Lieferung 106

Karl May

4. August 1888

Der Weg zum Glück.

Vom Verfasser des »Waldröschen«, »Verlorner Sohn«, »Deutsche Helden« etc.


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»Ja, die allein wußte es.«

»Ich bin mit dem nächsten Zuge gefolgt. Es drängte mich, Sie zu begrüßen. Ich hatte sie so lange nicht gesehen.«

»Zwei Wochen lang. Welche Ewigkeit!« lächelte sie.

»Ja, eine Ewigkeit war es!« nickte er ernst. »Aber Sie haben mich noch gar nicht einmal willkommen geheißen.«

»Haben Sie mich begrüßt?« fragte sie.

»Ach, nein! Ich zeihe Sie eines Fehlers und habe denselben doch selbst begangen. Gott grüße Sie, Leni!«

Er reichte ihr die Hand. Sie schlug kräftig ein und antwortete heiter:

»Dank schön, und willkommen auch. Wollen Sie ein Milchen, ein Käs und Brod? Oder soll ich Ihnen lieber einen Schmarren backen?«

»Nichts von alledem! Danke!«

»Aber das ist so Sennerbrauch!«

»Der gilt nichts, denn Sie sind Talmisennerin.«

»Schauens, wie Sie das so sagen können! Ich bin im Stand, häng den Gesang an den Nagel und steig wieder auf den Berg. Sie glauben nicht, wie glücklich ich hier gewesen bin.«

»Und jetzt sind Sie es nicht mehr?«

»Vielleicht nicht, vielleicht doch! Ich kann es ja nicht sagen.«

»Nun, wenn Sie es nicht sind, so hoffe ich zu Gott, daß Sie es noch werden.«

Sie trat zurück und deutete nach innen.

»Wollen Sie eintreten oder bleiben wir lieber im Freien?«

»Wie Sie wollen.«

»Draußen ist es mir lieber.«

»So weilen wir hier. Kommen Sie!«

Sie trat hinaus, legte den einen Arm in den seinen, deutete mit dem andern rundum und sagte:

»Schauen Sie, das war mein Reich. Das gehörte mir. Jetzt ists mir genommen worden.«

»Ein herrliches Reich, aber eng und klein.«

»Wir Frauen sind ja im Kleinen so glücklich.«

»Und es gehörte Ihnen doch nicht!«

»Habe ich jetzt etwa ein Anderes?«

»Ja, das herrliche Reich der Kunst.«

»Das gehört nicht mir. Da bin ich eine Unterthanin wie jede Andere auch. Setzen wir uns auf diese Bank. Da habe ich so oft mit meinem alten Sepp gesessen, und zuletzt gar mit dem Könige.«

Sie setzten sich neben einander.

»Was fühlten Sie damals, als der König neben Ihnen saß?« fragte er. »Waren Sie beklommen?«

»Nein, gar nicht. Es war mir, als ob ein ganz gewöhnlicher Mann


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bei mir sei. Und doch war ich voller Ehrfurcht und Respect. Es war zu späterer Tageszeit als jetzt, und zuletzt mußte ich ihm ein Lied singen.«

»Das war wohl jener Abend, an welchem der Krickelanton ihn vom Tode rettete?«

»Ja. Der Bär war hinter dem Hause. Der Anton lief dann im Mondscheine über jenen Felsengrat hinüber.«

Der Graf wendete den Blick nach der bezeichneten Richtung.

»Da hinüber!« rief er schaudernd. »Wie ist das möglich! Das traue ich nicht einmal einem Seilkünstler zu.«

»O, Sie wissen nicht, was ein tüchtiger Sohn der Berge leistet. Und der Anton war berühmt.«

»Er wäre es auch jetzt, wenn - - -«

Er unterbrach sich. Sie blickte ihn lächelnd an und fragte:

»Warum sprechen Sie nicht weiter? Ich kenne gar wohl den Grund.«

»Schwerlich!«

»O, gewiß.«

»Nun, welcher ist es?«

»Sie schweigen aus Zartgefühl. Sie denken, ich fühle mich genirt, wenn von dieser Person die Rede ist. Habe ich Recht?«

Er nickte still.

»Sie irren sich, lieber Freund.«

»Wirklich?«

»Ja. Nur wenn ich mir irgend Etwas vorzuwerfen hätte, würde ich mich scheuen, von ihm zu hören.«

»Leni! Was sagen Sie! Diese Bemerkung ist ja ganz und gar überflüssig!«

»Sehen Sie! Ich habe geglaubt, ihn zu lieben. Aber was ich für Liebe hielt, war romantisches Mitleid. Er war gefürchtet und gehaßt. Das that mir weh. Da haben Sie Alles.«

»Und jetzt denken Sie nicht mehr an ihn?«

»Nein.«

»Warum nicht?«

Sie richtete ihre Augen voll und ernst auf ihn.

»Er thut mir leid.«

»Daran erkenne ich Sie, Leni. Wenn Sie mit ihm Mitleid fühlen, darf ich vielleicht hoffen, daß Sie auch mir verzeihen werden.«

»Was hätte ich Ihnen zu verzeihen?«

»Daß ich Sie heut hier überfalle.«

»Dafür sollte ich Ihnen allerdings zürnen!«

»Nicht wahr?«

»Ja. Ich wollte ganz allein mit mir und meinen Gedanken sein.«

»Und nun entreiße ich Sie Ihren Erinnerungen. Kann ich auf Gnade rechnen?«

»Ich bin Ihnen vielmehr dankbar, daß Sie meine Träumerei unterbrochen haben. Ich habe mit der Vergangenheit abgeschlossen und lebe nur für die Gegenwart und Zukunft. Also sollte ich mich nicht mehr mit solchen


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Reminiscenzen befassen. Zürnen kann ich Ihnen folglich darüber nicht; aber es giebt ein Anderes, was mir Grund giebt, Ihnen recht, recht bös zu sein.«

»Welches Verbrechen hätte ich denn da begangen?«

»Sie sind - - ein Fälscher.«

Er lächelte ihr unbefangen zu.

»Ein Fälscher? Ich? Wieso?« fragte er.

»Ich denke, meine Anklage soll Sie gradezu niederschmettern, und sehe Sie lächeln. Ich bin ganz fassungslos!«

»Ueber meine Gottlosigkeit?«

»Ja.«

»Ich scheine also ein sehr schlimmer Sünder zu sein. Meinen Sie nicht auch?«

»Ja. Von Reue giebt es keine Spur.«

»Leni, scherzen Sie, oder haben Sie wirklich Etwas gegen mich?«

»Wirklich!« nickte sie ernst.

»So sagen Sie mir schnell: Was!?«

»Ich sagte es Ihnen bereits. Sie sind ein Fälscher. Können Sie das ohne Zittern hören?«

»Ich fühle mich factisch nicht im Stande, den Grund dieser Anklage zu erkennen.«

»So muß ich deutlicher sein: Sie fälschen Briefe und Unterschriften. Es ist entsetzlich!«

Es wurde schnell dunkel, dennoch sah sie, daß er tief erröthete.

»Wollen Sie es leugnen?« fragte sie.

»Nein. Es ist leider an den Tag gekommen.«

»Und mich haben Sie in ein ganz falsches Licht gebracht durch diese Manipulationen.«

»Darf ich mich entschuldigen?«

»Ich glaube nicht, daß Sie das vermögen.«

»Vielleicht doch, Leni. Es kam mir nämlich ein Gedanke, welchen ich für einen köstlichen hielt. Sie werden voraussichtlich bei der Einweihungsvorstellung große Triumphe feiern und - - -«

»Bitte, bitte!« unterbrach sie ihn.

»O, ich schmeichle nicht, sondern ich spreche meine Ueberzeugung aus. Man hat Sie so lieb allüberall, wo Sie geweilt haben. Ihre alten, braven Freunde würden gewiß glücklich sein, wenn sie Zeugen dieser Triumphe sein könnten. Ihre ersten und ältesten Freunde haben Sie hier. Sie sind es am meisten werth, daß man ihrer gedenkt, und da habe ich ihnen von Wien aus die Briefe geschrieben. Ich wollte Sie überraschen. Ich glaubte, Sie würden sich freuen, wenn Sie Ihren alten, ehrwürdigen Pfarrherrn, Ihren früheren Brodherrn und die guten Warschauers sehen würden. Und nun höre ich, daß ich mich getäuscht habe.«

Sie konnte sein Gesicht nicht mehr deutlich sehen, weil es immer mehr dunkelte; aber sie hörte es seiner Stimme an, daß er wirklich schmerzlich be-


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rührt war. Sie griff hinüber, nahm seine Hand, drückte sie leise und sagte:

»Nein, mein lieber Freund, Sie haben sich nicht getäuscht. Sie haben mich erfreut. Ich scherzte nur. Wie kann ich Ihnen zürnen, wenn Sie daran denken, mich zu erfreuen!«

»Das beruhigt mich außerordentlich. Sie glauben nicht, wie ich erschrak, als ich hörte, daß Sie hierher seien. Ich ahnte doch, daß Sie von dieser, wenn auch gut gemeinten Fälschung hören und mir zürnen würden. Darum eilte ich Ihnen so schnell nach.«

»Ah, deshalb also?«

»Ja.«

»Lieber Graf, Sie desavouiren sich selbst.«

»Wieso?«

»Vorhin sagten Sie, die Sehnsucht habe Sie hierher getrieben.«

»Das ist ebenso wahr.«

»Ich soll das glauben?«

»Ich bitte Sie herzlich darum! Ich habe mich wirklich gesehnt; aber trotz meiner Sehnsucht wäre ich in Scheibenbad geblieben, um dort Ihre Rückkehr zu erwarten. Ich mußte mir ja sagen, daß Sie nur darum nach der Heimath gegangen seien, um die Erinnerung zu genießen, und da muß man ja ungestört sein. Aber die Sorge, daß Sie von meinen Briefen hören würden, ließ mich diese Pflicht der Höflichkeit und Rücksicht vergessen und trieb mich Ihnen nach.«

»Sie verstehen, sich gut zu vertheidigen.«

»Weil ich nur die strenge Wahrheit sage.«

»Und den lieben Warschauers haben Sie nicht nur geschrieben, sondern ihnen auch Geld geschickt!«

»Das wissen Sie?«

»Vom Kapellenbauer.«

»Der also, der hat es verrathen!«

»Verrathen hat er es nicht. Er glaubte, ich sei die Urheberin des Briefes, den er erhalten hat, und sprach davon. Ich hatte natürlich keine Ahnung und ließ ihn mir zeigen.«

»Da erkannten Sie meine Handschrift?«

»Ja. Er sagte mir, daß ich auch an Warschauer geschrieben und ihm das Geld geschickt habe.«

»Sie sind doch nicht etwa so grausam gewesen, mich zu verrathen?«

»Eigentlich hätte ich Sie dadurch bestrafen sollen.«

»So grausam sind Sie nicht!«

»Meinen Sie? Nun ja, Sie können Recht haben. Ich habe Ihre Ehre gerettet und mich zu Ihren Sendungen bekannt.«

»Dank, herzlichen Dank, Leni!«

»Nicht so schnell! Ich habe im Stillen natürlich eine Bedingung daran geknüpft, daß ich Ihnen die dreihundert Gulden zurückzahlen darf. Sie haben das Geld ja nur ausgelegt.«


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»Aber Leni!«

»Sie wollen nicht?«

»Nein.«

»So werde ich es sagen müssen, daß Sie der Spender waren. Oder wünschen Sie, daß ich mich mit fremden Federn schmücken soll?«

»Dieses Mal, ja, denn es sind die Meinigen.«

»Nun, darüber werden wir ja noch sprechen. Ich erfahre erst durch den Kapellenbauer, daß die armen Leute jetzt gehungert haben! Ich habe ihnen bei meinem Banquier ein für alle Mal einen kleinen Betrag angewiesen, den er ihnen monatlich zu senden hat. Er muß diese Notiz übersehen haben, und ich bin Ihnen doppelt dankbar, daß Sie die Noth gelindert haben.«

»Ich wollte, Sie gäben mir die Erlaubniß, recht viel für Ihre Bekannten zu thun!«

»Dann müßte ich Sie zu meinem Banquier machen, und das kann ich einem Grafen von Senftenberg nicht zumuthen.«

»Thun Sie es, thun Sie es,« bat er, ihre Hand ergreifend und in der seinigen behaltend.

»Führen Sie mich nicht in Versuchung! Ich könnte ihr unterliegen.«

»Das wäre mein größtes Glück.«

»Uebrigens haben sich unsere Wünsche begegnet, der des Königs, der Ihrige und der meinige.«

»Welche Wünsche?«

»Daß meine Bekannten sich an meinen sogenannten Triumphen erfreuen sollen. Der König wünscht, daß bei der Festvorstellung alle diejenigen Personen zugegen sind, welche in der letzten Zeit mehr oder weniger seinem beglückenden Einflusse unterlegen haben.«

»Zum Beispiel?«

»Ich, um mich gleich zuerst zu nennen, der Fex, dann Max Walther, welche Beide überhaupt anwesend sein müßten, weil sie der Dichter und Componist des Stückes sind, ferner der Elephantenhanns, welcher die prächtigen Decorationen gemalt und auch die herrlichen Wandgemälde geschaffen hat. Rudolph von Sandau ist als Baumeister natürlich eine Hauptperson. Sodann kommen Diejenigen, welche indirect betheiligt sind, wie der Sepp und Andere. Uebrigens ist dem alten Sepp das Allermeiste zu danken. Er ist so zu sagen unsere Vorsehung gewesen. Endlich kommen noch viele Andere, eine bunte Reihe von Personen, die Sie selbst dem Namen nach noch nicht kennen, die aber in irgend welcher Weise mit dem Könige und seinen Schützlingen in Berührung gekommen sind.«

»Wie Ihre liebe Frau Salzmann?«

»Ja. Auch Herr Commerzienrath Hesekiel Hamberger in Wien.«

»Warum der?«

»Weil er mich so zu sagen in Wien eingeführt hat. Ich sang ja zuerst bei ihm.«

»Ja. Bei ihm lernte ich Sie kennen!«


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»Was Sie noch sehr bereuen werden.«

»Niemals, nie!«

»Wollen es abwarten.«

»Also alle diese Personen erhalten eine Einladung und von wem?«

»Hm! So unter der Hand.«

»Wird man auch einen gewissen Bewunderer von Ihnen, welcher Senftenberg heißt, mit einer Einladung bedenken?«

»Wie? Sie bewundern mich?«

»Zweifeln Sie daran?«

»Ich will das später untersuchen. Aber wenn Sie es wünschen, sollen Sie von mir eine Karte erhalten.«

»Für welche ich Ihnen im Voraus den herzlichsten Dank sage, beste Freundin.«

»Seien Sie zurückhaltender mit Ihrem Dank!«

»Warum?«

»Sie könnten die Zusendung der Karte wohl nicht als ein dankenswerthes Ereigniß empfinden.«

»Dieser Fall tritt nie ein.«

»Vielleicht doch! Nämlich die Geladenen haben eine gewisse Bedingung zu erfüllen.«

»Eine unangenehme?«

»Mir ist sie angenehm.«

»Dann mir auch.«

»Warten Sie! Nämlich nach der Vorstellung, wenn das Publikum sich entfernt hat, wird die Bühne nebst dem daran stoßenden Parquet in einen Saal umgewandelt, auf welchem tapfer getanzt werden soll.«

»Herrlich!«

»Hm! Es soll kein Rangunterschied gelten.«

»Das ist ja köstlich!«

»Meinen Sie? Wenn Sie nun bei der Damentour von der alten Barbara oder meiner dicken Frau Gualèche engagirt werden?«

»So tanze ich mit dem größten Vergnügen. Das können Sie mir glauben!«

»In diesem Falle ist eine Karte für Sie bereit. Uebrigens haben die betreffenden Personen keine Ahnung davon, was ihrer wartet. Sie dürfen nichts verrathen.«

»Ich schweige natürlich. Schauen Sie, wie unten die Lichter erwachen. Die hellen Laternen, das muß beim Gasthofe sein.«

»Ja, da sitzt der Kapellenbauer mit anderen und wartet, daß ich singen soll. Er hat mich darum gebeten.«

»Haben Sie es zugesagt?«

»Nein. Ich habe mir vorhin Genüge gethan, und nun soll man nicht denken, daß ich auch am Abende noch vom Berge herabsinge.«


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Da kam ihm ein Gedanke. Würde sie auch ihm die Bitte abschlagen? Das war eine Probe ihrer Herzensgesinnung.

»Leni,« sagte er, »Sie haben hier oben auf den Wunsch des Königs gesungen. Wenn ich nun auch so eine Bitte ausspräche?«

Sie antwortete erst nach einer Weile:

»Liegt Ihnen Etwas daran?«

»Ja. Ich möchte Ihre unvergleichliche Stimme einmal durch eine stille Alpennacht dringen hören.«

»Da Sie es sind, sollen Sie sie hören.«

»Wirklich? Wirklich?« fragte er erfreut.

»Ja. Was soll ich singen?«

»Was Sie wollen. Aber ernst muß es sein, fromm und heilig, grad so, wie es mir jetzt zu Muthe ist.«

»Dann will ich Ihnen die neueste Composition unseres Fex vorsingen. Sie ist herrlich.«

Sie stand auf und entfernte sich ein Stück von der Hütte, nach dem Felsenrande zu, damit ihre Stimme besser zu Thale schallen möge. Er ging ihr nach. Sie standen eng neben einander, als sie begann:

»Schon fängt es an zu dämmern;
   Der Mond als Hirt erwacht
Und singt den Wolkenlämmern
   Ein Lied zur guten Nacht.
Und wie er singt so leise,
Da dringt vom Sternenkreise
   Der Schall ins Ohr mir sacht:
Schlaf in Ruh, schlaf in Ruh!
   Vorüber ist all
   Der Tag und sein Schall.
Schlaf in Ruh, schlaf in Ruh,
Die Liebe Gottes deckt Euch zu!«

Es war unbeschreiblich, wie diese reine, posaunenartige und doch so milde Stimme durch die Nacht erschallte. Es klang, als ob sich der Himmel geöffnet habe und ein Engel des Herrn in Sphärentönen sein Nachtgebet zur Erde steigen lasse.

Unten im Dorf lauschten Alle. Der Graf war tief, tief ergriffen. Er wollte es wirklich nicht, aber eine innere, unwiderstehliche Macht zog seinen Arm empor und zu ihr hinüber. Er legte ihn um ihren Leib, und sie sträubte sich nicht dagegen.

Drüben an den Felsenwänden hatte das Echo die letzten, herrlichen Töne ergriffen und sandte sie wieder zurück. Es klang wie eine Antwort der müden Erde auf die Stimme des Himmels.

»Leni!« flüsterte der Graf. »So hörte ich noch nichts, so wunderbar!«

»Soll ich auch den nächsten Vers noch singen?« fragte sie. »Es giebt nur zwei.«


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»Ja, bitte, singen Sie ihn! Ich wollte, dieses Lied hätte tausend Verse! Ich hörte eine ganze Ewigkeit lang zu.«

Er zog sie inniger an sich. Sie legte ihr Köpfchen an seine Schulter und fuhr fort:

»Und wie nun alle Kerzen
   Erloschen durch die Nacht,
Da schweigen alle Schmerzen,
   Die uns der Tag gebracht.
Lind säußeln die Cypressen;
Ein seliges Vergessen
   Durchschwellt der Lüfte Pracht.
Schlaf in Ruh, schlaf in Ruh!
Vorüber ist all
   Der Tag und sein Schall.
Schlaf in Ruh, schlaf in Ruh,
Die Liebe Gottes deckt Euch zu!«

Er hielt die Sängerin umschlungen.

Wieder antwortete das Echo. Der Graf lauschte. Er hielt die Sängerin umschlungen. Sie hatte geendet, aber sie nahm ihren Kopf nicht von seiner Achsel fort.

»Leni, meine herrliche, herrliche Leni!« flüsterte er. »Ich fühle, daß ich einen großen, großen Raub begehen will; aber ich kann, ich kann nicht anders; ich habe Dich zu lieb, o zu lieb. Ich flehe Dich aus vollster Seele an: Lebe nicht der Kunst allein, sondern gieb auch mir einen Theil Deines Herzens!«

Sie schwieg, doch nach einer Weile fragte sie mit leise bebender Stimme:

»Nur einen Theil?«

»Ja, nur einen Theil. Das ganze Herz, welches doch an der Kunst hängt, kann ich nicht von Dir fordern.«

»Weißt Du nicht, daß die größte und heiligste Kunst des Weibes ist, die Ihrigen glücklich zu machen!«

»Leni, ists möglich, ists möglich! Du wolltest dem Gesange ganz entsagen?«

»Nein. Der Herrgott hat ihn mir gegeben, und ich darf mich an seiner Gabe nicht versündigen. Aber wenn ich einem Manne angehöre, so will ich vor allen Dingen sein Eigenthum sein. Dann entsage ich dem Theater und singe nur noch in der Kirche und im Concerte.«

Es durchrieselte ihn fast wie kalt bei der Heiligkeit dieser Worte und der Größe des Opfers, zu welchem sie sich bereit zeigte.

»Darf dieser Mann das auch annehmen?« fragte er.

»Ja, er darf.«

»Mein Gott, welch ein Glück erwartet ihn! Und nun sage mir, wer dieser Mann ist!«

»Weißt Du es nicht?«

»Ich - - ahne es. O, diese Ahnung enthält schon eine ganze, ganze Seligkeit!«


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»Du bist es, Arnim, Du, Du allein!«

Sie schlang beide Arme um ihn und drückte den Kopf weinend an seine Brust.

»Mein Leben, meine Seele, meine Wonne!« rief er aus. »So ein Glück hab ich stets für unmöglich gehalten.«

»Und doch habe ich Dich geliebt vom ersten Augenblicke an, an welchem ich Dich sah.«

»Und ließest doch nichts merken!«

»War ich denn nicht gut zu Dir?«

»Gut, ja, aber zurückhaltend.«

»Ich fürchtete mich.«

»Vor mir?«

»Nein. Wie könntest Du mir ein solches Gefühl einflößen. Nein! Es war Dein Stand, vor dem ich mich fürchtete.«

»Daß ich Graf bin?«

»Ja.«

»Ist denn das so fürchterlich?«

»Für mich, ja. O, wie würde ich mich freuen, wenn Du arm und gering wärst, wenn ich Das, was mir der Gesang einbringt, Dir geben und sagen dürfte: Hier, nimm, das gebe ich Dir. Ich lebe für Dich und ich - - singe auch für Dich!«

»Ja, so bist Du, so bist Du! Was habe ich Großes gethan, daß mir Gott ein solches Weib bescheert? Ich werde ohne Ende bemüht sein müssen, Deiner würdig zu sein.«

»Nicht so, Arnim, sprich nicht so! Das thut mir wehe. Aber um Eins bitte ich Dich!«

»Um was? Sei es noch so viel und noch so schwer, ich erfülle diese Deine Bitte.«

»Es ist so wenig und doch so viel. Es ist so leicht und doch so schwer!«

»Bitte, bitte, sage mirs!«

Da drückte sie sich innig, innig an ihn und bat in flehendem Tone:

»Nimm mirs im Leben niemals übel, daß ich nur so ein armes, geringes Dirndl war! Ich würde vor Schmerz eingehen, wenn ich das sehen müßte.«

»Leni, was sagst Du da! Ich schwöre - - -«

»Nein,« unterbrach sie ihn. »Keinen Schwur; das mag ich nicht erhören. Ich glaube an Dich. Ich liebe Dich, nicht weil Du reich bist und ein Graf, sondern weil Du so brav bist, so herzensbrav.«

»So mag mein Eid im Stillen gesprochen sein. Der Herrgott wird ihn hören, und er weiß es, daß ich ihn halten werde.«

Er legte seine Lippen auf ihren Mund, und sie erwiderte seinen Kuß ohne Sträuben.

»Da hab ich das Glück doch da gefunden, wo ich glaubte, es verloren zu haben, hier an der Hütte, wo damals der Anton von mir ging. Ich werde das jetzige fest halten, damit es mir nicht wieder enteile.«


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»Dürfen wir schon davon sprechen, Leni?« fragte er.

»Nein, weil ich den Anton bestrafen will.«

»Ich will nicht darüber mit Dir rechten. Doch meine ich, daß er Deiner Beachtung gar nicht würdig sei.«

»Da geht er vollends zu Grunde; ich aber möchte ihn für seine armen Eltern retten.«

»So thue es! Ich weiß ja, was Du thust, das ist gut. Du wirst niemals Etwas thun, was später zu bereuen wäre.«

»Mit Absicht gewißlich nicht. Laß mir dieses Mal noch den Willen; später werde ich Dir gar gehorsam sein.«

»Gehorsam? Leni, nein! Wir haben Beide gleiche Rechte, und unser größtes Recht soll die Liebe sein. Aber darf ich es nicht wenigstens dem Kapellenbauer sagen?«

»Warum diesem?«

»Er weiß bereits davon.«

Er erzählte ihr, was er unterwegs mit dem Bauer gesprochen hatte.

»Da ist Dir das Herz davon gelaufen,« sagte sie munter. »Ein Graf vertraut einem Bauer seine Seele an! Aber grad, daß Du so bist, das macht mich eben glücklich. Dennoch bitte ich Dich, sage ihm noch nichts. Er kann es vielleicht nicht verschweigen, und dann erfahren es Antons Eltern, die es ihrem Sohne als größte Neuigkeit wieder sagen.«

»Ganz wie Du willst. Ich füge mich gern.«

»Und nun wollen wir abi steigen. Da unten warten sie auf uns.«

Und die Hand an den Mund haltend, sang sie mit schallender Stimme hinab:

»Jetzt klettr' i, jetzt steig i
   In's Dörfli hinein,
Denn hier oben zu haxen,
Hier oben zu kraxen,
   Das fallt mir nit ein.
      Juvilla, juvalla!«

Das klang jetzt ganz anders als vorhin, so fesch, so keck, so übermüthig, als sei sie plötzlich eine ganz Andere geworden.

Und unten ertönte sofort die antwortende Stimme des Kapellenbauers:

»Steigt über, steigt unter,
   Doch stolpert ja nicht!
Da oben im Dunkeln,
Da soll man nit munkeln;
   Kommt runter zum Licht.
      Juvilla, juvalla!«

»Schau, das zielt auf das, was Du ihm anvertraut hast. Er spricht schon davon, ja er singt schon davon!« lachte Leni. »Ihm ist halt nicht zu trauen. Ich werde ihm gleich eine Lehre geben.«


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Sie sang hinab:

»Du plaudrige Taschen,
   Die schweigen nit will,
Denk, daß nur die Spatzen
Die ganze Woch schwatzen,
   Und sei nun fein still.
      Juvilla, juvalla!«

Es war als ob man das kräftige Lachen des Bauers von unten herauftönen höre. Dann stiegen die Beiden bergab, trotz der Dunkelheit mit sicheren Schritten, denn Leni kannte den Weg ganz genau und machte, innig an den Geliebten geschmiegt und den Arm um ihn haltend, die sorgsame Führerin.

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Die Mittwoch war angebrochen, und in Scheibenbad hatten sich die Leute sehr früh vom Lager erhoben. Der Tag war ja ein außerordentlich festlicher. Die Einweihung eines neuen Theaters ist ja grad besonders für einen Badeort ein Ereigniß, zumal man auch anderwärts die Wiederkehr desselben kaum nach hundert Jahren erwarten kann.

Die Straßen waren festlich geschmückt. An den Häusern hingen Kränze und Guirlanden; über die Gassen zogen sich lange Kranz- und Blumenseile, und der Platz vor dem Theater bot einen herrlichen Anblick.

An der Fronte des in herrlicher Frührenaissance erbauten Kunsttempels ragten Masten empor, an denen die Flaggen des Landes im Winde flatterten. Die Facade verbarg sich fast ganz unter duftendem Schmuck, und grüne Waldbäume mußten den Platz in einen kleinen Park verwandeln.

In den Gassen tummelte sich schon vor der Ankunft des Zuges ein reges Leben. Die Herren des Festcommitées standen auf dem Bahnhofe, um - - den König zu empfangen.

Einer befand sich in ihrer Nähe, den sie Alle kannten, und über den sie im Stillen lachten, obgleich an seinem Aeußeren nichts zu finden war, was Anlaß zu diesem Lachen geboten hätte.

Er trug, von unten angefangen, glänzende, lacklederne Stiefeletten, schwarze enganliegende Tuchhosen, einen glänzenden Frack, nach neuester Mode gearbeitet, weiße Weste, weiße Handschuhe, weiße Cravatte und einen Chapeau claque auf dem Kopfe.

Das war Alles elegant; aber der Träger dieses Anzuges war - - der Wurzelsepp.

Er bewegte sich in diesem Kostüm mit wirklicher Grazie, als ob er sein Lebtage in nichts anderem gesteckt hätte. Der feinste Salonmensch hätte ihm nicht das geringste Regelwidrige nachweisen können; aber er war eben der Wurzelsepp, und da erlustirte man sich über ihn.

Endlich kam der Zug. Den feineren Coupées entstiegen fremde Berichterstatter, Dichter, Componisten und Theateragenten, auch Theaterdirectoren,


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welche vielleicht hofften, hier eine Acquisition zu machen. Sie wurden von den Mitgliedern des Festausschusses begrüßt.

Der Sepp war zu den Wagen dritter Classe gegangen. Er sah einen grauen Kopf erscheinen. Schnell öffnete er das betreffende Coupée.

»Ach, guten Morgen, Herr Pfarrer!« rief er. »Guten Morgen, Kapellenbauer! Grüß Gott, Ihr Warschauersleutln! Steigt aus!«

Sie kamen heraus, und er reichte Jedem die Hand.

Der Pfarrer ging eben wie ein Landgeistlicher. Der Bauer hatte sich auf's Feinste ausstaffirt. Seine grellrothe Weste leuchtete über den ganzen Perron. Die Warschauerleute trugen ihre neuen Anzüge. Doch war ihnen auch heut die Armuth und das Gedrücktsein anzusehen.

Der Sepp winkte einen Burschen herbei.

»Da ist dera Kutscher, der Euch nach der Thalmühlen fahren wird,« sagte er. »Lauft mit ihm, wir sehen uns später wieder.«

Der Bursche führte die Vier fort.

In einem Coupée hörte man eine scheltende Frauenstimme:

»Gott, ich ersticke! Ich verbrenne vor Hitze! Ich kann nicht durch. Helft mir!«

Das war Madame Qualèche, die frühere Gesanglehrerin der Leni.

Diese war auch bei der Hand. Sie hatte sich seitwärts gehalten und ging so einfach gekleidet wie ein Dienstmädchen. Sie eilte herbei und brachte mit Hilfe des Sepp und dreier Schaffner die Dicke aus dem Coupée, von wo sie dieselbe sogleich auch nach einem Wagen geleitete.

Aber in derselben Wagenabtheilung hatte sich noch eine Dame befunden, welche jetzt ausstieg.

Sie trug ein enganliegendes, graues Reisekleid und einen sehr breitrandigen Amazonenhut mit Riesenfeder. An einem über die Achsel hängenden Riemen hing eine Mappe, und in der Hand hatte sie einen Regenschirm, dessen Knauf aus einem Tintenfasse bestand.

Diese Dame war Franza von Stauffen, die Dichterin, welche nach einem Sujet suchte. Als sie den Sepp erblickte, trat sie auf ihn zu.

»Mein Herr,« sagte sie. »Was ist denn eigentlich hier los? Wohl eine Festlichkeit?«

»Gewiß, gnädiges Fräulein,« antwortete er, sich verbeugend.

»Was wohl für eine?«

»Das wissen Sie nicht, nun, so kommen Sie heut wohl ganz zufällig nach Scheibenbad?«

»Ja.«

»Desto mehr werden Sie sich freuen, hier vielleicht Stoff für zehn oder zwanzig Romane zu finden.«

»Woher wissen Sie, daß ich solche Stoffe suche?« fragte sie erstaunt.

»Sie sind ja Schriftstellerin.«

»Sehen Sie mir das an?«


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»Ich würde es Ihnen ansehen, aber ich kenne Sie ja, Fräulein von Stauffen, wie auch Sie mich kennen.«

»Ich Sie? Kann mich nicht besinnen! Wollen Sie meinem Gedächtnisse nicht ein Wenig zu Hilfe kommen?«

»Sie kennen ganz gewiß meinen Namen. Man pflegt mich den Wurzelsepp zu nennen.«

Sie trat einen Schritt zurück und betrachtete ihn erstaunt.

»Wie? Sie wären der Wurzelsepp?«

»Gewiß!«

»Ja, ja, jetzt sehe ich es. Jetzt erkenne ich Sie. Aber in dieser Salonkleidung!«

»Ich bin avancirt.«

»Gratulire, aber was ist hier los?«

»Theaterweihe.«

»Ach! Mit Kunstgenuß?«

»Sehr!«

»Prächtig! Was wird gegeben?«

»Die Oper Götterliebe.«

»Wie? Herrlicher Titel! Ich möchte Sie küssen, Herr Sepp!«

»Bitte, später! Nicht gleich hier auf dem Perron!«

»Wer ist der Componist?«

»Der Fex.«

»Ists möglich? Jener famose Geiger von damals? Sie wissen ja wohl noch?«

»Derselbe.«

»Das ist ja ein Roman! Das ist ein Sujet. Das notire ich mir. Ist er Director?«

»Nein. Er hat das nicht nöthig.«

»Warum?«

»Weil er Baron ist und Besitzer einer sehr bedeutenden Herrschaft.«

»Dieser zerlumpte Bursche?«

»Ja.«

»Das soll man glauben?«

»O bitte! Er war ein geraubtes Kind!«

»Herrgott! Wieder ein Stoff! Den notire ich mir. Herr Sepp, Sie sind ein Prachtmensch. Ich möchte Sie wirklich küssen!«

»Das eilt nicht allzusehr, mein Fräulein!«

»Wer ist denn der Dichter des Textes?«

»Ein früherer Schulmeister.«

»Früher? Was ist er jetzt?«

»Eben Dichter. Er kam vor kurzer Zeit aus Egypten zurück.«

»Ein Schulmeister in Egypten?«

»Der König hatte ihn hinübergeschickt. Eigentlich ist er ein Sohn des Barons von Alberg.«


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»Eigentlich? Warum nicht wirklich?«

»Weil er nicht will.«

»Himmel! Ein Schulmeister, welcher kein Sohn sein will! Welch ein Stoff! Das giebt zehn Novellen. Ich werde Sie trotzdem küssen!«

»Mit Muse, Fräulein. Jetzt würde es zu sehr eilen.«

»Kommen auch Herrschaften?«

»Versteht sich, sogar der König.«

»Ach! Da muß ich mir ein Billet nehmen!«

»Dann dürfen Sie nicht zögern. Es ist schon fast Alles vergriffen.«

»Da werde ich freilich springen müssen. Aber welche Kräfte sind denn engagirt?«

»Natürlich nur die hervorragendsten!«

»Wer singt die Hauptrollen?«

»Den Gott singt der Krikelanton.«

»Krik - - -? Derjenige, welcher damals in meine Schlafstube gestiegen war?«

»Ja.«

»Und dem ich dann hier allerlei Krimskrams abkaufte? Er war Tabuletkrämer?«

»Derselbe.«

»Der, der ist jetzt Sänger?«

»Erster Größe. Er nennt sich Criquolini.«

»Von dem habe ich gehört und gelesen. Das ist also jener entflohene Wilddieb? Herr Sepp, Sie sind ein ausgezeichneter Mensch.«

»O bitte!«

»Wäre ich eine Königin, so müßten Sie mein Strumpfband als Orden tragen!«

»Aber unter dem Beinkleide?«

»Nein, auf der Brust, auf der Brust! Sie geben mir ja eine ganze Bahnlowry voller Stoff! Gehen Sie her! Ich küsse Sie factisch.«

Sie streckte wirklich die Arme nach ihm aus.

»Vorsicht!« warnte er. »Es ist Polizei hier!«

»Was kann die dagegen haben?«

»Sehr viel! Es ist hier an verschiedenen Ecken angeschlagen gewesen, daß das öffentliche Küssen verboten sei.«

»So lassen wir es. Wer hat die weibliche Hauptrolle?«

»Signora Mureni.«

»Ach! Das ist die Berühmteste von Allen.«

»Und doch ist sie eine arme Waise.«

»Ach!«

»Ja. Sie heirathet jetzt einen Grafen.«

»Himmel! Was war ihr Vater?«

»Tagelöhner.«

»Wo hat sie sich mit dem Grafen verlobt?«


// 2535 //

»Auf der Alm, ganz nahe da, wo Sie wohnten, als der Krikelanton barfuß zu Ihnen kam.«

»Herr Sepp, Herr Sepp! Sie bringen mich um!«

»Wieso? Ist ja gar nicht meine Absicht!«

»Vor Freude über die Sujets, welche Sie mir so massenhaft bieten.«

»Wenn ich Ihnen wirklich diene, so ists mir eine große Ehre, gnädiges Fräulein!«

»Ja, Sie dienen mir. Sie sind mein Stern, mein - mein - mein - kommen Sie vom Perron hinweg! Gehen wir in ein sogenanntes Zimmer, wo es Niemand sieht! Ich muß Sie unbedingt küssen, unbedingt!«

»Das geht nicht.«

»Warum?«

»Aus Rücksichten für Sie!«

»Ach, in dieser Beziehung verbitte ich mir alle Rücksicht.«

»Und dennoch muß ich verzichten. Es leidet Niemand gern an Zahnschmerzen.«

»Was haben die Zahnschmerzen damit zu thun?«

»Sehr viel. Ich habe heut welche. Zahnschmerzen bekommt man von Zahnpilzen und Zahnthierchen. Wenn Sie mich küssen, können Sie leicht so ein Thierchen von mir bekommen oder gar einen Pilz, einen Zahnfliegenschwamm. Dann haben auch Sie Schmerzen und können heut die Festvorstellung nicht mit Andacht genießen.«

»Da haben Sie Recht. Ihre Aufmerksamkeit ist sehr dankenswerth. Behalten Sie Ihre Thiere und Pilze! Aber sagen Sie -«

»Bitte, bitte!« unterbrach er sie. »Sie müssen sich ein Billet besorgen. Eilen Sie!«

»Schön! Könnten Sie es mir nicht besorgen?«

»Geht leider nicht.«

»So sagen Sie mir wenigstens, wo man hier Logis bekommen kann!«

»In keinem Gasthofe. Sie müssen bei Privatleuten nachfragen.«

»Ist nicht Etwas leer in der Villa, welche zur Mühle gehört? Sie wissen, wir wohnten damals dort.«

»Dort war bereits seit voriger Woche Alles bestellt. Leben Sie wohl!«

Er eilte fort, sonst hätte er noch stundenlang bei ihr stehen können.

Als Leni ihre frühere Lehrerin nach der Mühle geschafft und für sie gesorgt hatte, kehrte sie nach der Stadt zurück. Unterwegs begegnete ihr - der Krikelanton.

Er befand sich bereits seit zwei Wochen hier, um den Proben beizuwohnen. Er erkannte die frühere Geliebte sofort und blieb mitten im Wege stehen. Sie wollte still um ihn herum. Da sagte er:

»Sie schämen sich wohl vor mir, Fräulein Berghuber?«

»Warum sollte ich mich schämen?« fragte sie, nun ebenfalls stehen bleibend.

»Nun, ich dächte, Sie hätten Grund dazu.«


// 2536 //

»Ich kenne keinen.«

»Eine verunglückte Sängerin!«

»Kann ich dafür?«

»Sie hatten sich überschätzt.«

»So waren Andere schuld.«

»Nun scheint es fast, als ob Sie nicht einmal als Dienstmädchen eine feste Stellung halten könnten. Aus Wien sind Sie ja fort, wie ich sehe.«

Sie blickte traurig zur Erde.

»Ja, so mußte es kommen,« fuhr er fort. »Ich habe es vorausgesehen. Bei wem dienen Sie hier?«

»Ich habe noch kein festes Engagement.«

»Also bummeln Sie? Das ist die vorletzte Stufe. Die letzte kennen Sie. Wissen Sie noch, daß ich Sie damals warnte, nicht so decolletirt zu gehen? Ich konnte es nicht ertragen. Sie haben meine Weissagung wahr gemacht. Sie sind gesunken und können niemals wieder emporkommen, während ich ein berühmter Künstler geworden bin. Pfui Teufel.«

Er spuckte vor ihr aus und ging dann weiter. Er war alle Tage nach der Mühle spaziert, um da zur Unterstützung seiner Stimme seine Morgenmilch zu trinken. Das hatte er auch heute vor.

Als er dort ankam, wunderte er sich über das rege Leben, welches dort herrschte. Eben wollte er eintreten, als ein Anderer herauskam, bei dessen Anblicke er zurückfuhr.

»Graf Senftenberg!« rief er aus.

»Ach! Signor Criquolini!«

»Was thun Sie hier?«

»Sommerfrische mit meiner Braut.«

»Sind Sie denn verlobt?«

»Ja, doch erst seit einigen Tagen.«

»Mit wem? Aristokratin?«

»Ja, Aristokratin der Kunst.«

»Da warne ich Sie. Sein Sie vorsichtig!«

»Pah! Eine Tänzerin Valeska ist sie nicht. Die Meine maust nicht wie die Ihrige. Adieu!«

Der Graf trat wieder in das Haus zurück. Darum ging Anton nicht hinein, sondern er kehrte um und ging mißmuthig nach der Stadt zurück.

Später mußte er zur Generalprobe, bei welcher alle Theilhaber versammelt waren.

Eigenthümlicher Weise hatten die Sänger die Trägerin der Hauptrolle noch gar nicht gesehen. Sie war noch nicht da. Heut aber sollte sie kommen und während der Hauptprobe ihre Rolle singen. Diese Rolle war bisher von einer unbeschäftigten Sängerin stellvertretend übernommen worden, wofür dieselbe ein Honorar erhielt.

Alle, Alle waren begierig die berühmte Signora zu sehen, von der man wußte, daß ihr Ruf noch viel zu wenig sage. Aber sie kam nicht.


// 2537 //

Der Fex dirigirte natürlich selbst. Wie wunderte man sich als er das Zeichen zum Anfange gab. Die Mureni war nicht da und die Stellvertreterin auch nicht.

Die Musik begann, und alles klappte. Als die Mureni einzusetzen hatte, erscholl ihre Stimme aus der Höhe des zweiten Ranges herab. Sie war also da, ließ sich aber nicht sehen.

Das frappirte Alle. Welchen Grund hatte sie? Stolz? Wohl nicht. Die Probe fiel glänzend aus. Als sie zu Ende war, eilten Alle zu dem Ausgange, um die Sängerin zu sehen. Sie war bereits fort - natürlich hinaus nach der Mühle, welche so voller Gäste steckte, daß kein Mensch mehr Platz zu finden vermochte.

Und wer waren diese Gäste? Alle diejenigen Personen, von denen Leni zu dem Grafen gesprochen hatte.

Auch Rudolf von Sandau, der Baumeister, wohnte mit seiner Mutter da. Er hatte mit dem Theater Ruhm geerntet, und seine Zukunft war nun mehr als gesichert. Diejenige, welche er liebte, Milda von Alberg, war bereits gestern Abend gekommen, aber nicht in der Mühle abgestiegen. Der Sepp hatte ihr ein Privatlogis besorgt, in welchem sie sehr einsam gewesen wäre, wenn nicht Max Walther, ihr Stiefbruder, den Morgen bei ihr verbracht hätte.

Sie saß am Fenster und blickte auf die Straße hinaus. Sie war bleicher geworden. Sie liebte und wußte sich wieder geliebt; aber Rudolf hatte sich einmal vorgenommen, nicht eher das entscheidende Wort zu sprechen, als bis er eine sichere Existenz vor sich habe.

Dazu kam noch Eins. Ihr Vermögen drückte sie. Sie wußte, daß es nicht das ihrige sei, daß es den Nachkommen jenes Herrn von Sandau gehörte, den ihr Vater so unglücklich gemacht hatte. Und diese waren trotz allen Fleißes nicht aufzufinden.

Auch jetzt dachte sie wieder daran. Ihr Bruder saß lesend am Tische, beobachtete sie aber dabei. Sie seufzte tief auf.

»Milda,« sagte er. »Wollen wir nicht einen Ausgang machen?«

»Wozu?«

»Ich denke, Du langweilst Dich.«

»Gewiß nicht. Ich amüsire mich am regen Leben der Straße.«

»Und denkst dabei an alte Geschichten!«

»Leider! Ich denke stets daran.«

»Schlage Dir es aus dem Sinne.«

»Das ist nicht möglich. Ich quäle und quäle mich ab, um einen Weg entdecken zu können, auf welchem wir jene Familie finden können.«

»Dieses Sorgen und Quälen führt zu gar nichts. Ueberlaß es doch dem lieben Gott! So eine Sache wird oft von dem sogenannten Zufalle am Besten besorgt. Denke lieber an heut Abend, an den Lorbeerkranz!«

»Wie ist denn eigentlich der König auf den Gedanken gekommen, daß ich, grad ich Rudolf den Kranz geben soll?«


// 2538 //

»Weil er weiß, daß Ihr Euch liebt.«

»Wie?« fragte sie erröthend. »Das weiß er?«

»Ja.«

»Von wem?«

»Vom Sepp.«

»Dieser alte Schwatzmichel!«

»O, der thut nichts ohne Ueberlegung. Hast Du ihn heut schon einmal gesehen?«

»Nein.«

»Ich sah ihn vom Theater kommen. Er hat das Galageschirr angelegt und sieht aus wie ein Obersthofmeister.«

Da klopfte es an.

»Herein!«

Wer trat ein? Derjenige, von welchem soeben gesprochen worden war, der Sepp.

»Grüß Gott!« meinte er in seiner gewohnten Weise.

Ganz ungewohnt aber war es von ihm, daß er eine Verbeugung machte, wobei er den Spannfederhut unter den Arm schob.

»Du, Sepp?« sagte Max. »Bringst Du etwas?«

»Ja, und zwar bringe ich mich selbst.«

»Das ist nicht viel Gescheidtes. Hast Du weiter nichts, nichts Besseres?«

»Nein. Ich hab nur sehen wollt, ob auch Alles in Ordnung ist.«

»Es fehlt an nichts.«

»Den Prologen hast richtig auswendig lernt?«

»Ja.«

»Daßt nicht etwan aus dem Concept fällst!«

»Ich habe ihn selbst gedichtet. Da ist ein Umfallen gar nicht möglich. Mach Dir um mich keine Sorge. Hilf lieber meiner Schwester.«

»Was fehlt ihr denn?«

»Die Familie von Sandau.«

»Wo soll ich die hernehmen?«

»Schaff sie nur!« scherzte Max. »Du bist ja Derjenige, der Alles fertig bringt.«

Der Sepp setzte seinen Hut auf den Tisch, sich auf den Stuhl und sagte:

»Ja, so ists. Dera Sepp soll alle Wunden heilen, die Andere schlagen. Aberst diese hier? Hm! Hat sich denn noch keine Spur funden?«

»Nicht die Ahnung einer Spur,« antwortete Milda.

»Nun, wollen mal sehen. Ich geb freilich die Hoffnungen noch lange nicht aufi. Wo habt Ihr denn eigentlich sucht?«

»Ueberall in Amerika.«

»Und wo noch?«

»Nirgends natürlich.«

»Da hat man es! Wann man seinen Nachbar sucht, darf man doch nicht hinauf in den Mond steigen.«


// 2539 //

»Wie meinst Du das?«

»Kann die Familie denn nicht auch in Deutschland wohnen?«

»Schwerlich. Sie sind damals hinüber. Das wissen wir ganz sicher.«

»Aberst ebenso gut können sie wiederum herüber sein.«

»Denkst Du?«

»Ja,« nickte er, »das denk ich. Und dera Sepp wird wohl Recht haben.«

Er forschte in dem bleichen Gesichte der Baronesse. Sie sah ihn auch scharf an. Es hatte in seiner Stimme eine so eigenartige Betonung gelegen.

»Sepp,« sagte sie. »Du weißt etwas, denn Dein Ton war so eigenthümlich.«

»Das hat so seinen Grund.«

»Hast Du Dich geärgert?«

»Und wie sehr!«

»Worüber denn?«

»Ueber den heutigen Tag.«

»Geh! Mit Dir ist heut nicht zu reden.«

»Eben darum, weil ich mich über den heutigen Tag ärgere. Er wird mich um Alles bringen, was mich bisher erfreut hat.«

»Wie meinst Du das denn?«

»Ja schaut, das ist so: Heut kommen hier alle Bekannten zusammen. Wann man die anschaut, so sind sie Alle fertig. Es giebt weder für sie noch an ihnen mehr etwas zu thun. Und doch ists stets meine größte Freud gewest, wann ich mich hab mit denen Leutln beschäftigen konnt. Jetzt haben sich die Paare zusammenfunden und werden sich heut zeigen. Wie oft bin ich zum Vertrauten macht worden! Wie viele Geheimnissen hab ich bewahren mußt! Das ist nun aus. Ein einzigs Geheimniß hab ich noch; aber auch das muß heraus. Ich kann dera Fräulein Milda ihr Gesicht nicht mehr anschauen.«

»Betrifft dieses Geheimniß uns?« fragte sie rasch.

»Ja, es ist eben wegen jener Familie von Sandau.«

»Kennst Du sie etwa?«

»Ja.«

»Herrgott! Sage, wo befindet sie sich!«

»Das soll ich nicht sagen.«

»Aber Du weißt es?«

»Ja.«

»Von wem?«

»Von der Familie selberst.«

»Seit wann?«

»Seit längerer Zeit.«

»Was? Und uns hast Du nichts gesagt!«

»Weil es mir verboten war.«

»Ist es Dir auch jetzt noch verboten?«

»Ja freilich.«


// 2540 //

»Sepp, Sepp, kümmere Dich doch nicht um dieses dumme Verbot!«

»Wort soll man halten!«

»Aber in solchen Sachen nicht. Du siehst es ja, wie ich mich absorge und abquäle.«

Sie ergriff seine Hand. Er nahm ihre kleinen Händchen zwischen seine großen, streichelte sie zärtlich und antwortete:

»Meinst, daß ich wegen Dir mein Wort mal brechen soll?«

»Ja.«

»Schau, so sind die Frauenzimmern! Sie verführen Einen zu den größten Fehlern.«

»Aber, wenn Du weißt, wo sich die gesuchte Familie befindet, so sage es doch!«

»Eigentlich könntest Du es ebenso gut wissen.«

»Warum?«

»Weil Dir die Flieg auf dera Nasen sitzt. Es ist fast merkwürdig, wie man oft den Wald vor lauter Bäumen nicht derblickt! Als ich es erfuhr, hätt ich mir gleich selberst eine Ohrfeig geben konnt. Nämlich die Familie von Sandauen ist nicht mehr in Amerika. Sie ist längst wieder nach Deutschland zurück.«

»Aber wo ist sie jetzt?«

»Nach Bayern.«

»Herrgott! Sie befinden sich also hier in unserm engern Vaterlande?«

»Sogar im allerengsten.«

»Wo denn? Vielleicht gar nahe von hier?«

»Hier selbst.«

Milda war vor Erregung aufgesprungen.

Milda war vor Erregung aufgesprungen, ebenso wie Max von seinem Sitze aufstand.

»Etwa als Badegäste?« fragte sie.

»Nein. Aberst da verrath ich bereits zu viel. Ich soll ja nicht davon reden.«

»Du mußt, Du mußt, lieber Sepp,« rief sie, seine Hände bittend ergreifend.

»Dann kanns mir schlimm ergehen.«

»O, ich nehme halt Alles auf mich, Alles.«

»Du kannst doch nicht die Vorwürf und Grobheiten auf Dich nehmen, die ich dann anhören muß.«

»Alle, alle!«

»Ich bekomme sie dennoch.«

»Sepp, ich bitte Dich inständig, sage mir, was Du weißt, und wo die Leute sich befinden!«

Der Alte that, als ob er sich die Sache überlege, und sagte dann in gutmüthigem Tone:

»Nun, ich kanns freilich nicht anhören, daßt mich so bittest. Also sollsts derfahren. Aberst Du mußt mir vorher ein Versprechen geben.«


// 2541 //

»Welches?«

»Daßt jetzt noch nix sagst.«

»Werde ich das vermögen?«

»Ja. Ich will sogar meine Bedingung noch besser machen. Du sagst gegen keinen Menschen was bis nach dera Theatervorstellung heut.«

»Dann kann ich reden?«

»Reden und auch handeln.«

»Gut, das ist nicht schwer. Ich verspreche es.«

»Und dera Max auch?«

»Ja, auch ich werde bis dahin schweigen,« erklärte der junge Dichter.

»So verlaß ich mich auf Euer Wort. Die Familie ist, wie ich bereits sagt hab, von Amerika wieder rüber kommen. Dera Vater ist drüben im Dienst als Polizist erschossen worden. Erst habens ihren Namen ganz ablegen wollen; aberst er ist ein ehrlicher gewest und das Makel, welches auf demselben haftete, war ein unverdientes. Darum habens ihn doch beibehalten.«

»Mein Gott!« klagte Milda. »An dem Allen ist mein Vater schuld! Ich habe viel zu sühnen!«

»Auf Dich fällt gar kein Vorwurf.«

»Aber ich bin die Tochter meines Vaters!«

»Dafür kannst ja nicht. Nun haben die Leutln hier sucht, die verlorene Ehre wieder herzustellen, doch vergeblich. Sie haben ja keine Beweisen habt. Sie waren arm und haben sich kümmerlich behelfen mußt. Jetzt aberst geht es besser.«

»Also sie nennen sich noch von Sandau?«

»Das von habens weggelassen. Der Namen ist jetzund ein bürgerlicher. Aberst er wird bald wieder zu Ehren kommen. Dera König will ihn rehabilitiren lassen. Er weiß Alles.«

»Herrgott! Er weiß es wirklich?«

»Ja, Alles.«

»Und er kennt auch die Unschuldigen?«

»Sehr genau.«

»Warum hat er da nicht schon längst eingegriffen?«

»Der Sohn hat es nicht wollt.«

»Warum nicht?«

»Deinetwegen.«

Sie sah ihm einige Secunden lang starr in die Augen. Dann schlug sie die Hände vor das Gesicht, drehte sich um und sank schluchzend in den Stuhl.

Max trat zu ihr, legte ihr die Hand beruhigend auf die Achsel und bat:

»Milda, weine nicht! Wenn es so steht, so ist ja Alles, Alles gut.«

»Er - er - er ists!« schluchzte sie.

»Ja. Aber er ist unser Freund.«

»Rudolf, Rudolf ist dieser Sohn! O Gott, o Gott! Er hat Alles gewußt und sich doch nicht genannt.«


// 2542 //

»Das ist ein Beweis von seltenstem Edelmuth. Wir haben mit ihm darüber gesprochen. Er weiß, daß wir ihn suchen. Verkennen also kann er Dich nicht.«

»Er hat meinetwegen auf seine Rechte, auf sein Vermögen und auf die Ehre seines Namens verzichtet! Er hat hart gearbeitet, um sich eine Existenz zu erringen. Und doch hat er gewußt, daß mein ganzes Vermögen ihm gehört!«

»Milda, beruhige Dich! Ich begrüße es mit tausend Freuden, daß es so gekommen ist. Er wird es so einzurichten wissen, daß der Name Deines Vaters nicht geschändet wird.«

»Ja, ja, das sehe ich ein!« rief sie, wieder aufspringend. »Es ist ein unendliches Glück, daß er es ist und kein Fremder. Ich muß sofort zu ihm, sofort. Ich möchte ihm auf den Knieen danken für das Opfer, welches er uns brachte. Ist denn seine Mutter damit einverstanden gewesen, Sepp?«

»Sofort. Sie hat Dich ja so lieb.«

»Welch herrliche, herrliche Leute! Sie steckten in tiefster Armuth und haben doch nichts gesagt, um nur mich nicht zu kränken!«

»Ja, da kannst halt sehen, wie werth Du ihnen bist,« meinte der Alte gerührt.

»Darum muß ich gleich zu ihnen, gleich!«

Sie griff nach ihrem Hute.

»Halt! Vergiß Dein Versprechen nicht!«

»Das kann ich nun nicht halten.«

»Was? Ein Versprechen nicht halten, welches man dem Sepp geben hat?«

»Es ist ja nun nicht möglich!«

»Das wäre eine schöne Geschichten! Ihr wartet bis heut Abend. Verstanden!«

»Wer soll das aushalten!«

»Du! Mach mir keine Dummheiten, sonst kannsts derfahren, daß dera Sepp Euch gar nimmer wieder anschaut im ganzen Leben. Wartet also bis zum Abend, und dann macht meinswegen, was Ihr wollt!«

Er ging, um keine Einsprüche mehr anhören zu müssen.

Er hatte so viel noch zu besorgen. So wenig man es merkte, es ruhte doch die größte Last des heutigen Tages auf seiner Schulter. Er war der Arrangeur der zu erwartenden abendlichen Festlichkeiten.

Die Mitglieder des Festausschusses standen bei jedem ankommenden Zuge auf dem Bahnhofe, um den König zu empfangen - vergeblich. Er kam nicht. Sie wußten nicht, daß er heimlich gekommen war. Er bewohnte einige Zimmer der Thalmühlen-Villa, ließ sich aber vorläufig nicht sehen.

So nahte der Abend, und die Thüren des Theaters wurden geöffnet. Das Publikum strömte förmlich hinein.

Jedermann war wie geblendet. Das war ein echter Tempel der Kunst!


// 2543 //

Man begann zu ahnen, daß der junge Baumeister ein Meisterwerk geschaffen habe.

Und die herrlichen Freskogemälde am Plafond rissen zur Bewunderung hin. Der Maler war kaum zwanzig Jahre alt! Man wollte es nicht glauben. Auch der Vorhang war sein Werk. Er war vollendet zu nennen.

Die Plätze füllten sich bis oben an. Nur die vorderen Parketplätze waren leer geblieben. Für wen? Niemand wußte es.

Erst kurz vor Beginn der Ouverture erschienen diejenigen Personen, für welche sie reservirt waren, und diese zogen die Augen des Publikums auf sich.

Zuerst erschien der alte Sepp, jetzt nicht im Frack, sondern in seiner alten Gebirgskleidung. Viele der Badegäste erkannten ihn sofort als den Alten, der damals im alten Theater mit der Leni gejodelt hatte.

Sein Erscheinen erregte Aufsehen. Es ließ vermuthen, daß irgend eine Ueberraschung zu erwarten sei.

Dann kam der Kapellenbauer mit seinem Pfarrer und den Eltern des Krikelanton. Solche Leute in einer solchen Festvorstellung! Das war verwunderlich!

Nach diesen Drei stellte sich der Finkenheiner mit seiner Frau ein. Seine Tochter Liesbeth folgte mit ihrem Manne, dem Müllerhelm. Hinter ihnen schlich die alte Barbara aus der Mühle einher, prächtig aufgeputzt mit einer gelben, roth geblümten Saloppe und einer blauen Haube.

Jetzt erschienen zwei ausgesprochene Schönheiten, nämlich Paula Kellermann und die einstige Silbermartha, ganz einfach gekleidet, aber dennoch aller Blicke auf sich ziehend.

Von der anderen Seite stieg ein Ehepaar herein, der Feuerbalzer mit seiner Frau. Ihm folgte seine alte Mutter mit der Wirthin aus Hohenwald, welche dem jungen Lehrer damals so freundlich begegnet war.

Gleich darauf kam ein hoher, steifer Mann in böhmischer Tracht. Es war der Kerybauer aus Slowitz mit seiner braven Frau. Ihnen folgte ihre Tochter Gisela mit ihrem Manne, dem einstigen Knechte Ludwig Held. Dessen Mutter und seine Schwester Hanna mit ihrem jetzigen Manne, dem Höhlenbauers Stephan, schlossen sich ihnen an.

Nachdem eine kleine Weile vergangen war, kam Fritz Hiller, der jetzige Kronenbauer aus Kapellendorf mit seiner allerliebsten jungen Frau Martha, der Nichte des Försters Wildach.

Ein sehr stattliches Paar trat dann ein: Der Commerzienrath von Hamberger aus Wien, welcher die Frau Salzmann führte.

Zuletzt erschien die dicke Dame Qualèche, welche sich kaum in den Sitz zu drängen vermochte.

Zuletzt? Nein. Es kamen noch Drei, die drei Allerletzten, nämlich das gute Kleeblatt Clarinettenmenzel, Posaunenwenzel und Violonfrenzel.

In Anbetracht ihrer Gestalten und Gesichtsbildungen, so wie des Umstandes, daß sie genau dieselben Anzüge trugen wie daheim, war es gar nicht


// 2544 //

zu verwundern, daß bei ihrem Erscheinen ein Geräusch des unterdrückten Lachens durch den Festraum ging.

Die anderen noch fehlenden Personen waren entweder bei der Vorstellung betheiligt oder befanden sich in den Prosceniums- und Fremdenlogen. Zu diesen Letzteren gehörten Milda von Alberg mit der Frau Bürgermeister Holberg, Max Walthers Mutter, ferner Rudolf von Sandau's Mutter und Anita, die Italienerin, welcher für heut auch eine kleine Aufgabe geworden war.

Jetzt war Alles vollzählig. Sämmtliche Mitglieder des Orchesters saßen auf ihren Plätzen. Der Musikdirector hatte die erste Violine übernehmen müssen. Er war nicht wenig stolz darauf, den jungen Mann entdeckt zu haben, unter dessen Direction er heute zu geigen hatte.

Da ging ein Flüstern durch den Raum. Der Fex war erschienen und an das Dirigentenpult getreten.

»Das ist er - der damalige Geiger - der so lumpenhaft erschien - jetzt ein Baron - reicher Mann - steinreich!« so flüsterte man sich zu.

Er hob den Tactstock. Die Glocke gab das Zeichen, und die Ouverture begann.

Es ist unnöthig, ein künstlerisches Referat des Stückes und der Vorstellung zu geben.

Der Stoff war der nordischen Götterlehre entnommen, Freya, die schöne, herrliche Göttin der Liebe, wird von Od, ihrem Gemahle, schändlich verlassen. Sie fühlt sich namenlos unglücklich darüber und irrt an den Enden des Himmels umher, trauernd und klagend, bis ihr Heimdall, der Herrliche, erscheint und mit seiner Liebe ihr ein größeres Glück bringt, als sie vorher besessen hatte.

Sobald das Theater dem Publikum geöffnet wurde, waren alle Sänger und Sängerinnen versammelt, um sich in die Garderoben zu vertheilen. Nur die berühmte Ubertinka fehlte noch. Warum kam sie nicht? Sie hatte doch die Hauptrolle und mußte sich darauf vorbereiten!

Sie war aber bereits da. Durch eine kleine Hinterpforte war sie schon längst hereingeschlichen und hatte sich in ihre Garderobe eingeschlossen. Der Regisseur beruhigte die Collegen durch die Erklärung, daß die Künstlerin keinen Augenblick lang auf sich warten lassen werde.

Draußen begann die Ouverture und wurde glanzvoll zu Ende gespielt. Ein rauschender Beifall folgte. Der Fex war gezwungen, sich wiederholt zu verbeugen.

Und da gingen die Gardinen der Königsloge auseinander. Der Herrscher hatte, hinter denselben verborgen, dem herrlichen Musikstücke zugehört. Er wurde durch allseitiges Aufstehen von den Plätzen begrüßt.

Nun begann die Introduction, und der Vorhang stieg empor. Odyn, der Allesbeherrscher, saß auf seinem Throne. Vor ihm waren die Götter versammelt. Heimdall, der Lichte, forderte die Hand der Schönsten von ihm, die Hand Freya's. Odyn verweigerte sie ihm und erklärte, daß sie für Od bestimmt sei.


Ende der einhundertsechsten Lieferung - Fortsetzung folgt.



Karl May: Der Weg zum Glück

Karl May – Forschung und Werk