Lieferung 67

Deutscher Wanderer

27. Dezember 1884

Die Liebe des Ulanen.

Original-Roman aus der Zeit des deutsch-französischen Krieges von Karl May.


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Madelon erblaßte. Sie kannte die Freundin genau; sie wußte, daß diese nicht ohne einen guten Grund sich solcher Ausdrücke bedienen werde. Sie faltete die Händchen zusammen und sagte:

»So wäre er ja ein Verbrecher.«

»Das ist er auch. Das war er thut, verdient Strafe.«

»Und wir haben ihn für einen so feinen, anständigen Herrn gehalten. Wie man sich doch so sehr irren kann. Er hat so gute, treue Augen und so ehrliche Züge. Man könnte ihm gut sein, wenn man ihm nur in das Gesicht blickt.«

»Das habe ich Alles auch bemerkt. Und doch ist er gemeingefährlich. Oder wie soll man es sonst nennen, wenn ein Mensch nicht nur einem Einzelnen, sondern dem ganzen Vaterlande, dem ganzen Deutschlande gefährlich wird?«

»Dem ganzen Vaterlande? Das verstehe ich nicht. Ist er etwa ein verkleideter russischer Nihilist?«

»Nein.«

»Ein socialdemokratischer Führer?«

»Auch nicht.«

»Ein Dynamitverschwörer, ein Massenmörder à la Thomas?«

»Das Alles nicht; aber er ist einfach - ein Spion.«

Da sprang die Wittwe vom Stuhle auf. Sie hatte die Führung des Gespräches bisher den beiden Mädchen überlassen. Was sie hörte, das gab ihr zu denken. Aber, jetzt! Sie, die gute preußische Unterthanin, die loyale Berlinerin, beherbergte einen Spion bei sich. Das war ja entsetzlich!

»Ein Spion?« schrie sie auf. »Ist das wahr?«

»Ja, meine Liebe.«

»Wissen Sie es genau?«

»Ganz genau. Dieser Maler Haller ist mir avisirt worden. Ich habe ihn bereits erwartet; nur dachte ich nicht, daß er sich zufällig gerade bei Ihnen einlogiren werde.«

»Von wem wurde er avisirt?«

»Von meinem Bruder.«

»Das genügt. Ihr Herr Bruder ist ein tüchtiger Mann. Was er sagt und behauptet, das ist wie ein Evangelium. Dieser Haller muß fort, fort, sogleich fort von hier. Ich sage es ihm, sobald er kommt. Ja, ich lasse ihn sogar arretiren.«

»Das Alles werden Sie nicht thun.«

»Nicht? Ah! Warum? Soll ich einen Spion bei mir dulden und dadurch mit der Behörde in Conflict gerathen?«

»Sie werden weder ihn fortjagen noch ihn arretiren lassen, noch mit der Behörde in Conflict gerathen!«

»So? Wirklich? Was werde ich denn thun?«

»Sie werden ihn bei sich behalten, ihn gut bedienen und ihm gar nicht merken lassen, was Sie von ihm wissen.«

»Das ist ja eine Unmöglichkeit.«

»Nein; das ist sogar Ihre Pflicht und Schuldigkeit! Soll ich Ihnen das erklären?«

»Ich bitte sehr darum, Fräulein von Königsau!«

»Nun, so hören Sie. Ich kann, ohne auszuplaudern, Ihnen sagen, daß mein Bruder das Vertrauen der allerhöchsten militärischen Behörde genießt -«

»Das ist nicht ausgeplaudert, denn das wissen wir ja Alle. Ihr Herr Bruder erfährt vielleicht Dinge, von denen selbst ein General nichts zu hören bekommt.«


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»Nun, so muß ich Ihnen sagen, daß ein baldiger Krieg mit Frankreich zu befürchten ist.«

»Man spricht davon.«

»Frankreich will vorsichtig sein und sich vorher überzeugen, ob seine Kräfte den unseren gewachsen sind. Auf öffentlichem Wege kann es diese Ueberzeugung aber nicht erlangen, und so greift es zu dem einzigen Mittel, welches es giebt: es überschwemmt Deutschland mit seinen Spionen.«

»Und dieser Haller ist ein solcher?«

»Ja.«

»Er ist also ein Franzose?«

»Natürlich!«

»Und nicht aus Stuttgart?«

»Keineswegs. Man weiß in Paris ebenso gut wie hier, daß mein Bruder das Vertrauen seiner Vorgesetzten genießt und daß man ihm Arbeiten aufträgt, welche eine bedeutende Einsicht in Deutschlands Verhältnisse mit Frankreich voraussetzen. Bei ihm ist also am Besten und - wie man denkt - am Leichtesten Etwas zu erfahren. Daher hat man diesem Haller den Auftrag gegeben, nach Berlin zu gehen und meinen Bruder auszuhorchen. Er soll sich in unsere Familie einführen lassen und soviel wie möglich zu erfahren suchen.«

»Also darum fragte er so angelegentlich nach Ihnen!«

»Ja, darum!«

»Und ich soll ihn trotzdem bei mir wohnen lassen?«

»Unbedingt. Ich selbst werde ihn zu uns einladen.«

»Aber das ist ja gefährlich.«

»Wieso?«

»Er will ja spioniren!«

»Sie sind kostbar, meine Liebe! Wir werden ihn spioniren lassen und ihm von Allem gerade das Gegentheil sagen. Verstehen Sie mich?«

»Ah, jetzt begreife ich. Er wird dadurch getäuscht!«

»Natürlich.«

»Er wird nach Paris berichten und folglich auch Napoleon irre leiten.«

»Das beabsichtigen wir. Auf diese Weise ringen wir ihm die Trümpfe aus der Karte und bekommen sie in unsere Hand.«

»Aber die Behörde? Was wird sie von mir denken?«

»Sie ist von Allem unterrichtet und wird, sobald er sich anmeldet, wissen, wo sie ihn zu suchen und zu überwachen hat. Das ist weit besser, als wenn er im Verborgenen arbeitet. Wenn Sie klug sind und ihn hier behalten, so wird man das gern anerkennen.«

»Aber wenn er mich aushorcht.«

»Sie können ihm ja nichts sagen!«

»Das ist wahr. Aber Etwas muß ich doch sagen!«

»Nun, so sagen Sie nur immer, daß wir Angst vor Frankreich haben, daß wir mit den Süddeutschen uneinig sind, daß der Russe und der Engländer uns hassen, und daß der Oesterreicher uns wegen Anno Sechsundsechzig auch nicht wohl will. Unsere Soldaten fürchten sich vor dem Kriege; unsere Offiziere sind ganz und gar gegen einen solchen; unser Pulver taugt nichts; die französischen Chassepots schießen sicherer und weiter als unsere Zündnadelgewehre, und gegen die Mitrailleuse giebt es nun ganz und gar kein Aufkommen. Ist das genug?«

Die beiden Anderen sahen Emma verwundert an.

»Das ist ja eine ganze, lange Litanei!« sagte die Wirthin. »Also Sie meinen wirklich, daß ich ihn behalten soll?«

»Ja. Ich bin sogar überzeugt, daß sie von Seiten der Behörde einen Wink über Ihr Verhalten bekommen werden.«

»Nun, so will ich es wagen, zumal Sie versichern, daß er in Ihre Familie Zutritt finden wird. Was Sie thun, darf ich auch wagen.«

»Wagen Sie es immerhin. Er wird bei uns sogar als Hausfreund behandelt werden. Aber, meine liebe Madelon, jetzt erst fällt mir Ihre Kleidung auf. Sie sind ja wie zur Reise angekleidet!«

»Ich verreise allerdings. Der Gegenstand unseres Gespräches war bisher so hoch interessant, daß ich noch gar nichts anderes sagen konnte.«

»Wohin wollen Sie gehen? Doch nicht weit?«

»Sogar sehr weit, nämlich nach Frankreich.«

Emma machte eine Bewegung des Erstaunens und fragte:

»Nach Frankreich? Und gerade jetzt? So plötzlich? Warum?«

»Meine Schwester telegraphirt, daß unser Pflegevater gestorben ist. Ich habe die Pflicht, an seinem Grabe zu sein.«

»Ihre Schwester in Ortry?«

»Ja, sie ist mit Fräulein von Sainte-Marie von ihrer Reise dorthin zurückgekehrt.«

»Wohnte Ihr Pflegevater nicht bei Etain?«

»Ja, auf Schloß Malineau.«

»Welch eine lange, weite Reise. Wer begleitet Sie?«

»Niemand.«

»Dann sind Sie höchst muthig. Weiß die Frau Gräfin Hohenthal davon?«

»Ich habe es ihr natürlich brieflich gemeldet.«

»Wie schade. Zunächst kondolire ich natürlich; sodann aber muß ich Ihre Abreise herzlich bedauern. Ich hatte mich so sehr darauf gefreut, Sie nach meiner Wiederkehr recht oft zu sehen!«

»Meine Abwesenheit wird nicht lange dauern.«

»Nun, so muß ich mich zu fassen suchen. Eins freut mich aber doch dabei, nämlich, daß Sie das Glück haben werden, Ihre Schwester zu sehen.«

»Es sind allerdings Jahre, daß wir von einander schieden, und ihre Briefe sind so sehr kurz.«

»Sie schreibt aber doch oft?«

»Nicht zu sehr. Der letzte Brief war ausnahmsweise einmal hoch interessant. Er handelte von einem Menschen, dessen Schicksale ganz und gar den unserigen gleichen.«

»Darf ich neugierig sein?«

»Warum nicht. Es handelt sich nämlich um einen armen Kräutersammler aus Thionville.«

Emma wurde aufmerksamer. Sie wußte ja, daß der brave Fritz als Kräutersammler engagirt war, und zwar gerade eben in Thionville.

»Das beginnt sehr romantisch!« sagte sie,

»Es ist auch wirklich romantisch. Der arme Teufel hat keine Eltern; er ist ein Findelkind. Er wurde als Knabe im Schnee gefunden und darum Schneeberg genannt.«

Jetzt wußte Emma genau, daß von Fritz die Rede war.


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»Ihre Schwester scheint sich aus diesem Grunde für ihn zu interessiren?«

»Sogar sehr. Sie ist ja selbst, ebenso wie ich, eine elternlose Waise! Kürzlich nun hat sie mit ihm gesprochen und von ihm gehört, daß er ein Erkennungszeichen bei sich trägt, durch welches es möglich wäre, seine Eltern zu finden.«

»Eben dieser Schneeberg?«

»Ja. Nanon nun hat einst in Paris von einer Dame gehört, welcher zwei Knaben, Zwillingsbrüder, geraubt worden sind, und die Knaben haben ganz dasselbe Zeichen an sich getragen, welches Schneeberg besitzt.«

»Zwillingsbrüder? Wer war diese Dame?«

»Nanon hat leider den Namen vergessen, und die Freundin in Paris, welche ihr Auskunft geben könnte, ist nach Italien gereist. Die Schwester glaubt sich zu besinnen, daß diese Dame eine Deutsche gewesen sei. In diesem Falle ließe sich vielleicht hier in Berlin Etwas erfahren. Darum schreibt mir Nanon, mich doch zu erkundigen, ob es hier nicht eine Familie gebe, welcher vor nun mehr als zwanzig Jahren ein Zwillingsknabenpaar gestohlen worden ist.«

Mit dem Gesichte Emmas war eine außerordentliche Veränderung vor sich gegangen. Es hatte den Ausdruck der allergrößten Spannung angenommen.

»Schreibt Nanon nichts weiter von der Dame?« fragte sie.

»Nichts, als daß sie den schweren Verlust selbst nach so langer Zeit nicht verschmerzt habe, da sie stets in tiefer Trauer gehe.«

»Gott. Und worin besteht das Erkennungszeichen?«

»Aus einem Löwenzahn an einer feinen, goldnen Kette.«

Da sprang Emma vom Stuhle auf und rief:

»Weiter, weiter! Wie ist der Zahn beschaffen?«

»Er ist hohl. Wenn man die Grafenkrone, welche am unteren Ende befestigt ist, abgeschraubt, kommen die Miniaturgemälde eines Herrn und einer Dame zum Vorschein.«

»Er ist's! Er ist's! Es ist der Zahn!« rief Emma, indem sie im höchsten Entzücken die Hände zusammenschlug.

Die beiden Anderen sahen sie erstaunt an.

»Wissen Sie auch Etwas von diesem Zahne?« fragte Madelon.

»Natürlich, natürlich. Mehr als Sie denken und ahnen. Habe ich Ihnen denn noch nicht von ihm erzählt?«

»Kein Wort.«

»Und von Tante Goldberg?«

»Hierüber noch nichts.«

»Daß Tante stets in Trauer geht?«

»Das weiß ich; aber den Grund kenne ich nicht.«

»Nun, sie hat vor mehr als zwanzig Jahren zwei Knaben, welche Zwillinge waren, verloren. Die Knaben waren verschwunden; und alle Nachforschungen sind vergebens gewesen; selbst hohe Belohnungen, welche der Onkel ausgeschrieben hat, haben nichts gefruchtet.«

»Ist das wahr? Ist das wahr?«

»Warum sollte ich es erfinden!«

»Und Frau von Goldberg ist in Paris gewesen?«

»Sogar sehr oft.«

»So ist sie es; so ist sie es. Die Mutter ist gefunden. O, Emma, lassen Sie sich umarmen.«

Sie flog in die geöffneten Arme der Freundin. Die beiden Mädchen küßten sich herzlich, und die Wittwe weinte vor Rührung.

»Wie wird Nanon sich freuen, wenn ich ihr persönlich diese Kunde bringe!« rief Madelon jubelnd. »Und Sie, Sie müssen sofort zu Ihrer Tante eilen, um ihr die frohe Botschaft zu bringen. Ich gebe Ihnen den Brief meiner Schwester mit, damit sie ihn lesen kann. Ich laufe, ihn zu holen!«

Das Mädchen war ganz Glück und Jubel. Sie wollte das Zimmer verlassen. Die ältere und bedachtsamere Emma aber hielt sie zurück.

»Warten Sie noch!« bat sie. »Diese Sache ist zu wichtig, als daß man zu eilig handeln sollte. Die Trauer der Tante um die Verlorenen ist mit den Jahren eine ruhigere geworden. Wenn wir uns irrten, wenn hier eine Täuschung vorläge, denken Sie, wie wir ihrem Herzen schaden würden. Ueberlegen wir lieber vorher. Also Schneeberg ist wirklich Derjenige, welcher den Zahn besitzt?«

»Ja.«

»Wissen Sie, für wen er Kräuter sammelt?«

»Warum fragen Sie?«

»Weil ich meine Gründe habe. Bitte, antworten Sie!«

»Er steht im Dienste eines Doctor Bertrand in Thionville.«

»Mein Gott, welch ein Zusammentreffen! Wir haben ihn so lange gekannt, ohne zu ahnen, daß er im Besitze dieses Zahnes ist!«

»Wie? Sie haben ihn gekannt?«

»Sie auch!«

»Was? Wie? Wirklich? Ich wußte nicht! Ich kenne keinen Menschen Namens Schneeberg! Wo soll ich ihn denn gesehen haben?«

»Hier in Berlin. Er ist erst seit ganz kurzer Zeit in Thionville. Ein Wort von mir würde Sie sofort aufklären, aber ich darf dieses Wort nicht sprechen. Sagen Sie mir, ob Schneeberg zu Ihrer Schwester keinen Bruder erwähnt hat?«

»Er hat nie einen Bruder gekannt.«

»Ist es der rechte Zahn, oder der linke?«

»Der rechte Reißzahn eines Löwen, schreibt mir Nanon.«

»Sind denn keine Buchstaben vorhanden?«

»Davon schreibt mir die Schwester leider kein Wort. Darum denke ich, daß es keine giebt.«

»So will ich Ihnen sagen, daß Onkel Goldberg in Algerien einen Löwen geschossen hat. Nach arabischer Sitte hat er ihm die Reißzähne ausgebrochen und sie seinen beiden Zwillingsknaben später an einer Kette um den Hals gehängt. Diese Knaben wurden geraubt. Wir glaubten sie bisher todt; nun aber taucht neue Hoffnung auf.«

»Mir ahnt, daß dieser Schneeberg einer der Knaben ist!«

»Es könnte möglich sein. Aber ebenso ist es auch möglich, daß die Zähne in die Hände anderer Kinder gerathen sind. Wann reisen Sie ab?«

»Mit dem Einuhrzuge.«

»Da haben wir noch Zeit. Wollen Sie mit mir gehen, um dem Großpapa zu erzählen, was Sie mir berichtet haben?«


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»Gern, natürlich; sehr gern! Soll ich den Brief mitnehmen?«

»Ich bitte Sie darum!«

»So wollen wir ihn holen. Kommen Sie, kommen Sie schnell!«

Sie standen schon im Begriff, sich eiligst von der Wittwe zu verabschieden, als die Thür sich öffnete und Haller eintrat. Er erblickte Emma; eine leise, feine Röthe trat ihm auf die Wange; sonst war aber kein Zeichen der Ueberraschung, der Verlegenheit, oder gar des Schreckes an ihm zu bemerken.

»Ich habe mich Emma König genannt!« flüsterte Emma schnell und unbemerkt der Freundin zu.

Diese verstand, daß sie nur die Hälfte ihres Namens genannt habe, und wendete sich mit freundlichster Miene zu dem Eingetretenen:

»Bereits wieder zurück? Ich dachte Sie würden, um Berlin zu sehen, Ihrem Spaziergange eine längere Dauer geben.«

»Die Stadt kann ich mir ja später betrachten,« antwortete er lächelnd; »von Ihnen aber hörte ich ja, daß Sie im Begriffe stehen, zu verreisen.«

»So bin ich es etwa, welcher man Ihre schnelle Rückkehr zu verdanken hat?« fragte sie mit einer Betonung, welche doch ein Wenig Ironie anzudeuten schien.

»Ich kam, um Gelegenheit zu finden, Ihnen eine gute Reise und glückliche Wiederkehr zu wünschen,« antwortete er ernst.

Man hörte es ihm an, daß er die Ironie herausgehört habe und durch seinen Ernst zurückweisen wolle. Sie fuhr fort:

»Das ist wirklich freundlich von Ihnen! Erlauben Sie mir, Sie einander vorzustellen! Herr Maler Haller - Emma König, meine Freundin!«

Er verbeugte sich vor der Genannten mit der unbefangensten Miene von der Welt und sagte:

»Ich beneide Sie in diesem Augenblicke, daß Sie eine Dame sind, Fräulein König!«

»Glauben Sie, daß dieser zufällige Umstand ein triftiger Grund sei, mich zu beneiden?« fragte sie.

»Gewiß! Wäre ich eine Dame, so hätte ich wohl


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auch die Erlaubniß, nach der Freundschaft von Fräulein Köhler zu streben.«

»Halten Sie meine Freundschaft für so werthvoll?« fragte Madelon.

»Gewiß!«

»Darf ich nach dem Grunde fragen?«

»Ich antworte Ihnen mit Heinrich Heines Worten:

»Frag, was er strahle, den Karfunkelstein;
Frag, was sie duften, Nachtviol' und Rosen!«

Wer kann sagen, warum die Blüthe duftet? Wer kann erklären, warum man den Einen liebt und den Andern haßt!«

»Das ist wahr!« lachte Madelon. »Auch mir ist der Haß, den ich gegen Sie hege, unerklärlich.«

»Sie erschrecken mich!«

»Sie zittern doch nicht!«

»Nein, aber ich bin erstarrt!«

»Sie sehen mir nicht so aus wie ein furchtsamer Mann. Ein Herr Ihres Gewerbes darf den Schreck nicht kennen!«

Seine Wangen wurden doch ein Wenig bleicher als vorher. Was meinte sie? Sie konnte doch unmöglich wissen, welche Absicht ihn nach Berlin geführt hatte. Er antwortete:

»Ich hege im Gegentheile die Ansicht, daß mein »Gewerbe« -« und dieses Wort, welches ihn verletzt hatte, betonte er deutlich - »mich fast nur mit den Lichtseiten des Lebens zusammenführt. Dadurch wird man verzogen; eine Uebung des Muthes giebt es da nicht.«

»O, im Gegentheile! Der Künstler, also auch der Maler, ist, wenn er vielseitig werden will, gezwungen, auch in die Kloaken der Gesellschaft hinabzusteigen. Wo Licht ist, da ist auch Schatten. Sie haben Beides kunstgerecht zu vertheilen und müssen es also auch mit den Schatten des Lebens aufzunehmen verstehen.«

»Ich höre, daß Sie über die Kunst nachgedacht haben, Fräulein, und das freut mich herzlich.«

»So erlauben Sie mir, noch ein Wenig weiter nachzudenken!«

Sie machte ihm eine Verbeugung und wollte sich mit Emma entfernen. Er aber trat ihr mit einem raschen Schritte in den Weg und sagte:

»Verzeihung! Vorher noch eine Frage!«

»Sprechen Sie sie aus!«

»Ist es Ihnen nicht möglich, mir vor Ihrer Abreise noch fünf Minuten zu schenken?«

»Wozu?«

»Ich habe Ihnen eine Mittheilung zu machen, welche für Sie vielleicht von großer Wichtigkeit ist.«

»Können Sie damit nicht vielleicht bis zu meiner Rückkehr warten, Herr Haller?«

»Was mich betrifft, so würde dieser Aufschub mich weder schmerzen noch schädigen; aber im Hinblick auf Sie dürfte es besser sein, wenn Sie mich noch vor der Abreise hören wollten.«

»Und doch wollen Sie mir erlauben, es bei der ersten Bestimmung zu lassen. Meine Zeit ist mir heute so kurz zugemessen, daß ich wohl kaum über fünf Minuten verfügen kann.

»Selbst dann nicht, wenn ich Ihnen sage, daß der Gegenstand meiner Bitte in Beziehung zu Ihrer Familie steht?«

Jetzt stutzte sie doch. Sie blickte ihn forschend an und fragte:

»Zu meiner Familie? Ich habe doch keine!«

Er zuckte die Achseln und antwortete leicht hin:

»Vielleicht doch!«

Sie war jetzt auf einmal so anders gegen ihn als vorher. Warum? Hatte diese Freundin Emma König vielleicht von ihrer mehrmaligen Begegnung mit ihm gesprochen? Das aber war doch unmöglich. Sie konnte ja gar nicht wissen, daß er hier wohnte. Aber für die Veränderung ihres Benehmens mußte Madelon bestraft werden; das stand bei ihm fest. Er war nicht der Mann, sich zum Gegenstande einer Laune machen zu lassen.

»Vielleicht doch?« fragte sie, indem sie seine Worte wiederholte. »Ich und Nanon, wir sind Waisen; selbst der Pflegevater ist nun todt.«


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»Aber Ihr Vater kann noch leben, Ihr Großvater ebenso!«

»Wozu diese Bemerkungen?«

»Vielleicht habe ich einen Grund dazu. Nicht wahr, Ihr Vater trug den Vornamen Guston?«

»Ja. Das sagte ich Ihnen bereits.«

»Und Ihre Mutter hieß Amély?«

»Auch das wissen Sie von mir!«

»Ist Ihnen der Name Bas-Montagne bekannt?«

»Bas-Montagne? Mein Gott, ja! Es ist mir, als ob ich ihn öfters gehört hätte, früh, sehr früh in meiner Jugend. Was ist's mit diesem Namen?«

»Er steht in sehr enger Beziehung zu dem »süßen Kolibri«. Aber Sie haben ja keine Zeit.«

»Sie sprechen in Räthseln! Bitte, so erklären Sie sich doch!«

»Dazu hätte ich eine längere Zeit von Nöthen, als Sie mir heute widmen können. Sie hatten die Güte, mir vorhin Einiges über Ihre Jugendverhältnisse mitzutheilen. Fragen Sie Fräulein König. Sie ist zwei Personen begegnet, welche mehrere Abbildungen von Kolibris bei sich trugen. Vielleicht steht auch dieser Umstand in Beziehung zu dem Dunkel, welches Sie so gern durchdringen möchten.«

»Sie sind garstig, höchst garstig!« rief Madelon ungeduldig. »Sie wissen Etwas; Sie haben Etwas erfahren und wollen mir es nicht sagen!«

»Ich bin keineswegs garstig, Fräulein Köhler. Seit Sie von Ihren Schicksalen zu mir gesprochen haben, möchte ich das Meinige dazu beitragen, das Räthsel ihres Lebens zu lösen. Mir scheint, daß der Zufall so freundlich gewesen ist, mir einen kleinen Wink zu geben. Ich kann mich irren; aber ich glaube, eine Person getroffen zu haben, welche zu ihren Schicksalen in näherer Beziehung steht.«

»Wer ist das?«

»Lassen Sie mich darüber noch schweigen. Ich muß sondiren, forschen und überlegen. Die von mir gewünschte Unterredung sollte mir das Material dazu liefern; aber ich sehe selbst ein, daß kein Grund zu großer Eile vorhanden ist. Sie werden bald wieder zurückkehren, und dann können wir diesem Gegenstande mehr Zeit und Aufmerksamkeit widmen.«

Das klang so zurückhaltend und frostig, daß sie ihm forschend in die Augen blickte. Seine Bemerkungen hatten ihr höchstes Interesse erregt; sie hätte ihm gern eine halbe Stunde geschenkt anstatt der erbetenen fünf Minuten; aber der Ton seiner letzten Worte erkältete sie.

»Wie Sie wollen, Herr Haller,« sagte sie. »Ich gebe Ihnen ganz Recht, die Zeit abzuwarten, in welcher ich aufmerksamer sein kann als heute. Adieu!«

Sie nickte ihm kurz zu und ging. Emma machte ihm eine hochfeine vornehme Verbeugung und folgte ihr. Er blickte noch einige Secunden lang nach der Thür, als diese sich hinter ihnen geschlossen hatte, strich sich nachdenklich über die Stirn und wendete sich dann an seine Wirthin:

»Fräulein König hat Ihnen erzählt, daß wir einander begegnet sind?«

»Ja,« antwortete sie, da sie unmöglich leugnen konnte.

»Wir sahen uns wiederholt in eigenthümlicher Situation, doch war nicht ich der Urheber derselben. Wie aber konnte Fräulein König wissen, daß ihr Bekannter von Tharandt und Dresden aus es ist, der bei Ihnen wohnt?«

»Derjenige, welcher auch an allem Andern die Schuld trägt, Ihr kleiner, dicker Herr College hat es verrathen.«

»Wieso?«

»Sie erzählten gestern Abend von ihm.«

»Ich entsinne mich allerdings.«

»Und Fräulein König erzählte von ihm. Die Beschreibung der Person stimmte ganz genau, und so mußten Sie es sein, der bei ihm gewesen war.«

»Ja, so läßt es sich erklären. Aber dieser Fächer hier; wem gehört er? Vielleicht Fräulein Köhler?«

»Nein. Ah, den hat ihre Freundin vergessen! Wie schade!«

»Spricht sie hier öfters vor?«

»Nein. Darum wird sie den Fächer vermissen.«

»Sie kann noch nicht weit sein. Vielleicht gelingt es mir noch, sie zu ereilen.«

Er nahm den Fächer und ging. Sie machte keinen Versuch, ihn zurückzuhalten. Als er aus dem Hause trat, konnte er die Gesuchte nicht erblicken; aber nachdem er eine Strecke rasch zurückgelegt hatte, sah er sie mit Madelon. Er verdoppelte seine Schritte. Sie gingen jetzt an dem Thorwege vorüber, an welchem der Dicke seine heutige Niederlage erlitten hatte, und traten dann in das nächste Haus.

Als er nach einigen Augenblicken die Thür desselben erreichte, hörte er oben das Glockenzeichen geben. Sie befanden sich also jedenfalls noch auf dem Vorsaale. Er eilte rasch die Treppe hinauf; aber als er oben ankam, sah er bereits die Flügelthür aufstehen und die Damen im Begriff, einzutreten. Der Diener, welcher geöffnet hatte, blickte ihn fragend an; er aber sagte laut:

»Fräulein König, Entschuldigung.«

Sie hörte es und wandte sich zurück. Als sie ihn mit dem Fächer erblickte, glitt es wie ein rascher Entschluß über ihr Gesicht. Sie blieb im Vorzimmer stehen, winkte ihm mit der Hand näher und sagte:

»Da habe ich meinen Fächer vergessen, und Sie sind so gütig, sich damit zu belästigen. Bitte, treten Sie näher!«

Er dachte gar nicht daran, den Namen zu lesen, welcher mittelst eines Schildes an dem linken Thürflügel befestigt war. Er trat ein; der Diener verbeugte sich und zog die Thür hinter sich zu. Haller war gefangen, ohne zu ahnen, wo er sich befand. Er dachte, bei der Herrschaft der vermeintlichen Gouvernante zu sein.

Emma nahm den Fächer aus seiner Hand, bedankte sich mit einem freundlichen Nicken und sagte dann:

»Bitte, haben Sie die Güte näher zu treten!«

Dabei hatte sie auch bereits den Drücker der nächsten Thür in der Hand. Er erschrak und beeilte sich, Einspruch zu erheben.

»Unmöglich, Fräulein!« sagte er. »Erlauben Sie mir vielmehr, mich zurückzuziehen.«

Jedenfalls wohnte hier Frau von Goldberg. Wie sollte er vor dieser erscheinen, die Zeugin der fatalen Rutschfahrt gewesen war! Auch hatte er den einfachen Straßenanzug an und kein solonfähiges Gewand.

»Warum?« fragte sie, während ein Lächeln ihr Gesicht erhellte, welches er sich nicht zu deuten wußte.


// 1063 //

»Ich bin im Hause des Herrn Generals von Goldberg ein Fremder!« antwortete er.

»Von Goldberg? Sie befinden sich ja gar nicht im Hause dieses Herrn, sondern bei mir, bei meinen Verwandten!«

»So habe ich mich geirrt. Das ist etwas Anderes!«

Bei den Verwandten einer Gouvernante, bei einer bürgerlichen Familie König brauchte er sich nicht zu geniren, meinte er.

»So bitte. Treten Sie ein!«

Sie öffnete die Thür. Rechts am Eingange stand sie, links Madelon. Als er, zwischen ihnen hindurchgehend, das nächste Zimmer betrat, fing er von Beiden einen höchst befremdenden Blick auf. Solche Augen beobachtet man auf der Bühne in Scenen, wenn  Intriguantinnen einen Sieg errungen haben.

In dem Zimmer befand sich nur eine einzige Person. Ein alter Herr mit eisgrauem Haare und eben solchem Schnurr- und Backenbarte ruhte in einem weich gepolsterten Sorgenstuhle. Dieser Greis hatte das ehrwürdigste Gesicht, das Haller in seinem Leben gesehen hatte. Die kräftigen und doch fein geschnittenen Züge, das lebensvolle Auge, die hohe, breitschulterige Gestalt, Alles ließ vermuthen, daß dieser Mann in seiner Jugend ein Bild männlicher Schönheit gewesen sei!

Dieser nun hoch betagte Herr war der Rittmeister Hugo von Königsau, der einstige Liebling des alten Blüchers.

»Großpapa, erlaubst Du mir, Dir diesen Herrn vorzustellen?« fragte Emma. »Er war so freundlich, mir meinen Fächer zu bringen, den ich liegen gelassen hatte.«

»Thue es, mein Kind!«

Sie machte einen eigenthümlichen Knix, nickte dem Greise lächelnd zu und sagte:

»Herr Haller, Maler aus Stuttgart.«

Die Lider des alten Herrn sanken augenblicklich herab. War es, um nicht merken zu lassen, daß dieser Name ihn überraschte? Dann aber hoben sie sich wieder, und die Augen des Greises richteten sich mit einem großen, scharfen forschenden Blick auf den Vorgestellten. Dann nickte er ihm zu und sagte:

»Willkommen, Herr Haller! Sie haben meinem lieben Enkelkinde einen großen Gefallen erwiesen. Nehmen Sie Platz! Willkommen auch, liebe Madelon. Der Herr kennt mich doch, Emma?«

»Ich glaube schwerlich.«

»So nenne mich ihm.«

Haller winkte mit der Hand und sagte:

»O bitte, es bedarf keiner Vorstellung. Die Dame nannte Sie ja Großpapa.«

»Der bin ich ihr.«

»Also wohl Herr König?«

»König?« fragte der alte Rittmeister erstaunt. Und nach einem Blicke auf Emma, um deren Lippen ein verhaltenes Lachen zuckte, fuhr er, sich leise den gewaltigen Schnurrbart streichend, fort: »Gewiß wieder einer Deiner kleinen Streiche! Nicht? Sie wissen, Herr Haller, junge wilde Damen sind nicht leicht zu zähmen. Mein Name ist nicht König, sondern Königsau. Oder sollten Sie die letzte Sylbe vielleicht überhört haben?«

Haller zuckte zusammen.

»Königsau?« fragte er. Er deutete auf Emma und fuhr fort: »Fräulein Köhler hat mir diese Dame als Fräulein König vorgestellt.«

»So handelt es sich also wirklich um einen jugendlichen Uebermuth! Emma, Emma! Wie soll ich Dich da strafen!«

»Ich bitte um Gnade, bester Großpapa! Es war so wunderbar interessant, für eine Gouvernante gehalten zu werden!«

»Für eine Gouvernante?«

»Ja, nämlich für diejenige der Tante Goldberg.«

»Wer hält Dich dafür?«

»Dieser Herr und sein Freund, der Maler Hieronymus Aurelius Schneffke. Ich habe es Dir ja gestern erzählt!«

Haller wurde roth bis hinter die Ohren. Das war ja eine ganz und gar fatale Lage, in welche er da gerathen war, er ein Officier der französischen Garde! Wenn sie das gewußt hätten! Er beeilte sich, zu entgegnen:

»Entschuldigung, meine Herrschaften. Nicht ich war es, der die Dame für eine Gouvernante hielt, und ich habe auch keineswegs Veranlassung diesen Collegen für meinen Freund auszugeben. Mein Zusammentreffen mit ihm war ein rein zufälliges und wird auf jeden Fall auch nur ein vorübergehendes bleiben.«

»Nicht Sie haben um Entschuldigung zu bitten, Herr Haller,« meinte der Greis. »Das ist vielmehr die Pflicht dieser überlustigen Damen. Ueber die Eine habe ich leider keine Macht; aber die Andere werde ich bestrafen. Sie soll sechs Tage Hausarrest erhalten, damit sie wenigstens für diese Zeit nicht im Stande ist, neue Streiche auszuführen.«

»Großpapa! Bin ich denn wirklich ein so schlimmer Springinsfeld?«

»Herr Haller mag entscheiden.«

»Ich bitte um Gnade für die Dame!« sagte dieser, indem er sich gegen Beide höflich verbeugte.

»Nun, so will ich von meinem Rechte, zu verzeihen, noch einmal Gebrauch machen, keineswegs aber aus Nachsicht für Dich, Du wilder Vogel, sondern aus Rücksicht für unseren Gast, dem ich doch seine Bitte nicht abschlagen darf. König anstatt Königsau! Wer sollte das denken!«

»Gestatten Sie!« bat Haller. »Königsau oder von Königsau?«

»Von, von, mein Herr. Ich bin pensionirter Rittmeister.«

Ah, da befand er sich ja inmitten der Familie, an die er adressirt war. Welch ein glücklicher Zufall! Er hatte freilich gar keine Ahnung, daß er Allen bereits bekannt sei und daß das neckische Mädchen nur ihr Spiel mit ihm getrieben habe. Mit ihr und dem Alten hoffte er bald fertig zu werden. Ging er nur einigermaßen auf ihr munteres Naturell ein, und schmeichelte er den Alten dadurch, daß er dessen Kriegserlebnisse mit Begeisterung anhörte, so glaubte er leichtes Spiel zu haben. Er wußte freilich nicht, daß Emma ein sehr ernster Charakter war, daß sie von dem Großvater nur im Scherze als Spaßvogel bezeichnet worden war, und daß er auch dem Greise nicht beizukommen vermochte, weil dieser bereits wußte, welche Absicht ihn herbeigeführt hatte.


// 1064 //

»Rittmeister also!« sagte er. »So sind Sie wohl jener bekannte Herr von Königsau, welcher sich während der Befreiungskriege in der unmittelbaren Nähe des Marschall Vorwärts befand?«

»Ja; ich hatte das Glück, seine Theilnahme zu besitzen. Wir haben es damals den Franzosen heiß gemacht.«

»Und gehörig. Hoffen wir, daß sie es sich gemerkt haben.«

»Hm. Der Mensch ist vergeßlich, und die Herren von jenseits des Rheins sind ja auch nur Menschen.«

»Sie denken, daß sie auf Revanche sinnen?«

»Wegen der Napoleonischen Kriege wohl schwerlich, noch vielleicht eher wegen Sadowa. Aber das wäre ein Unglück für Deutschland.«

»Wieso?«

»Weil uns der Franzose einfach in die Pfanne hauen würde.«

»Ich als guter Deutscher möchte das denn doch bezweifeln!«

»Meinen Sie, daß ich ein weniger guter Patriot bin als Sie, Herr Haller? Aber Sie sind Künstler, und ich bin Militär.

Unsereiner sieht alles anders als Sie. Und selbst wenn ich mich nicht mehr mit den Verhältnissen der deutschen Armeen beschäftigen wollte, so bietet mir doch mein Enkel oft Gelegenheit, zu hören und zu urtheilen.«

»Dieser Enkel ist Offizier?«

»Er ist Ulanenrittmeister und beim Generalstabe angestellt. Leider ist er gegenwärtig verreist, auf Urlaub fort. Die Aufgaben, welche er zu lösen hatte, haben mir den Beweis geliefert, daß wir auf jeden Fall den Krieg mit Frankreich vermeiden müssen. Die Manuscripte liegen noch in seinem Arbeitszimmer. Ich würde mich mehr mit ihnen beschäftigen, aber meine Augen sind schwach geworden, und Emma besitzt nicht die nöthige Geduld, mir solche militärische Essays, Gutachten und so weiter vorzulesen. Man lebt zu einsam. Vielleicht haben Sie die Güte, sich zuweilen sehen zu lassen.«

Das war es ja, was Haller ersehnt hatte. Eine Einladung. Vielleicht durfte er dem Alten die wichtigen Essays und Gutachten vorlesen. Er sagte darum schnell:

»Herzlichen Dank, Herr Rittmeister! Ich bin hier fremd und also in der Lage, gesellschaftlich erst Fuß fassen zu müssen. Ihre freundlichen Worte erfüllen mich mit Dankbarkeit.«

»Das freut mich. Sie sind willkommen, so oft und wann es Ihnen beliebt. Wir spielen ein Schach; wir lesen und plaudern. Hast Du heut Abend gewöhnliche Küche, Emma?«

»Ich denke, daß wir nicht darben werden, Großpapa.«

»Das ist schön. Wollen Sie Ihr Abendbrot bei uns einnehmen, Herr Haller? Wir müssen den Streich, der Ihnen gespielt worden ist, möglichst gut machen.«

»Ich stehe gern zur Verfügung, Herr Rittmeister!«

»Acht Uhr wollen wir sagen?«

»Wie Sie befehlen.«

Der Greis hatte sich erhoben, zum Zeichen, daß er die gegenwärtige Unterredung zu beendigen wünsche. Darum fügte Haller hinzu:

»Für jetzt bitte ich um die Güte mich zu beurlauben! Ich empfehle mich den Damen. Nochmals innigen Dank, Herr von Königsau.«

Er gab dem Rittmeister die Hand, küßte Emma die Fingerspitzen, nickte Madelon einen Abschied zu und ging. In seiner Freude gab er draußen dem Diener, der ihm den Hut reichte, einen Thaler Trinkgeld, und unten auf der Straße murmelte er leise vor sich hin:

»Bei Gott, das ist ein Glückstag. Was hatte ich für Sorge, ob es mir gelingen werde, Zutritt zu erlangen! Nun aber geht Alles gut. Es hat sich so leicht, so glatt gemacht. Dieser alte Kriegsmann scheint außerordentlich umgänglich zu sein. Er hält mich für einen militärischen Ignoranten, vor dem er kein Geheimniß zu haben braucht. Er wird sicher plaudern, ganz ohne Rückhalt. Ich merke bereits jetzt, daß ich gewonnenes Spiel habe.«

Was aber wurde über ihn für ein Urtheil gefällt? Als er sich entfernt hatte, sagte der Rittmeister:

»Also das ist Deine Begegnung aus dem Tharandter Walde! Und Du hast wirklich keine Ahnung gehabt, was er war?«

»Nicht die mindeste. Wie sollte ich auch?«

»Und wie kommst Du denn jetzt mit ihm zusammen?«

»Er wohnt ja bei Geheimraths in Madelons Hause, wo ich zuweilen bin. Ich war soeben dort und hatte meinen Fächer zurückgelassen.«

Sie erzählte, wie Alles gekommen war. Er hörte zu und meinte dann:

»Das hatte sich sehr leicht gemacht. Jetzt wollen wir ihm Auskunft geben, daß ihm vor Freuden der Aloe wie Zucker schmecken soll! Ich freue mich auf heute Abend. Mach Deine Sache gut in der Küche! Diese Herren Franzosen pflegen gewaltige Leckermäuler zu sein.«

»Hm! Vielleicht bin ich heute Abend gar nicht da, mein lieber Großpapa.«

»Wo denn?«

»Verreist.«

»Sapperlot! Wohin willst Du denn?«

»Weit, sehr weit! Nach Frankreich hinein!«

»Bist Du toll?«

»Nein. Madelon reist auch.«

»Nach Frankreich?«.

»Ja, zu ihrem Pflegevater, der gestorben ist.«

»Und Du gedenkst, sie zu begleiten?«

»Ja.«

»Daraus wird nichts, Kind, gar nichts. Madelon mag reisen. Der Mann hat sie erzogen; sie ist ihm die letzten Ehren schuldig. Aber was geht er Dich denn an?«

»O, Du denkst, daß ich wegen ihm reisen will? Das ist spaßig. Nein, nein. Ich habe einen anderen, einen sehr gewichtigen Grund. Nicht wahr, liebe Madelon?«

Die Gefragte warf ihr einen halb zweifelnden, halb frohen Blick zu und antwortete:

»Aber zu mir hast Du von Deiner Absicht, zu reisen, ja noch kein einziges Wort gesagt.«

»Das war nicht nöthig; ich wollte warten, bis wir hier sein würden. Ja, lieber Großvater, es ist vielleicht ganz und gar nöthig, daß ich reise. Denke Dir, es hat sich Einer mit dem Löwenzahne gefunden.«

»Mit dem Löwenzahne? Ich verstehe Dich nicht!«

»Lies hier diesen Brief.«

Sie ließ sich von Madelon den Brief geben und reichte ihn dem Rittmeister hin. Dieser hatte keineswegs so


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schwache Augen, wie er Hallern glauben gemacht hatte. Sein Gesicht war ganz im Gegentheil noch ganz jugendlich scharf. Er faltete den Brief auseinander und begann zu lesen.

Während der Lectüre nahm sein Gesicht den Ausdruck einer sich immer vergrößernden Spannung an. Als er fertig war, sagte er kein Wort, aber fuhr aus dem Stuhle empor und begann, mit großen, raschen Schritten das Zimmer zu messen. Das pflegte er stets zu thun, wenn irgend Etwas seine Gedanken oder Gefühle mehr als gewöhnlich in Anspruch nahm. Man durfte da nicht auf ihn sprechen; man mußte ihn gehen lassen. Hatte er dann Klarheit gewonnen und einen Entschluß gefaßt, so begann er dann schon selbst, sich darüber zu äußern.

Darum schwiegen die beiden Damen jetzt und warteten, bis er selbst das Wort ergreifen werde. Da endlich blieb er vor ihnen stehen, schlug mit der Rechten auf den Brief, den er in der Linken hielt und sagte:

»Ist das nicht wunderbar, liebe Emma, höchst wunderbar?«

»Gott thut allerdings noch Wunder, Großpapa.«

»Ja. Glaubst Du, daß er es ist?«

»Die Buchstaben fehlen und die Jahreszahl.«

»Das ist es ja eben. Aber wenn diese auch vorhanden wären, so läge doch noch immer die Möglichkeit vor, daß die Zähne in fremde Hände gekommen sind.«

»Das sagte auch ich bereits.«

»Hm. Wir suchen die Jungens, und einer von ihnen ist ganz in unserer Nähe gewesen. Habe ich nicht immer behauptet, daß der Fritz dem Generale ähnlich sieht?«

»Stets.«

»Und was nun fast noch wunderbarer ist: Hast Du Dir diesen Maler genau angesehen?«

»Natürlich. Du meinst wegen seiner Aehnlichkeit mit Fritz?«

»Ja. Die ist frappant. Sie gleichen einander wie ein Ei dem andern. Aber das ist jedenfalls bloßer Zufall, ein Naturspiel. Ich wüßte nicht, wie sonst dieser Franzose zu der Aehnlichkeit kommen sollte.«

»Sogar seine Stimme klingt wie diejenige unseres Fritz.«

»Hast Du das auch bemerkt? Ich habe es sofort herausgehört. Also den rechten Zahn hat der Wachtmeister. So wäre er also der Erstgeborene. Aber, können wir dem Generale oder der Generalin Etwas sagen?«

»Unmöglich.

»Nein! Die alten Wunden klaffen auf, und wir wissen nicht, ob wir im Stande sind, sie zu heilen. Man müßte den Zahn sehen und die Bilder, welche sich darin befinden!«

»Darum muß Jemand hin.«

»Richardt ist ja bereits dort. Wir schreiben ihm.«

»Willst Du eine Sache von solcher Wichtigkeit brieflich arrangiren? »

»Da hast Du wieder Recht. Eine verteufelte Geschichte! Mit dieser Nanon also hat der Fritz gesprochen. Hätte er doch zu Richardt ein Wort gesagt!«

»Auch das würde noch nicht genügen. Es gilt, Zweierlei festzustellen, nämlich erstens ob der Zahn wirklich einer der beiden echten ist, und zweitens ob Fritz auch der Knabe ist, dem er zu Recht gehört.«

»Richtig. Aber was steht denn da von der Seiltänzerin? Schade, jammerschade, daß sie verunglückt ist!«

»Sie könnte Auskunft geben!«

»Oder der Hanswurst, wenn es ihm nicht gelungen wäre, zu entkommen. Er muß unbedingt aufgesucht und gefunden werden. Es ist doch am Besten, wir schreiben Richardt!«

»Nein. Am Besten ist's, es reist Jemand hin!«

»Aber wer denn? Goldbergs dürfen nichts wissen; so bleibst nur Du und ich. Soll ich diese Tour unternehmen?«

»Du nicht, aber ich!«

»Mädchen, Du bist nicht bei Troste! So ein Vogel, der noch gar nicht flügge ist, will nach Frankreich flattern!«

»Madelon flattert doch auch!«

»Ja, den Beweis hast Du sofort bei der Hand! Aber bedenke die Gefahr!«

»Wo sollte es eine Gefahr geben?«

»Da und dort und überall! Wie ist es mir ergangen!«

»Das war im Kriege!«

»Auch während des Waffenstillstandes!«

»Also doch während des Krieges!«

»Und Dein armer Vater, mein guter Gebhardt, der nach diesem verdammten Frankreich ging und nicht wieder kam!«

»Wir müssen immerhin sagen, daß das Unternehmen, welches er vorhatte, ein abenteuerliches und gefährliches war!«

»Und der brave Florian Rupprechtsberger! Auch den hat der Teufel geholt!«

»Aus demselben Grunde! Das aber, was wir jetzt vorhaben, ist weder abenteuerlich noch gefährlich.«

»Das will mir nicht einleuchten!«

»Man hat ja fast gar nichts zu thun, als nach Thionville zu fahren und mit Fritz zu sprechen.«

»Und in der Mosel zu ersaufen, wie es Richardt beinahe ergangen wäre!«

»Ich fahre nicht mit dem Schiffe!«

»So entgleist der Zug, und Du bist futsch!«

»Aber, Großpapa, bist Du denn wirklich einer von den berühmten Ziethenhusaren gewesen!«

»Freilich! Und ich glaube, Mädel, in Dir spuckt auch das alte, verwegene Husarenblut!»

Sie nickte ihm lächelnd zu und antwortete:

»Ich bin die Tochter einer alten Soldatenfamilie!»

»Das ist wahr. Ich will es gern glauben, daß Du Dich vor dieser Reise nicht fürchtest!«

»Ich habe ja auch Madelon bei mir!«

»Na, das ist die Richtige! Die kann viel zu Deinem Schutze thun! So ein Mädchen schreit laut auf, wenn eine Mücke summt!«

»Und sodann, weißt Du, woran ich gedacht habe?«

»Na, woran Ihr Mädels denkt, das weiß man ganz genau. Ich hab's erfahren.«

»Nun, woran?«

»An's Heirathen natürlich!«

»Richtig! Das ist's, was ich sagen wollte.«

»Sakkerment! Ich hoffe doch nicht, daß Du nach Frankreich machen willst, um Dir von dorther einen Mann zu holen?«

»Warum nicht?«


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»Das geht nicht! Das leide ich nicht! Einen Franzosen dulde ich nicht in meiner Familie!«

»Hast Du Dir nicht auch eine Französin geholt? Und Vater auch und der Onkel General auch?«

»Ja, eine Frau! Das ist etwas Anderes! Aber einen Mann! In Frankreich haben nur die Weiber Verstand, bei uns in Deutschland aber die Männer!«

»Danke für das Compliment! Aber ich will Dich beruhigen und Dir sagen, daß es mich gar nicht nach einem Manne gelüstet; doch mußt Du auch an Richardt denken!«

»An den? Na, der ist ganz aus der Art geschlagen. Der hat noch kein Mädchen angeguckt! Ich glaube nicht, daß er jemals auf den Gedanken kommt, sich eine Frau zu nehmen!«

»Meinst Du? Da kenne ich ihn besser!«

»Grünschnabel!«

»Oho!« lachte sie. »Ich verbitte mir allen Ernstes solche Blüchersche Ausdrücke!«

»Und abermals Grünschnabel! Blücher hat deutsch gesprochen und deutsch zugehauen! Geht mir mit Eurem jetzigen Salonparlement! Also, was den Richardt betrifft, so willst Du anderer Meinung sein als ich?«

»Ja, ganz anderer!«

»Hast Du Gründe dazu?«

»Vielleicht.«

»Alle Wetter! So hast Du Etwas bemerkt? Sollte mich freuen!«

»Bemerkt nicht, aber erfahren, und zwar aus dem sichersten Munde, nämlich von ihm selbst.«


Ende der siebenundsechzigsten Lieferung - Fortsetzung folgt.



Karl May: Die Liebe des Ulanen

Karl May – Forschung und Werk