Lieferung 27

Karl May

29. Januar 1887

Der Weg zum Glück.

Vom Verfasser des »Waldröschen«, »Verlorner Sohn«, »Deutsche Helden« etc.


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»Ich bin halt Freund und auch Feind mit ihnen; das will ich schon wohl sagen. Freund bin ich, weils viel zu uns kommen und immer eine gute Zechen machen. Das muß Unsereins schon in Acht nehmen. Das Uebrige von ihnen aber gefallt mir nun schon gar nicht. Wann sie nicht da wären, so wärs halt im Dorf so gar viel anderst, nämlich besser.«

»Wieso?«

»Nun, von denen Gemeindesachen und solchen Dingen will ich halt nicht reden. Ich bin eine Frau, und das geht mich nix an. Aberst wann ich an meine Kindern denk, nachhero möcht mirs angst werden. So ein Bub soll doch was lernen, und die Dirndls auch. Aberst hier bei uns ist dera Lehrern immer der größest Ludrian von Allen. Die Silberbauern haben ihn im Sack. Da wird die Zeit verschlupft und verlurft, und wann er in die Schulen kommt, hernach hat er den Katzenjammern; er schlaft ein, und die Kindern lernen nix und tanzen ihm auf dera Nasen herum, weils keinen Respecten vor ihm haben. Es ist eine Sünden und eine Schanden gewest, und ich hab mir immer denkt, daß es doch ein recht groß Glück sein würd, wann mal ein Lehrern käm, der so recht mit dera Peitschen umzuspringen wüßt, und nimmer blos bei denen Schulbuben, sondern auch bei denen Leuteln müßt er sich eine Achtung geben. Als ich nun vorhin geschaut hab, wie brav der neue Herr Schulmeistern zuklopft hat, so ist mir ganz so gewest, als ob er dera Mann sei, den wir halt brauchen können. Dort sitzen die Alten und stecken die Köpf beisammen. Die haben wohl eine Furchten erhalten. Wanns nach Haus kommen, werdens verzählen, daß man mit dem Neuen nicht Hampelmann machen darf. Das werden die Kindern hören und einen Schrecken davon bekommen.«

»Meinen Sie?« lächelte Walther.

»Gewiß. Sie hätten hören sollen, was mein Dirndl zum Buben sagt hat, als Sie vorhin so wacker dreingesetzt haben.«

»Ihre Kinder haben auch mit zugesehen?«

»Freilich! So was ist ein Gaudium für sie, und sie freun sich immerst schon im Voraus, daß sie's spätern auch mal so machen werden. Da standen nun die Beiden am Fenstern. Der Bub ist zwölf Jahren alt und das Dirndl zehn. Als Sie nun so brav eingewichst haben, was meinens wohl, was das Dirndl sagt hat?«

»Nun?«

»Pfui Teuxel, schmeißt Der zu! Bub, steck Dir in der Schul ein Bret auf den Buckel unter die Westen, sonst kommst nimmer ganz nach Haus!«

»So schlimm wirds wohl nicht!« lachte der Lehrer. »Hat der Bub geantwortet?«

»Ja. Er hat den Buckel so langsam an dera Tischkanten gerieben und dabei gemeint: >Da hilft auch kein Bret nix auf dem Buckel, denn Der da draußen haut auch durchs Bretten hindurch. Am Besten wirds da sein, man muxt sich nimmer!< Ja, so hat er sagt, und so werden Alle sagen. Wissens was, Herr Lehrern, ich will Ihnen mal einen sehr guten Rath geben!«

»Nun, bitte, welchen?«


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»Wie werdens Ihre Schulen anfangen?«

»Natürlich mit einem frommen Lied, welches gesungen wird.«

»O weh! Das ist falsch!«

»Warum?«

»Mit dem Lied, da fallens hinten runter. Hier bei uns sind die Kindern ganz anderst als in dera großen Stadt, wo es außerhalb dera Schulen noch Gouvernanteln und Bonnerln und Verzieherinnen giebt. Unsere Buben sind von andrem Schlag. Wann Sie mit einem frommen Lied beginnen, so werdens dasselbige ganz alleini singen müssen, denn kein solcher Hallunk singt mit. Ja, wanns ein Schnadahüpfel wär, da thätens Alle mitschreien. Nein, Sie müssen anderst beginnen.«

»Aber wie?«

»Ich will den Knecht hinaussenden in den Busch. Der mag so viele Ruthen schneiden, wies Kindern in dera Schulen giebt. Diese Ruthen thun wir in die Schulstuben, und wanns zum ersten Male hineinkommen, so sagens gar kein Sterbenswort, sondern Sie nehmens die erste Ruthen her und den ersten Buben und haun so lange zu, bis die Ruthen alle ist. So machens halt fort, bis der letzte Stock auf dem Rücken des letzten Buben zerbrochen ist, und nachhero erst fangens an, zu reden.«

»So!« lachte Walther. »Und was soll ich da sprechen?«

»Gar nix weitern, als: >Jetzt scheert Euch heim und wohl bekomms!< Die werden ganz still heimlaufen und sich das Ding fein merken.«

»Ich kann die Schule doch nicht vor der Zeit schließen!«

»O, habens keine Angst. Vier Stunden lang ist Schulen im Sommer, und grad vier Stunden werdens brauchen, um die Kinder der Reihen nach zu versohlen. Die werden Gesichtern machen! Und die Alten auch! Nachhero wirds ein Segen sein. Und wanns die Buben so abgehaut haben, nachhero könnens auch ein frommes Liedl mit ihnen singen. Das wird eine viel bessern Melodie geben, als ohne Prügeln. Ich kenne unsere Leutln. Also soll ich den Knecht hinausschicken nach Holz?«

Es schien der Frau mit ihrem Rathe wirklich Ernst zu sein. Aber Walther antwortete:

»Ich bin Ihnen sehr dankbar für Ihren guten Rath, und wenn ich ihn auch nicht wörtlich zu befolgen beabsichtige, so will ich ihn doch als freundlichen Wink gelten lassen, an welchen ich mich vorkommenden Falles gewiß erinnern werde.«

»Na, ganz wies selberst wollen. Gut gemeint hab ichs schon. Die Jungen sollten ganz dasselbige bekommen wie die Alten. Und mit denen habens ja heut sogleich anfangt, sogar bei denen beiden Vornehmsten von ihnen. Die werdens merken!«

»Nun, ich denke, daß ich noch nicht ganz fertig bin.«

»Wieso?«

»Der Silberbauer wird wieder herauskommen. Ich bleib ja deshalb hier sitzen, damit es nicht heißen mag, daß ich vor ihm davongegangen bin.«


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»Der? Wieder herauskommen?«

»Ja, er sagte es. Dann will er Gericht über uns halten.«

»Na, Der! Der ist ja längst fort!«

»Was? Wirklich?«

»Ja. Er hat sich das Gesicht abverwaschen und ist nachhero zur hintern Thür hinaus, um nach Haus zu gehen. Er hat sich halt geschämt.«

»Und ich warte hier!«

»Da könnens lang warten. Er sagte, er wolle anspannen lassen, um nach dera Stadt zu fahren und die Anzeig zu machen. Mein Mann hat ihn begleitet, um ihn auf andere Gedanken zu bringen.«

»Was mich betrifft, so mag er in Gottes Namen Anzeige machen. Ich fürchte dieselbe nicht.«

»Ja, das hab ich freilich gesehen, daß Sie sich nimmer fürchten. Ich weiß zwar nicht, wie's eigentlich zugangen ist, aberst mein Mann hat sagt, daß Sie nicht Unrecht haben, wann der Silberfritz die Liesbeth im Wald draußen anfallen hat.«

»Das ist der Fall gewesen. Freilich bin ich auch Etwas weiter gegangen, als ich eigentlich gedurft hätte. Ich hätte mich ruhig arretiren lassen und dann beim Gericht Einspruch erheben sollen. Aber die hiesigen Verhältnisse dürfen nicht nach dem gewöhnlichen Maße beurtheilt werden. Darum bin ich ein Wenig kräftiger aufgetreten, als das Gesetz es mir eigentlich gestattet. Ich hoffe aber, es verantworten zu können.«

»Wills hoffen. Ich glaub, denen Silberbauern ist grad ihr Recht geschehen. Nur dera arme Wächtern dauerte mich, als ich ihn so da im Kasten sitzen sah.«

»Es war wohl nicht so schlimm, wie er es machte. Er mag es sich zur Lehre dienen lassen, daß er den Silberbauer nicht als den Despoten der hiesigen Gemeinde zu betrachten hat. Es hat eben ein jeder Bürger seine Rechte, und wenn ein Gemeindevorstand seine Gewalt mißbraucht, so kann er zu jeder Stunde abgesetzt werden. Das scheinen die guten Leute hier nicht zu wissen. Schultheiß kann ein Jeder werden, selbst der ärmste Mann im Dorfe, und die Gemeinde ists ja, die ihn wählt.«

Das sagte er mit erhobener Stimme, um an dem anderen Tisch gehört zu werden. Die Männer steckten die Köpfe wieder zusammen und es war zu hören, daß einer von ihnen sagte:

»Sappermentsky, das ist Einer! Der hat eine Schneid und ein Geschick! Vor dem möcht man ja alleweilen gleich den Hut abnehmen!«

Und als Walther sein Bier bezahlte und im Gehen nachher freundlich grüßte, griffen die Leute wirklich nach den Hutkrämpen, was sie vor einem Schulmeister seit langen Jahren nicht gethan hatten.

Der Lehrer ging langsam das Dorf hinauf. Die Kinder, welche ihm begegneten, öffneten die Mäuler und starrten ihn an. Die Erwachsenen machten es ebenso. Das waren untrügliche Zeichen, daß er es hier mit einem höchst spröden Materiale zu thun haben werde.


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Als er das kleine Kirchlein erreicht hatte, sah er das Pfarrhaus neben demselben stehen. Er konnte sich gar nicht irren. An den kleinen Fenstern hingen weiße Vorhänge, und wohlgepflegte Blumen blickten durch die blank geputzten Scheiben.

Er klingelte an der Thür. Die alte, grauhaarige Wirthschafterin öffnete ihm.

»Hier wohnt der hochwürdige Herr Pfarrer?« fragte er.

Eine so freundliche Anfrage war hier eine Seltenheit. Sie machte einen Knix und antwortete:

»Ja. Vielleicht sind Sie gar der neue Herr Lehrer, den wir erwarten?«

»Der bin ich allerdings.«

»So kommen Sie schnell herein! Hochwürden freut sich sehr auf Sie; das will ich Ihnen im Vertrauen mittheilen.«

Der alte, geistliche Herr, saß in einem großblumigen Sopha, rauchte seine Pfeife, und las dazu. Er empfing den Lehrer mit aufrichtigster Herzlichkeit. Als Beide bei einer Tasse Kaffee einander gegenüber saßen, gestand der Pfarrer:

»Ich begann fast zu zweifeln, Sie heut noch bei mir zu empfangen.«

»Darf ich fragen, warum?«

»Weil ich erfuhr, daß der Silberbauer Sie von der Straße wegfangen wollte. Sie kennen die hiesigen Verhältnisse noch nicht, und darum will ich Ihnen -«

»O bitte, ich kenne sie bereits,« fiel Walther lächelnd ein. »Ich habe schon einige Erfahrungen gemacht, da ich unterwegs mit verschiedenen Mitgliedern Ihrer Gemeinde zu sprechen kam.«

»So wissen Sie bereits, daß es hier einen Gegensatz giebt, welcher fast unausgleichbar ist?«

»Leider - Sie, Hochwürden, und der Silberbauer.«

»So ist es. Die Lehrer haben leider stets auf der Seite des Letzteren gestanden. Nun fragt es sich, welche Stellung Sie einzunehmen gedenken.«

»Ich werde fest und treu zu Ihnen stehen.«

»Gott sei Dank! Endlich erhalte ich Hilfe! Ich sage Ihnen aufrichtig, daß, als ich Ihre Zeugnisse und sodann Ihren Brief las, ich bereits ahnte, in Ihnen einen Helfer zu finden. Freilich konnte ich mir gar nicht recht erklären, wie sich ein Mann von Ihren Eigenschaften grad nach diesem Winkel sehnen kann. Sie haben sich unbedingt in Beziehung auf Ihre Zukunft Schaden gethan.«

»Den werde ich gern verwinden.«

»Bitte, gab es einen besonderen Grund für Sie, sich nach Hohenwald zu wünschen?«

»Ja.«

»Vielleicht erfahre ich denselben später einmal.«

Die Wangen Walther's rötheten sich, als er sagte:

»Es wird gerathen sein, Ihnen denselben sogleich mitzutheilen. Ich


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sehnte mich nach - Wald und nach Einsamkeit. Ich bin nämlich - - Dichter.«

»O wehe!« entfuhr es dem Pfarrer. Sogleich aber fügte er hinzu: »Verzeihung! Im Allgemeinen ist meine Hochachtung für sogenannte Dichter leider nicht bedeutend.«

»Und mit Recht. Ich hege ganz dieselbe Ansicht. Was werden Sie sagen, wenn ich Ihnen offen gestehe, daß ich sogar jetzt an einem Theaterstück schreibe?«

Das Gesicht des Pfarrers nahm einen sehr ernsten Ausdruck an. Er antwortete:

»Das ist ein Stoff, über welchen sich nicht schnell aburtheilen läßt. Auf alle Fälle aber will ich Sie lieber dichten, als mit diesem Silberbauer im Wirthshause sitzen sehen. Die bisherigen Lehrer haben bei ihm gewohnt und sie alle sind an diesem Umstande zu Grunde gegangen. Da Sie so freundlich waren, mir Vollmacht zu ertheilen, habe ich mich im Stillen nach einer andern Wohnung für Sie umgesehen.«

»Aber wohl nicht mit Erfolg?«

»O doch. Sie werden sogar im neuesten Hause des Ortes wohnen. Vor Jahren brannte der Balzerbauer ab. Er war verarmt. Der Eschenbauer hat an seiner Stelle aufgebaut und will Ihnen zwei Stuben geben, obgleich vorauszusehen ist, daß er sich dadurch mit dem Silberbauer verfeindet. Der Eschenbauer ist nämlich einer der Wenigen, welche nicht zu den verlorenen Schafen gehören. Ich habe gestern Abend, als Niemand es sah, Ihre Kisten und Koffer bereits hinüberschaffen lassen. Es wird Ihnen bei ihm gefallen, während die Wohnung, welche Ihnen der Silberbauer gegeben hätte -«

»Ueber dem Pferdestalle liegt,« fiel Walther ein. »Das wissen Sie bereits?«

»Daß ich diese Wohnung sogar gratis erhalten hätte, dafür aber der Scriblifax des Vorstandes gewesen wäre.«

»Oder auch noch Schlimmeres. Sie scheinen sich bereits erkundigt zu haben?«

»Ich kam durch den Wald und traf da die Tochter des Finkenheiner und die Balzerbäuerin.«

»Das sind zwei Seelen, mit denen ich keine Noth habe, so verschieden sie auch von einander sind. Ich wünsche von ganzem Herzen, in Ihnen einen thatkräftigen und streitbaren Helfer zu finden.«

»Streitbar? Hm, das schein ich zu sein. Wenigstens werde ich hier bereits dafür gehalten.«

»Hier? Wieso?« fragte der Pfarrer.

»Ich habe bereits den Silberfritz so nachdrücklich durchgeprügelt, daß er sich wohl nicht sogleich wieder an mich wagen wird.«

»Sie scherzen!« rief der Pfarrer erschrocken.

»Ich erzähle Thatsachen, Hochwürden. Auch seinem Vater, dem Silberbauer,


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hab ich eine so ernste Lehre gegeben, daß er sich das Blut aus dem Gesicht hat waschen müssen.«

Der Pfarrer stand vom Sopha auf, legte die Pfeife weg, schlug die Hände zusammen und rief:

»Soll ich das wirklich glauben?«

»Gewiß! Und den Gemeindewächter habe ich beim Gasthof in den Kegelkugelkasten geworfen, daß er drinnen stecken geblieben ist, und Zwei mußten ihn herausziehen. Er ist nach Hause gehinkt.«

»Und das sagen Sie mit diesem ruhigen Lächeln!«

»Bitte, Hochwürden, setzen Sie sich wieder nieder und lassen Sie sich erzählen, in welcher Weise ich meinen Einzug gehalten habe.«

Der Pfarrer nahm wieder Platz, hörte die aufrichtige und ausführliche Erzählung des Lehrers mit Staunen an und sagte dann, als sie zu Ende war:

»Und Sie sind nicht besorgt um sich?«

»Gar nicht.«

»So begreife ich Sie nicht. Sie müssen sofort nach der Stadt, um dem Silberbauer zuvorzukommen.«

»Das möchte ich doch nicht thun. Ich glaube nicht, daß er Anzeige machen wird. Wenn ich in diesem Falle die Initiative ergreife, bringe ich gleich am Tage meines Einzuges zwei hiesige Einwohner in Strafe. Das möchte ich vermeiden.«

»So werde wenigstens ich jetzt zu ihm gehen.«

»Warum? Um ihm in das Gewissen zu reden? Er wird Sie gar nicht anhören. Oder wollen Sie ihn um Nachsicht für mich bitten? Das könnte ich nicht dulden.«

»Aber Etwas muß geschehen!«

»Natürlich! Und das werde ich sofort selbst besorgen, wenn Sie die Güte haben wollen, mir das dazu nöthige Papier zu leihen.«

»Was wollen Sie thun?«

»Ihn schriftlich auffordern, den Eltern hiesiger Schulkinder sofort sagen zu lassen, daß morgen früh sieben Uhr der erste Unterricht beginnt und daß ich einen Jeden, der sein Kind nicht schickt, in die Straftabelle notiren werde.«

»Das wollen Sie? Er wird es nicht thun.«

»Er muß! Erlauben Sie mir, es wenigstens zu versuchen!«

»Ich glaube an kein Gelingen!«

»O, ich glaube, meinen Mann zu kennen. Jeder Bramarbas ist im Grunde doch nur ein Feigling.«

Er schrieb die betreffenden Zeilen und der Pfarrer besorgte sie durch einen Boten zum Ortsschulzen. Sodann begaben sich die Beiden in das Eschengut, um sich die Wohnung zu betrachten.

Dieses Gut hatte den erwähnten Namen von mehreren hohen Eschen, welche vor dem Thore desselben standen. Walther war mit den beiden Zimmern zufrieden und ebenso mit seinen Wirthsleuten, welche ihm gefielen. Er nahm sofort Besitz von der Wohnung, und begann, als der Pfarrer sich entfernt


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hatte, seine Bücher und andere Sachen auszupacken und sich häuslich einzurichten.

Als die Dämmerung hereinbrechen wollte, setzte er den Hut auf, steckte seine Papiere ein und ging das Dorf hinab. Er war noch nicht weit gekommen, so erblickte er den Wächter, welcher aus einer Hausthür trat. Der Mann hinkte jetzt nicht und blieb, als er Walther erblickte, stehen und legte die Hand grüßend an die Mütze.

»Guten Abend, Herr Lehrern!«

»Guten Abend! Wie geht es?«

»Alleweile wie immer.«

»Wie stehts mit der Gesundheit?«

»Es muß gut sein. Was hilft das Klagen!«

»Kommts nicht zuweilen vor, daß Sie ein Wenig lahm gehen?«

»Ja freilich, nämlich wann die Zeit dazu da ist.«

»Giebts da besondre Zeiten?«

»Ja, wann ich Einen verarretiren soll, den ich aber nicht verarretiren will. Nachhero hink ich heim und reib mich mit Opodeldoc eini.«

»So, so. Was thun Sie hier?«

»Ich hab den Umgang im Dorf. Ich muß denen Alten anheißen, daß die Jungen morgen in der Fruh, wanns sieben Uhren ist, in dera Schulen sein müssen bei fünf Mark Strafen.«

»Ah! Wer hats befohlen?«

»Der Herr Silberbauern.«

»Auch das mit der Strafe?«

»Nein; das setz ich halt von selberst dazu.«

»Hm! Rauchen Sie?«

»Nur wann ich was hab.«

»Hier haben Sie eine.«

Er gab ihm eine Cigarre. Der Wächter betrachtete ihn, die Cigarre, wieder ihn und wieder die Cigarre.

»Sapperlot! Was ist denn das!«

»Nun, eine Cigarre.«

»Ja, das weiß ich schon. Aberst wem soll die sein?«

»Ihnen soll sie natürlich gehören.«

»Mein, mir? Himmelsakra1 Noch niemals hat mir ein Lehrern was geschenkt! Sondern die wollten Alle nur haben. Der Neue aberst ist ein Feiner; das hab ich nun schon bald weg!«

»Auch mit dem Raufen!«

»Ja, da erst gar! Na, ich dank Ihnen auch sehr schön! Werds auf Ihr Wohl rauchen und gratulir unterthänigst zum neuen Jahr!«

Damit eilte er von dannen.

In der Nähe stand das Pfarrhaus. Der geistliche Herr hatte am Fenster gestanden und den Vorgang mit angeschaut. Er öffnete und blickte heraus.

»Wohin?« fragte er, als Walther zu ihm trat.


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»Zum Silberbauer.«

Der Pastor hätte fast das Fenster zerbrochen, so sehr erschrak er bei dieser Antwort.

»Das ist wohl unmöglich!«

»Das ist sogar sehr nothwendig, Hochwürden. Ich habe meine Pflicht zu erfüllen.«

»Welche?«

»Der Silberbauer ist der Ortsvorsteher: Ich bin heut hier angekommen und habe mich bei ihm anzumelden.«

Der Pfarrer schüttelte den Kopf.

»Sie sind fast mehr als streitbar!« meinte er.

»O nein. Ich möchte mich von ihm nicht auf Etwas aufmerksam machen lassen, was sich ganz von selbst versteht. Ich vermeide möglichst jede Blöße.«

»Wie aber wird er Sie empfangen!«

»Das ist seine Sache. Nach dem, was ich soeben erfahren habe, ist für mich nichts zu befürchten.«

»Was war es?«

»Er hat dem Wächter befohlen, meine Weisung auszuführen, und dieser hat sogar für jeden, der nicht gehorcht, fünf Mark Strafe hinzugefügt.«

»Ah! Unglaublich! Herr Lehrer, das klingt ja grad wie ein Sieg, den Sie erfochten haben.«

»Es ist nicht der erste und wird hoffentlich auch der letzte nicht sein.«

»So lassen Sie mich wissen, wie der gegenwärtige Besuch dann abgelaufen ist.«

Walther ging weiter. Der große Gebäudecomplex, welchen der Silberbauer besaß, lag fast in der Mitte des Dorfes, nur Etwas seitwärts von der geraden Dorfstraße. Als der Lehrer durch das große, offene Thor schritt, empfing ihn das Gebell mehrerer großer Hunde. Er hatte über einen weiten Hof zu gehen. Aus der Hausthür trat ein Knecht, der, die Mütze auf dem Kopfe behaltend, ihn groß anblickte. Walther zog seinen Hut, grüßte und fragte nach dem Herrn Schultheißen.

Der Mann dankte nicht, griff auch nicht an die Mütze und deutete schweigend nach einer Thür. Walther klopfte dort an und trat ein. Er befand sich in einem großen Raume, welcher wohl als Gesindestube diente. Eine Magd schlug Butter, eine Andere schälte Kartoffeln. Auf seinen Gruß und seine Fragen betrachteten ihn die Beiden mit großen Augen und sagten kein Wort; aber die Eine deutete mit dem Finger nach einer zweiten Thür, an welche Walther nun ebenfalls klopfte. Ein lautes »Herein!« ließ sich hören.

Die Stube, in welche er jetzt trat, war jedenfalls die Herrschaftsstube. Das ganze Meublement ließ dies errathen. Doch bedurfte es dessen gar nicht, denn es befanden sich ja die beiden >Herren< da.

Der Silberfritz sah gar nicht silbern aus. Er hatte das von dem Stockhiebe des Lehrers aufgesprungene Gesicht so bepflastert und verbunden, daß nur der Mund und die beiden Augen zu sehen waren. Der Silberbauer saß ihm


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gegenüber am Tische und sah auch gar nicht sehr appetitlich im Gesicht aus. Die Nägel der Feuerbalzerin hatten es nicht übel zugerichtet. Als sie den Eintretenden erblickten, fuhren sie Beide kerzengerade von ihren Stühlen empor.

»Grüß Gott, Herr Vorsteher!« sagte der Lehrer in sehr höflichem Tone. »Bitte um Verzeihung, daß ich Sie stören muß!«

»Himmeldonnerwettern!« rief der Silberfritz.

»Da muß doch gleich der helle, lichte Teufeln drin sitzen!« fluchte sein Vater. »Was zu stark ist, das ist zu stark!«

Der Lehrer beachtete diese beiden Interjectionen gar nicht. Er zog seine Papiere heraus und sagte:

»Ich heiße Max Walther und bin der neue Lehrer, welchen Sie heut erwarteten - - -«

»Zum Teuxel! Das weiß ich ja!«

»Sie wissen das bereits? Nun so wird es - - -«

»Mensch, bist denn ganz verruckt, daßt so thust, als obst uns gar nimmer kennst! Willst denn nun alleweile jetzt Deine Prügeln haben oder - - -«

»Herr Vorsteher!« donnerte ihn Walther an. Der Bauer fuhr förmlich zusammen.

»Na, was dann?«

»Sind Sie gar so wenig Diplomat, daß Sie nicht ahnen, warum ich so thue, als ob ich Sie noch gar nicht gesehen habe? Wenn ich Sie Beide schon einmal gesehen hätte, müßte ich vielleicht Anzeige machen, und dann käm der Eine in Untersuchung wegen seines Verhaltens im Walde und der Andere würde wegen Mißbrauchs amtlicher Gewalt und Beleidigung des Gerichtes von seinem Posten abgesetzt. Sie sehen also ein, daß es für Sie am Besten ist, wenn ich Sie gar nicht kenne.«

»Fritz!« rief der Alte, seinen Sohn ansehend.

»Vatern!« rief der Junge, den Alten anstarrend.

»Was sagst dazu?«

»Ich? Gar nix. Aberst Du?«

»Mir bleibt der Verstand stehen!«

»Wollen wir ihn nauswerfen?«

»Das Allerbest würde das sein.«

Da machte Walther eine energische Handbewegung und sagte:

»Meine Herren, ich weiß nicht, von wem oder was Sie sprechen; aber ich habe nicht viel Zeit übrig und bitte, mich gütigst abzufertigen. Ich komme natürlich, mich anzumelden.«

»Anmelden? Himmelsakra!«

»Hoffentlich bin ich beim Vorsteher?«

»Ja, der bin ich zwar. Aber ich hab keine Zeit!«

»Wie ich sehe, sind Sie nicht beschäftigt.«

»Das geht Dich nix an, ganz und gar nix. Ich hab keine Zeit und keine Lust, mit Dir zu reden und - - -«

»Bitte!« fiel Walther ein. »Wenn Sie meine Geduld allzusehr auf


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die Probe stellen, dann kann es leicht passiren, daß sie reißt. Ich verlange, daß Sie mich Sie nennen und mir meinen Anmeldeschein ausstellen. Thun Sie das nicht, so melde ich mich morgen früh bei der vorgesetzten Behörde und stelle den Antrag, einen zuverlässigeren und weniger willkürlichen Mann mit dem Amte des Vorstehers zu betrauen. Jetzt wählen Sie! Ich bin in aller Höflichkeit gekommen und habe keine Lust mich mit Grobheiten regaliren zu lassen. Mein Wirth will den Meldeschein sehen.«

»Dein - - ah! Ihr Wirth? So? Wer ist denn das?«

»Der Eschenbauer.«

»Ah, dort wohnst - - dort wohnen Sie! Der Lehrer hat hier bei mir zu wohnen!«

»Wer sagt das?«

»Ich sags.«

»Welcher Paragraph gebietet dies?«

»Ich selberst bin der Paragraph!«

»Nun, ein solcher Paragraph hat bei mir gar keine Geltung. Ich bin kein Sclave und weiß auch nichts von einer Dienstwohnung, welche mit meinem hiesigen Amte verbunden ist.«

»Der Lehrer muß hier bei mir wohnen, weil er mein Schreibern ist.«

»In meiner Vocation steht nicht ein Wort von einer Schreiberstelle. Ich bin Lehrer aber nicht Schreiber und bitte, mich nun endlich abzufertigen.«

»Donnerwettern! Willst etwan in meiner eigenen Stuben mit mir so anfangen wie drüben am Gasthof! Da kannst leicht wegen Hausfriedensbruch eingesteckt werden.«

»Sie scheinen nicht zu wissen, was man unter Hausfriedensbruch versteht. Wenn ich gehen soll, so sagen Sie es nur. Ich werde melden, daß es hier einen Beamten giebt, welcher Den, der in amtlicher Veranlassung zu ihm kommt, wegen Hausfriedensbruch bestrafen lassen will. Es wird wohl eine geeignetere Person zu finden sein!«

Er nahm seine Papiere wieder zusammen, steckte sie ein und wendete sich bereits zum Gehen. Da wurde eine gegenüberliegende Thür geöffnet. In derselben erschien Martha. Sie sah blaß aus und war viel weniger auffällig gekleidet als am Nachmittag. Sie schien sich im Nebenzimmer befunden und dabei das Gespräch gehört zu haben.

»Herr Walther!«

Das klang so bestimmt und doch auch so bittend. Er wendete sich um.

»Verzeihung! Vater ist unwohl und scheint sich die Hand verletzt zu haben. Er kann nicht schreiben. Gestatten Sie, daß ich die Meldung entgegennehme!«

Er verbeugte sich sehr förmlich und antwortete:

»Wenn der Herr Vorsteher mir sagt, daß er Sie beauftragt, ganz gern.«

»Vater, soll ich?«

»Hol Dich der Teuxel! Mach wast willst!«

Er stand auf und verließ die Stube. Sein Sohn schlug mit der Faust


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auf den Tisch und lief ihm nach. Sie aber zeigte nach der Thür, durch welche sie gekommen war, und sagte:

»Bitte, treten Sie hier ein!«

Er zögerte. Sie bemerkte es.

»Oder nicht?«

»Wo ist die Expedition des Vorstehers?«

»Eben da, wo ich Sie einzutreten bitte.«

Und kalt fügte sie hinzu:

»Ein Privatzimmer zu betreten, würde ich Ihnen natürlich auf keinem Falle zumuthen.«

Sie ließ ihn voran eintreten und machte hinter ihm die Thür zu. Dann zeigte sie auf einen Stuhl.

»Bitte, nehmen Sie Platz!«

Es fiel ihm ein, daß sie heut im Walde gesagt hatte, ein Schulmeister stehe viel zu tief unter ihr. Darum standen ihm schon die Worte auf den Lippen: »Ein Dorfschulmeister darf in Ihrer Gegenwart nicht sitzen.« Aber sein besseres Ich ließ ihm diese Worte zurück behalten. Erst als sie ihre Einladung wiederholte, antwortete er kalt:

»Ich gehorche.«

Sie trat an ein an der Wand stehendes Stehpult und schlug ein großes, auf demselben liegendes Buch auf. Sie schien nicht unvertraut mit den amtlichen Obliegenheiten und Arbeiten ihres Vaters zu sein.

»Darf ich bitten?«

Er legte seine Legitimationen in ihre Hand, welche sie bei diesen Worten ausgestreckt hatte. Sie las die Papiere durch und begann, die Einträge zu machen.

Das Stübchen war klein, aber die Ausstattung desselben war sichtlich darauf berechnet, auf den armen Bauersmann, der hier zu seinem Ortsvorsteher kam, den Eindruck zu machen, daß er sich bei einem sehr reichen Mann befinde. Das Einfachste und Anspruchloseste im ganzen Zimmer war - Martha.

Der Silberschmuck war verschwunden. Kein einziger Silberfaden befand sich mehr in den schweren Zöpfen, welche ihr von dem schönen Haupte fielen. Kein einziger Ring war an den Fingern ihrer alabasternen, schönen Hände mehr zu sehen. Sie trug einen einfachen, dunklen Hausrock, aus welchem oben am Halse ein weißer Stehkragen blickte. Aber grad diese einfache Toilette ließ die Plastik ihrer Gestalt um so wirkungsvoller und bedeutender hervortreten.

Walthers Augen hingen an dieser vollen, prächtigen, an das Stehpult geschmiegten Gestalt. Die Röthe der Wangen, welche ihn bezaubert hatte, war gewichen. Ihr Auge war fast glanzlos, ganz trüb und müde. Er bewunderte im Stillen den so wunderbar gezeichneten, üppigen Mund, und es war ihm, als ob auch der Purpur desselben erblaßt sei.

Als sie den Meldeschein ausgefertigt und unterstempelt hatte, gab sie ihm denselben mit seinen Papieren zurück und sagte mit mattem Lächeln:

»Ich danke Ihnen. Jetzt nun sind Sie legitimirter Einwohner von Hohenwald. Wir sind fertig.«


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Er steckte die Documente ein; indem er sich erhob, griff er nach seinem Hute und verbeugte sich.

»Ich empfehle mich, Fräulein Claus!«

»Gute Nacht!«

Sie sah ihn dabei nicht an. Ihr Auge war auf den Boden gerichtet. Es war ihm, als ob er noch Etwas sagen müsse, eine Bemerkung, ein kleines, freundliches Wort. Und doch fühlte er, daß ihm die Kehle wie zugeschnürt sei. Schon streckte er die Hand nach der Thür aus.

»Herr Walther!«

Er zog die Hand wieder zurück.

»Fräulein Claus!«

Da hob sie die Wimpern empor. Es war ein unbeschreiblicher, ein qualvoller Blick, der ihn aus ihren Augen traf. Sie fragte leise, beinahe flüsternd:

»Gehen Sie so fort?«

»Wie anders denken Sie es sich?«

»Ich dachte, Sie könnten mir eine Hand geben.«

»Einer Dame, die mir Rache geschworen hat!«

»Sie haben Recht. Dem Menschen ist oft sein eigenes Herz das größte, unbegreiflichste Räthsel. Jetzt kann ich nicht begreifen, wie ich vorhin von Rache zu Ihnen habe sprechen können.«

»Ich kann es begreifen.«

»Nun?«

»Sie fühlen nicht wie ein ruhiges Menschenkind. Bei Ihnen ist Alles in höherem Maße vorhanden, das Gute und auch das Schlimme. Darum kann Ihnen der Wunsch nach Rache nichts Unbegreifliches sein.«

»Ich habe ihn aufgegeben.«

»Sollte ich das wirklich glauben dürfen?«

»Ich bitte Sie darum!«

»Nicht, daß ich Ihre Rache fürchtete, sondern allein um Ihretwillen würde es mich freuen, wenn Sie sich von einem so gewaltthätigen, unweiblichen Verlangen trennen könnten. Die Rache ist das Verächtlichste, was ich kenne. Und wenn Sie mir jetzt sagen, daß Sie auf dieselbe verzichtet haben, so kann dies auch nur ein Schachzug sein, der gegen mich gerichtet ist.«

»Sie meinen, daß ich Sie dadurch einschläfern und sicher machen will?«

»Grad dies will ich damit sagen.«

»So irren Sie sich wirklich. Ich war unsinnig, als ich von Rache sprach. Ich hab mir nachher überlegt, in wiefern ich mich an Ihnen rächen könnte, und da ist mir allerdings klar geworden, daß ich nur Niederträchtiges thun könnte. Dazu aber besitze ich die Begabung trotz Allem wirklich nicht. Ueberhaupt haben Sie mir nicht die mindeste Veranlassung zur Rache gegeben. Ich selbst bin an Allem schuld. Das habe ich schnell eingesehen, als ich erst dazu kam, kühl über mich nachzudenken.«

»Wenn Sie diese Worte wirklich vom Herzen sprechen, so geben Sie sich


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selbst das beste Zeugniß, mein Fräulein. Ich habe wirklich nicht geglaubt, daß die >Silbermartha< so demüthig sprechen könne.«

Bei dem Namen, den er mit besonderer Betonung nannte, erhob sie abwehrend die Hand.

»Bitte, sprechen Sie dieses Wort nicht aus. Seit einer Stunde hasse ich es. Sie sehen jetzt bei mir keine Spur dieses Silbers mehr. Der Eine wird durch ein großes Unglück, der Andere durch ein Glück klug. Bei dem Einen bedarf es eines langen, schweren Ganges durch Trübsal und Prüfung, ehe er zur Selbsterkenntniß kommt, und bei dem Andern ists ein schneller, unerwarteter Blitzstrahl, der ihm die Tiefen seines Herzens erblicken läßt. Die Silbermartha lebt nicht mehr. Ich möchte den Reichthum hassen, denn ich habe erkannt, daß er ein Feind des wahren Glückes ist.«

Sie wendete sich ab. Er kämpfte mit sich selbst. Doch gab er seinen Gefühlen nicht die Erlaubniß, ihn jetzt in seinen Worten zu bestimmen. Er fragte:

»Aber bitte, wozu diese Bekenntnisse?«

Jetzt rötheten sich ihre Wangen doch, und schnell antwortete sie ihm:

»Ich bitte Sie, mich ja nicht falsch zu verstehen! Ich habe Sie beleidigt, und ich habe zugleich auch mich selbst beleidigt, indem ich Ihnen eine Anschauung von mir gab, welche eine - falsche war. Da ist es mir Bedürfniß, meine Fehler zu bekennen, damit Sie sehen, daß ich Sie rechtfertige und alle Schuld auf mich allein nehme. Die Vergangenheit ist hinweg. Unsere Lebenswege gehen weit aus einander. Wir wohnen einander jetzt zwar körperlich nahe, aber in anderer Beziehung stehen wir uns fern, ferner als sich vielleicht ganz Fremde stehen. Wollen wir da nicht wenigstens eine freundliche Erinnerung von einander mitnehmen hinaus in unser ferneres Leben?«

»Sie haben Recht. Wir sind heut von einander geschieden - für immer. Wir können uns niemals wiederfinden; denn eine psychologische Unmöglichkeit ist eben auch eine Unmöglichkeit. Unser Scheiden war kein freundliches. Jetzt aber steigt doch noch ein mildes Abendroth empor, und so wollen wir still des vergangenen Tages gedenken, ohne Haß und ohne Zorn. Wir sind versöhnt.«

Er streckte ihr die Hand entgegen, und sie ergriff dieselbe. Wie kam es nur, daß er die seinige so schnell wieder zurückzog? War ihm diese Berührung so sehr zuwider, oder hatte er das Vorgefühl, daß sie ihm gefährlich werden könne? Sie hatte diese schnelle Bewegung gar wohl beachtet. Sie senkte den Kopf und sagte:

»Ehe Sie heut von hier fortgehen, erlauben Sie mir, eine Bitte auszusprechen!«

»Gern. Ich will hoffen, daß ich Sie Ihnen erfüllen kann.«

»Vielleicht, vielleicht auch nicht. Es ist ja möglich, daß auch hier eine >psychologische Unmöglichkeit< vorliegt.«

Sie sagte diese Worte mit einiger Bitterkeit, obgleich sie sich Mühe gab, dies nicht fühlen zu lassen.


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»Sie haben heut ein Rencontre mit meinem Bruder und mit meinem Vater gehabt - - -«

»Leider! Ists nicht besser, darüber zu schweigen?«

»Nein. Es ist mir eine Nothwendigkeit, Ihnen wissen zu lassen, welche Stellung ich in dieser Beziehung zu Ihnen einnehme.«

»Diese kann ich mir denken.«

»Wohl schwerlich!«

»Sie werden mich für einen Raufbold halten.«

»Ich dachte es mir, daß Sie mich auch hier falsch beurtheilen. Ich habe in Regensburg gehört, daß Sie ein sehr geschickter Ringer und Fechter sind, aber für einen Raufbold halte ich Sie nicht. Sie haben sich vielmehr heut geprügelt als - - Lehrer und als Psycholog.«

Er blickte überrascht auf. Das war ja der betreffendste Ausdruck, den sie überhaupt hatte wählen können. Sie bemerkte das und fragte lächelnd:

»Nicht wahr, ich habe es errathen?«

»Allerdings.«

»Sie sehen, daß ich wenigstens beginne, Sie richtig zu beurtheilen. Sie haben geglaubt, es sei für unsere Gemeinde und für die Erfolge Ihrer erziehlichen Bemühungen hier von Vortheil, meinem Vater entgegen zu treten. Sie sind gewöhnt, sich mit den Waffen zu vertheidigen, mit denen Sie angegriffen werden, und da Sie in niedrigster Weise herausgefordert wurden, ist es eben zu einer - - Rauferei gekommen.«

»Das klingt freilich, als ob Sie gegen Ihre Anverwandten Parthei nähmen!«

»Vollständig. Sie konnten fast nicht anders handeln. Was meinen Bruder betrifft, so weiß ich nach ganz genauer Erkundigung, daß Sie die Liesbeth zu vertheidigen gezwungen waren.«

»Das haben Sie erfahren?«

»Ja, und zwar von ihr selbst. Ich war bei ihr.«

»Sie - - bei der Tochter des Finkenheiner?«

»Ja, in der Flachsdörre! Ich weiß, was Sie meinen. Früher war ich viel zu stolz gewesen, den Fuß in dieses Gebäude zu setzen.«

»So dachte ich allerdings,« antwortete er offen.

»Ich muß wirklich ein sehr hoffährtiges Wesen gewesen sein! Doch, das ist vorüber! Sie haben den Vater und den Bruder besiegt. Ich warne Sie!«

»Danke! Ich fürchte mich nicht.«

»Das ist der Stolz der Jugend. Halten Sie sich ja nicht für unverwundbar! Kein Mensch ist das. Wenn es mir möglich ist, werde ich Sie beschützen.«

»Gegen Ihre Angehörigen?«

»Warum nicht? Soll ich Personen, welche zu mir gehören, nicht die Gelegenheit nehmen, Böses zu thun? Das bin ich Ihnen, mir und auch anderen schuldig. Aber nun meine Bitte: Wenn es Ihnen möglich ist, so schonen Sie den Vater. Er ist ja doch - - mein Vater!«


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Sie sagte das in so demüthigem Tone und senkte dabei das Haupt so tief herab, daß es ihm ganz weh im Herzen wurde. Sie sah aus wie Eine, welche sich das Leben eines Andern erbitten will.

»Fräulein Martha!«

»Was wollen Sie sagen?«

»Halten Sie mich für boshaft?«

»Nein.«

»Nun, es wäre ja Bosheit, Personen, welche ich bereits bestraft habe, ohne Ursache noch weiter zu verfolgen. Ich denke, daß die Ihrigen zu der Einsicht kommen werden, daß es für sie von Vortheil ist, alle Fortsetzung des Streites zu vermeiden.«

»Aber wenn sie dies nicht einsehen?«

»So vertheidige ich mich, grad so wie heute.«

»Das ist es, was ich fürchte. Und ich fürchte es wahrlich nicht um Ihretwillen, denn ich habe die Zuversicht, daß Sie doch siegen werden - aber -«

Sie stützte den Ellbogen auf das Stehpult und legte den Kopf in die Hand.

»Bitte, sprechen Sie weiter!«

»Ich möchte nicht haben, daß Sie auch mich als Ihre Feindin betrachten. Ich sprach heut mit einer Person, welche mir ein schweres, schweres Wort sagte, ein Wort, dem ich es verdanke, daß ich so schnell und so plötzlich zur Erkenntniß meiner selbst gekommen bin. Ich war klein, ganz klein, als meine Mutter gestorben ist.«

Ihr Kopf sank mit dem Arme tiefer herab.

»Die Frau, welche mir dieses Wort sagte, meinte, daß man einem Mädchen, welches keine Mutter gehabt hat, viel, sehr viel verzeihen könne. Herr Walther, denken - - -«

Ihre Stimme verlor den Halt. Ihr Busen arbeitete heftig. Sie bemühte sich, ein Schluchzen zu unterdrücken.

»Denken - auch Sie zuweilen daran - daß ich - keine Mutter - gehabt habe!«

Jetzt legte sie ihr Gesicht in beide Hände und die Letzteren auf das Pult. Sie weinte, nicht laut, aber herzbrechend. Sie hatte Recht. Das Wort der alten Feuerbalzerin hatte es in ihr hell werden lassen, so daß sie ihr ganz von Liebe verlassenes Leben, Denken und Treiben erkannt hatte. Sie hatte eingesehen, daß ihr Gefühlsvermögen bisher vollständig vernachlässigt gewesen sei. Und doch trug sie eine große, reiche Liebe im Herzen. Das hatte sie erkannt, als es zu spät war und als sie einzusehen begann, daß nur allein die Liebe glücklich zu machen vermag.

Walther wußte nicht, was er thun und sagen solle. Es trat eine peinliche Pause ein. Leider hatte er sich stets bemüht, seinem objectiven Denken mehr Rechte zu lassen, als den subjectiven Gefühlen. Nur ein einziges Mal hatte er sich von seinem Gefühle zu einem schnellen, folgereichen Schritte verleiten lassen - er hatte seine gute Stelle aufgegeben, um nach Hohenwald zu


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gehen, eines Mädchens wegen, von dem er gleich beim ersten Wiedersehen die Ueberzeugung erhielt, daß es eines solchen Opfers gar nicht werth sei. Eine solche Dummheit wollte er nicht begehen.

»Bleiben wir kalt, Fräulein Martha,« sagte er. »Aufregung läßt sich lieber vermeiden!«

Da erhob sie den Kopf und blickte ihn durch rinnende Thränen an.

»Läßt sie sich vermeiden?«

»Gewiß!«

»Das sagen Sie, weil Sie stärker sind als ich. Aber dennoch will ich es versuchen, auch stark zu sein. Sie sollen mich nicht wieder weinen sehen.«

»O, nicht das Weinen verwerfe ich, sondern das vergebliche Weinen. Thränen sind eine große Wohlthat, aber unnütze Thränen soll man nicht vergießen, denn - -«

»Schulmeister!« warf sie ihm vor. »Während andre weinen, philosophiren Sie kalt über das Thema der unnützen Thränen. Ich gebe Ihnen freilich Recht. Alles Unnütze ist überflüssig, also auch verboten. Auch die unnützen Worte, deren wir jetzt bereits so viele gesprochen haben. Thun wir das nicht wieder. Die Meinen werden sich überhaupt wundern, daß ich mit der kleinen Schreiberei eine so lange Zeit brauche. Gute Nacht!«

Sie winkte mit der Hand und drehte sich von ihm ab, dem Lichte der Lampe entgegen, welche auf dem Pulte stand. Er blieb noch einige Augenblicke stehen. Er hatte das Gefühl, daß er eine wirkliche Sünde begehe, wenn er jetzt so von ihr scheide; aber - sie hatte Recht - Schulmeister, Pedant!

»Gute Nacht!« sagte er und ging zur Thür hinaus. »Er geht!« klagte sie. »Er geht! Er kann gehen!«

Laut aufschluchzend legte sie den Kopf und die Arme auf das Pult, welches unter den convulsivischen Bewegungen ihres Körpers zitterte.

Er aber schritt ruhig durch die Stuben und über den Hof hinweg. Erst als er durch das Thor getreten war und längs des eisernen Zaunes hinging, blickte er nach dem Gebäude hinüber. Er sah das erleuchtete Fenster, das Stehpult und die an demselben liegende Mädchengestalt. Er blieb stehen.

»Sie weint!« flüsterte er. »Vielleicht hat sie mich trotz Alledem lieb, wirklich lieb!«

Er stand so noch eine ganze Weile. Wie kam es doch nur, daß er die Strophen jenes alten Gedichtes leise für sich hinsagte:

»O gräme nie ein Menschenherz;
   Der Gram geht bis aufs Blut,
Und all den Kummer, all den Schmerz
   Machst Du nicht wieder gut!

O mach, daß keine Thräne hier
   Ein Mensch um Dich vergießt,
Denn wiß, daß diese Thräne Dir
   Ein ewger Vorwurf ist!


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O sorge, daß kein Herzeleid
   Du hier verschulden magst;
Es kommt die Stund, es kommt die Zeit,
   Wo Du es tief beklagst!«

Noch immer lag die Mädchengestalt unbeweglich am Pulte, als er endlich ging. Er suchte den Pfarrer auf, um ihm mitzutheilen, daß sein Gang zum Silberbauer ohne schwere Folgen gewesen sei. Sodann wollte er eigentlich nach Hause gehen. Aber der Abend war so mild, und vom Walde wehte es so duftig und kräftig herüber. Er ging noch eine Strecke weiter. Als er dann umkehrte, gewahrte er gegenüber dem Eschenhofe ein Licht im Stockwerke des Hauses, welches dort stand. Er hatte bereits am Tage bemerkt, daß dieses Haus von ganz eigenthümlicher Bauart sei. Mehr unwillkürlich, als um es zu betrachten, näherte er sich demselben.

Der Abend war nicht dunkel, und man konnte auf eine ziemliche Entfernung hin sehen. Da kam von seitwärts her eine Gestalt. Sie lief in gebückter, müder Stellung. Bei dem Lehrer angekommen, blieb sie stehen und betrachtete ihn.

»Wer sind Sie?« fragte Walther.

Er erhielt keine Antwort.

»Wollen Sie etwas von mir?«

»Gnade!«

»Was? Gnade? Ich verstehe Sie nicht!«

Da wimmerte der Mann:

»Nimm sie, nimm sie! Ich sag halt nix! Gnade, Gnade!«

Da besann Walther sich auf die Worte, welche die alte Feuerbalzerin zu ihm gesagt hatte. Sollte dieser Mann ihr wahnsinniger Sohn sein?

»Gehn Sie nach Hause!« forderte er ihn auf.

Da drehte sich derselbe um und schlich sich in seiner eigenthümlichen gebückten Haltung nach dem erwähnten Hause und zu der offenen Thür desselben hinein. Walther war ihm nachgegangen. Er hörte innen hinter dem kleinen Holzladen eine Stimme:

»Na, kommst endlich? Wo bist herumgeschlichen heut, wo ich nach so langer Zeit endlich einmal ein ordentliches Essen hab für Dich. Komm setz Dich nun her!«

Er erkannte die Stimme der Balzerbäuerin und trat in den dunklen Hausflur. Er suchte mit der Hand nach der Thür und klopfte an. Sie wurde geöffnet, und das Gesicht der Bäuerin blickte heraus.

»Wer ists? Was willst?« fragte sie. »Ich bin es. Darf ich einmal herein?«

Obgleich es dunkel war, erkannte sie ihn sofort, natürlich nur an der Stimme.

»Herrgottle, das ist ja unser neuer Herr Lehrern! Na so eine Verüberraschung! Zu uns arme Leutln kommens! Na, na, so was!«

Sie machte die Thür möglichst weit auf und er trat hinein. Was er


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erblickte, sah nicht tröstlich aus. Ein niederer Raum, von dessen Mauer sogar die Tünche gewichen war. Hinten ein Lager von Streu, auf welchem eine weibliche Gestalt lag, mit einem alten Rocke zugedeckt. Ein vielfach schadhafter Kachelofen, ein Tisch, ein Stuhl, ein Schemel und eine Kiste, welche als Brod- und Kleiderschrank und vielleicht auch noch zu anderen Zwecken diente. In der Mauer steckte ein brennender Kienspan, dessen roth qualmende Flamme die Scene trüb beleuchtete.

Die Alte hob den Rock auf, den sie anhatte und wischte den Schemel ab.

»Setzens sich, Herr Lehrern!« sagte sie. »Auf den Stuhl könnens halt nicht, weil er nur drei Beinen hat. Nein, so eine Freuden! Schwiegertochtern, schau Dir nur den Herrn richtig an! Der hat mir die zwei Thalern für Dich geben.«

»Schweigen Sie davon!« gebot Walther. »Ich mag das nicht wieder hören. Ich ging zufällig vorüber und sah Ihren Sohn hereintreten. Da kam ich ihm nach, um Ihnen einen guten Abend zu bringen und Ihnen zugleich zu sagen, daß Sie den Silberbauer nicht zu fürchten brauchen. Er wird keine Anzeige machen.«

»Anzeig? Der? Der sollte mir mal damit kommen! Die Augen kratzt ich ihm aus! Aberst wissens, Herr Lehrern, wer da gewest ist?«

»Nun, wer?«

»Die Silbermartha.«

»Bei Ihnen?«

»Ja. Eigentlich hats freilich zur Liesbetherl wollt, aberst da ists halt auch gleich mal hereini kommen zu uns. Sie hat mich ausfragt, wies mit dem Zank gewest ist im Gasthof, und ich hab ihr den reinen Wein zu kosten geben. Nachhero ists hinaufi zum Heiner. Da ists sehr lange Zeit gewest.«

»Was hat sie da gewollt?«

»Das weiß ich halt nicht. Es ist Niemand von denen Leutln noch herabkommen zu mir, und ich geh nicht aufi, weils sonst meinen könnten, daß ich aus Neugierden komm.«

»Na, für neugierig darf Sie kein Mensch halten!«

»Nein, das bin ich niemals gewest.«

»Auch horchen thun Sie nie?«

»Nein. Nur manchmal im Wald, wann da Zwei miteinander schwatzen. Aberst da kann man auch nix hören und nix verstehen.«

»Ist der Heiner daheim?«

»Freilich. Na, Herr Lehrern, bei denen Leutln habens halt einen großen Stein im Bret. Dem Heiner habens gefallen und dera Liesbetherl auch. Wanns mal aufisteigen wollten zu ihnen, so thätens ihnen halt eine große Freuden bereiten.«

»So? Da muß ich nur gleichmal hinaufgehen.«

»Na, so gar gleich brauchts doch auch nicht zu sein. Bei uns sinds halt auch so willkommen.«

»Ich glaube es. Aber ich habe nicht viel Zeit übrig.«


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»Doch essen könnens erst ein Wengerl mit.«

»So? Was haben Sie denn?«

Es war ihm gar nicht so, als ob er hier mit essen solle. Der Verrückte aß von einem zerbrochenen großen braunen Thonteller ein Zeug, dem man es gar nicht ansehen konnte, was es eigentlich war.

»Erdäpfeln haben wir, Erdäpfeln und Runkelrüben zusammenkocht und eine Zwiebeln hinein. Das giebt einen guten Geschmack und Gewürzen. Und der Schwiegertochtern hab ich für drei Pfennige Tropfenbier holt vom Gasthof. Wissens, was vom Hahn herunterläuft. Das hat Kraft und ist gut überstanden; da wird man halt nicht davon besoffen. Und einen Sallaten mach ich auch schon noch von Wegrichkrauten mit Essigen und ein Wengerl Pfeffern hinein und Kümmeln und Anis. Es geht halt nix über ein gut Gewürzen. Ich trag mir Alles selberst ein. Nachhero, wann der Dillen reif wird, da leg ich mir Rüben ein. Gurken sind noch besser; aberst dazu hat Unsereins das Geld nicht.«

Der Irre schien zu begreifen, daß die Rede vom guten Essen sei. Er nahm einen Löffel voll von dem Kartoffel- und Runkelrübenbams und kam hin zum Lehrer, um es demselben in den Mund zu reichen. Walther hatte alle Mühe, ihn davon abzubringen.

»Schauns, was mein Sohn für ein guter Kerlen ist,« lachte die Alte ganz glücklich. »Er häts gar wohl merkt, daß Sie unser guter Freund sind.«

Dieses Wort schnappte der Irre auf.

»Freund! Guter Freund!« sagte er, dem Lehrer zärtlich die Wange streichelnd. »Freund!«

Man hätte über diese Wirthschaft lachen mögen, und doch war es zum bitterlich Weinen.

Als nachher Walther nach der Oberstube gehen wollte, zog die Alte den Kienspan aus der Mauer, um ihm zu leuchten, und sagte:

»Laufens leise hinauf, Herr Lehrern, und machens die Thüren recht heimlich auf. Das wird hernachers eine feine Verüberraschung geben.«

Sie blieb unten stehen mit dem Spane, und Walther stieg die alte, steile Holztreppe empor. Als er ihr durch einen Wink zu verstehen gab, daß er sich an der Thür befinde, ging sie hinein.

"Ein rührendes Familienbild."

Er klinkte leise und zog die Thür um eine kleine Spalte auf. Was er sah, war ein rührendes Familienbild. Der alte Heiner saß an einem alten, aber blitzblank gescheuerten Tische, eine ungeheure Messingbrille auf der Nase und las in einer Zeitung. Ihm gegenüber saß die Liesbeth und strickte an einem Pantoffelmuster auf Canevas. Sie hatte eine dünne, leinene Jacke an. Einer ihrer Zöpfe war aufgegangen und warf seine Haarfluth von Zeit zu Zeit auf die Stickerei, so daß sie dieselbe durch eine rasche Bewegung wieder nach hinten bringen mußte. Zur Seite stand ein Stuhl, den der Finkenheiner selbst gefertigt und mit weichem Moos gepolstert hatte. In demselben saß ein Jüngling, hager, außerordentlich hager, mit einem schönen, aber erschrecklich wachsfarbenen Angesichte. Er war seiner Schwester außerordentlich ähnlich. Seine


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Haltung, Alles, Alles an ihm war müd. Dennoch arbeitete er mit Eifer an einer Zeichnung, welche er vor sich auf dem Tische liegen hatte. Das Gemach war weiß getüncht. Anstatt der Rouleaux war weißes Papier angeklebt, in welches man eine hübsche Kante geschnitten hatte. Von der Decke hing eine Petroleumlampe herab, welche brannte, augenscheinlich ein Luxus, welchen man sich heut Abend erlaubte, denn in der Ecke stand eine hölzerne Vorrichtung zum Halten der brennenden Kienspäne.

Der Kachelofen war von hohem Alter und sehr oft ausgebessert, und doch hatte Alles in dieser Stube den Anschein äußerster Sauberkeit. Ein Tellerbret, jedenfalls auch von dem Alten selbst gefertigt, barg einen bescheidenen Vorrath Schüsseln, Tellern und Tassen. An der Hinterwand hing das Bild des Heilandes, von dem Jünglinge in Oel gemalt, darunter das Weihwassergefäß.

»Und wie lang war er, Liesbetherl?« fragte der Kranke, augenscheinlich ein Gespräch fortsetzend.

»Fast wie dera Vatern.«

»So! Wannt mir nur das Gesicht mal so recht deutlich beschreiben könntst.«

»Warum? Willst ihn wohl gar gleich malen?«

»Ja.«

»Du bist wieder mal der richtige Hans, der gleich Alles malen will.«

»Sag doch, was er für eine Nasen hat!«

»Ja, wie soll ich das sagen?«

»Wars groß oder klein?«

»Beids nicht.«

»Wars eine griechische oder eine römische?«

»Nein,« fiel da der Alte ein, indem er mit der Hand auf seine Zeitung schlug. »Es war eine Nürnberger Nasen.«

»Wann ich ihn nur sehen könnt!« meinte der Sohn. »Er hat den Fritz niederschlagen und seinen Vatern auch. Er muß der richtige Herkules sein.«

»Gar so lang und dick war der Schulmeistern nicht. Man hats ihm so gar nicht anschauen konnt, was für eine Gewalten er in denen Muskeln hat. Aberst daß er ein braver Kerlen war, das konnt man ihm gleich ansehen.«

»Meinst?«

Das hatte Walther vorn an der Thür gesagt, und sofort richteten sich alle sechs Augen nach derselben. Der Alte sprang augenblicklich auf.

»Das ist er! Der Herr Lehrern! Na, da hat er standen und Alles hört! Willkommen auch an die tausend Malen!«

Er streckte ihm seine eine Hand entgegen. Beide begrüßten sich herzlich. Auch Liesbeth gab ihm die Hand. Hanns wollte aufstehen, brachte es aber nicht fertig. Darum sagte sein Vater:

»Bleib sitzen, Bub! Der Herr Schulmeistern nimmt Dirs nicht übeln, daßt krank bist und schwach.«


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Er schob dem Gast den vierten Stuhl hin, den letzten, den es gab. Dann blickte er sich rathlos in der Stube um und sagte:

»Ja, nun haben wir halt Besuch, aberst nix zum Vorsetzen. Was ist da zu machen?«

»Bitte, keine Umstände! Ich komme nicht des Essens und des Trinkens halber.«

»Das läßt sich auch denken, denn bei uns giebts da nicht viel zu haben; aber heut, wo dera Liesbetherl ihr Namenstag ist, da sollten wir schon was Guts vorsetzen können.«

»Was? Der Namenstag? Da freilich muß es einen Schmaus geben,« sagte Walther. »Also was haben Sie in Ihrer Rauchkammer?«

»Rauch, weiter nix.«

»So müssen Sie bald etwas hineinhängen.«

»Ja, meine alten Holzpantofferln. Das Liesbetherl ist in dera Stadt gewest beim Kaufmann. Der hat wußt, daß heut ihr Tag ist, und da hat er ihr bescheert: eine Flasche voll Petroleum, ein Pfund Seifen, eine Düten voller Kaffee und gar auch noch eine Tafeln Schokoladen. Und dem Hanns hat er ein Blei und ein Papieren mitgeschickt auch. Das ist doch schön! Nicht, Herr Lehrern?«

»Ja freilich.«

»Aberst die Schokoladen haben wir schon kocht und außitrunken. Zum Kaffe haben wir nix, und das Petroleum und die Seifen kann man nicht verschnabuliren. Nun weiß ich halt nicht, woher wir was nehmen zum Schmausen.«

»Aber ich weiß es.«

»So? Da bin ich halt neubegierig.«

»Haben Sie noch Brod?«

»Nein. Das ist heut alle worden.«

»Weil ich es gegessen hab.«

»Na, na, na! Es hat mich schier gefreut, daß der Herr Lehrern mir die Ehre anthan hat.«

»Und mich wird es ebenso freuen, wenn Sie mir auch die Ehre anthun. Das Liesbetherl mag jetzt beim Bäcker ein Brod, beim Fleischer eine Wurst und im Gasthof ein Bier holen.«

Das Gesicht des Kranken röthete sich vor Freude, Liesbeths Gesicht vor Verlegenheit. Der Heiner aber sprang auf und rief, seinen Arm wie zum Schwur erhebend:

»Nein, daraus wird halt nix, auf keinen Fall nix. Das geb ich gar nicht zu!«

»Sie werden gar nicht gefragt. Wenn ich dem Liesbetherl das zum Namenstag geb, so hat nur sie allein zu bestimmen, ob sie es annehmen will oder nicht. Und wenn sie es nicht annimmt, so ist es eine große Beleidigung für mich, und ich komme Ihnen niemals wieder in das Haus.«


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»Sakra! Aberst so ist er halt! Gefallen läßt er sich nix. Er haut sogleich zu! Was meinst, Liesbetherl? Wirsts nehmen?«

Sie schwieg.

»Wollen Sie mich beleidigen?« fragte Walther. »Ihr Vater hat mir heut sein letztes Brod gegeben. Da soll ich ihm kein anderes geben dürfen?«

»Aberst eine Wursten dazu!« rief der Alte, »und gar auch noch ein Bier!«

»Und auch ein Stück Butter,« fügte Walther hinzu. »Hurrjesses! Das wär doch die reine Hochzeiten und Kindtaufen! So was ist noch nicht derlebt.«

»So erleben Sie es heut. Also Liesbetherl, wollen Sie? Sagen Sie Ja!«

Er griff in die Tasche und legte ein Silberstück auf den Tisch. Der Heiner nahm dasselbe in die Hand, blickte von dem Geldstück zum Lehrer und so einige Male hin und her und sagte dann:

»Fünf Mark! Sinds halt etwan ein Rothschild, Herr Lehrern?«

»Nein; aber heut hab ich es übrig.«

»Und dera Feuerbalzern habens auch allbereits sechs Mark geben!«

»Diese alte Klatschbase sollt es nicht sagen. Also diese fünf Mark müssen heut alle werden.«

»O Jerum je!«

»Ja. Ein Brod, eine Butter, eine ganze Wurst und vier Flaschen Bier. Was noch übrig bleibt, gehört der Liesbeth.«

So blieb es, ob sie sich noch so sehr dagegen sträubten. Das Mädchen mußte gehen, um die bestimmten Einkäufe zu machen.

Jetzt nun sah Walther sich die Zeichnung an, an welcher der Sohn arbeitete. Es war eine Bleistiftlandschaft, welche er in Zeit einer Stunde auf das Papier geworfen hatte. Als der Lehrer sich in höchst anerkennender Weise über dieselbe und über das Talent des Zeichners aussprach, schwieg der kranke Jüngling bescheiden; aber sein Vater sagte:

»Das gefallt Ihnen wirklich? Das ist nix, gar nix. Da hat er noch ganz andere Sachen macht. Darf ichs Ihnen vielleicht mal zeigen?«

»Ich bitte drum.«

Da ging der Heiner in eine Nebenkammer, wo die Familie zu schlafen pflegte und brachte einen alten Kasten herbei, welcher ganz voller Zeichenblätter war. Walther begann, diese Blätter durchzusehen, und bemerkte zu seiner Freude, daß Hanns nicht nur eine außerordentliche Begabung besaß, sondern sich ganz ohne Lehrer eine Fertigkeit angeeignet hatte, welche gradezu erstaunlich war, eben weil das ganze ohne Unterricht geschehen war.

»Jetzt werde ich Ihnen etwas zeigen,« sagte er zu Hanns und ging fort.

Als er nach kurzer Zeit wiederkehrte, brachte er Gegenstände mit, bei deren Anblick Hanns laut aufjubelte: ein Reißbret mit Reißschiene und vollständiges Reißzeug, einen Farbenkasten, Zeichenpapier, welches er sich aus Regensburg


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mitgebracht hatte in der Ueberzeugung, daß hier an dem abgelegenen Orte dergleichen nur schwer zu haben sein werde. Zuletzt legte er noch zwei schön eingebundene Bücher hin. Hanns schlug die Titel derselben auf und las: »Stieglitz, über die Malerei der Griechen und Römer« und »Völker, die Kunst der Malerei.«

»Das Alles lasse ich Ihnen da,« sagte Walther. »Und alle Tage komme ich herüber, um mit Ihnen zu zeichnen. Talent haben Sie, und Methode habe ich. Da dürfen wir erwarten, daß Sie sehr bald vorwärts kommen.«

Wer war glücklicher als der arme Kranke. Auch sein Vater wußte sich vor Freude nicht zu lassen.

»Herr Lehrern,« sagte er. »Sie sind halt grad wie ein Engeln zu uns kommen. Erst habens der Liesbetherl beistanden gegen den Silberfritz, und nun bringens gar noch dem Hanns diese Sachen. Das werden wir gar nie vergelten können. Und ein Geld habens auch noch geben zum Essen für heut Abend. Das ist gar zu viel!«

»Nein, das ist nicht zu viel. Ich kann es geben.«

»Aberst bei denen paar Markerln Gehalt, die Sie hier bei uns bekommen, da werdens gar nimmer weit ausreichen, wanns so splendid leben.«

»O, so splendid bin ich nicht immer. Und glücklicher Weise bin ich nicht allein auf meinen Gehalt angewiesen.«

»Sinds halt reich?«

»Gar nicht. Aber ich bin nebenbei Schriftsteller.«

»Was ist das?«

»Das heißt, ich schreibe Erzählungen, welche gedruckt werden. Und dafür bekomme ich ein Honorar, welches weit mehr beträgt als mein Gehalt.«

»Sakra! Das lasse ich mir halt gefallen.«

Jetzt kam die Liesbeth mit den Eßwaaren zurück. Das war ein Gaudium, nicht ein lautes, geräuschvolles, sondern eine stille Freude darüber, daß man jetzt einmal ein ordentliches Stück Brod zu essen hatte. Denn das, was die Liesbeth aus dem schlechtesten Mehle selbst backen mußte, das war schließlich gar nicht Brod zu nennen.

Und wie aßen diese braven Leute! Nicht als ob sie seit Monaten weder Wurst noch Butter oder Bier gesehen hätten, sondern als ob bei ihnen nicht der mindeste Appetit vorhanden wäre. Walther aß ganz wenig, um ihnen Alles zu lassen, und sie wieder hatten, wie sich nachher herausstellte, die Absicht, ihm das Uebrigbleibende einzupacken und mitzugeben, woraus freilich nichts wurde.

Als er zuletzt noch einige Cigarren auf den Tisch legte, sagte der Finkenheiner, daß er noch nie so einen glücklichen Namenstag erlebt habe, wenigstens so lange seine Frau todt sei.

Das erinnerte Walther an das, was er heute im Walde von ihm über diese Frau gehört hatte. Darum erkundigte er sich:

»Der Silberbauer hat Ihre Frau auch gekannt?«


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»Freilich. Er hat sie ja haben wollen.«

»Darf ich darüber Etwas erfahren?«

»Alles, Alles könnens derfahren. Wanns unten rechts aus dem Dorf hinaus gehen, nachher kommens an das Wassern, an welchem die Schneidemühlen gelegen ist. Dort war ich der Müllerknappe, und meine Frauen war die Tochtern. Wir haben uns im Stillen lieb gehabt und haben denkt, daß Niemand was davon wußt; aberst der Claus hats doch wohl merkt, denn er ist mir feind gewest zu aller Zeit. Er hat sich beim Müllern einischlichen, daß der ihm hat seine Tochter geben wollen; sie aberst hat nicht wollt. Ein Mal hab ich des Abends draußen mit ihr am großen Rad standen. Wir haben leise mitnander sprochen und dabei merkt, daß uns Einer zuhört. Kaum aberst ist sie fort gewest, so hat sich ein Kerlen auf mich worfen und mit mir gerungen. Sein Gesicht war schwarz von Ruß, so daß ich ihn nicht erkannt hab; aberst es ist die Gestalt des Claus gewest. Er hat mich nach dem Rad treiben wollt, und ich hab mich aus Leibeskräften wehrt. Es hat vorher geregnet habt, und da bin ich ausglitten und niederstürzt. Er war stark, und im nächsten Augenblick bin ich hinabflogen in das Radlager, wo das oberschlächtige Wassern darüber geht. Das Rad war im Gang, und ich hab aus Leibeskräften brüllt. Der Müllern war schlafen gangen, aberst mein Dirndl war noch wach und hat allsogleich die Mühlen stehen lassen. Nachdems den Vatern weckt hat, bin ich sucht und da unten funden worden. Der linken Arm war weg.«

»Mein Gott! Das hat der Silberbauer gethan?«

»Ich möcht halt drauf schwören, aberst ich kann nix beweisen. Damals ist das Gericht nach ihm laufen, aber er hat beweisen konnt, daß er um diese Zeit daheim gewest ist. Er war nämlich Knappen in der unteren Mühlen, die eine Viertelstunden tiefer im Thal gelegen war. Aberst später hat er zuweilen ein Wort fallen lassen, aus dem ich sicher weiß, daß ers gewesen ist.«

»Wenn er auch nur Knappe war, so kann er doch früher nicht so reich gewesen sein?«

»Der, reich? Ein armer Schlankerl ists gewest. Er hat nix habt als was er auf dem Leib tragen hat, denn Alles, was er verdient hat, das ist über die Zungen laufen. Als er damals freigesprochen worden war, ist er in die Fremd gangen, und ich hab doch mein Dirndl heirathet. Spätern ist der Claus dann wieder kommen, und zwar zum Unglück für uns Alle.«

»Wieso?«

Der Heiner warf einen bezeichnenden Blick auf seine Kinder und antwortete:

»Wanns das wissen wollen, so verzähl ichs Ihnen ein ander Mal. Heut aberst ist der Namenstag, und da mag ich halt nicht an dera Sachen denken. Die heutge Zeiten ist schlimm genug; so wolln wirs nicht noch verschlimmern, indem wir halt auch noch das vergangene Unglück dazunehmen. Wanns erst eine längere Zeit hier wohnen, nachhero werdens bald Alles wissen, was da herum geschehen ist.«


Ende der siebenundzwanzigsten Lieferung - Fortsetzung folgt.



Karl May: Der Weg zum Glück

Karl May – Forschung und Werk