Lieferung 101

Karl May

30. Juni 1888

Der Weg zum Glück.

Vom Verfasser des »Waldröschen«, »Verlorner Sohn«, »Deutsche Helden« etc.


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solchen Paß, so würde ich bestraft. Wenn aber ein Polizist ihn macht, so ist er kein Fälscher. Er darf es thun.«

Der Beamte verlor die Geduld. Er bezwang sich aber noch einmal und sagte ruhig:

»Wenn Sie mich, wie es scheint, für einen Polizisten halten, so bedaure ich allerdings sehr, Ihretwegen die weite Reise von Wien bis hierher gemacht zu haben.«

»So! Soll ich mich einmal erkundigen in Wien, ob es dort giebt einen Banquier Wendelmann?«

»Jawohl.«

»So werde ich es thun.«

»Aber bis die Antwort kommt, kann ich nicht in Triest warten; ich habe keine Zeit.«

»O, die Antwort wird sein gleich da.«

»Wollen sie telegraphiren?«

»Nein.«

»Also schreiben?«

»Auch nicht, sondern lesen. Baruch Abraham braucht nämlich nicht lange Zeit, um zu kommen von Wien nach Triest, oder von Triest nach Wien, denn Wien liegt da auf dem Tisch.«

Er nahm ein großes Buch vom Tische. Es war das diesjährige Adreßbuch der Haupt- und Residenzstadt Wien. Er schlug es auf und suchte.

Der Polizist zuckte, indem er den Sepp anblickte, die Achsel, als ob er sagen wolle: Es hilft ihm doch nichts.

»Da haben wir es!« sagte Baruch Abraham nach einer Weile. »Es giebt in ganz Wien keinen Juwelier oder Banquier Wendelmann.«

»Im Adreßbuch noch nicht, das ist wahr.«

»Sie müßten drin stehen!«

»Nein, denn ich bin erst seit Februar in Wien.«

»Wo waren Sie vorher?«

»In Budapest.«

»So müssen Sie stehen dort im Buche.«

Der alte Gauner war nicht zu täuschen. Er besaß auch ein Adreßbuch von Budapest und schlug es auf. Auch dort fand er den Namen nicht. Er war überzeugt, daß der sogenannte Banquier ein Polizist sei, folglich mußte der alte Hauptmann auch einer sein. Sein Herz bebte vor Angst, aber er besaß die Kraft, sich so zu beherrschen, daß man nichts davon bemerkte.

»Wie gut, daß der alte Verräther das Versteck nicht kennt!« dachte er im Stillen.

Er ahnte nicht, daß er heute Nacht von ihm beobachtet worden war. Er hatte dann, nachdem der Sepp von ihm gegangen war, Alles wieder in das Versteck gebracht und den Kleiderständer wieder an die Wand geschoben. Jetzt klappte er das Buch wieder zu und sagte:


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»Auch da steht kein Banquier dieses Namens. Meine Nase hat mich also wohl nicht getäuscht.«

Jetzt ließ der Polizist den Schleier fallen.

»Nein, sie hat Sie nicht getäuscht. Ich bin Criminalcommissar und befinde mich hier, um mir die Geschmeide und Metallsachen zeigen zu lassen, welche heute Nacht der Herr Hauptmann gesehen hat.«

»Dachte es mir! Aber daß der Herr Hauptmann gesehen hat solche Sachen, davon weiß ich nichts!«

»Verstellen Sie sich nicht.«

»Warum sollte ich mich verstellen? Braucht man sich zu verstellen, wenn man sagt die Wahrheit?«

»Von Wahrheit ist keine Rede. Sie haben eine ganze Menge Kostbarkeiten hergezeigt.«

»Und doch ists wahr, wenn ich sag, daß ich weiß kein Wort davon. Bin ich gewesen mit dem Herrn Hauptmann in der Weinstube und hab getrunken einen schweren Wein. Wird er mir geben das Zeugniß, daß ich bin gewesen so betrunken, daß er mich hat führen müssen nach Hause.«

»Das hat er freilich gesagt.«

»Wenn ich also bin gewesen betrunken, wie kann ich wissen, was ich ihm habe gezeigt.«

»Desto genauer weiß er es!«

»Er? Gott der Gerechte! Hat er nicht getrunken ganz denselben Wein wie ich?«

»Wahrscheinlich.«

»So wird er auch gewesen sein so betrunken wie ich und nicht wissen, was ich ihm habe gezeigt.«

»Er hat Sie nach Hause geführt; also ist er jedenfalls nicht so betrunken gewesen wie Sie.«

»Wir haben geführt Einer den Anderen. Er wird haben geglaubt im Rausche, zu sehen Diamanten, und wer weiß, was es ist gewesen.«

»Mit so ganz albernen Ausflüchten entkommen Sie uns nicht. Sie haben den Herrn Hauptmann doch nur zu dem Zwecke mit hierher genommen, um ihm diese Sachen zu zeigen.«

»Kein Wort weiß ich davon.«

»Sie haben ihm gestanden, daß es gestohlene Gegenstände sind!«

»Das hat er gedacht im Rausche.«

»Sie haben ihm sogar gesagt, wer sie gestohlen hat.«

»Ganz gewiß nicht!«

»Kennen Sie einen gewissen Baron von Stubbenau?«

»Nein.«

»Auch nicht eine Tänzerin Valeska in Wien?«

»Auch nicht.«

»Haben Sie nicht postlagernde Briefe unter dem Namen Gärtner hier abgeholt?«


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»Davon weiß ich nichts.«

»Nun, auf dem Postamte wird es zu erfahren sein, wer sie abgeholt hat.«

Der Jude erschrak. Er wußte ja ganz genau, daß man dort seinen Namen nennen würde. Darum sagte er:

»Ist es verboten, Briefe postlagernd unter einer Chiffre oder irgend einem Namen zu empfangen?«

»O nein; aber gefährlich ist es, wenn diese Briefe von einem Verbrecher abgesandt worden sind. Sie kennen wohl Herrn Salek?«

»Auch dieser ist mir unbekannt. Warum fragt der Herr Commissar mich nur nach fremden Namen?«

»Weil ich geglaubt habe, daß sie Ihnen bekannt seien. Aber lassen wir die Namen. Ich möchte die Geschmeidesachen sehen.«

Der Jude wußte sehr wohl, daß es ihm jetzt an den Kragen gehen solle; aber er war längst auf so einen Fall vorbereitet. Darum legte er nachdenklich die Hand an das Kinn und meinte:

»Ich weiß wirklich nicht mehr, was ich habe gezeigt dem Herrn Hauptmann. Ich bin gewesen consternirt von dem Weine. Wo sind denn gewesen diese Sachen?«

Er wendete sich mit dieser Frage direct an den alten Sepp, welcher achselzuckend antwortete:

»Das weiß ich leider nicht.«

»Sie wissen es nicht. Nun, so ist also die Sache auch nicht wahr. Vielleicht haben Sie es nur geträumt, nachdem Sie gekommen sind nach Hause.«

»O nein! Sie hatten sie versteckt.«

»Wo denn?«

»Das ließen Sie nicht sehen. Ich mußte hinausgehen und als ich wieder hereinkam, befanden sich die Sachen hier im Laden.«

»Gott Abrahams! Jetzt kommt mir der richtige Gedanke. Lagen sie etwa in Kisten?«

»Ja.«

»Woher hatte ich diese geholt?«

»Ich glaube, vom Boden herab.«

»O nein. Das habe ich nur gesagt, um Sie zu führen ein wenig irre. Jeder Handelsmann hat so seine Art und Weise. Das Versteck ist hier im Laden.«

»Wirklich?« fragte der Polizist verwundert.

»Jawohl.«

»Wollen Sie es uns zeigen?«

»Sehr gern.«

»Und befinden sich die Sachen noch drin?«

»Natürlich, denn ich habe sie doch sogleich wieder hinein gelegt, als der Herr Hauptmann ist gewesen fort.«

»So zeigen Sie.«


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»Der Herr Commissar mag mir erst sagen, ob er die Sachen will sehen, um sie zu kaufen, oder ob er hier ist als Polizist, um auszusuchen!«

»Ich frage als Polizist.«

»So werde ich mich beeilen, zu zeigen mein Versteck.«

Der Polizist warf einen heimlichen, verwunderten Blick auf den Sepp. Sollte der Jude wirklich sein Versteck zeigen? Dann hatte er jedenfalls dafür gesorgt, daß sich die Werthsachen nicht mehr in demselben befanden.

Aber Baruch Abraham bewies sogleich, welch ein schlauer, raffinirter Hehler er war. Er hatte sich auf den Fall vorbereitet, daß einmal Einer, dem er die Gegenstände zeigte, ihn verrathen könne.

Er räumte allerlei altes Schuhwerk aus einer Ecke fort und da kam eine Fallthüre zum Vorschein, welche er öffnete.

»Hier können die Herren sehen mein Versteck!« sagte er in hörbar höhnischem Tone.

Dem Polizisten wurde das Herz leicht. Er durchschaute den Juden sofort. Als ob er ganz begierig darauf sei, sagte er:

»Schön! Nun schnell die Kisten heraus!«

»Da muß ich steigen hinab.«

Der Hehler stieg einige Stufen hinab und begann in dort befindlichem altem Zeuge zu kramen.

»Er wird Kisten bringen,« flüsterte der Polizist dem Sepp leise zu.

»Aber nichts darin.«

»O doch! Imitirte, werthlose Waaren. Er ist vollständig vorbereitet.«

»Wird ihm aber nichts helfen.«

»Gewiß nicht. Er hat keine Ahnung, daß wir das richtige Versteck bereits kennen.«

Jetzt hob der Jude einige Kisten und Kästen aus dem Loche und öffnete dieselben sehr bereitwillig.

»Jetzt mögen die Herren blicken herein, um zu sehen die Diamanten und Juwelen,« sagte er.

Seine Augen glänzten vor Vergnügen. Er war überzeugt, die Beiden ganz gewaltig auf den Leim springen zu sehen.

Er zog den Inhalt der Kisten hervor. Es waren zinnerne Gefäße und allerlei Theaterschmuckgegenstände von glänzendem Blech, mit Glassteinen besetzt.

»Dummes Zeug!« rief der Polizist, indem er that, als ob er ganz enttäuscht sei.

»Ja, dummes Zeug ist es!« nickte Baruch Abraham lachend. »Nur zehn Gulden werth!«

»Und das haben Sie dem Herrn Hauptmann gezeigt, als er sich hier befand?«

»Ja, das!«

»Er sprach doch von Gold- und Silbersachen!«

»Es ist gewesen Zinn und Kupferblech.«

»Sollte man es denken!«


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»Habe ich es nicht gesagt vorher, daß der Herr Hauptmann ist gewesen auch so betrunken wie ich? Er hat das Zinn angesehen für Silber.«

»Und das Glas für Edelsteine?« lachte der Polizist. »Ei, ei, Herr Hauptmann! Ich habe geglaubt, hier einen kostbaren Fund zu machen, und nun finde ich solches Gerümpel!«

Sepp griff sich an die Stirn, kratzte sich hinter dem Ohre und sagte ganz verdrießlich:

»Das ist freilich eine verdammte Geschichte!«

»Ein großer Irrthum von Ihnen!«

»Ich muß mir doch einen gehörigen Kater angetrunken gehabt haben!«

»Ganz gewiß. Mein Besuch ist hier also vergebens. Ich muß Sie um Entschuldigung bitten, Herr Abraham. Sie sehen aber, daß ich es nicht zu verantworten habe.«

Der Jude holte tief Athem. Er glaubte, daß die Gefahr nun glücklich vorübergegangen sei, und antwortete darum im freundlichsten Tone:

»Ich habe nichts zu entschuldigen. Wenn die Herren von der Polizei thun ihre Pflicht, so ist es gut für alle ehrlichen Leute.«

»Ja, und Sie sind ehrlich. Das sehe ich jetzt. Wir wollen also gehen, Herr Hauptmann. Adieu!«

»Leben die Herren wohl!« rief der Jude entzückt. »Und wenn Sie wieder mal was brauchen, so werden Sie willkommen sein dem ehrlichen und gefälligen Baruch Abraham!«

Er machte eine Verbeugung über die andere und in seinem Tone klang ein solcher Spott, daß er schließlich selbst darüber erschrak und, um das wieder gut zu machen, den Beiden höflich bis zur Thüre nachfolgte.

Sie befanden sich bereits im Flur. Der Commissar hatte schon den Drücker in der Hand, da drehte er sich noch einmal um, als ob er Etwas vergessen habe, und fragte:

»Ach, was mir da noch einfällt, Herr Abraham, haben Sie ein Dienstmädchen?«

»Nein, Herr Commissar.«

»Ich glaube aber doch gehört zu haben, daß Sie vor einigen Tagen ein Mädchen mietheten.«

»Das wird sein ein Irrthum.«

»Hm! Sonderbar! Der Dienstvermittler Heiling soll sie Ihnen verschafft haben?«

»Das ist nicht wahr.«

»So, so! Entschuldigen Sie!«

Er that, als ob er nun wirklich gehen wolle. Er öffnete die Hausthür und trat halb auf die Straße hinaus. Das war das Zeichen für seine draußen postirten Leute. Er kam, wie unter einem neuen Gedanken, wieder herein, machte die Thür zu und sagte:

»Da fällt mir auch der Name ein. Anita Ventevaglio soll das Mädchen geheißen haben.«


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»Ich kenne sie wirklich nicht.«

»Das wundert mich. Uebrigens - kommen Sie doch noch einmal herein in die Stube! Die Sache ist zwar ganz und gar nicht wichtig, aber sehr, sehr interessant.«

Er schob den Juden in die Stube zurück und auch der Sepp trat wieder ein.

»Sie haben wirklich kein Mädchen?« fragte der Polizist abermals, aber im freundlichsten Tone.

»Nein. Ich habe niemals gehabt ein Dienstmädchen, weil Sarah, meine Frau, ist ein fleißiges Weib und macht Alles allein.«

»Aber der Vermittler hat Ihnen doch in letzter Zeit mehrere besorgt.«

»Ach so! Hat er gesprochen davon?«

»Ja.«

»Nun, ich hab einen Geschäftsfreund auswärts, welcher mir hat gegeben den Auftrag, ihm zu versorgen ein gutes Mädchen.«

»Und das haben Sie gethan?«

»Ja.«

»Hat er Eine behalten?«

»Wie kann ich das wissen? Ich habe ihm geschickt die Mädchens. Ob er behalten hat Eine, das hat er mir nicht geschrieben.«

»Haben Sie ihm auch die Anita geschickt?«

»Jedenfalls, wenn sie gewesen ist hier bei mir. Den Namen habe ich mir nicht gemerkt.«

»Wann haben Sie ihm die Letzte geschickt?«

»Vor einer Woche.«

»Und dann später ist kein Mädchen wieder bei Ihnen gewesen?«

»Nein.«

»So hat man sich abermals in Ihnen geirrt.«

»Geirrt? Hat man gesagt Etwas von mir?«

»Ja, gewiß.«

»Darf ich es erfahren?«

»Eigentlich nicht. Es ist Amtsgeheimniß; aber da ich mich überzeugt habe, daß es nur eine leere Rederei war, so will ich es Ihnen sagen. Man hat nämlich behauptet, daß Sie mit Mädchens handeln.«

Der Jude machte die Geberde des Erschreckens.

»Gott der Gerechte! Wie kann man handeln mit Mädchens? Sind Menschen eine Waare?«

»Zuweilen, ja.«

»Das kann ich nicht verstehen.«

»Nun, man verkauft sie in böse Häuser.«

»Davon weiß ich nichts.«

»Oder man verschachert sie nach Amerika. Man macht ihnen weiß, daß sie dort sofort reiche Männer bekommen, und verschweigt ihnen, wozu sie dort eigentlich dienen sollen.«


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»Von so einem Geschäft habe ich keine Ahnung. Wie kann man bringen Mädchens nach Amerika?«

»Nun, zum Beispiel durch den Capitän Marmel.«

Das war ganz ohne alle Betonung, nur so wie nebenbei gesagt; aber der Jude wußte sogleich, daß die Beiden mit ihm spielten, wie die Katze mit der Maus. Der Name seines Capitäns war ihnen ja bereits bekannt! Dennoch sagte er kopfschüttelnd:

»Sollte man denken, was in der Welt Alles vor sich geht! Unsereiner weiß nichts.«

»Es scheint freilich so, als ob Sie nichts wüßten. Dieses Geschäft florirt gerade hier in Triest gewaltig. Da sind zum Beispiel zwei Fischer, welche sich sehr damit befassen.«

»Wer ist das, Herr Commissar?«

Sein Blick hing angstvoll an den Lippen des Polizisten, welcher der Wahrheit gemäß antwortete:

»Die Gebrüder Petruccio.«

»Die kenne ich nicht.«

»Auch diese nicht? Sie haben sehr Recht. Ich nenne Ihnen lauter unbekannte Namen. Aber Sie haben doch gestern in der Weinstube mit dem einen der Brüder gesprochen!«

»Ich?«

»Ja, der Herr Hauptmann hat es gesehen.«

»So habe ich ihn nicht gekannt.«

»Aber dann sind doch alle Beide bei Ihnen gewesen.«

»Das ist nicht wahr!«

»Also wieder ein Irrthum von -«

Er hielt inne, denn er wurde gestört. Die Thür ging auf und Max und Johannes traten ein. Sie kamen dem Juden höchst willkommen. Er eilte auf sie zu und rief:

»Da kommen die noblen Herren selbst. Hab ich doch geglaubt, daß Sie wollen abholen lassen Ihre Sachen.«

»Das werden wir auch,« antwortete Max. »Selbst forttragen werden wir die Einkäufe doch nicht. Aber wir wollten uns Ihre Bilder noch einmal ansehen. Es ist möglich, daß wir uns noch eins kaufen.«

»Schön, schön! Ich werde sie Ihnen gleich zeigen. Warten Sie nur einen Augenblick.«

Er glaubte, daß sich nun die Polizisten zurückziehen würden. Max blickte sich suchend um und sagte:

»Wissen Sie, Baruch Abraham, den Frauenkopf möchten wir noch einmal sehen, der hier an der Wand hing.«

»Ein Frauenkopf? Da war keiner da.«

Er sagte die Wahrheit. Max hatte nur den Kopf erwähnt, um Folgendes zu bringen:

»Keiner? Da irre ich mich freilich. Mein Freund ist ein Porträter


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und kauft gern Köpfe. Er sucht sich überhaupt - ah, Baruch Abraham, kann man hier Modells bekommen?«

»Lebendige?«

»Natürlich.«

»Das weiß ich nicht. Ich bin nicht Maler und Künstler und habe mich nie um solche Dinge bekümmert. Annonciren Sie doch einmal. Vielleicht meldet sich Jemand.«

»Möglich,« sagte Max. »Aber gewöhnlich passen Diejenigen Einem nicht, welche sich melden, während interessante Köpfe - da fällt mir ein, ich habe einen außerordentlich feinen und interessanten Frauenkopf gesehen. Wenn diese Dame mir sitzen wollte!«

»So müssen Sie sie fragen.«

»Das kann ich nur mit Ihrer Hilfe.«

»Mit der meinigen? O weih! Wenn der alte Baruch Abraham Ihnen soll verhelfen zu einer Dame, so werden Sie bekommen niemals eine.«

»In diesem Falle ist es doch anders. Ich kenne sie gar nicht; Sie aber kennen sie.«

»Sagen Sie mir den Namen.«

»Sie heißt Anita Ventevaglio.«

»Anita Ven - - ist es bereits doch das zweite Mal, daß dieser Name mir wird genannt, ohne daß er mir ist bekannt.«

»Was?« fragte Hanns im Tone des Erstaunens. »Er wäre Ihnen unbekannt?«

»Ganz und gar.«

»Die Dame wohnt doch bei Ihnen.«

»Bei mir? Das ist nicht wahr.«

»Gewiß ist es wahr.«

»Wer sagt denn das?«

»Ich.«

»Sie? Wie können Sie sagen so Etwas?«

»Ich habe sie gesehen und mein Freund auch.«

»Wann denn und wo denn?«

»Gestern Nachmittag, da vor der Thür.«

»Das müßt ich doch auch wissen.«

»Besinnen Sie sich. Sie wollte Wasser und statt dessen gaben Sie ihr die Peitsche.«

»Die Peitsche? Ach, das ist gewesen nur so ein kleiner Scherz, den man sich macht mit einer lieben Verwandten.«

»Anita ist mit Ihnen verwandt?«

»Anita nicht. In meiner ganzen Freundschaft giebt es keine Dame, welche trägt den Namen.«

»Aber Sie sagten doch soeben, daß Sie sich diesen Scherz mit einer Verwandten gemacht hätten!«

»So ist es auch. Die kleine Rahel ist die Tochter meines Mutterbruders.«


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»So ist das Mädchen eine gewisse Rahel gewesen?«

»Ja.«

»Ich denke, es war Anita?«

»O nein - nein!«

»Hm! Das klingt mir sehr unwahrscheinlich. Die Tochter Ihres - wie war das?«

»Meines Mutterbruders.«

»Wie alt sind Sie?«

»Zweiundsiebenzig.«

»Da könnte Ihre Mutter jetzt hundert sein und ihr Bruder ebenso. Und die Tochter dieses Bruders soll so jung sein wie gestern dieses Mädchen? Baruch Abraham, jetzt haben Sie eine große Dummheit begangen!«

Der Jude sah das auch ein, daher verbesserte er sich rasch und in dringlichem Tone:

»Die Enkelin ist sie, die Enkelin, nicht die Tochter!«

»Das könnte ich eher glauben, wenn es überhaupt geglaubt werden könnte.«

»Warum soll es nicht werden können geglaubt?«

»Weil es eine Lüge ist.«

»Herr! Wollen Sie schimpfen mich einen Lügner?«

»Ja.«

»So sagen Sie eine Beleidigung, welche Sie sicher jammervoll werden bereuen.«

»Das glaube ich nicht!«

»Sie werden es erfahren. Wenn Sie nicht sofort nehmen zurück diese Beleidigung, werde ich Ihnen senden meinen Sekundanten.«

Alle lachten. Da rief er zornig:

»Was giebt es da zu lachen, wenn Baruch Abraham redet im heiligsten Ernste.«

»Da sollen wir nicht lachen?« fragte Max. »Sie wollen meinen Freund fordern?«

»Ja, wenn er mich nicht bittet um Verzeihung.«

»So ein alter Mann einen so jugendlichen Menschen? Bedenken Sie doch nur!«

»Das ist mir egal! Wenn ich werde beleidigt, so bin ich ein wüthender oder brüllender Löwe!«

»Aber es liegt ja gar keine Beleidigung vor. Er hat Sie nur einen Lügner genannt!«

»Nun, ist das keine Kränkung meiner Ehre?«

»Nein, denn er hat die Wahrheit gesagt. Das Mädchen hieß Anita.«

»Das ist aber nicht wahr!«

»Es ist wahr. Wir wissen es aus einem ganz sichern Munde.«

»Welcher Mund ist das?«

»Der ihrige selbst.«

»Sie - sie selbst soll es gesagt haben?« fragte der Jude erschrocken.


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»Ja, Anita selbst.«

»Wann denn?«

»Gestern. Wissen Sie, als mein Freund draußen im Hofe die Bilder ansah.«

»Da war ich doch bei ihm und müßte von dem Gespräche Etwas gehört haben.«

»Ich habe Sie mit Absicht herein zu mir gerufen, und zwar mehrere Male.«

Der Jude starrte den Sprecher entsetzt an.

»Er - er - hat mit - Anita geredet?« fragte er fast stammelnd.

»Ja.«

»Wa - wa - was denn?«

»Er hat sie retten sollen.«

»Gott - der - der Gerechte!«

Er ließ die Arme sinken und blickte ganz rathlos um sich.

»Nun, gestehen Sie es ein?«

Das Wort gestehen brachte ihn schnell wieder zu sich. Er fuhr empor und rief:

»Gestehen? Was soll ich gestehen?«

»Daß es Anita war.«

»Wie kann ich gestehen das? Ich weiß von keiner Anita Etwas, kein Wort!«

»Und doch war sie bei Ihnen!«

»So muß sie sich haben geschlichen herein ohne meinen Willen und Erlaubniß.«

»Ach so! Warum haben Sie sie denn aber eingesperrt?«

»Eingesperrt?« stieß er hervor.

»Ja, eingeriegelt!«

»Wer sagt das?«

»Und sogar mit Stricken angebunden!«

»Wo denn?«

»Oben in der Kammer da über uns.«

»Herr Zebaoth! Höre ich denn recht? Man sagt da Sachen, von denen ich kein Wort verstehe!«

»Lügen Sie nicht! Wir sind dann gekommen und haben sie geholt.«

»Sie - Sie - Sie sind das gewesen!«

»Ah, jetzt verplappern Sie sich!«

»Nein, nein! Ich weiß von nichts!«

»So! Es war ungefähr um Zwölf, als wir sie holten. Um Zwei kamen die beiden Petruccio, um die Mädchens überhaupt abzuholen. Da vermißten Sie Anita und haben sie mit Lichtern und Laternen im ganzen Hause gesucht. Und jetzt sagen Sie, daß Sie von Nichts wissen?«

Der Jude sank auf den bereits erwähnten Papierstoß nieder und vergrub das Gesicht in die beiden Hände.


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Da trat der Kommissar zu ihm, legte ihm die Hand auf die Achsel und fragte:

»Abraham, wollen Sie noch leugnen?«

Bei dieser Berührung sprang der Gefragte schnell wieder auf und schrie:

»Ja, ich leugne, ich leugne!«

»Aber es nützt Ihnen nichts!«

»Es nützt, es nützt, es muß nützen. Man macht nur Lügen, um mich zu verderben!«

»Lügen? Schauen Sie sich Die da an!«

Er öffnete die Thür. Anita trat ein. Da taumelte Baruch Abraham zurück.

»Das - das ist sie!« stotterte er.

»Ja, das ist sie. Wollen Sie auch jetzt noch behaupten, daß Sie keine Anita kennen?«

Da schlug der Verbrecher mit den langen Armen durch die Luft, als ob er böse Geister abzuwehren habe, und zeterte:

»Ja, das behaupte ich, das sage ich! Wer anders spricht, ist ein Lügner!«

»So sind die Anwesenden lauter Lügner, und nur Sie allein reden die Wahrheit?«

»Ja, ja, und dreimal ja!«

»Hm! Das würde doch sehr sonderbar sein. Ich bin vom Gegentheile überzeugt. Sie haben keinen einzigen der Namen gekannt, die ich Ihnen genannt habe, und doch stellt es sich heraus, daß Sie diese Personen alle kennen.«

»Nein. Wer das sagt, dem geht es wie dem Herrn Hauptmann da, der auch das Zinn für Silber, das Kupfer für Gold gehalten hat!«

»Sie wählen da einen sehr unglücklichen Vergleich. Der Herr Hauptmann hat sich nicht geirrt.«

»Sie haben es doch vorhin selbst gesehen!«

»Und Sie denken wirklich, daß Sie uns getäuscht haben? Da irren Sie sich in uns.«

»Hab ich Sie etwa täuschen wollen?«

»Natürlich!«

»Ist mir nicht eingefallen!«

»Nun, ich werde es Ihnen beweisen, daß Sie uns hinter das Licht führen wollten. Bitte, Herr Hauptmann!«

Auf diese Worte hin trat der Sepp zu der Kleiderstellage und zog sie von der Wand weg.

»Was ist das? Was wollen Sie da?« fragte der Jude, indem er auf ihn zusprang.

»Die Schmucksachen holen.«

»Die sind doch nicht da, sondern dort!«

»O, ich weiß schon, wo sie sind.«


// 2412 //

Der Sepp griff nach dem Eisenhaken und drehte. Die Wand öffnete sich. Da aber packte der Jude den Alten und schrie:

»Was haben Sie hier zu suchen? Fort, fort mit Ihnen! Ich dulde das nicht!«

Da zog der Polizist ein paar Handschellen aus der Tasche, zeigte sie ihm und sagte:

»Verhalten Sie sich ruhig! Sobald Sie Einen von uns wieder anrühren, fessele ich Sie!«

»Wie - wa - fesseln?«

»Ja, auf der Stelle!«

»Bin ich denn ein Verbrecher!«

»Und was für einer!«

»Gott der Gerechte! Wie werden verkannt die frömmsten Kinder von Israel!«

»Ja, fromm! Das wäre eine Frömmigkeit! Bitte, Herr Hauptmann, nehmen Sie die Sachen heraus!«

»Nein, nein!« schrie der Jude, den der Gedanke, daß er seine Schätze hergeben müsse, halb wahnsinnig machte.

»Schweigen Sie!« gebot der Commissar.

»Schweigen, ich? Nein, ich schweige nicht. Ich werde laut werden! Und wenn ich nicht mit dem Munde reden soll, so spreche ich anders. Wehe Demjenigen, welcher dort Etwas anrührt!«

Er trat an die Wand und riß ein Terzerol herab. Wahrscheinlich war es geladen. Aber der Sepp war schnell bei ihm und riß es ihm aus der Hand.

»Gieb her!« sagte er. »So ein Kerl wie Du versteht nichts von solchen Dingen!«

Da warf sich der Jude wie ein Tiger auf ihn. Ein lauter Pfiff des Commissars, und es kamen wohl sechs oder acht Polizisten herein, welche draußen im Flur gewartet hatten. In wenigen Augenblicken war der Jude gebändigt.

Aber er schrie in toller Wuth aus vollem Halse, so daß seine Frau es hörte. Sie kam zur Treppe herab und in den Laden gerannt.

»Was, was ist - - -?«

Sie wollte fragen, was hier los sei, aber die Frage blieb ihr im Munde stecken, als sie die Anwesenden bemerkte. Die Uniformen der Polizisten erfüllten sie mit Schreck.

»Was es ist?« rief der Jude. »Berauben wollen sie uns, bestehlen! Diese Schurken sind gekommen, um - - -«

»Knebeln! Und führt ihn ab sammt seinem Weibe!« befahl der Commissar.

Es wurde ganz kurzer Prozeß gemacht. Die Beiden wurden gefesselt und mit Hilfe des vorhandenen Mauerpfortenschlüssels hinten hinaus geführt. An der nächsten breiteren Gasse hielt ein Fiaker, in welchen zwei Polizisten mit dem sauberen Ehepaare stiegen.


// 2413 //

So kam es, daß in dem Judengäßchen kein Mensch die Arretur der Beiden sah.

Indessen wurde die ganze Wohnung durchsucht. Da fanden sich denn unwiderlegbare Beweise, daß das Geschäft Abrahams ein geradezu ungeheures gewesen war. In diesem baufälligen Hause waren die Fäden aus allen Gegenden des Reiches zusammengelaufen.

»Da nehmen wir ein Nest aus,« sagte der Commissar zu dem alten Sepp. »Und das haben wir Ihnen zu verdanken.«

»Nicht mir sondern meinen beiden jungen Freunden da.«

»Allen Dreien. Es handelt sich hier um Verbrechen, welche lange Jahre hindurch verübt wurden. Auf die Entdeckung vieler von ihnen ist eine bedeutende Prämie gesetzt. Sie werden wohl viel Geld erhalten.«

»O, darnach trachten wir nicht. Eins wäre uns viel, viel lieber.«

»Was?«

»Wenn wir die Höhle hätten.«

»Hm! Ich sagte Ihnen bereits, daß es auf der Isola piccola keine Höhle giebt.«

»Es muß doch eine dort sein.«

»Nein.«

»Die Petruccio's sagten es doch!«

»Sie haben die Mädchens täuschen wollen. Die Insel liegt oberhalb des Schlosses von Miramare ganz hart an der Küste, von welcher sie nur durch einen sehr schmalen Wasserarm verbunden ist. Ich war sehr oft dort.«

»Ist sie groß?«

»Eine Viertelstunde lang und halb so breit.«

»Ist sie bergig?«

»Ganz eben. Nur einige einzeln verstreute Felsenbrocken giebt es.«

»Womit ist sie bewachsen?«

»Mit Gras. Es giebt keinen Baum dort und auch fast kein Gesträuch. Die Petruccio's sind allerdings oft dort, um vom Ufer aus zu fischen.«

»Giebt es ein Haus dort?«

»Eine armselige Hütte zum Unterschlupf, wenn ein Wetter die beiden Fischer überrascht.«

»Hm! Und doch ist es mir, als ob die Höhle dort zu suchen sei. Man muß vorsichtig sein.«

»Ich werde sofort den Juden und seine Frau verhören. Vielleicht gesteht Eins von ihnen, wo die Höhle zu finden ist.«

»Dann benachrichtigen Sie mich sofort!«

»Natürlich. Ich sende einige Zeilen in das Hotel, wenn ich nicht selbst kommen kann.«

»Und wenn sie nichts gestehen?«

»So arretiren wir die Petruccio's.«

»Wäre das nicht ein Fehler?«

»Wieso?«


// 2414 //

»Diese beiden Italiener sind doch die Hüter der Mädchens.«

»Allerdings.«

»Diese Mädchens sind jedenfalls in der Höhle eingeschlossen; sie können nicht heraus.«

»Das läßt sich denken.«

»Sie erhalten Speise und Trank von den Petruccio's. Nehmen wir diese gefangen, so verschmachten die armen Geschöpfe.«

»Ich denke, die beiden Kerls werden ein Geständniß ablegen.«

»Das glaube ich nicht. Ich halte sie für hartgesottene Sünder, die lieber sämmtliche Mädchens verhungern und verdürsten lassen, damit nur ihnen nichts bewiesen werden kann.«

»Hm! Fatal!«

»Höchst fatal! Wenn sie nicht gestehen, haben wir verloren. Wir finden nichts.«

»Sie vergessen das Schiff, welches nächste Nacht dort anlegen will, um die Fracht einzunehmen.«

»Es wird umsonst anlegen.«

»Wieso?«

»Wenn weder der Jude noch die beiden Italiener da sind, können die Mädchens doch nicht abgeliefert werden.«

»Sollte der Capitän die Höhle nicht kennen?«

»Schwerlich. Und wenn sie ihm bekannt wäre, würde er es keinesfalls verrathen. Was wollen Sie mit ihm machen, wenn Sie keinen Beweis gegen ihn haben?«

»Er legt doch dort an!«

»Darf er das nicht?«

»O doch, aber es ist verdächtig.«

»Daraus macht er sich nichts. Wenn wir ihn fangen wollen, müssen wir die Mädchens haben. Und um diese zu bekommen, müssen wir die Höhle finden.«

»Ganz richtig! Aber wie?«

»Indem wir die Petruccio's nicht arretiren, sondern sie freilassen. Sie dürfen gar nicht ahnen, daß der Jude gefangen ist. Wir beobachten sie, und da müßte es mit dem Teufel zugehen, wenn wir nicht wenigstens eine Spur fänden.«

»Gut, ich will Ihnen folgen. Ich werde sie also streng beobachten lassen.«

»O bitte, nein! Lassen Sie lieber uns das über.«

»Meinen Sie, daß Sie bessern Erfolg haben werden als wir?«

»Nein; aber ich thu so Etwas sehr gern.«

»Nun schön. Wir sind Ihnen zu größtem Dank verpflichtet und wollen Ihre Wünsche gern berücksichtigen.«

»So sorgen Sie vor allen Dingen dafür, daß kein Verbündeter des Juden erfährt, daß er arretirt ist.«


// 2415 //

»Meinen Sie, daß ich das Haus verschließe?«

»Nein. Das würde auffallen.«

»Man könnte denken, er sei verreist.«

»Dann wäre seine Frau daheim.«

»Können nicht alle Beide verreist sein?«

»In diesem Falle würden sie einer Vertrauensperson das Geschäft übergeben. Baruch Abraham scheint mir zu geizig zu sein, als daß er sich den kleinsten Verdienst entgehen ließe, was doch der Fall sein würde, wenn er während seiner Abwesenheit keinen Verkäufer in den Laden stellte.«

»So stellen wir einen!«

»Dieser Gedanke ist nicht übel.«

»Nicht wahr?«

»Ja. Haben Sie eine passende Persönlichkeit?«

»Einen jungen Collegen, welcher erst seit zwei Tagen aus Graz gekommen ist. Es kennt ihn Niemand, und er ist ein Jude.«

»Aber sicher?«

»Ueber allen Zweifel erhaben.«

»So paßt er ausgezeichnet. Er kann sich für einen Verwandten Abrahams ausgeben und sagen, daß dieser mit seiner Frau für einen Tag oder einige Tage verreist sei. Auf diese Weise können wir leicht noch Wichtiges erfahren.«

»Ich werde sofort nach ihm senden und ihn dann gehörig instruiren.«

»So bedürfen Sie meiner nicht mehr?«

»Jetzt nicht. Später vielleicht.«

»Ich habe jetzt Wichtigeres zu thun.«

»So gehen Sie in Gottes Namen.«

Sepp hatte nach der Uhr gesehen. Es war bereits eine halbe Stunde über zehn Uhr, um welche Zeit er den Fex mit der Silbermartha erwartete.

Er hätte sich ganz gut eher entfernen können; aber dann wäre ja Max mit ihm gegangen, welcher Martha nicht sogleich sehen sollte. Darum hatte er die zehn Uhr ruhig verstreichen lassen.

Jetzt nun entfernte er sich mit den Seinen, nachdem Anita ihnen die Orte gezeigt hatte, an denen sie hier gequält worden war.

Sie unterhielten sich unterwegs so lebhaft über das Vorkommniß im Hause des Juden, daß Max und Hanns gar nicht daran dachten, daß der Fex ja kommen wolle.

Sie begaben sich, im Hotel angekommen, stracks nach Sepps Zimmer. Der Alte aber blieb leise zurück und fragte den Portier:

»Ist der Herr angekommen, welchem ich depeschirte?«

»Ja, punkt zehn Uhr. Er fragte nach dem Herrn Hauptmanne.«

»Kam er allein?«

»Er hatte eine junge Dame mit.«

»Wo logirt er?«

»Beide befinden sich einstweilen in Nummer Zwölf, zwei Treppen.«

Der Sepp stieg sogleich diese zwei Treppen hinauf und klopfte an. Die


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Stimme, welche »Herein« rief, kannte er. Sie gehörte dem Fex.

Als er eintrat, wurde er von diesem und Martha auf das Lebhafteste begrüßt.

»Aber, Sepp, was fällt Dir ein!« rief der Fex. »Uns mitten in der Nacht aus dem Schlafe zu stören und nach Triest zu rufen.«

»Das ist ja weiter nix.«

»So! Nächstens schaffst Du uns wohl nach Amerika?«

»Das ist leicht möglich. Grad wegen Amerika hab ich Dich rufen lassen.«

»Ists Spaß?«

»Nein, Ernst.«

»Oho! Was hab ich mit Amerika zu thun?«

»Du nicht, aber die Paula.«

Dieser Name wirkte wie electrisirend auf den Fex. Er rief erstaunt:

»Die Paula? Was ists mit ihr?«

»Sie will nach Amerika.«

»Herrgott! Weißt das wirklich?«

»Ja doch.«

»So hat sie es Dir sagt?«

»Nein, sie nicht.«

Er schlug die Hände zusammen und that einen Freudensprung, der einem Circuskünstler alle Ehre gemacht hätte. Dann ergriff er die Hand des Alten und fragte:

»Sepp, ists denn wirklich, wirklich Dein Ernst?«

»Natürlich.«

»Hast eine Spur von meiner Paula funden?«

»Ja doch.«

»Aber selbst hast sie nicht sehen?«

»Leider nicht. Ich such sie noch.«

»Ich such sie mit, ich such sie mit!«

»Deshalb habe ich Dich kommen lassen.«

»So ist sie hier?«

»Sie soll sich hier befinden.«

»Wo, wo?«

»Gefangen.«

Der Fex erbleichte.

»Gefangen?« fragte er. »Hat sie vielleicht in ihrem Herzeleid eine Unvorsichtigkeit begangen?«

»O nein, nein, nein! Das thut die Paula nicht.«

»Das denk ich auch. Eher geht sie zu Grund, als daß sie was Böses thut. O mein Gott, meine Paula! Endlich ich nur mal wieder was von ihr hören thu!«

»Mußt Dich aberst darauf gefaßt machen, daß es nicht gar viel Gutes ist.«

»Gehts ihr schlimm?«


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»Ja, leider.«

»So solls gleich anderst werden, gleich auf der Stell!«

»Ja, wann man nur die Stelle hätt!«

»Wie meinst das?«

»Bevor ichs Dir sag, mußt mir versprechen, daßt nicht verschrecken willst.«

»Himmel! Ists so was Schlimmes?«

»Nun, zu ertragen ists halt noch.«

»So sags!«

»Sie ist in schlimme Händ gerathen.«

»In welche denn?«

»Sie wird mit Gewalt festgehalten und soll auf ein Schiff schleppt werden, worauf man sie nach Amerika bringen will.«

»Du, das will ich mir verbitten!«

»Ich mir auch!«

»Wo ist das Schiff?«

»Hier im Hafen.«

»So lauf ich sofort zum Capitän und schlag ihn nieder. Kannst derweilen hier warten!«

Er riß seinen Hut von der Wand und eilte nach der Thür.

»Halt!« rief der Sepp. »Weißt denn auch, wie dera Capitän heißt?«

»Nein.«

»Und den Namen des Schiffes?«

»Auch nicht. Sags schnell, damit ich fort kann! Ich hab halt keine Zeit!«

»Ich hab auch keine Zeit, bis Du fortgehst und dann wiederkommst.«

»So geh halt gleich mit!«

»Werds bleiben lassen! Wann ich so schön zur Thür hinaus spazieren kann, schieß ich nicht mit dem Kopf zur Wand hindurch!«

»Was schwatzest da! Dera Capitän will sie nach Amerika schleppen. Das duld ich nicht!«

»Er hat sie noch gar nicht!«

»Ach so! Wer hat sie denn?«

»Das weiß ich noch nicht genau. Ich such den Kerl. Ein Jude wird es wohl sein.«

»Ein Jude? Den hau ich so lang, bis ein Türke aus ihm wird, und zwar ein blauer!«

Er rannte abermals nach der Thür, besann sich aber, blieb stehen und fragte:

»Wie heißt er denn?«

»Baruch Abraham.«

»Und wo wohnt er?«

»Im Gefängniß.«

»Im Gef- - Donnerwetter! Treibst wohl Dein Spiel mit mir, alter Sepp?«


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»Das fällt mir gar nicht ein. Aber lässest Du mich denn zu Worte kommen?«

Er hatte ganz Recht mit dieser Frage. Es war blitzschnell Wort auf Wort gefallen. Der Fex war vor Entzücken, von der so lange vermißten Geliebten Etwas zu hören, ganz aus dem Häuschen gerathen. Jetzt zürnte er:

»Wer ist denn daran schuld?«

»Du doch!«

»Nein, Du! Du giebst mir den Trank nur tropfenweise ein, und ich will doch gleich Alles wissen.«

»Wann ich Dir Alles in Kürze sag, so zerplatzest ganz gewiß in tausend Stücke.«

»Versuchs einmal!«

»Also will ichs kurz machen: Es hält sie Einer gefangen, um sie nach Kalifornien unter die Goldgräber zu verkaufen.«

Einen Augenblick lang starrte der Fex den Alten an, dann sprang er auf ihn zu, packte ihn bei der Gurgel und schrie:

»Du, sag das noch mal! Da erwürg ich Dich!«

Der Sepp mußte alle seine Kraft aufbieten, den jungen, starken Menschen von sich abzubringen. Dann rief er halb lachend und halb zürnend:

»Hab ichs nicht sagt, daßt gleich in tausend Stücke springen wirst, Du Haderlump Du!«

»Was sagst, Haderlump?«

»Ja! Willst etwa nicht Deinen besten Freund derwürgen? Mich, den alten Wurzelsepp?«

»Ja, Dich hab ich doch gar nicht meint!«

»So? Wen denn?«

»Den, der sie verkaufen will.«

»Warum packst ihn denn da an meiner Gurgel? Pack mich doch an dera seinigen!«

»Wo steckt er denn?«

»Werd ihn Dir schon zeigen.«

»So komm!«

Er ging wieder nach der Thür.

»Bleibst gleich da!« rief der Alte. »Wie viele Male willst denn eigentlich fort?«

»Das fragst auch noch? Herrgottle, Sepp, siehst denn nicht ein, daß ich vor Ungeduld vergeh?«

»So nimm Dich zusammen und beherrsche Dich! Damit kommst nicht weiter. Geh her! Setz Dich zu mir! Ich will Dir Alles verzählen.«

»Gut; aberst schnell!«

Martha hatte den Sepp begrüßt und seitdem keine Gelegenheit gefunden, nur ein einziges Wort zu sagen. Jetzt nahm sie den Fex bei der Hand, zog ihn auf das Sopha und bat:

»Fex, ich bitt Dich gar schön: hör ihn an!«


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»Das will ich wohl,« antwortete er. »Aber in fünf Minuten muß er fertig sein.«

»Sei kein Talk!«

»Wie? Wannst nun Du verkauft werden solltest, und Dein Max thät sich hinsetzen - -«

»Fex!« rief sie bittend.

»Ach so! Ja, das hatt ich vergessen, daß man zu Dir von dem nicht reden darf. Na, Sepp, ich will mir Mühe geben, still zu sein. Da sitz ich, und nun fang an zu verzählen.«

»So? Bist wirklich still?«

»Ja.«

»Das ist sehr gut. Da werd ich nun grad nicht verzählen.«

Er stand auf. Der Fex sprang zornig auf ihn zu, ergriff ihn am Arme und rief:

»Du, Alter, wannst noch einen Funken ins Pulver wirfst, da platzt es halt!«

»So werf ich keinen. Weißt, hier ist nicht dera Ort dazu. Komm mit hinunter in meine Stuben. Da ist noch Einer, der Dir Alles viel besser verzählen kann, als ich.«

»Wer?«

»Wirsts sehen. Komm!«

»Soll ich auch mitgehen?« fragte Martha.

»Nein. Bleib nur. Ich schick Dir was herauf.«

»O, ich brauch nix.«

»Das, was ich Dir senden werd, kannst schon gut gebrauchen. Paß' mal aufi!«

Er nahm den Fex bei der Hand und zog ihn fort.

»Du,« sagte er unterwegs, »rath mal, wenst bei mir treffen wirst?«

»Ich weiß es nicht.«

»Den Elefantenhanns und - -«

»Und den Max?« fragte der junge Mann schnell.

»Wie kommst Du auf den?«

»Wo dera Hanns ist, da ist dera Max auch.«

»Da hast Recht. Sie sind da, auf meinem Zimmer.«

Als die Beiden unten eintraten, hatte noch immer Niemand an ihn gedacht. Max, Hanns und Anita hatten sich über den Juden unterhalten und waren so ganz bei der Sache gewesen, daß sie gar keine Zeit gefunden hatten, sich auf den Zehnuhrzug zu besinnen und auf den, der mit demselben kommen sollte.

Desto herzlicher war jetzt die Begrüßung. Anita hatte sich bei seinem Eintritte sogleich in ihr Zimmer zurückgezogen. Ihr natürliches Zartgefühl sagte ihr, daß die ersten Augenblicke den Freunden gehören mußten.

Natürlich kam die Rede sofort auf die Paula. Der Fex verlangte Auskunft über sie. Max wollte ihm antworten, aber der Sepp unterbrach ihn:


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»Sei Du still, Max! Ich werds ihm verzählen, und dera Hanns mag mir helfen. Du hast Nothwendigeres zu thun.«

»So? Was denn?«

»Es ist Eins von dera Polizeien da, was mit Dir reden will.«

»Wo denn?«

»Noch eine Treppe höher, in Nummer Zwölf.

»Was ists denn für einer?«

»Ein Feiner und Prächtiger. Sei recht höflich mit ihm und mach ihm ja ein schön Complimenten!«

Das Gesicht, welches der Alte dabei machte, fiel ihm auf. Darum fragte er:

»Willst mich wohl nur in den April senden?«

»O nein. Es ist wahr. Frag den Fex.«

»Ja,« meinte dieser. »Geh rasch hinaufi. Es hat keine Zeit. Du mußt rasch machen.«

Jetzt stieg Max empor und klopfte an. Es ertönte keine Antwort. Erst als er zum zweiten Male klopfte, hörte er von innen einen Ton.

»Das klingt ja, als obs ein Weibsbild wär,« dachte er. »Sind denn hier auch Weiber bei dera Polizeien?«

Daß der Fex den Namen Maxens erwähnt hatte, das hatte das alte Leid im Herzen Martha's wieder aufgeweckt. Als sie sich allein sah, trat sie zum Fenster, legte die Stirn an die Scheibe und blickte trüb auf den Platz hinab.

Wie glücklich konnte sie jetzt sein, wenn sie früher gewollt hätte. Sie war selbst schuld daran. Ihr Stolz, ihre Herzlosigkeit! O, wenn diese nicht gewesen wären!

Aber, wäre sie jetzt wirklich glücklich? Hätte sie, die Tochter des Verbrechers, das Dasein des Geliebten an das ihrige ketten dürfen? Nein, nein und tausendmal nein. Sie war zur Verdammung und Verbannung verurtheilt und mußte dieses Schicksal tragen.

Leider war die Last gar so schwer!

Unten rasselten die Wagen. Der Platz vor dem Hotel war so sehr geräuschvoll. Darum hörte sie das erste Klopfen nicht.

Und als sie das zweite doch vernahm, sagte sie zwar Herein, aber sie wendete sich nicht um. Sie meinte, daß es ein Zimmermädchen sei und sie wollte die Thräne nicht sehen lassen, die in ihrem Auge stand.

Als aber kein Wort gesprochen wurde und auch keine Bewegung im Zimmer zu hören war, drehte sie sich um.

Was war das! Sie fuhr sich vor Schreck mit beiden Händen nach dem Herzen. Reden konnte sie nicht. War es freudiger Schreck?

Sie hätte diese Frage selbst nicht zu beantworten vermocht. Alles Blut wich aus ihrem Gesicht. Sie hatte wirklich das Aussehen einer Leiche.

Und dort unter der geöffneten Thür stand er ebenso blaß wie sie. Seine Lippe lag zwischen den Zähnen, und seine Augen leuchteten zu ihr herüber. Leuchteten sie vor Zorn oder vor Freude?


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Da trat er herein und zog die Thür hinter sich zu. Dort aber blieb er stehen.

»Martha!« sagte er mit zitternder Stimme.

Sie antwortete nicht.

»Martha!«

Ihre Hände sanken von der wogenden Brust herab, aber sie redete nicht.

»Hast Du kein Wort für mich?«

Was sollte sie sagen, was sollte sie thun?

»Martha!«

Ein tiefer, tiefer Seufzer entfloh hörbar ihren Lippen; dann blieb es aber still.

»Leb' also wohl!« erklang es kurz aus seinem Munde.

Er drehte sich um und ging.

Schon hatte er die Thür hinter sich zugemacht. Er war fort. Sie hörte seine sich entfernenden Schritte. Da kam eine unbeschreibliche Angst über sie. Sie sprang nach der Thür, riß sie auf und trat halb auf den Corridor hinaus. Er hatte schon die Treppe erreicht.

»Max!« rief sie.

Er drehte sich um, sagte aber nichts.

»Max!«

»Was soll ich?«

»Komm!«

»Warum sagst Du das erst jetzt? Adieu!«

Er wendete sich wieder zum Gehen.

»Max, Max!« erklang es hinter ihm.

Dieser Ton war so voller Angst und Qual, daß er sich doch umwendete und langsam zu ihr zurückkehrte.

Sie trat in das Zimmer zurück und er folgte ihr. In ihrem Gesicht war kein Tropfen Blut zu sehen. Und nun, da sie ihm so nahe stand, sah er deutlich, welche Veränderung mit ihr vorgegangen war.

Sie war schöner, viel schöner noch als früher. Aber ihre Schönheit war eine mehr geistige geworden. Das Leid hatte ihren üppigen Formen einen Adel aufgedrückt, der ihnen vorher gefehlt hatte. Das Gesicht war schmaler geworden. Ihre Augen standen jetzt, in diesem Augenblicke voll dicker Thränen.

»Martha, warum ließest Du mich gehen?«

Sie antwortete abermals nicht.

Nur an das Leid denkend, welches sie ihm früher bereitet hatte, fuhr er halb zornig fort:

»Mein Gott! Kannst Du denn wirklich nicht reden?«

Sie preßte die Lippen zusammen; sie schluckte und schluckte, um den überlauten Aufschrei ihres Herzens hinab zu bannen. Unter dieser geistigen und körperlichen Anstrengung erbebte ihre Gestalt.

Er war schon früher ein schöner, junger Mann gewesen; aber jetzt, nachdem er eine so lange Zeit im Süden zugebracht hatte, waren seine Vorzüge


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weiter entwickelt worden. Und welch eine Zukunft lag vor ihm! Sie hatte davon gehört.

Dieses Bewußtsein war es, was sie jetzt erzittern machte. Das Glück, welches sie hätte besitzen können, stand vor ihr; sie aber hatte es von sich gestoßen.

Das war es, was ihre ganze Seele in eine Aufregung brachte, die sie nur unter Anstrengung all ihrer Kräfte noch für einige Augenblicke zu bemeistern vermochte. Sie hätte gern geantwortet, gar so gern; aber sie konnte ja nicht. Sie fühlte, daß sie laut aufschreien werde, wenn sie den Mund öffne.

»Nun,« sagte er kalt, »wenn Du nicht antworten kannst, so brauchtest Du mich auch nicht zu rufen. Der armselige Schulmeister bin ich glücklicher Weise nicht mehr!«

Er drehte sich zum Gehen und öffnete die Thür. Schon stand er draußen, da ertönte hinter ihm im Zimmer ein Schrei - aber was für ein Schrei!

Als er den Blick zurückwarf, sah er Martha auf dem Boden knieen, mit dem Gesicht auf den Sitz des Stuhles gebeugt. Ein jämmerliches Schluchzen entquoll ihrer Brust.

Die Hände über die Brust verschlungen, stand er da.

Da kehrte er langsam zurück und machte die Thüre wieder zu. Die Hände über die Brust verschlungen, stand er da und blickte sie finster an.

Er wartete, daß sie aufblicken und mit ihm sprechen werde - sie that es nicht. Da wollte sich ein grimmiger Zorn seiner bemächtigen, er sagte in hartem Tone:

»Martha, bist Du fertig?«

Als Antwort verstärkte sich ihr Weinen.

»Gott, ach Gott! Was soll das Schluchzen helfen! Das Jammern machts nicht anders.«

Da hob sie langsam den Kopf und sah ihn an. Es war wie der Blick einer Sterbenden. Und erst jetzt kam ihm die Erkenntniß, daß sie unmöglich hatte reden können, daß er hart, gefühllos, grausam mit ihr gewesen sei.

Im Nu kniete er neben ihr, schlang die Arme um sie und zog ihren Kopf auf seine Achsel. Er fühlte ihren Körper an sich beben; er fühlte, welch eine Revolution sie jetzt durchschütterte. Er hob sie auf, ließ sie auf das Sopha gleiten, setzte sich neben sie und hielt sie innig an sich gepreßt.

So lag sie nun an seinem Herzen, weinend aus allertiefstem Herzensgrunde. Sie hatte den einen Arm um ihn gelegt, aber so leicht, so leise, daß er ihn kaum fühlte. Er wußte, weshalb. Sie hielt sich nicht für werth, von ihm umschlungen zu sein.

Da nun kam abermals ein zorniger Grimm über ihn, aber jetzt nicht über sie, sondern über sich selbst. Wie wehe hatte er ihr gethan! Er hatte sie nicht verstanden und ihr im Gegentheile so unendlich wehe gethan! Er hätte sich selbst beohrfeigen mögen!

So verging eine längere Zeit. Da wurde ihr Weinen schwächer und schwächer, bis es ganz aufhörte. Ihr Kopf lag still und ruhig auf seiner Achsel, das Gesicht nach unten gekehrt, so daß er es nicht sehen konnte.


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Aber ihre eine Hand hatte er; sie konnte er sehen. Sie war so fein und alabasterweiß.

Dieses Händchen erzählte die ganze Geschichte des armen Mädchens, welches von der Höhe herabgeschleudert worden war in eine Tiefe, aus welcher man nicht leicht wieder hoffnungsvoll emporblicken kann.

Früher hatten Ringe an diesen weißen Fingern geglänzt, Ringe, mehrere neben einander, als Zeichen eines grund- und haltlosen Bauernstolzes. Und jetzt? Ein einziger Reif umschloß den kleinen Finger. Aber er war nicht von Gold und auch nicht von Silber. Es war ein sehr, sehr dünnes Haargeflecht, kunstlos, als hätte sie es selbst gemacht, und die Enden des Haares waren in einer schwarzen Perle vereinigt, nicht in einer echten, sondern in einer ganz gemeinen Glasperle, zwanzig und noch mehr Stück für einen Pfennig.

Und da dachte er an den letzten Tag in Regensburg, damals, als er sie auf dem Maskenball des Gesangvereines als »Königin der Nacht« kennen gelernt hatte.

Damals hatte er halb im Ernst und halb scherzend gesagt, daß er ganz glücklich sein würde, wenn er ein kleines, kleines Löckchen oder Strähnchen ihres Haares besitzen könnte. Sie hatte es ihm verweigert, weil er sich wohl auch hüten werde, sich für sie eines Löckchens seines dunklen Krauskopfes zu berauben.

Um ihr das Gegentheil zu beweisen, hatte er das Federmesser herausgezogen und sich eine ganze Locke abgeschnitten, sie in ein Papier gewickelt und sie ihr gegeben. Sie aber hatte dieses Papier lachend fortgeworfen, und natürlich auch die Haare mit. Oder vielleicht doch nicht?

Jetzt bewegte sie leise den Kopf. Vielleicht wollte sie ihn erheben.

»Martha,« flüsterte er ihr zu. »Kannst Du mir vergeben?«

Sie schwieg auch dieses Mal.

»Bitte, bitte, antworte mir doch, wenn auch nur mit einem kleinen, einzigen Worte!«

Sie antwortete, aber nicht mit einem Worte, sondern sie legte auch noch den zweiten Arm um ihn und drückte beide nun fest um seinen Leib.

Da ergriff er ihren Kopf und hob ihn halb empor. Ihre noch immer nassen Augen blickten ihn mit unendlich traurigem Ausdrucke an.

»Dir ist so weh im Herzen, meine Martha, nicht wahr?« fragte er.

Und in überquellendem Mitgefühle füllten auch seine Augen sich mit Thränen.

Sie nickte ihm wie trostlos zu.

»Dies soll das letzte Mal sein, daß Du um die Vergangenheit weinst.«

»O nein,« antwortete sie leise. »Ich werde noch oft, so oft zu weinen haben.«

»Nein. Dein Leid ist zu Ende. Du hast mehr als genug geduldet.«

»Aber nicht gebüßt.«

Er wußte gar wohl, was sie meinte, und doch fragte er, als ob er sie nicht verstehe:


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»Gebüßt? Wofür?«

»Für meinen Stolz, für meine frühere Gefühllosigkeit, für - - die Silbermartha. O mein Gott, dieses unglückliche, unglückliche Silber!«

»Es ist vorüber!«

»Ja, für Dich, aber nicht für mich!«

»Auch für Dich. Glaube es mir.«

»Ich glaube es nicht, ich kann es nicht glauben, denn ich weiß das Gegentheil.«

»Kind, das ist ja eine ganz erschreckende Trostlosigkeit!«

»Nein, Max, trostlos ist es nicht. Es ist ein Trost, daß Du nicht mit in unseren Fall gerissen worden bist.«

»Martha, ich verstehe Dich nicht.«

»O, Du verstehst mich gut, willst es aber nicht zugeben. Jetzt segne ich zuweilen den Stolz, der nichts von dem Schulmeister wissen wollte. Du begreifst das; aber Du gestehst es nicht, um mich nicht zu kränken.«

»So hältst Du mich wohl gar für so unendlich zart und rücksichtsvoll?«

»Ja, das bist Du!«

»Herrgott! Du weißt nicht, welche Strafe für mich in diesen Worten liegt. Wie rücksichtslos bin ich vorhin gegen Dich gewesen!«

»Nur, weil Du mich nicht verstandest.«

»Aber warum verstand ich Dich nicht? Eben weil ich nicht zart war. Ich verlangte, daß Du reden solltest.«

»Ich konnte nicht, konnte unmöglich.«

»Das weiß ich jetzt. Vergieb es mir. Willst Du, Martha?«

Sie nickte ihm zu und ihr Gesicht erhellte sich. Er bog sich herab, um sie zu küssen; sie aber wich ihm aus.

»Martha!« sagte er vorwurfsvoll. »Ich habe doch geglaubt, daß Du mich lieb hattest.«

»Ja,« erklang es mit tiefem Athemzuge. »Wie lieb, wie lieb ich Dich hatte, das habe ich erst später gespürt.«

»Und hast Du mich auch jetzt noch lieb?«

»Unendlich!« flüsterte sie, indem sie über und über erröthete.

»O, so ist ja Alles, Alles gut!«

Er machte abermals den Versuch, sie zu küssen, und wieder entzog sie ihm ihre Lippen.

»Martha, warum wendest Du Dich ab?«

»Ich muß ja doch.«

»Nein, nein!«

»Ich darf nicht, Max.«

»Warum nicht?«

»Weil ich Dich nur lieben darf, aber weiter nichts. Die Liebe darf mir Niemand aus dem Herzen reißen.«

»So bedarf es ja weiter nichts. Unsere Liebe ist geläutert aus der Trübsal hervorgegangen, und nun muß sie auch zu ihrem Recht gelangen.«


Ende der einhundertersten Lieferung - Fortsetzung folgt.



Karl May: Der Weg zum Glück

Karl May – Forschung und Werk