Lieferung 97

Deutscher Wanderer

25. Juli 1885

Die Liebe des Ulanen.

Original-Roman aus der Zeit des deutsch-französischen Krieges von Karl May.


// 1537 //

Dort war lange vorher der Capitän in einer ganz unbeschreiblichen Stimmung angekommen. Er begab sich, ganz so, wie vermuthet worden war, zu Rallion, dem Jüngeren. Dieser lag nachlässig auf dem Sopha und las in einem Buche.

»Ah, Herr Capitän!« sagte er. »Unerwarteter Besuch!«

»Wirklich?« fragte der Alte scharf.

»Gewiß!«

»Ich denke, Sie haben mich jetzt immer zu erwarten.«

»Wieso? Weshalb?«

»Das wissen Sie nicht?«

»Nein.«

»Ahnen es auch nicht?«

»Kein Wort!«

»Nun, der Schlüssel wegen!«

»Welcher Schlüssel?«

»Zu den unterirdischen Gewölben.«

»Was giebt es denn wieder mit diesen Schlüsseln?«

»Donnerwetter, wissen Sie sich gut zu verstellen!«

»Ich mich verstellen?«

»Ja. Sie haben diese Schlüssel!«

»Das sagten Sie bereits einmal!«

»Sie leugneten, jetzt aber habe ich den Beweis.«

»Schön! Bringen Sie den Beweis.«

»Der, welchen Sie heute befreit haben, hat es mir mitgetheilt. Das ist der unumstößliche Beweis.«

»Alle Wetter! Erlauben Sie, daß ich mich da von dem Sopha erhebe! Ich habe Jemand befreit?«

»Ja.«

»Das heißt, einen Gefangenen?«

»Natürlich!«

»Den, der da unten steckte, etwa?«

»Wen sonst!«

»Wer war es denn?«

»Das wissen Sie ebenso gut wie ich!«

Da sagte Rallion in seinem ernstesten Tone:

»Capitän, Sie sind seit einiger Zeit höchst unbegreiflich. Sie versprachen mir Ihre Enkelin und halten nicht Wort. Sie schleppen mich in Versammlungen, in denen ich verwundet werde. Sie nennen mich nun gar einen Dieb! Das habe ich satt. Ich weiß sehr genau, was ich meiner Ehre und meinem Stande schuldig bin. Ich lasse mich nicht länger hänseln. Vater hat vorhin telegraphirt! Morgen oder übermorgen reise ich.«

»Donnerwetter! Was hat er telegraphirt?«

»Hier das!«

Er gab ihm das Telegramm zu lesen. Es enthielt die Worte:

»Dränge auf Entscheidung und komme dann sofort. Alles ist vorbereitet!«

»Sie sehen also,« fuhr er fort, »wie es steht. Bekomme ich Marion oder nicht?«

»Verdammt! Das Mädchen wird immer obstinater! Und nun dazu diese Schlüsselgeschichte!«

»Darf man sie denn nicht erfahren?«

»Hol's der Teufel! Ich habe doch nur Sie im Verdachte!«

»Da sind Sie dümmer als dumm.«

»Denken Sie sich: Gestern ergriffen wir einen Spion. Ich lasse ihn fesseln und schließe ihn hinter drei Thüren ein. Sodann einen anderen Gefangenen steckte ich in dasselbe Karzer, in welches wir die Zofe an Marions Stelle steckten - ich bin überzeugt, Beide fest zu haben. Vorhin


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fällt mir Marion's Wesen auf. Ich lasse sie beobachten und erfahre, daß sie zu dieser verdammten Engländerin ist. Ich fahre nach. Wen finde ich dort?«

»Nun?«

»Diese beiden Gefangenen!«

»Unsinn!«

»Weiß Gott, es ist keine Lüge! Ich muß ausgesehen haben wie ein Hippopotamus!«

»Das ist doch ganz unmöglich!«

»Unmöglich gerade nicht, da mir ja die Schlüssel fehlen!«

»Hm!«

»In Ihrer Gegenwart habe ich sie verloren.«

»Das heißt, ich habe sie?«

»Ich denke es wahrhaftig. Der eine Gefangene sagte mir, ich solle Sie grüßen und Sie hätten die Schlüssel.«

Da lachte Rallion laut auf und meinte dabei:

»Und das haben Sie geglaubt?«

»Was sonst?«

»Merken Sie denn nicht, daß der Kerl Sie nur irre führen will?«

»Irre führen? Hm!«

»Wer war denn noch bei den beiden Gefangenen?«

»Marion und - -« »Donnerwetter!«

»Was?«

»Marion war bei ihnen? Und Sie ahnen noch immer nichts?«

»Denken Sie etwa, daß sie die Schlüssel hat?«

»Wer denn sonst?«

»Wie will sie sie denn erhalten haben?«

»Auf zehnerlei Weise! Vielleicht sind Sie von ihr schon längst beobachtet worden!«

»Ich möchte schwer daran glauben! Aber wenn ich mir überlege, daß sie - -«

Er zauderte.

»Was?«

»Daß sie es war, welche mir die befreiten Gefangenen in die Stube brachte!«

»Sie brachte sie? Na, wollen Sie noch andere Beweise?«

»Aber wie soll sie zu den Schlüsseln gekommen sein?«

»Das fragte ich nicht; das muß sie selbst gestehen. Schlüssel hat sie, das ist sicher und gewiß!

»Wieso?«

»Sie legte die Zofe in ihr Bett, anstatt sich. Sie muß also unseren Plan belauscht haben.«

»Wahrscheinlich.«

»Sie kann uns aber nur dann belauschen, wenn sie die heimlichen Gänge, Treppen und Thüren kennt.«

»Satan!«

»Sie kann sich also ganz leicht, während Sie schlafen, bei ihnen einschleichen und die Schlüssel borgen oder sich einen Wachsabdruck machen.«

»Daran dachte ich mit keiner Sylbe!

»Sie durchkreuzt unsere Pläne; sie wird immer obstinater, wie Sie selbst sagen; es entkommen Ihnen Gefangene, welche ganz sicher hinter Schloß und Riegel waren; Marion wird bei diesen Gefangenen gefunden, denen sie den Rath gegeben hat, mich zu verdächtigen. Das thut sie auch wieder nur, weil sie mich haßt - wenn Sie nun noch nicht wissen, woran Sie sind, so sind Sie vollständig blind! Der Alte schritt hin und her, mit den Armen gesticulirend, und dabei allerhand unverständliche Laute ausstoßend. Endlich sagte er, stehen bleibend:

»Sie haben Recht. Ich war blind, vollständig blind. Sie aber haben mir jetzt den Staar gestochen.«

»Endlich! Was aber weiter?«

»Ich mache sie unschädlich!«

»Auf welche Weise?«

»Indem ich nun doch den Plan ausführe, den sie uns vereitelt hat.«

»Sie einstecken?«

»Ja,«

»Hm! Lauscht sie vielleicht jetzt wieder?«

»Nein. Sie ist noch in der Stadt.«

»Sie wird wieder entkommen!«

»Dieses Mal nicht. Ich habe noch Orte, die Sie gar nicht kennen. Dahin bringen wir sie.«

»Wann?«

»Sobald sie zurückgekehrt ist.«

»Sapperment!«

»Wir binden sie sogar im Kerker an, so daß sie sich gar nicht bewegen kann.«

Der Graf schnalzte mit der Zunge und mit den Fingern.

»Und dann?« fragte er. »Dann?«

»Was, dann?«

»Dann gehört sie mir?«

»Ja, ich gebe sie Ihnen; aber erst nach vierundzwanzig Stunden, Verehrtester!«

»Warum so spät?«

»Ich gewähre ihr diese Bedenkzeit, weil es für Sie, für die Zukunft besser ist, sie wird freiwillig Ihre Braut, als gezwungener Maßen.«

»Einverstanden! Unter diesen Umständen bleibe ich trotz der Depesche einen Tag länger hier. Ich habe es nun einmal auf diese Marion abgesehen. Was kann ich gegen diese dumme Liebe? Wie also arrangiren wir uns?«

»Ich warte, bis sie in ihrem Zimmer ist; dann hole ich Sie ab. Wir treten durch das Tafelwerk bei ihr ein.«

»Schön! Aber sie wird schreien!«

»So weit dürfen wir es nicht kommen lassen.«

»Gut, gut! Ich bin gespannt, ganz außerordentlich gespannt. Aber man wird sie vermissen!«

»Lassen Sie es meine Sorge sein, hierauf eine Antwort zu geben, welche die Frager befriedigen wird!«

»Alle?«

»Ich denke.«

»Hm! Einen doch wohl nicht.«

»Wen?«

»Diesen verdammten, buckeligen Hauslehrer.«

»Sie hassen ihn einmal!«

»Pah! Ich weiß ganz genau, daß Sie ihn ebenso hassen, ja, daß Sie ihn sogar fürchten.«

»Fürchten? Sind Sie toll?«

»Nein. Ich beobachte gut. Sehen Sie denn nicht,


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daß Marion am Fenster steht, wenn er unten im Garten sitzt? Sie geben sich heimliche Zeichen; sie stützt sich auf ihn. Hätte sie ihn nicht, so wagte sie keinen solchen Widerstand.«

»Was Sie da sagen, klingt nicht ganz unwahrscheinlich. Ich habe Beweise, daß er horcht, daß er heimlich beobachtet. Er hat zu mir von Dingen gesprochen, die nur ich allein wissen kann. Das ist höchst auffällig.«

»Und da dulden Sie ihn?«

»Was will ich thun? Der Junge hängt an ihm!

»Pah! An dem Nächsten wird er ebenso hängen und vielleicht noch mehr.«

»Möglich. Aber, aber -«

»Was denn?«

»Ich will Ihnen aufrichtig sagen, daß ich ihn nicht gern aufregen möchte. Ich habe mich doch ein Wenig in Acht zu nehmen. Dieser Lauscher hat einige Kleinigkeiten bemerkt, deren Ruchbarwerden mir zwar keinen Schaden, mich aber in Unannehmlichkeiten bringen konnte.«

»Dachte es mir doch! Sie fürchten sich vor ihm!«

»Fürchten? Nicht die Spur; ich habe ihn nur zu berücksichtigen; das ist Alles.«

»Nun gut, so legen Sie es ihm so vor, daß er selbst es ist, welcher kündigt, welcher geht.«

»Da wird er sich hüten!«

»Hat er kein Ehrgefühl!«

»Mehr als genug.«

»Hm, ich zweifle daran! Mir gegenüber hat er sich als Feigling benommen. Sie wissen ja!«

»Das mußte damals einen ganz besonderen Grund haben. Ich habe keinen Zweiten kennen gelernt, der so wie er zum Raufbolde prädestinirt wäre. Ehrgefühl hat er; aber er wird lieber Manches verschlucken, als eine so fein dotirte Stellung aufgeben.«

»Es gilt den Versuch!«

»Ich werde ihn machen. Werde ich den Menschen so halb und halb in Frieden los, so soll es mir auch auf ein Vierteljahrsgehalt nicht ankommen.«

»Ist er denn fleißig? Er scheint stets abwesend zu sein, wie ich bemerkt habe.«

»Er geht allerdings sehr viel aus. Dies giebt vielleicht die Veranlassung zu einer Auseinandersetzung. Also halten Sie sich bereit. Ich werde Sie abholen.«

Er ging und beobachtete dann von seinem Fenster aus die Straße, welche nach der Stadt führte. Unterdessen schickte er den Diener, um sich nach Müller zu erkundigen und auch zu erfahren, welchen Unterricht er heute ertheilt habe.

»Er hat heute gar keinen Unterricht gegeben,« lautete der Bescheid.

»Ist er denn nicht da?«

»Er ist heute stets fort gewesen. Nur einige Augenblicke hat man ihn gesehen; dann ist er wieder verschwunden.«

Nach einiger Zeit sah der Alte Marion mit den beiden Schwestern die Straße nach dem Schlosse daherkommen, und zugleich schritt Müller nachdenklich auf dem Wiesensteig herbei. Er hatte die Stadt später als die Damen verlassen, war aber einen kürzeren Weg gegangen; so kam es, daß er fast in demselben Augenblicke mit ihnen auf dem Schloßhofe anlangen mußte.

Dies bemerkte der Alte. Er ging hinab und wartete. Draußen vor dem Thore traf Müller mit den Damen zusammen und betrat mit ihnen den Hof.

»Herr Doctor,« sagte der Alte laut, »Sie wurden gesucht.«

»Von wem?«

»Von mir.«

»Ich stehe zu Diensten!«

»Das habe ich nicht gefunden. Wenn man Sie braucht, sind Sie nicht vorhanden. Haben Sie heute Unterricht ertheilt?«

»Nein,« antwortete der Gefragte, welcher sehr ruhig vor dem Frager stand.

Auch die Damen waren unwillkürlich stehen geblieben.

»Warum nicht? Weshalb sind Sie engagirt?«

»Um meinen Zögling zu erziehen. Die Erziehung aber besteht nicht in Unterricht allein. Man muß individualisiren. Ich habe es für nöthig befunden, dem jungen Herrn Baron jetzt einige Ruhe zu gewähren.«

»Ihm oder Ihnen, Herr Doctor?«

»Vielleicht Beiden zugleich.«

»Das kann ich nicht billigen. Ich bezahle keinen Erzieher zu dem Zwecke, sich Ruhe zu gönnen. Ein Anderer würde sich sein Gehalt zu verdienen suchen!«

»Meinen Sie, daß ich es nicht verdiene?«

»Durch dieses >Ruhe sich gönnen< allerdings nicht. Es giebt gerade jetzt Ueberfluß an tüchtigen Pädagogen.«

»Dann möchte ich rathen, es doch einmal mit einem Anderen zu versuchen, Herr Capitän.«

»Wir haben lange Kündigung.«

»Ich gehe auch ohne Kündigung.«

»Wann?«

»Heute, wenn es Ihnen beliebt!«

»Schön! Ich werde, damit Sie nicht darunter leiden, Ihnen einen Vierteljahrsgehalt plus auszahlen.«

»Danke! Ich bin noch bei Casse!«

»Wann holen Sie sich Ihre Zeugnisse?«

»Ich brauche keine. Ich bitte nur noch, meinen Koffer zu Herrn Doctor Bertrand schaffen zu lassen.«

»Wird besorgt! Also, leben Sie wohl, Herr Doctor.«

»Ebenso, Herr Capitän!«

Der Alte hatte nicht gedacht, den unbequemen Menschen so leicht los zu werden. Er hatte ihn vor den Damen blamirt und schritt im Bewußtsein eines Sieges stolz von dannen. Er ahnte nicht, daß sowohl Müller als auch die beiden Schwestern ihn heimlich auslachten, und daß Marion auf der Freitreppe leise zu ihm sagte:

»Was haben Sie gethan, Herr Doctor!«

»Einen Sieg errungen.«

»Wieso?«

»Sie werden es erfahren. Jetzt ist nicht Zeit dazu, gnädiges Fräulein.«

»Aber Sie haben nun keine Stellung!«

»O, eine viel, viel bessere und ehrenvollere. Ich dachte nicht, so gut von ihm loskommen zu können.«

»Aber ich - -!«

»Lassen Sie mich sorgen!«


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»Nun wohl! Ich möchte mich so gern auf Sie verlassen.«

»Sie können es, Sie können es, gnädiges Fräulein. Nur liegt es in unserem Interesse, dem Capitän jetzt noch nicht ahnen zu lassen, daß wir Verbündete sind. Sie dürfen vollständig versichert sein, daß ich Alles thun werde, was in meinen Kräften steht, Sie gegen die Intentionen Ihres Großvaters in Schutz zu nehmen.«

»Wie aber wollen Sie dies thun können, wenn Sie sich nicht mehr bei mir befinden?«

»Ich bitte Sie abermals, dies jetzt nur meine Sorge sein zu lassen. Wir können nicht weiter darüber sprechen, da wir jetzt hier bei Ihrem Zimmer angelangt sind. Es würde das auffallen, denn wir dürfen nicht vergessen, daß wir jedenfalls scharf beobachtet werden.«

Sie trennten sich, er um seine eigenen Sachen einzupacken, und sie, um über Alles nachzudenken, was sie heute erfahren und gehört hatte.

Sie schritt einsam und in Gedanken, versunken in ihrem Zimmer auf und ab, wohl über eine halbe Stunde lang, dann ließ sie sich auf den Sessel nieder, welcher vor dem Tische stand. Sie stemmte den Ellbogen auf den Letzteren und legte das schöne Köpfchen in die Hand. Sie hatte eine solche Stellung eingenommen, daß sie dem Eingange, welcher nach dem Vorzimmer führte, den Rücken zukehrte.

Unterdessen hatte der Capitän den Obersten Rallion aufgesucht, von welchem er mit Spannung erwartet wurde. Er trug einen geöffneten Brief in der Hand.

»Denken Sie, was da angekommen ist,« sagte er. »Der Brief ist bereits einige Stunden da, ohne daß ich es wußte. Man hatte ihn mir während meiner Abwesenheit auf den Schreibtisch gelegt.«

»Interessirt der Inhalt auch mich?«

»Sogar sehr.«

»Von wem ist er?«

»Von Ihrem Herrn Vater.«

»Dann muß er mich allerdings sehr interessiren. Vater ist ja sonst kein Freund einer so frequenten Correspondenz. Was schreibt er denn?«

»Hören Sie!«

Der Alte las:

          »Mein bester Capitän!
Die politische Constellation ist ganz plötzlich eine solche geworden, daß ich Sie persönlich sprechen muß. Da ich aber nicht so schnell wieder nach Ortry kommen kann, so ersuche ich Sie, spätestens am Tage nach Empfang dieses mit dem ersten Frühzuge nach hier abzureisen. Es hat große Eile. Ich habe fast die volle Gewißheit, daß das Wetter noch eher losbricht, als wir es vermutheten. Natürlich bringen Sie meinen Sohn mit. Es steht ihm die Auszeichnung bevor, zu den Gardezouaven versetzt zu werden.
          Ihr Jules, Graf von Rallion.«

»Was sagen Sie dazu?« fragte der Alte, indem er den Brief wieder zusammenfaltete und einsteckte.

»Victoria!«

»Ja, dieses eine Wort ist das richtige und enthält Alles, was gesagt werden kann. Also zu den Zouaven kommen Sie!«

»Eine große Auszeichnung!«

»Die Zouaven weniger, aber die Garde. Oberst eines Regimentes Gardezouaven! Donnerwetter, das läßt sich hören!«

»Ja,« nickte Rallion, indem sein Auge stolz aufleuchtete. »Wir haben ja nur das eine Zouavenregiment bei der kaiserlichen Garde, zwei Bataillone stark. Das ist es, was mich selbstverständlich freut. Aber das Andere -!«

»Was?«

»Die schnelle Abreise!«

»Die ärgert Sie?«

»Natürlich doch!«

»Warum.«

»Hm! Marion! Haben Sie denn vergessen?«

»Pah! Bis zum ersten Zuge morgen früh haben Sie mehr als genug Zeit, zum Ziele zu gelangen.«

»Ist sie bereits nach Hause?«

»Ja; ich sah sie soeben kommen.«

»Nun, wann holen wir sie?«

»Gleich jetzt. Ich habe zwei Paar Filzgaloschen draußen stehen, welche wir anziehen, um unsere Schritte unhörbar zu machen.«

»Und wenn sie um Hilfe ruft?«

Der Alte stieß ein höhnisches Lachen aus und antwortete:

»Da habe ich ein Stück alten Pelzes, welches sie schon verhindern wird, zu schreien. Ich drücke ihr dasselbe auf das Gesicht und binde es ihr fest. Zu gleicher Zeit nehmen Sie die Stricke, welche ich mitgebracht und draußen liegen habe, und fesseln ihr Hände und Füße. Sie ist ganz sicher unser, denn jetzt soll es ihr nicht einfallen, anstatt sich selbst die Zofe fangen zu lassen.«

»So wollen wir gehen!«

»Vorher noch Eins: Ich habe mit diesem Müller gesprochen.«

»Ah, schon?«

»Ja. Ich ging ihm ja entgegen.«

»Sprachen Sie von seiner Entlassung?«

»Ja.«

»Ging er darauf ein?«

»Mit Vergnügen, wie es schien. Nicht einmal sein Zeugniß will er haben.«

»Der Unvorsichtige! Wie kann er eine weitere Stelle finden, ohne nachzuweisen, daß Sie mit ihm zufrieden gewesen sind?«

»Er mag zusehen, wer ihn engagirt. Ich bot ihm den Gehalt eines Vierteljahres als Entschädigung an, aber er nahm auch dieses Geld nicht an.«

»Nicht? Warum nicht?«

»Weiß ich es? Er sagte, er sei noch bei Casse.«

»Warum aber boten Sie ihm diese Entschädigung an?«

»Weil er von einer Kündigung absah.«

»Ah! So geht er bereits am Schlusse des Monates?«

»O nein, noch besser! Er geht sofort.«

»Heute schon?«

»Nicht nur heute, sondern sofort. Er wird einpacken und dann gehen.«

»Dem Himmel sei Dank! Sind wir diesen arroganten Menschen los! Ich habe ihm nicht getraut.«

»Er war ein verschlossener, undurchdringlicher Character, aber trotzdem und trotz seines Buckels doch ein tüchtiger


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Kerl. Aber, halten wir uns mit ihm nicht auf! Wir haben mehr zu thun. Kommen Sie! Aber schließen Sie vorher Ihren Eingang zu. Man muß vorsichtig sein.«

»Haben Sie Laternen mit?«

»Das versteht sich ganz von selbst. Laternen und auch alles Andere, was wir brauchen.«

Rallion verschloß seine Thür und dann krochen sie durch das geöffnete Täfelwerk. Draußen zogen sie die Filzschuhe über ihre Stiefeln, nahmen die anderen Requisiten an sich und schlichen sich dann zu derjenigen Stelle, an welcher man in Marions Vorzimmer gelangte.

»Pst! Horchen wir erst!« flüsterte der Alte.

Sie lauschten. Es ließen sich regelmäßige, durch die Entfernung gedämpfte Schritte hören.

»Sie scheint im Zimmer auf und ab zu gehen,« meinte Rallion.

»Ja. Wir müssen also warten.«

Sie warteten eine kurze Weile, dann waren die Schritte nicht mehr zu hören.

»Jetzt,« raunte der Alte seinem Spießgesellen zu. »Aber vorsichtig. Unsere Schritte müssen unhörbar sein. Haben Sie die Stricke bereit?«

»Ja.«

»Sie wird sich natürlich sträuben. Seien Sie nicht zu zart mit ihr. Je fester wir zugreifen, desto eher und besser werden wir mit ihr fertig.«

Ein leises Rascheln ließ sich hören, so leise, daß selbst Rallion es kaum zu vernehmen vermochte: Der Alte öffnete das Tafelwerk. Sie blieben einige Augenblicke horchend stehen und da sich nichts im Zimmer regte, so waren sie überzeugt, nicht gehört worden zu sein.

»Jetzt vorwärts!« befahl der Capitän.

»Lassen wir hier offen?«

»Ganz natürlich!«

Sie traten in das Vorzimmer. Es befand sich Niemand da. Sie schlichen zu den Portièren und blickten hindurch. Marion saß in der bereits beschriebenen Stellung am Tische.

Der Alte nickte dem Grafen aufmunternd zu, schob die Portièren zur Seite und trat ein, in den beiden Händen das Pelzstück haltend. Rallion folgte ihm mit den Stricken.

Der Capitän machte zwei rasche Schritte vorwärts - ein unterdrückter Schrei erscholl oder vielmehr, er wollte erschallen, aber der Alte hielt dem Mädchen den Pelz so fest auf den Mund, daß sie gar nicht laut schreien konnte. Und zugleich schlang Rallion ihr die Stricke um die Arme, mit denen sie alle Anstrengung machte, den Capitän von sich abzuwehren; dann wurden ihr auch die Füße gefesselt - sie war gefangen.

»So!« knurrte Richemonte vergnügt. »Dieses Mal ist das Täubchen eingefangen. Sie soll uns nicht wieder das Zöfchen in die Hände schieben. Schnell fort mit ihr.«

Sie faßten sie, die nicht im Geringsten zu widerstreben vermochte, an und trugen sie hinaus. Dann schob der Alte die Täfelei wieder zu und verriegelte sie.

»Wohin nun?« fragte Rallion.

»Zunächst hinunter in den Gang, gerade wie bei der Zofe. Hier stehen die Laternen. Brennen wir sie an.«

Rallion fühlte der Gefangenen nach dem Kopfe und fragte:

»Haben Sie den Pelz nicht zu fest gebunden?«

»Nein.«

»Mir scheint es doch so. Wenn sie nun erstickt!«

»Pah! Solche Katzen ersticken nicht. Hier, hängen Sie sich die Laterne in's Knopfloch! Und dann hinunter!«

Sie trugen Marion bis zur Thür desjenigen Gewölbes, in dessen hinteren Theil die Zofe eingeschlossen worden war. Da hier der Capitän seine Last niederlegte, fragte Rallion:

»Hier hinein?«

»O nein. Hier wäre sie nicht sicher aufgehoben, denn von da ist mir Einer entkommen, ohne daß ich es mir erklären kann.

Ich will einmal nachsehen, ob es mir vielleicht möglich ist, eine Spur zu entdecken. Bleiben Sie hier zurück, um über die Gefangene zu wachen!«

Er öffnete die Thür und trat in das Gewölbe, aus welchem er erst nach längerer Zeit zurückkehrte. Seine Miene war eine höchst verdrießliche.

»Etwas gefunden?« fragte Rallion.

»Nein. Nicht den Gedanken einer Spur.«

»Sonderbar. Wenn Einer entkommen ist, muß doch die Thür offen sein!«

»Sie haben gesehen, daß diese hier verschlossen war, und die hintere war es ebenso. Ich begreife das nicht!«

»Es muß Jemand den Schlüssel haben.«

»Ganz sicher!«

»Aber wer?«

»Das werde ich schon noch herausbekommen. Fassen Sie wieder an. Wir gehen weiter.«

Sie trugen Marion nun bis an den Kreuzungspunkt der Gänge und lenkten dann rechts ein. An der Thür, durch welche der dicke Maler geführt worden war, blieben sie halten, um ihre Last niederzulegen.

»Sehen Sie,« meinte der Alte, »auch hier ist mir Einer entkommen, sogar durch drei verschlossene Thüren. Ich werde einmal vorangehen.«

Er öffnete die Thür und verschwand hinter ihr. Es dauerte eine geraume Zeit, ehe er wieder erschien. Er sagte in zornigem Tone:

»Man ist versucht, an Zauberei zu glauben. Auch hier ist der Gefangene verschwunden, ohne die geringste Spur zurück zu lassen, aus welcher man schließen könnte, auf welche Art und Weise er entkommen ist.«

»Waren denn die Thüren auch hier verschlossen?«

»Alle drei.«

»Ohne eine Spur von Verletzung zu zeigen?«

»Nicht die leiseste Spur.«

»So bleibt es dabei: Es besitzt Jemand die Schlüssel. Wohin tragen wir Marion jetzt?«

»Hier herein!«

»Was? Hier herein?«

»Ja.«

»Von wo soeben Einer entkommen ist!«

»Ja. Aber haben Sie keine Sorge! Die hier entkommt mir nicht. Vorwärts!«

Das gefesselte Mädchen wurde nach dem runden Raume geschafft, in welchem Schneffke gesteckt hatte. Dort legten sie sie auf den Boden nieder.


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»Sehen Sie, hier war der Gefangene eingeschlossen, und - fort ist er!« sagte der Capitän.

»Und Sie haben ihn bereits wiedergesehen?«

»Ja, bei Doctor Bertrand.«

»So kennt der betreffende Mensch, welcher die Schlüssel besitzt, auch die betreffenden Ausgänge.«

»Wenigstens einen derselben.«

»Dann ist es wirklich höchst nothwendig, zu erfahren, wer er ist. Aber was soll dieses Loch? Ist es ein Brunnen?«

»Scheinbar.«

»Also kein Wasser drin?«

»Zuweilen. Es ist der Eingang zu denjenigen Räumen, in welche mir sicherlich kein Unberufener gelangen wird.«

»Gehen denn Stufen hinab?«

»Nein.«

»Eine Leiter?«

»Auch nicht.«

»Donnerwetter! Wie gelangen wir denn da hinab?«

»Ja, das ist ein Räthsel!« lachte der Alte. »Der dicke Kerl, welcher hier steckte, und Derjenige, der ihn befreit hat, sie Beide haben jedenfalls auch untersucht, ob da hinabzukommen sei. Sie werden mit der Hand hinabgegriffen haben, um nach Stufen zu suchen, haben aber nichts gefunden. Ich bin überzeugt, daß sie meinen, es wirklich mit einem Brunnen zu thun gehabt zu haben. Es sind Eisenstangen eingefügt, die oberste allerdings so tief, daß man sie nicht mit der Hand erreichen kann.«

»Mittelst dieser Stangen steigt man hinab?«

»Ja.«

»Auch wir jetzt mit Marion?«

»Natürlich. Auf der halben Tiefe halten wir an. Dort öffnet sich ein Gang, welchen wir passiren müssen. Ich steige voran und halte Marion, welche Sie an einem Strick herablassen. Dann folgen Sie.«

Marion erhielt einen Strick unter den Armen hindurch und wurde an demselben herabgelassen. Rallion stieg dann nach und trat in den neuen Gang, in welchem der Alte bereits seiner wartete. Sie trugen ihre Last den Gang entlang, stiegen mehrere Stufen empor und kamen dann an eine Stelle, wo es bemerklich heller wurde.

»Wir kommen wohl gar in's Freie?« fragte Rallion.

»Bewahre. Wir befinden uns zwar wieder in gleicher Höhe mit den Gewölben, aber in's Freie führt dieser Gang doch nicht. Der Schimmer kommt von oben herab.«

»Wohl gar ein Fenster?«

»Nein. Ein Luftloch, weiter nichts.«

»Wohin mündet es denn?«

»In den Wald.«

»O wehe!«

»Was?«

»Wenn es nun entdeckt wird!«

»Das ist nicht möglich.«

»Wie nun, wenn Einer in dieses Loch stürzt!«

»Das ist nicht denkbar. Das Loch ist mit Moos verschlossen, welches zwar die Luft hindurchläßt, aber keinen Menschen, da es auf festen Holzprügeln ruht. Doch wollen wir uns dabei nicht aufhalten. Vorwärts wieder!« °

»Noch weit?«

»Nein. Sehen Sie die Thüren rechts und links?«

»Ja.«

»Rechts die fünfte ist es.«

Sie schritten weiter und entfernten sich so von dem Loche. Als sie die betreffende Thür erreichten, öffnete der alte Capitän. Es gähnte ihnen ein finsteres Loch entgegen. Auf dem Boden lag Stroh. Sonst war nichts, gar nichts vorhanden. In dieses Loch wurde Marion gelegt.

»Ob sie noch lebt?« fragte Rallion, der bei seiner Liebe für das schöne Mädchen sich doch beunruhigt fühlte.

»Wie sollte sie gestorben sein! Machen Sie den Pelz auf!«

Rallion kniete nieder und entfernte das Pelzwerk vom Gesichte, welches er mit der Laterne beleuchtete.

»Alle Teufel!« rief er. »Sie ist todt!«

»Unsinn!«

»Sehen Sie her!«

Marions Augen waren geschlossen; ihr Gesicht hatte allerdings die Blässe des Todes. Der Alte bückte sich nieder und befühlte die gefesselte Hand.

»Pah!« sagte er. »Haben Sie keine Sorgen! Sie ist ohnmächtig, aber nicht todt.«

»Wirklich?«

»Ja; ihr Puls geht doch!«

»Gott sei Dank!«

»Na, verliebt scheinen Sie wirklich zu sein!« höhnte er. »Soll ich Sie mit der Angebeteten allein lassen?«

»Hm! Was soll ich hier?«

»Narr! Die Zeit benutzen! Sie ist gefesselt; sie befindet sich ja in Ihren Händen!«

»Wohin gehen Sie?«

»Zurück, um Lebensmittel zu holen.«

»Für Marion?«

»Für sie und für Andere. Sie wird nämlich nicht meine einzige Kostgängerin sein. Ich habe noch zwei andere Personen zu versorgen, und da ich nach Paris muß und nicht weiß, wann ich wiederkomme, will ich sie mit hinreichendem Wasser und Brod versehen.«

»Sie kommen aber doch wieder?«

»Natürlich!«

»Wann?«

»In vielleicht einer Stunde.«

»So spät!«

»Sie haben ja den Weg selbst mitgemacht. Und zudem habe ich das Wasser und das Brod zu schleppen. Dieses Letztere kann ich mir nur heimlich nehmen, wenn Niemand sich im Speisegewölbe befindet. Darum ist es möglich, daß ich erst in einigen Stunden zurückkehren kann.«

»Donnerwetter!« fuhr Rallion auf.

»Was?«

»Ich hoffe doch nicht - - -!«

»Was hoffen Sie nicht?«

»Daß Sie mich hier sitzen lassen werden.«

»Sind Sie verrückt!«

»Nein, das nicht; aber - - -«

»Was aber - - -?«

»Sie scheinen hier ziemlich viele Gemächer zu haben, welche für unfreiwillige - Sommerfrischler bestimmt sind - -!«

»Und Sie meinen - -?«

»Wie nun, wenn Sie bei der Verwundung, welche


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ich in dem verdammten alten Kloster erhalten habe, für mich auch eine solche Erholung, eine solche Sommerfrische für nöthig hielten!«

»Ich frage noch einmal, ob Sie verrückt sind!«

»Das nicht; aber vorsichtig bin ich.«

»Ich werde Sie doch nicht hier zurückhalten!«

»Nicht? Werden Sie mich mit Marion hier einschließen?«

»Nein. Die Thür bleibt offen, bis ich zurückkehre, vorausgesetzt, daß Sie das Mädchen nicht entfesseln. Wie können Sie auf den ganz und gar hirnverbrannten Gedanken kommen, daß ich Sie feindlich behandle, da wir doch morgen miteinander verreisen!«

»Hm! Sie sind allen Denen, welche Ihnen unbequem werden, ein gefährlicher Mann, und ich weiß doch nicht recht genau, ob ich Ihnen bequem bin.«

»Lassen Sie diese albernen Gedanken! Sie sollen ja mein Schwiegersohn werden! Würde ich Sie so vertrauensvoll in diese unterirdischen Gänge einführen, würde ich Ihnen meine Enkelin in dieser Weise widerstandslos in die Hände liefern, wenn ich Ihnen feindselig gesinnt wäre! Ja, ich will Ihnen noch einen großen Beweis meines Vertrauens geben, indem ich Ihnen den einzigen Gefangenen zeige, welcher sich noch hier unten befindet. Kommen Sie!«

»Wer ist der Mann?«

»Ein Deutscher. Er kam, um eine Kriegskasse auszugraben, welche den Franzosen gehört. Ich habe ihn daran verhindert, indem ich mit ihm kämpfte und ihn dann als heimlich Gefangenen nach Ortry schaffte.«

»Wie heißt er?«

»Er ist ein Königsau, ein Angehöriger einer Familie, welche ich hasse, wie ich Niemand weiter gehaßt habe.«

Er ging nun einige Thüren weiter und öffnete eine derselben. Ein fürchterlicher Gestank quoll ihnen entgegen. Als der Alte in das Loch leuchtete, sah Rallion, daß dasselbe fußhoch mit mistigem Stroh und Menschenkoth angefüllt war. Es hatte ganz das Aussehen einer Düngergrube. Und da lag ein Mensch, zusammengeringelt wie ein Hund, mit Fetzen auf dem Leibe, welche kaum noch Fetzen genannt werden konnten.

»Das ist er!« sagte der Alte, in dessen Gesicht es wie eine teuflische Freude leuchtete.

»Einer dieser verdammten Deutschen!« meinte Rallion. »Ah, ihnen gehört nichts Anderes. Möchten sie alle so verfaulen, wie dieser Eine hier!«

»Ja, er verfault; er verfault bei lebendigem Leibe. Ich räche an ihm, was ich an seiner Familie nicht mehr rächen kann. Er weiß, wo die Casse vergraben liegt; er soll es mir sagen, und er thut es nicht. Er bleibt so lange hier, bis er es gesteht, und dann - -«

Er hielt inne.

»Und dann?« fragte Rallion.

»Dann muß er dennoch krepiren!« flüsterte ihm der Alte zu, damit der Gefangene es nicht hören solle.

Und lauter fügte er hinzu:

»Steh auf! Laß Dich sehen, Hund!«

Der Gefangene bewegte sich nicht. Da griff der Capitän an die Mauer. Dort hing eine Peitsche am Nagel. Er nahm sie herab und schlug damit auf den Unglücklichen los, bis dieser sich langsam und mühsam erhob.

Er war an Ketten gefesselt, so daß er sich kaum drei Fuß weit bewegen konnte. Sein langes, graues Haar hing ihm bis auf die Hälfte des Rückens herab und sein ebenso langer und ebenso grauer Bart berührte mit seiner Spitze beinahe das Knie. Die Wangen waren eingefallen und die Augen lagen tief. Bart und Haar waren mit Koth besudelt.

»Hast Du Hunger, Königsau?« fragte der Alte.

Der Gefragte antwortete nicht. Da gab ihm der Capitän einen Hieb mit der Peitsche und wiederholte:

»Ob Du Hunger hast? frage ich.«

»Nein,« erklang es matt und hohl.

»Durst?«

»Nein.«

»Willst Du frei sein?«

»Nein.«

»Sterben?«

»Nein.«

»Hund! Sage die Wahrheit, sonst bekommst Du die Peitsche wieder! Willst Du frei sein?«

»Durch Dich nicht!«

»Ah! Durch wen denn?«

»Die Meinigen werden kommen und mich holen.«

Da schlug der Alte eine heisere, höhnische Lache an und sagte:

»Wenn sie kommen, so stecke ich sie zu Dir! Ich würde Deine ganze Brut ausrotten, wenn sie sich zu mir wagte!«

Er hing die Peitsche wieder an die Wand und schloß die Thür zu.

»Das ist Rache!« sagte er. »Die Peitsche hängt drin bei ihm, und er kann dieses Mordwerkzeug nicht vernichten. Die Schlüssel zu seinen Fesseln hängen an demselben Nagel, und er kann nicht zu ihnen, eben weil er gefesselt ist.«

»Eigentlich schrecklich!«

»Und doch nicht schrecklich genug. Und dazu sage ich Ihnen, daß dieser Mensch mein - Neffe ist.«

»Ihr - - Neffe?« fragte Rallion erschrocken.

»Ja. Vielleicht erzähle ich Ihnen einmal davon. Ihr Vater weiß bereits Einiges. Aber jetzt gehe ich. Haben Sie nun Vertrauen zu mir?«

»Ja.«

»Sie glauben, daß ich wiederkomme und Sie abhole?«

»Sicher!«

»Gut! So besiegen Sie einstweilen diese spröde Unschuld da drin. Ich wünsche, daß Sie Sieger sind, wenn ich zurückkehre.«

Er ging, während Rallion in die Zelle trat, in welcher Marion lag. -

Müller war auf sein Zimmer gegangen, um seine Sachen einzupacken. Der Koffer wurde von einem Stallbediensteten geholt und dann entfernte sich der so schnell verabschiedete Hauslehrer, ohne von irgend einem Menschen Abschied zu nehmen.

Er that, als sei er Willens, den Weg nach der Stadt einzuschlagen, wendete sich aber, als es nicht mehr bemerkt werden konnte, dem Walde zu, wo er an der betreffenden Stelle auf den treuen Fritz Schneeberg traf.

»Hast Du Alles besorgt?« fragte er.

»Ja, Herr Doctor.«


// 1544 //

»Hm! Es hat sich ausgedoctert, lieber Fritz!«

»Leider! Wir müssen fort. Aber wird man Sie lassen?«

»Ich habe den Abschied bereits.«

»Das hätte ich nicht für möglich gehalten.«

»O, der Alte ist froh, daß er mich los ist.«

»Das glaube ich allerdings sofort. Aber wenn er Alles wüßte, würde er Sie gewiß nicht fort lassen.«

»Nein, nein! Ich müßte sterben oder würde eingesperrt gerade wie die Anderen da unten.«

»Wir haben sie ja herausgeholt.«

»Allerdings; aber glaubst Du, daß nun Niemand mehr da unten steckt?«

»Wer noch denn? Ah, Sie meinen Liama!«

»Diese und - - meinen Vater.«

»Sollten Sie sich denn wirklich nicht täuschen? Sollte Ihr Herr Vater wirklich hier eingemauert sein?«

»Ich denke es. Die Worte des verrückten Barones lassen es mich vermuthen.«

»Herr, mein Heiland! Da könnte ich mit Säbeln, Fäusten und Knütteln dreinschlagen. Und - - wir müssen fort!«

»Leider! Wir sind die letzte Nacht hier; aber diese Zeit will ich auch benutzen. Ich werde Alles, Alles durchsuchen.«

»Und wieder nichts finden!«

»O, wahrscheinlich doch. Wir glaubten bisher, alle Räumlichkeiten kennen gelernt zu haben; aber es ist nicht wahr. Es giebt noch Gänge, welche wir noch nicht gesehen haben.«

»Den Gang, in den der Dicke gestürzt ist?«

»Ja. Und vielleicht ist dieser der richtige. Der blödsinnige Baron sprach von einem Gewölbe oder Keller des Mittelpunktes - -«

»Er meinte den Kreuzungspunkt der uns bisher bekannten Gänge.«

»Nein. Ich habe nachgedacht und mir die Situation überlegt. Die Gänge sind oft gewunden. Ihr Kreuzungspunkt liegt nicht, wie ich erst glaubte, in der Mitte. Wenn ich vom Schlosse aus eine Linie nach dem Steinbruche und von dem alten Thurme eine zweite nach der Klosterruine ziehe, so schneiden sich diese beiden Geraden jedenfalls so ziemlich auf dem Punkte, an welchem Herr Hieronymus Aurelius Schneffke in die Tiefe gefahren ist.«

»Sapperlot!«

»Dort soll, nach der Aussage des Verrückten, sich Der befinden, dessen Person mit der Kriegskasse in Beziehung steht. Wer könnte das sein, wenn nicht mein Vater?«

»Da müssen wir allerdings auch suchen, Herr Doctor. Sie haben sich doch den Ort gemerkt?«

»Sehr genau. Komm nur. Wir wollen jede Minute zu Rathe ziehen und keine Secunde verschwenden!«

Sie drangen in großen Schritten in den Wald ein, bis sie den Ort erreichten, auf welchem die Bäume gefällt waren. Man hatte die jungen, vielleicht zwanzigjährigen Stämmchen von den Aesten entblößt und sie dann in nummerirten Haufen geordnet.

»Hier ist es wohl?« fragte Fritz.

»Nein. Aber wir brauchen einige Stämmchen, welche wir mitnehmen müssen.«

»Als Leitern zu gebrauchen?«

»Vielleicht, vielleicht auch nicht. Die Umgebung des Loches ist nämlich unverläßlich. Die eigentliche Oeffnung ist nämlich viel weiter als das Loch, durch welches Schneffke gestürzt ist.

Das Moos ruht auf einer dünnen Unterlage, welche leicht nachgeben und nachstürzen kann.«

»So müssen wir die Stämme quer darüber legen.«

»Das meine ich eben auch.«

»An die Stämme können wir dann unsere Stricke befestigen, an denen wir hinab- und wieder hinaufturnen.«

»Das ist der Gedanke, den ich gehabt habe. Greifen wir also zu!«

Bei Schneffke hatte Müller nur einen Stamm gebraucht, der kräftige Fritz nahm jetzt aber deren drei auf die Achseln, und Müller that dasselbe. Bei dem Loche angekommen, legten sie die Hölzer kreuzweise über dasselbe weg. Dann kniete der Letztere, da die Unterlage nun vollständige Sicherheit bot, nieder, um einen der Stricke an den Kreuzungspunkt zweier Stämmchen zu befestigen.

Indem er das that, war es ihm, als ob er unter sich ein Geräusch vernehme.

»Pst! Still, Fritz!« warnte er. »Ich höre Etwas.«

Er horchte und schob das Moos ein Wenig zur Seite. Ein Lichtschein näherte sich.

»Schnell! Kniee mit her, ob Du Etwas siehst oder hörst!« sagte er. »Zwei bemerken mehr als nur Einer.«

Im nächsten Augenblicke lag Fritz neben ihm. Auch dieser machte sich ein Löchlein in das Moos, um besser sehen zu können. Von unten herauf ertönten die Worte:

»Wir kommen wohl gar ins Freie?«

»Bewahre. Wir befinden uns zwar wieder in gleicher Höhe mit den Gewölben, aber ins Freie führt dieser Gang doch nicht. Der Schimmer kommt von oben herab.«

»Wohl gar ein Fenster?«

»Nein, ein Luftloch, weiter nichts.«

»Wohin mündet es denn?«

»In den Wald.«

»O wehe!«

»Was?«

»Wenn es nun entdeckt wird?«

»Das ist nicht möglich.«

»Wie nun, wenn Einer in dieses Loch stürzt!«

»Das ist nicht denkbar. Das Loch ist mit Moos verschlossen, welches zwar die Luft hindurchläßt, aber keinen Menschen, da es auf festen Holzprügeln ruht. Doch wollen wir uns dabei nicht aufhalten. Vorwärts wieder!«

»Noch weit?« »Nein. Sehen Sie die Thüren rechts und links?«

»Ja.«

»Rechts die fünfte ist es.«

Der Lichtschein verschwand nach der entgegengesetzten Seite.

»Hast Du es gehört?« fragte Müller.

»Ja.«

»Auch Etwas gesehen?«

»Alle Drei.«

»Ich nur Einen. Das Moos ist hier bei mir zu dicht.«

»Wen haben Sie gesehen?«

»Den Capitän. Wer waren die Anderen?«

»Rallion. Die Beiden trugen eine gefesselte Person. Es schien ein Frauenzimmer zu sein.«


// 1545 //

Sofort kam Müllern ein erschreckender Gedanke.

»Ein Frauenzimmer?« fragte er. »Vielleicht war es nur ein Packet.

»Nein, ein gefesseltes Frauenzimmer.«

»Hast Du das genau gesehen?«

»Ja. Der Kopf war eingewickelt.«

»Herrgott! Hast Du nichts vom Kleide bemerkt?«

»Es schien hellgrau zu sein. Aber die beiden Laternen gaben so wenig Licht, daß ich mich leicht täuschen kann.«

»Fritz, da ist wieder ein schlimmer Streich ausgeführt worden. Marion hatte ein hellgraues Kleid!«

»Sie meinen doch nicht etwa - - -?«

»Ja, grad das meine ich.«

»Daß sie Mademoiselle Marion in so ein Loch schleppen?«

»Gewiß meine ich das. Sie haben es doch bereits einmal versucht. Und denke an den Auftritt bei Doctor Bertrand.«

»Alle Teufel! Es ist möglich! Wir müssen sie natürlich heraus holen!«

»Versteht sich! Ich mache hinunter!«

»Jetzt?

»Ja.«

»Herr Doctor, warten Sie noch!«

»Nein, nein!«

»Nur bis sie wieder fort sind!«

»Fällt mir nicht ein! Wer weiß, was unterdessen geschehen ist.«

»Sie werden sie einfach einschließen und sich dann wieder entfernen. Nachher können wir in Gemüthlichkeit und ohne alle Gefahr hinab, um sie zu befreien.«

»Aber ob unsere Schlüssel auch hier schließen werden! Nein, ich mache jetzt am Seile hinunter!«

»Aber man wird Sie sehen!«

»Ich glaube nicht. Sagte der Alte nicht, daß es die fünfte Thür sei?«

»Ja.«

»Nun, ich war bereits unten und habe bemerkt, daß die Thüren in einer Entfernung von ungefähr zwanzig Schritten von einander angebracht sind. Das giebt über hundert Schritte, eine Entfernung, welche mir vollständig genügt. Sie können mich gar nicht bemerken.«

»Es ist dennoch gefährlich! Darf ich mit?«

»Nein. Du mußt hier bleiben; ich komme mit Deiner Hilfe viel rascher hinab und herauf. Du wirst schon merken, wenn ich wiederkomme. Das andere Ende des Seiles behältst Du in der Hand. Greift Jemand daran, und es ist unten dunkel, so bin ich es. Siehst Du aber den Lichtschein wieder kommen, so ziehst Du es schnell herauf, damit man es nicht bemerkt. Also rasch!«

»Ihre Revolver sind doch geladen?«

»Ja.«

»Gut! Wenn Sie schießen, komme ich hinab, und dann soll der Teufel diese verdammten Schufte bei den Haaren holen!

Also Vorsicht! Er sagte diese letzten Worte, weil sein Herr bereits am Seile hing und schnell unter dem Moose verschwand.


Ende der siebenundneunzigsten Lieferung - Fortsetzung folgt.



Karl May: Die Liebe des Ulanen

Karl May – Forschung und Werk