ist dies der General, dessen Tochter gestern Abend verführt worden ist?«

»Verf - Sie wollen doch sagen, entführt?«

»Höchst wahrscheinlich. Hat man sie noch nicht wieder?«

»O ja, man hat sie wieder.«

»Das ist sehr hübsch. Ist sie selbst wieder gekommen?«

»Nein. Man hat sie gebracht.«

»Gebracht? Hm! Da muß es ihr auswärts sehr gut gefallen haben!«

»Hören Sie, Monsieur, ich wollte, das wäre bei Ihnen auch der Fall. Machen Sie wenigstens jetzt, daß Sie bald nach auswärts kommen.«

»O, das hat noch gute Zeit. Ich stehe nämlich hier in Folge meines Amtes.«

»Ah, so. Was sind Sie denn?«

»Reporter.«

»Für welches Blatt?«

»Für eine türkische Zeitung in Constantinopel. Es wurde mir dorther gemeldet, daß der Sultan die Absicht habe, einige Pariserinnen mausen zu lassen. Als ich nun hörte, daß Ihnen die gnädige Comtesse abhanden gekommen ist, so dachte ich sogleich, der Sultan stäck dahinter. Nun sie aber wieder da ist, werde ich sogleich nach Constantinopel telegraphiren, daß er nicht dahinter steckt.«

»Nein, der nicht. Es steckt vielmehr ein ganz obscurer Kneipenwirth dahinter. Er hat sie geraubt, um hunderttausend Franken Lösegeld zu erhalten. Das können Sie mit nach Constantinopel telegraphiren.«

»Schön. Und was noch?«

»Daß die Polizei zu dumm gewesen ist, sie zu finden.«

»Die Polizei? Ist die hier in Paris auch dumm? Ich dachte, blos in Constantinopel. Das muß ich hintelegraphiren. Was aber noch?«

»Daß ein Weinhändler die Gnädige errettet hat.«

»Das ist hübsch von ihm! Das ist ein Beweis, daß es doch mitunter einen Weinhändler giebt, der ein Gefühl hat und ein menschliches Gemüth. Hat er es denn allein fertig gebracht?«

»Nein. Er hat seinen Diener mitgebracht. Ohne Domestiken ist so ein Rettungswerk niemals zu vollbringen.«

»Sie meinen, ohne Domestiken und Portiers. Wo stecken denn nun die beiden Retter?«

»Der Diener hat sich verduftet -«

»Sapperlot! Ist er so ätherisch? Das muß ich nach Constantinopel telegraphiren. Und der Herr?«

»Der Herr liegt oben im Bette.«

»Im Bette? Donnerwetter. Ist er so schläfrig?«

»Krank.«

»Krank? Was fehlt ihm?«

»Ein Hund hat ihm den Arm zerbissen. Er hat viel Blut verloren, ohne es zu bemerken. Es muß ihm eine Ader, ein Arterium oder ein Ven - Ven -«

»Sie meinen, daß ihm eine Krampfader in die unrechte Kehle gekommen ist?«

»Ja ja, so wird man es wohl nennen. Er ist droben bei uns umgefallen, und man hat nach dem Arzt gesandt, der soeben bei ihm ist.«

»Ist das Wahrheit oder auch so eine Krampfaderfistel?«

»Wahrheit.«

»So muß ich schleunigst hinauf.«

Er wollte fort; aber der Portier faßte ihn und hielt ihn zurück.

»Was wollen Sie oben? Sie gehören nicht hinauf!« meinte er.


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»Oh doch. Ich bin nämlich der verduftete Diener, ohne den so ein Rettungswerk gar nicht unternommen werden kann.«

Damit riß er sich los und eilte die Treppe empor. Er kam gerade zur rechten Zeit, beim Anlegen des Verbandes mit zu helfen. Sodann wurde er zu dem General gerufen.

Diesem war es lieb, zu hören, daß der Diener Belmonte's da sei. Von Martin konnte er Aufklärung über Alles erhalten; besonders auch über Sally, welche mit der Comtesse gekommen war, ohne daß man ihren Antheil an der rettenden That genau kannte.

Martin erzählte Alles, so daß der General nun ganz genau unterrichtet war; dann begab er sich zu seinem Herrn, den er im tiefen Schlafe fand.

Man bot ihm ein Zimmer an; er aber lehnte es ab. Er wußte seinen Herrn in guter Pflege und beschloß daher, nach Hause zu gehen und bei dieser Gelegenheit einmal bei seinem Schwälbchen vorüber zu gehen.

Er bemerkte bereits von Weitem, daß ihre Wohnung erleuchtet sei. Das Fenster stand offen; sie selbst aber war nicht zu sehen. Er machte einen Versuch und klatschte in die Hände. Richtig, er hatte sich nicht verrechnet. Das kleine Köpfchen erschien oben im Rahmen des Fensters.

»Pst!« machte er es hinauf.

»Bruder?« fragte sie hinunter.

»Nein, Martin!«

»Ah! Ich komme.«

Es dauerte nicht lange, so wurde die Hausthür geöffnet.

»Endlich! Endlich!« flüsterte sie ihm entgegen.

»Hast Du meine Karte gefunden?«

»Ja. Galt sie denn mir?«

»Freilich. Komm, sage mir guten Abend und laß Dich küssen!«

Er wollte sie an sich ziehen; sie aber wehrte ab und sagte:

»Halt! Noch nicht! Erst muß ich wissen, warum Du mir nicht Wort gehalten hast! Erst ladest Du mich ein, und dann, wenn ich komme, so bist Du ausgeflogen.«

»Wie es die Schwalben zu machen pflegen.«

»Aber doch nicht ohne Grund!«

»Nein.«

»Welches war der Deinige?«

»Die Liebste war uns abhanden gekommen.«

»Die Liebste? Uns? Wer ist denn da gemeint?«

»Wir, nämlich ich und mein Herr.«

»Ihr habt also eine Liebste mit einander?«

»Na, so wörtlich doch nicht; aber mein Herz ist sein Herz und mein Rock ist sein Rock; bei uns ist Alles unser. Hast Du denn nicht von der Comtesse de Latreau gelesen?«

»O, doch! Ich bedaure sie sehr. Man sagt, daß sie ebenso schön wie reich, und ebenso reich wie gut sei.«

»Ja, gut scheint sie zu sein, sehr gut. Sie hat keinen einzigen Mux gethan, als mein Herr sie auf seine Arme nahm.«

»Dein Herr? Auf seine Arme?«

»Nun ja. Das mußte er doch thun, wenn wir sie retten wollten.«

»Ihr habt sie gerettet, Ihr?«

»Freilich! Eben darum war ich nicht zu Hause.«

»Dann, o dann bist Du entschuldigt. Aber erzähle es schnell, wie es gekommen ist, daß gerade Ihr sie gerettet habt.«

»Ich werde es Dir erzählen, droben auf dem Sopha, weißt Du, auf dem wir gestern saßen.«

»Wollen wir uns abermals in solche Gefahr begeben?«

»Ja. Wenn ich nur bei Dir sein darf, so krieche ich ganz gern unter den Tisch.«

»So komm! Wollen es versuchen!«

Droben angekommen, blickte Martin zunächst in das Arbeitszimmer des Secretärs.

»Hier herein stecke ich mich nicht wieder,« meinte er. »Ah, dort liegt das Papier, welches er gestern mitbrachte.«

»Nein,« antwortete sie. »Das gestrige war das falsche; er hatte es bereits einmal auf's Reine geschrieben. Heute früh merkte er es und hat sich dann am Mittag das Richtige mitgebracht.«

»Darf ich es mir einmal ansehen?«

»Warum nicht? Ganz gern.«

Das Heftchen war lange nicht so voluminös wie das gestrige. Er schlug es auf und las den Titel:

»Ueber die Anwendung der französischen Kriegsmarine bei dem Kampfe gegen Preußen und Süddeutschland.«

Er setzte sich mit dem Hefte zu der Lampe und überflog den Inhalt. Sie verzog das Gesichtchen zu einem leichten Schmollen und sagte:

»Sprachst Du nicht von einem Kusse? Und nun geht dieses Papier vor!«

»Nein, der Kuß geht vor; Du gabst mir keinen. Sei mir nicht bös, liebes Kind. Ich finde hier gerade Etwas, was für mich von großem Werthe ist.«

Da schlang sie die Arme um ihn, legte ihm ihr Köpfchen an die Schultern und fragte:

»Was dürfte für Dich von größerem Werthe sein als ich?«

»Nichts, gar nichts. Aber gewisse Werthe giebt es doch immerhin auch außer Dir.«

»Nun, was denn zum Beispiel?«

»Diese Ziffern hier, mein Kind.«

»Ziffern? O weh! Wie können so häßliche Dinge für Dich so werthvoll sein!«

»O, für Dich ebenso wie für mich.«

»Wieso?«

»Hätte ich diese Ziffern, so könntest Du mein Weibchen noch viel früher werden als ohne sie.«

»Das begreife ich nicht.«

»Darum muß ich es Dir erklären. Die Marineschiffe sollen nämlich nächstens verproviantirt werden. Zum Proviante und auch zu den Medicamenten nun gehört Wein. Unser Chef nun hat sich bei der ausgeschriebenen Concurrenz mit gemeldet. Keinen der Concurrenten ist es gesagt worden, um welche Vorräthe, um welches Quantum es sich eigentlich handelt. Dürfte ich mir diese Ziffern abschreiben, so wüßten wir das Quantum, könnten eine billige und genaue Veranschlagung aufstellen und würden ganz gewiß die Lieferung bekommen.«

»Und das wäre auch ein Vortheil speziell für Dich?«

»Natürlich. Der Chef kann diese Aufstellung nur durch diese meine Beihilfe machen. Eine Extragratification oder


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die Stipulation eines Prozentsatzes vom Gewinne würde mir sicher sein.«

»Das wäre schön, sehr schön!«

»Natürlich! Je eher die Schwalben ihr Baumaterial finden, desto eher wird ihr Nestchen fertig.«

Sie nickte höchst einsichtsvoll mit dem Köpfchen, fragte aber doch:

»Ist es denn erlaubt, solche Sachen abzuschreiben?«

»Wem könnte es Etwas schaden?«

»Aber meinem Bruder dürfte ich es dennoch nicht sagen.«

»Warum?«

»Er hat mir streng, sehr streng befohlen, seine Scripturen keinem Menschen zu zeigen.«

»Das ist traurig!«

»O, mit Dir werde ich doch eine Ausnahme machen, zumal da Du so großen Vortheil davon hast. Willst Du Papier haben?«

»Ja. Aber wenn er inzwischen kommt?«

»Ich riegle von innen zu. Bis ich ihm dann öffne, haben wir Alles in Ordnung gebracht.«

»Gut, mein Herzchen! So werde ich sogleich beginnen. Ist man dann fertig, plaudert es sich desto besser.« -

Am andern Morgen kam Martin nach dem Palais des Generales, um seinem Herrn einen anderen Anzug zu bringen. Bei dieser Gelegenheit legte er ihm die neu gewonnene Abschrift vor. Belmonte warf einen Blick auf dieselbe. Seine Wangen rötheten sich noch tiefer, wie es gewöhnlich bei freudigen Anlässen bei ihm zu geschehen pflegte.

»Mensch, Du bist mir ein Räthsel!« rief er aus. »Woher hast Du nun wieder dieses hochwichtige Stück?«

»Aus meiner Quelle, Monsieur Belmonte.«

»Aus der Quelle, welche Alice heißt?«

»Ja. Ihr Bruder hatte es da liegen.«

»Welche Unvorsichtigkeit! Sie Alle sind werth, gehangen zu werden, dieser Secretär, dieser Graf Rallion und Alle, die bei und mit ihnen beschäftigt sind. Schreibe es sofort aufs Reine! Du bist ein wahrer Liebling des Glückes. Man wird gar nicht umhin können, seiner Zeit sich Deiner zu erinnern.

Einige Zeit später ließ er anfragen, ob der General geneigt sei, ihn zur Morgenvisite zu empfangen, und erhielt sofort eine zustimmende Antwort. Er warf einen Blick in den Spiegel und durfte mit sich zufrieden sein. Daß er den linken Arm in der Binde trug, konnte ihm in den Augen des Generales doch nur Relief verleihen.

Als er bei demselben eintrat, fand er seine Enkelin bei ihm. Sie war entzückend schön. Die körperlichen und seelischen Leiden des letzten Tages hatten sie angegriffen. Die Stricke, in denen sie fast ebenso sehr gehangen wie gestanden hatte, mochten ihr zartes Fleisch verletzt haben; aber der lebhafte Glanz ihres Auges bewies, daß sie sich bereits auf dem Wege der Erholung befinde.

Ein dünnes, weißes Morgenkleid, von Rosaschleifen vorn zusammen gehalten, umhüllte ihren Körper. Sie lag wie ein Engel in dem bequemen Fauteuil. Arthur hätte vor ihr hinknieen können, um sie anzubeten.

Der General erhob sich, sobald er ihn erblickte und kam ihm entgegen. Er gab ihm in offener Freundlichkeit die Hand und sagte:

»Willkommen, Monsieur Belmonte. Verzeihen Sie Ella, daß sie sich nicht erhebt! Ich habe sie gebeten, sich zu schonen.«

Arthur machte ihr eine Verbeugung, welche selbst eine Französin tadellos nennen mußte. Als er näher trat, reichte sie ihm ihr Händchen entgegen.

»Mein Retter!« sagte sie, mehr flüsternd als sprechend.

In diesem Augenblicke schien ihr schönes Gesicht nicht Fleisch und Blut, sondern nur ganz Seele, ganz Gemüth zu sein. Und doch lag eine tiefe, tiefe Röthe auf demselben, denn bei dem Worte Retter mußte sie natürlich zuerst an den Augenblick denken, an welchem er bei ihr eingetreten war, und an das Derangement, welches ihre Toilette dabei gezeigt hatte.

Er beugte sich tief, sehr tief nieder, als ob sie eine Königin sei, ergriff das dargebotene Händchen, um es ehrfurchtsvoll an seine Lippen zu drücken, und antwortete:

»Den tiefsten, den allertiefsten Dank, Comtesse!«

Sie warf einen schnellen Blick zu ihm empor, als habe sie ihn nicht verstanden; aber sogleich wußte sie auch, was er meinte. Er bedankte sich, daß er hatte ihr Retter sein dürfen.

Das war das größte Compliment, welches er ihr machen konnte.

Die herzliche Dankbarkeit, welche Großvater und Enkelin beseelte, half gedankenschnell über das Formelle und Steife einer ersten Vorstellung hinweg. Er mußte erzählen, wie er zu der Ahnung gekommen sei, daß die Vermißte sich in der Spelunke befinde, die er nur aus geschäftlichen Rücksichten betreten haben konnte. Er berichtete dann weiter. Er that, als ob man ihm und Martin nicht den mindesten Dank schulde und suchte nur allein das, was die Kellnerin gethan hatte, in das rechte Licht zustellen. Sein Vortrag war fließend und von jenen ästhetischen Wellen getragen, welche nur dem Seelenleben eines hochgebildeten Geistes eigen sein können.

Beide hörten ihm mit Spannung zu und blickten, als er geendet hatte, einander an, als wollten sie sich fragen:

»Ist das wirklich ein Weinhändler? Man möchte Alles darauf wetten, daß er etwas Anderes, Besseres, weit Distinguirteres sei.«

Der Graf nickte sodann leise vor sich nieder und sagte:

»Sie sind nicht nur ein kühner, scharfsinniger und gewandter Mann, sondern, was bei mir noch mehr gilt, auch ein guter Mensch. Ihre Schilderung dieser Sally hat mich tief gerührt. Sie soll einstweilen bei mir bleiben, und dann werde ich reichlich für sie sorgen. Wie aber soll ich Ihnen dankbar sein?«

Da schüttelte Ella das holde Köpfchen und sagte:

»Das ist unmöglich, Papa. Er hat für mich sein Blut vergossen; er ist für mich zum Märtyrer geworden!«

»Und ich habe ihm mit Undank gelohnt; ich habe ihn schwer beleidigt und gekränkt, indem ich ihm kein Vertrauen schenkte. Das ist eine Sünde, welche kaum vergeben werden kann. Ich darf Ihnen nur das Wort, aber nicht die That des Dankes anbieten. Und ich erhöhe meine Schuld, indem ich Sie dringend ersuche, sich meines Arztes und zwar in meinem Hause zu bedienen.«


Ende der siebenundfünfzigsten Lieferung - Fortsetzung folgt.



Karl May: Die Liebe des Ulanen

Karl May – Forschung und Werk