Lieferung 68

Karl May

12. November 1887

Der Weg zum Glück.

Vom Verfasser des »Waldröschen«, »Verlorner Sohn«, »Deutsche Helden« etc.


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»Das versteh ich halt nicht,« meinte die Mutter. »Diese Pensionen soll laufen! Wanns mir nur nicht davonlauft! Und Procenten soll ich zahlen? Da werd ich doch vorsichtig sein, sonst könnt ich am End gar Zinsen zahlen und gar keine Pensionen bekommen.«

»Du hasts falsch verstanden, Mutter. Ich muß es Dir derklären. Nämlich diese Pensionen bekommst nicht von heut an, sondern vom Tage an, an dem der Vatern damals storben ist.«

»Du, das ist nicht wahr.«

»O ja. Hier stehts.«

»Und dennoch ists nicht wahr. Ich hab ja doch nix bekommen.«

»Du bekommsts ja nun nachzahlt!«

»Nachzahlt? Das ganze Geldl, was ich da bisher erhalten hätt?«

»Freilich.«

»O Jemine! Wann das wär, so thät mir ja dera Verstand stehen bleiben!«

»Mir ists auch ganz so zu Muthe. Mir ist, als ob sich der ganze Kreis um mich drehen thät. Mir wird ganz schwach und schwindelig.«

Die Mutter nahm sie beim Arme und rief:

»Mach mir keine Dummheiten nicht. Jetzt wirst vor Schwindel herfallen! Wir haben das Geld noch gar nicht erhalten. Wann wirs haben, nachhero kannst den Schwindel bekommen, eher aber nicht!«

»Aber bedenke doch, Mutter, wie viel das ist! Sechshundert Mark fürs Jahr und dera Vatern ist nun allbereits schon seit neun Jahren todt.«

»So bekommen wir es wohl gar neunmal auszahlt?«

»Ja, das ists eben, was mich ganz schwindelig macht.«

»Da steigt mir auch das Blut in die Hauben. Neunmal. Wie viel wäre das denn?«

»Fünftausendundvierhundert Mark.«

Da schüttelte die Alte den Kopf, machte eine halb zornige Bewegung und sagte:

»Halts Maul! Willst mich an dera Nasen zupfen? Oder kannst nimmer rechnen?«

»Das kann ich schon noch.«

»Hast Dich aber doch verrechnet!«

»Nein. Du kannsts ja nachrechnen!«

»So hoch komm ich nicht.«

»O doch. Sechs Hundert sinds und neun Jahren sinds auch. Wie viel ist sechs mal neun?«

»Das ist vierundfünfzig.«

»Also machts vierundfünfzig Hundert.«

»Ja, das ist aberst noch lange nicht tausend. Und Du hast gar von fünftausend sprechen wollt.«

»O Muttern, was thust Dich blamiren! Fünftausendundvierhundert das ist ja eben vierundfünfzig Hundert.«


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»So! Wannst so weiter rechnen thust, so lauf ich vor Verwunderung an denen vier Wänden empor.«

»Und dazu kommen gar noch die Verzugszinsen. Fünf Procent von sechshundert Mark auf neun Jahren, das macht in Summa zweihundertundsiebenzig Mark.«

»Auch das erhalten wir?«

»Ja.«

»Hanna, Hanna, mir wirds innerlich ganz weich und armselig im Magen. Ich muß mich ein Wengerl niedersetzen, sonst kann mir gar was passiren. Das ist doch grad, als ob das Geld heut nur so vom Himmeln herabfallen thät. Geh eini, Hanna, und hol mir das Stuckerl Kalmus, was in dera guten Kaffeetassen liegt, die neben dem Gebetbuch steht. Ich muß ein Wengerl Kalmussen kauen, damit dera Magen wiederum in Ordnungen kommt. Mir ists, als ob er im Leib hin und her schwingen thät wie eine Glocken, wann zur Kirch läutet wird.«

Die Tochter wollte ins Haus treten, um den Wunsch ihrer Mutter zu erfüllen, diese aber rief ihr zu:

»Halt! Den königlichen Briefen nimmst halt nicht mit hineini. Der bleibt heraußen bei mir. Leg ihn mir hier auf den Tisch, damit ich ihn vor meinen Augen hab.«

Hanna legte den Brief hin und ging in die Stube. Die Alte legte beide Hände auf das Schreiben, als ob sie ein heiliges Gut bewahren müsse, und sagte zum Könige, der der rührenden Scene stehend beigewohnt hatte:

»Setzens sich doch noch ein Wengerl zu mir her! Ich glaubs halt, daß Alles so ist, denn das Siegellacken ist ja auf den Brief gemacht, und doch möcht ich Sie fragen, obs auch wirklich und gewißlich wahr ist.«

»Sie dürfen nicht zweifeln.«

»Auch an denen Fünftausend nicht?«

»Nein. Es wird sogar noch mehr.«

»Was? Noch mehr?«

»Ja, noch sechshundert mehr.«

»Herrgott! Das wächst ja wie die reine Ueberschwemmung! Wanns so fortgeht, so wirds bald eine Millionen sein!«

»Nun, so hoch kommt es wohl schwerlich.«

»Ja, machens nur so weiter, dann haben wir sie morgen oder übermorgen sicher! Gieb her! Das wird mich stärken!«

Sie nahm das Kalmusstück und das Messer, welches beides Hanna ihr gebracht hatte, schnitt sich ein Stück ab und schob es in den Mund. Dann fuhr sie kauend fort:

»Wie viel wirds nachhero zusammen sein?«

»Das ist leicht auszurechnen,« antwortete Ludwig. »Ihr Mann ist seit neun Jahren todt, das macht neunmal sechshundert; eine Jahrespension bekommen Sie pränumerando, das macht zehnmal sechshundert. Und dazu kommen zwei-


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hundertundsiebzig Mark Verzugszinsen, macht zusammen sechstausendzweihundertundsiebenzig Mark.«

»Sechstau - - Herr, sinds denn gescheidt im Kopfe?«

»Es ist schon so!« nickte der König, innerlich hoch vergnügt.

»Ists wahr, Hanna?«

»Ja, Mutter.«

»Da muß ich doch gleich - -«

Sie schnitt eiligst noch ein Stück Kalmus ab, schob es der Tochter hin und fuhr fort:

»Da, kau schnell, sonst fallt auch Dir dera Schreck in den Magen. Und wann der einmal drinnen ist, so kann er nicht wieder heraus!«

Hanna war vor Freude ganz außer sich. Sie weigerte sich nicht, das sonderbare Mittel zu nehmen. Sie schob den Kalmus mechanisch zwischen die rothen Lippen und weißen Zähne und begann, zu kauen. Das sah so urkomisch aus, daß der König in ein herzliches Lachen ausbrach. Hanna erröthete vor Verlegenheit; ihre Mutter aber fragte:

»Was lachens denn? Wohl über meinen Kalmussen?«

»Ja.«

»Den dürfens mir nicht verlachen. Der macht die Nerven stark und ist das allerbeste Mittel gegen alle Zufälligkeiten des Leibes und dera Seelen. Den hab ich schon gut erprobt. Sie wissen es halt gar nicht, was es zu bedeuten hat, wann zwei so arme Würmern, wie wir halt sind, ein solches Geld - - aberst, da fällt mir eini: Wann wir das prämando erhalten sollen, so muß das also - hm! Wann werden wir es denn erhalten?«

»Sofort.«

»Was heißt das? Wann die Herren vom Amt sagen sofort, so heißt das gewöhnlich, daß es in mehreren Monaten oder Jahren geschehen soll.«

»Nein, hier heißt es so viel wie gleich.«

»Da meines, daß wir das Geldl heut noch erhalten werden?«

»Ja.«

»Von wem denn?«

»Von mir.«

»Sie habens mit?«

»Ja.«

»Und wollens hierher legen? Daher auf diesen Tisch? Vor meinen Augen?«

»Gewiß.«

Sie starrte ihn an, ganz fassungslos, dann raffte sie sich mit aller Gewalt zusammen, schnitt schnell ein Stück Kalmus ab, schob es ihm in den Mund und rief:

»Da, kauens auch einen Kalmussen! Mir scheint, es ist Ihnen ein Rad sprungen hinter dera Stirn dahier.«

Sie tippte ihm mit dem Zeigefinger auf die Stirn. Er biß lachend auf die sonderbare Medicin und antwortete:


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»O hier ist Alles in Ordnung und hier auch.«

Bei diesen Worten deutete er zunächst auf seine Stirn und schlug dann gewichtig an die Brusttasche seiner Joppe.

»So! Alles richtig? Da und dort! In dera Taschen soll wohl das Geldl stecken?«

»Ja.«

»So zeigens doch mal her! Zählens mal vor! Ich kanns nicht glauben!«

Er zog seine Brieftasche heraus, öffnete sie und begann, zweiundsechzig Hundertmarkscheine auf den Tisch zu legen. Dann zog er die Börse und fügte aus derselben noch siebzig Mark hinzu.

»So!« sagte er, von dieser Arbeit aufblickend.

»Das ist Ihr Eigenthum. Nehmen Sie es an sich!«

Aber er erschrak über das Aussehen der alten Frau. Sie war mit dem Oberkörper in die Lehne des Stuhles gesunken. Ihre Wangen waren todtesblaß und ihr Kopf hing schlaff auf die Brust herab.

»Mutter, Mutter, meine liebe, liebe Mutter!« rief Hanna voller Angst.

»Sie ist ohnmächtig geworden,« beruhigte sie der König, indem er die Hand der Frau ergriff, um nach dem Puls zu fühlen. »Ja, es ist eine Ohnmacht. Aengstigen Sie sich nicht, sondern bringen Sie schnell kaltes Wasser herbei.«

Hanna brachte das Gewünschte und befeuchtete Stirn und Wangen ihrer Mutter. Diese kam bald wieder zu sich.

»Was ist mit mir? Was war es denn?« fragte sie.

»Du warst in eine Ohnmachten fallen.«

»Nein, das war keine Ohnmachten. Ich bin niemals in einer Ohnmachten gewest. Jetzund war ich weg, weit fort, im Himmel droben. Da saß dera Herrgott und neben ihm der gute König und viele tausend Engel standen umher. Und da kam die Himmelskönigin, legte mir die Hand auf den Kopf und sagte, ich sollt recht fleißig beten für meinen König und dem Herrgott täglich danken für die Gnad und Barmherzigkeit, die mir heut erwiesen worden ist. Darauf bin ich aufiwacht und nun wiederum bei Euch. Ich seh das viele Geldl daliegen. Das soll unser sein. Das Herz möcht mir springen vor Glück und Seligkeiten. Dir nicht auch?«

Hanna schlang die Arme um die auf dem Stuhle wie eine Verklärte sitzende Mutter, zog deren Kopf an ihre Brust und antwortete schluchzend:

»Mutter, ich kann Dir gar nicht sagen, wie mirs ist. Ich bin wie eine Selige des Himmels. Ja, wir wollen beten und danken, nicht nur dem Herrgott und dem Könige und dem Herrn Ludwig in Hohenwald, sondern auch diesem Herrn da, der uns die frohe Botschaft herbeibracht hat.«

»Hast Recht, hast Recht. Er ist kommen wie ein Gottesbote. Darum müssen wir ihm auch dankbar sein.«

Sie streckte ihm ihre Hände entgegen. Er drückte sie ihnen freundlich und unterbrach ihre Dankesworte durch die Bemerkung:


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»Jetzt müssen Sie mir vor allen Dingen quittiren, Frau Held, denn die Quittung wird zu den betreffenden Scripturen geheftet.«

»Ja, quittiren möcht ich gar wohl, aber das geht ja nicht.«

»Warum?«

»Ich kann wohl ein Wengerl lesen, schreiben aber nicht.«

»So machen Sie ein Kreuz, und ich schreibe darunter, daß das Ihre Unterschrift sei.«

»Na, ein Kreuzerl könnt ich schon machen, aberst auch das geht nicht.«

»Auch nicht? Aus welchem Grunde?«

»Weil ich keine Tinten da in meiner Wirthschaften hab. Unsereins hat gar nix zu schreiben. Vor langer Zeit hab ich mir wohl mal für einen Pfennig Tinten kauft, aber die ist nun längst eintrocknet und wann ich auch ein Feuer anmachen wollt, um sie wiederum aufzukochen, so fehlt mir doch nachhero die Schreibfedern!«

»Nun, da kann ja geholfen werden. Ich trage stets eine Patentfeder bei mir, zu welcher man keine Tinte braucht. Man taucht sie nur ins Wasser. Und Wasser haben Sie doch wohl hier?«

»So viel, wie's nur haben wollen. Hanna, bring mal einen Eimer voll herbei!«

»Danke, danke!« lachte Ludwig. »Ein einziger Tropfen genügt vollständig.«

Die Tochter brachte eine Tasse voll Wasser. Der König zog das Quittungsformular heraus, füllte es aus und schob es dann nebst der Feder der Frau hin.

»So! Machen Sie Ihr Kreuz hierher,« forderte er sie auf, indem er ihr die betreffende Stelle mit dem Finger angab.

»Das sollens gleich herschrieben haben,« sagte sie. »Wie groß solls denn sein, wie lang, breit und dick?«

»Nur deutlich. Das genügt.«

»Hanna, bring mal meine Gesangbuchsbrillen heraus und das Handtuchen, damit ich sie mir putzen kann!«

Beides wurde gebracht. Die Brille war eine uralte, sogenannte Nasenquetsche. Sie wurde gehörig abgerieben, als ob sie jahrelang im tiefsten Schlamme gelegen hätte. Dann wurde sie auf die Nase gesetzt.

Nun gab sich die gute Frau eine Positur, als ob sie die Aufgabe habe, ein unendlich schwieriges wissenschaftliches Problem zu lösen, stieß die Feder bis an die Hälfte des Halters in das Wasser, trocknete den Letzteren mit der Schürze wieder ab und - - that einen so kräftigen Strich, daß sie mit der Feder durch das Papier fuhr und im Holze der Tischplatte stecken blieb.

»O Jerum Je-!« rief sie. »Das ist ein gar zu dünnes Papieren. Da bin ich ja gleich durchgerannt und die Federn steckt im Tisch. Was ist da zu machen?«

Der König lachte fröhlich auf.

»Ja, wenn Sie beim Schreiben so thun, als ob Sie mit dem Spaten


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ein Gartenbeet bearbeiten wollen, da fahren Sie freilich durch das Papier. Leise, viel leiser!«

Er zog die Feder aus dem Tische, prüfte sie, ob sie noch brauchbar sei, tauchte ein und gab sie ihr in die Hand.

»Schön! Ich werds ganz leise und sanftmüthig machen. Es soll kein Loch mehr werden.«

Ein Loch wurde es freilich nicht, aber sie setzte ein Kreuz hin, zehn Centimeter lang und acht Centimeter breit.

»So!« lachte sie, vor lauter gelehrter Anstrengung tief aufathmend.

»Jetzt ist quittirt. Nun ist das Geld mein?«

»Ja, Sie können es nehmen. Bewahren Sie es gut auf. Was werden Sie damit machen?«

»Das werd ich mir noch überlegen. Ich werds wohl gleich zum Herrn Pfarrer tragen. Nachhero - - oh, jetzt weiß ich es, was geschieht. Hanna, nicht wahr, dera Ludwig, Dein Brudern, braucht kein Geldl von mir? Er freit ja ein reiches Dirndl.«

»Wirst ihn wohl selberst fragen müssen.«

»Ich weiß schon, was er sagen wird.«

»Was denn?«

»Er wird sagen, daß ich es Dir geben soll. Da kann dera Höhlbauer seinen Hof frei machen und Du wirst die junge Bäuerin. Meinst nicht auch?«

Im Gesichte des Mädchens kam und ging das Erröthen.

»O Muttern, liebe Muttern!« stammelte sie.

»Willsts wohl nicht haben?«

»Es gehört ja Dir.«

»Schwatz mir nicht dareini! Was mein ist, das ist auch Dein. Wann ichs Dir geb, so werd ich wohl stets ein Stückerl Brod von Dir bekommen, so oft ich Hunger hab. Und wann das Jahr vorüber ist, so bekomm ich doch schon wiederum sechshundert Markerln. Willsts nehmen oder nicht?«

»Da muß ich erst mit dem Bruder reden und auch mit dem Stephan, was diese Beiden dazu sagen. Herrgott, wer hätt vorhin denkt, daß es so schnell geht?«

»Was?«

»Das mit dera Fee.«

»Mit dera Fee? Was plauderst von einer Fee? Hast etwan eine gesehen?«

»Nein, aber gehört.«

»Wo?«

»Droben am Berg.«

»Hast wohl träumt?«

»O nein. Der Stephan war auch mit dabei. Der hat sogar mit dera Fee sprochen und ich hab auch Ja sagen mußt.«

»Ich weiß nicht, wast willst. Red deutlicher.«

Hanna nickte verlegen nach dem Könige hin und antwortete:


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»Nachher, Muttern, sollst Alles derfahren. Ich weiß nun, daß es Himmelsboten giebt. Ich kanns beweisen. Nimm jetzund das Geld. Wir wollens in der Truhen einischließen.«

»Ja. Hol mal das neuwaschene Betttuch herausi. Dahinein wollen wirs schlagen.«

»Ein Halstuch oder Kopftuch ist doch wohl auch groß genug dazu.«

»Nein. Es muß viel, viel Mal eingewickelt werden, damit Keiner dazukommen kann. Wann man reich ist, so beginnt auch gleich die Angst um die Spitzbuben. Wir steckens ganz unten hinein in die Truhen und thun dann die drei Hängschlössern hinan. Wann wir nachhero noch ein paar Nägel in den Deckel schlagen und einen Strick darum binden und mit Siegellacken ankleben, nachhero möcht ich den Spitzbuben sehen, der uns das Geldl nehmen kann, ohne daß wir ihn dabei derwischen.«

Ludwig hatte einige Worte der Bescheinigung unter das Riesenkreuz gesetzt und steckte dann die Quittung zu sich. Er mußte sich mit aller Gewalt zusammennehmen, nicht in ein lautes Lachen auszubrechen, als Hanna jetzt wirklich mit einem großen, neuwaschenen Betttuche erschien, in welches das Geld mit größter Sorgfalt gewickelt wurde.

»So!« meinte die Alte befriedigt. »Was man hat, das muß man auch verwahren, sonsten kann man leicht drumkommen. Geh mit hinein, Hanna. Wir wollens einschließen. Dera Herr wird nicht bös sein, wenn wir ihn eine Minuten alleini lassen.«

Sie verschwanden im Innern der Hütte.

Ludwig wartete eine Weile. Sie kamen nicht wieder. Da näherte er sich leise der Thür und blickte hinein.

Da, wo das Weihwassergefäß hing und das Crucifix darüber, knieten Beide betend an der Erde. Vor ihnen auf einem Stuhle, den sie an die Wand gerückt hatten, lehnte so, daß es deutlich zu sehen war - das Bild des Königs. Sie hatten es von der gegenüberliegenden Wand herabgenommen.

Er trat leise zurück, fuhr sich mit dem Taschentuche nach den Augen und entfernte sich dann eiligst.

»Wie klein und gering die Gabe und doch wie groß das Glück!« sagte er für sich. »Sie werden nicht die Einzigen sein, denen ich heute Freude bringe. Jetzt nun hinüber nach Eichenfeld!«

Eine ziemlich gut fahrbare Strecke führte in die angegebene Richtung. Er folgte ihr. Sie stieg erst steil an. Als er oben auf der Höhe angekommen war, blieb er stehen und blickte zurück.

Man mußte jetzt sein Verschwinden bemerkt haben. Und wirklich sah er jenseits des Dorfes eine weibliche Gestalt mit eiligen Schritten über die Wiese laufen. Ein einsam stehendes Gut schien ihr Ziel zu sein. Er erkannte sie.

»Das ist die Hanna. Jetzt sucht sie den Geliebten auf, um ihm versprochener Maßen die Botschaft zu bringen, daß sich das Wort der Fee erfüllt hat. Werdet glücklich, Ihr braven, treuen Herzen! Ihr seid es werth!«

Er schritt weiter. Nach der eingezogenen Erkundigung hatte er bis Eichen-


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feld gegen drei Viertelstunden zu gehen. Der Weg führte unausgesetzt durch Tannenwald, dessen Ränder zur Seite der Straße mit Gebüsch besetzt waren.

Ungefähr eine Viertelstunde lang war der König gegangen. Da erblickte er einen Mann vor sich, welcher langsam und etwas unsicheren Schrittes dieselbe Richtung verfolgte. Da Ludwig schneller ging, hatte er ihn bald eingeholt.

Als der Mann die Schritte hinter sich hörte, blieb er stehen und drehte sich um. Ludwig sah ein farbloses, aufgedunsenes, bartstoppeliges Gesicht, aus dem zwei kleine Augen stechend ihre Beobachtungen machten. Der Leib des Menschen war angeschwemmt, die Beine krumm, das Haar wirr. Der Anzug war früher einmal ein eleganter Gesellschaftsanzug gewesen, jetzt aber sah er abgeschabt und schäbig aus und war sogar an einigen Stellen zerrissen. Auch die Nähte der Stiefel waren aufgegangen. Die Fußbekleidung schien überhaupt seit längerer Zeit weder Wichse noch Schmiere gekostet zu haben.

Der Besitzer des Anzuges machte einen höchst verkommenen Eindruck. Wer ihn sah, hatte sofort das Gefühl, daß man sich vor ihm in Acht zu nehmen habe. Er trug in der einen Hand ein in ein blaues Schnupftuch eingebundenes Päcktchen und in der anderen einen fast übermäßig starken, knorrigen Knotenstock.

Sein Gang war unsicher, ganz wie derjenige eines Menschen, welcher zu tief in das Glas geschaut hat, und wirklich bemerkte Ludwig sofort, daß der Mann von einer widerlichen Schnapsatmosphäre umgeben war.

Der Strolch riss den Filz vom Kopfe.

Der Strolch riß den schäbigen Filz vom Kopfe, streckte die Hand aus und machte dabei ein möglichst jammervolles Gesicht.

»Ein armer Reisender bittet um einen Zehrpfennig,« sagte er.

Ludwig wäre lieber an ihm vorüber gegangen, aber in einer jener plötzlichen und unbegreiflichen Regungen zog er seine Börse und gab ihm ein Fünzigpfennigstück.

Der Mann war höchst erstaunt über diese nach den gegebenen Verhältnissen hohe Gabe. Er schwenkte höchst ergeben den Hut und sagte:

»Besten Dank, mein Herr! Ich sehe, daß Sie ein nobler Mann sind. Wohin wollen Sie? Vielleicht haben wir gleichen Weg. Ist dies der Fall, so können wir mit einander gehen.«

Der König hielt diese Frechheit mehr für eine Lächerlichkeit. Er überflog die Gestalt des Mannes mit einem lächelnden Blick und antwortete:

»Wohl weil dann zwei noble Herren zusammen sind?«

»Ja.«

Dieses Ja kam so überzeugungsvoll heraus, daß Ludwig lachen mußte.

»Sie lachen? Wohl über mich?«

»Ueber mich selbst jedenfalls nicht.«

»Also doch über mich!«

»Natürlich.«

Der Mann hatte Etwas an sich, was der König nicht definiren konnte, was ihn aber abhielt, ihn so zurückzuweisen, wie er es eigentlich verdient hätte


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und wie es von Ludwig auch gewiß in jedem andern Falle geschehen wäre. Es lag in seinem Gesichte, in seinem ganzen Wesen etwas Räthselhaftes, was den Menschenkenner aufforderte, es zu lösen und also bei diesem Manne zu bleiben, obgleich sein Anblick eigentlich abstoßend wirkte.

»Lachen Sie nur,« sagte derselbe. »Sie haben jawohl jetzt eine Veranlassung dazu. Wenn Sie mich aber früher gesehen hätten, so würden Sie mehr Respect vor mir haben.«

»So!« dehnte der König.

»Ja, gewiß.«

»Was sind Sie denn?«

»Jetzt bin ich Privat-Secretär.«

»Das heißt, Schreiber?«

»Ja, so sagt der gewöhnliche Mann. Aber wenn ich zum Beispiel irgend einem Manne, der die Kunst des Schreibens nicht versteht, einen Brief verfasse, so bin ich Secretär. Nicht?«

»Ja.«

»Und weil ich für Privatleute schreibe, so bin ich also Privatsecretär.«

»Wenn Sie das in dieser Weise begründen, so muß ich Ihnen freilich Recht geben. Wo wohnen Sie denn?«

»Hm! Ich wohne nicht.«

»Sie müssen doch ein Unterkommen haben.«

»Ich habe augenblicklich weder ein Unter-, noch ein Auskommen. Die fünfzig Pfennige, welche Sie mir gaben, sind mein ganzes Besitzthum.«

»Aber eine Heimath haben Sie doch!«

»Was man einen Unterstützungswohnsitz nennt, hm, den habe ich nicht.«

»Sie müssen doch auf irgendeine Weise irgendwo gewohnt haben!«

»Ich danke für diese irgendwelche Weise! Sie hat mir ganz und gar nicht gefallen.«

»Nach dem Gesetze haben Sie Ihren Unterstützungswohnsitz da, wo Sie zum letzten Male zwei Jahre lang gewohnt haben!«

»Zwei Jahre lang habe ich nirgends gewohnt, außer an dem Orte, von welchem ich jetzt komme. Und für diesen danke ich. Ich mag nicht wieder hin!«

Der König war in seinem gewohnten Schritt rasch weiter gegangen. Der Andere hatte sich bemüht, an seiner Seite zu bleiben. Es kostete ihm dies einige Anstrengung; aber er schien nicht Willens zu sein, auf eine solche Reisegesellschaft zu verzichten. Ludwig wollte ihn nicht geradezu zurückweisen. Dazu kam der bereits erwähnte Umstand, daß der Mann Etwas an sich hatte, was den Psychologen reizte, es kennen zu lernen. Darum zog Ludwig seine Schritte ein und fragte:

»Wie heißen Sie denn?«

»Ich heiße Hermann Arthur Willibold Keilberg.«

Dieser Name kam Ludwig bekannt vor. Er mußte ihn, und zwar vor nicht sehr langer Zeit, einmal gehört oder gelesen haben. Er sann darüber nach. Hermann Arthur Willibold Keilberg. Besonders auffällig war der letztere


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Vorname, Willibold anstatt Willibald. Wo war ihm nur dieser Name vorgekommen?

Ach, jetzt entsann er sich desselben. Vor einiger Zeit war ihm ein Gnadengesuch zur Unterschrift vorgelegt worden. Ein zu zehn Jahren Zuchthaus verurtheilter Schreiber hatte sich während seiner Gefangenschaft acht Jahre lang so gut geführt, daß der Director der Strafanstalt ihn zur Begnadigung vorgeschlagen hatte. Das Gesuch war vom Justizminister unterstützt worden, und so hatte Ludwig den Mann begnadigt und ihm die letzten zwei Jahre erlassen. Dieser Schreiber hatte - ganz richtig - Hermann Arthur Willibold Keilberg geheißen. Er war wegen Betrugs und Fälschung bestraft worden. Jetzt verstand der König, warum es ihn nicht gelüstete, nach demjenigen Orte zurückzukehren, an welchem er länger als zwei Jahre gelebt hatte. Das Zuchthaus ist eben für keinen Menschen ein sehr wünschenswerther Unterstützungswohnsitz.

»Sie wissen also nicht, wo Sie Ihre Heimath haben, Herr Keilberg. Aber wohin Sie wollen, das werden Sie wohl wissen.«

»Auch nicht. Ich gehe überall hin. Ich bin wie der Vogel, welcher dahin fliegt, wo er ein Körnchen findet oder einen Mehlwurm oder eine Raupe.«

»Und dabei fliegt er in die Falle, die man ihm gestellt hat.«

»Da ist er dumm und ungeschickt. Mich fängt kein Vogelsteller.«

»Hm! Sollten Sie noch niemals gefangen worden sein?«

Diese Frage war in einem solchen Tone ausgesprochen worden, daß Keilberg verwundert zu dem Könige aufblickte und ihm antwortete:

»Sehe ich denn aus wie ein Gimpel, welcher so leicht auf den Leim geht?«

»Hm! Geistreich ist Ihr Gesicht nicht.«

»Donnerwetter! Das ist eine Beleidigung!«

Er machte ein zorniges Gesicht und schwang den Knotenstock.

»Eine Beleidigung kann es nicht sein, weil ich keineswegs die Absicht habe, Sie zu kränken. Sie haben mich nach Ihrem Aussehen gefragt und tragen also selbst die Schuld, daß ich Ihnen eine so ehrliche Antwort gegeben habe.«

»Aber eine solche Ehrlichkeit ist zuweilen am unrechten Platze!«

»Nie! Die Ehrlichkeit ist stets am richtigen Platze.«

»Das mögen Sie denken!«

»Denken Sie meinetwegen anders! Aber gerade der Grundsatz, welchen Sie damit ausgesprochen haben, läßt mich vermuthen, daß Sie leicht einmal an einer Leimruthe hängen geblieben sein können.«

»Da täuschen Sie sich in mir! Ich bin noch nie kleben geblieben. Sie sehen ja, daß ich mich in voller Freiheit befinde!«

»Hat man Sie etwa wieder frei gelassen?«

Der Mann blieb stehen, ergriff den König beim Aermel und fragte:

»Wie kommen Sie zu solchen Worten?«

»Weil ich glaube, Menschenkenner zu sein. Einem Vogel sieht man es sofort an, daß er lange Zeit im Käfig gesessen hat. Wenn er seine Freiheit auch wieder erlangt, so hat er doch das Fliegen verlernt.«


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»Kann ich es etwa nicht mehr?«

»Nein. Sie taumeln ja!«

»Das kommt von den verdammten paar Glas Nordhäuser, welche ich getrunken habe. Sonst aber bin ich gewöhnlich sehr gut auf den Beinen. Ich werde es Ihnen beweisen. Kommen Sie nur! Ich laufe mit Ihnen gewiß um die Wette.«

Er machte jetzt so rasche und weite Schritte, als ihm nur möglich war, ließ aber bald wieder nach. Dabei brummte er:

»Eigentlich sollte ich das gar nicht leiden!«

»Was?«

»Das mit dem Vogelbauer.«

»Warum wollen Sie das nicht dulden?«

»Weil es nicht wahr ist. Ich bin nicht gefangen gewesen.«

»Nun, so entschuldigen Sie!«

»So Etwas ist gar nicht zu entschuldigen. So Etwas darf gar nicht vorkommen. Man darf nicht einem Menschen, den man gar nicht kennt, in's Gesicht sagen, daß er gefangen gewesen sei.«

»Wenn man es aber vermuthet!«

»Gehen Sie zum Teufel mit Ihrer Vermuthung! Denken Sie, weil Sie mir ein Viergroschenstück gegeben haben, so dürfen Sie mit mir machen, was Sie wollen?«

»Nein, das denke ich nicht. Aber als Sie mir Ihren Namen sagten, da dachte ich unwillkürlich an einen Rechtsfall, in welchen ein Schreiber verwickelt war, der ganz genau so hieß wie Sie.«

»Hermann Arthur Willibold Keilberg?«

»Ja.«

»Wann war das?«

»Vor etwas über acht Jahren.«

»So so!«

»Er wurde wegen Betrugs und Fälschung zu zehnjähriger Zuchthausstrafe verurtheilt.«

»Hm!«

»Und ist jetzt vom Könige begnadigt worden.«

»Der Mann geht mich nichts an!«

»Sieht Ihnen aber ungeheuer ähnlich.«

»Donnerwetter! Kennen Sie ihn?«

»Das kann Ihnen gleich sein, da der Mann Sie ja gar nichts angeht.«

»Hören Sie, werden Sie nicht anzüglich!«

»Das werde ich nicht. Aber Sie haben auf Ihrer Wanderung jedenfalls Legitimationspapiere bei sich?«

»Natürlich.«

»Darf ich sie einmal sehen?«

»Hol Sie der Teufel! Sind sie etwa ein verdeckter Gensdarm?«

»Nein.«


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»Was denn?«

»Ich bin - - na, rathen Sie einmal!«

Keilberg musterte den König aufmerksamer, als er ihn bisher betrachtet hatte, und sagte dann:

»Ich will mich fressen lassen, wenn Sie nicht ein Jurist sind!«

»Warum denken Sie das?«

»Weil - weil Sie ganz darnach aussehen, und weil Sie sich auch jenes Rechtsfalles so genau erinnern. Nur ein Jurist bedient sich solcher Ausdrücke wie Sie. Und woher wissen Sie, daß ich begnadigt worden bin?«

»Sie?« fragte der König lächelnd.

»Ja, ich.«

»Ich habe doch nicht von Ihnen, sondern von jenem Hermann Arthur Willibold Keilberg gesprochen, der Sie gar nichts angeht!«

»Alle Teufel! Jetzt habe ich mich also doch verplappert!«

»Das denke ich auch. Wollen Sie noch weiter leugnen?«

»Nein, das wäre nun Unsinn.«

»Sie sind also jener Keilberg?«

»Ja. Aber Sie müssen nun auch zugeben, daß Sie Jurist sind. Nur ein Jurist kann Unsereinen in dieser Weise ausfragen.«

»Nun ja, ich bin Jurist.«

»Sehen Sie! Aber nun denken Sie sich wohl, ich fürchte mich vor Ihnen?«

»Das haben Sie nicht nöthig. Uebrigens bin ich bei keinem Gerichte angestellt.«

»Schön! Also Advocat, Rechtsanwalt?«

»Ja - - ja - - Anwalt bin ich jedenfalls.«

»Das freut mich! Wie heißen Sie denn?«

»Ludwig ist mein Name.«

»Also Rechtsanwalt Ludwig. Woher?«

»Aus München.«

»Sie haben wohl Ferien?«

»Ja.«

»Freut mich, freut mich, Sie getroffen zu haben, Herr Advocat! Ja ja, habe es mir doch gleich gedacht, daß Sie zur Juristerei gehören. Nur so Einer konnte sich meiner erinnern, trotzdem seitdem über acht Jahre vergangen sind. Wenn ich nur wüßte, ob Sie - -«

Er hielt inne.

»Was möchten Sie wissen?«

»Ob ich Ihnen - - na, es geht doch wohl nicht. Das kann ich mir denken.«

Er blickte im Vorwärtsgehen sinnend vor sich nieder. Es war ihm anzusehen, daß er sich Etwas überlegte. Er schien über irgend einen Punkt im Unklaren zu sein.

Ludwig störte ihn nicht. Er ahnte, daß er jetzt Etwas erfahren werde, was Keilberg lieber verschweigen möchte. Er wartete ruhig ab, was der Mann


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für einen Entschluß fassen werde. Endlich hob Keilberg den Kopf wieder empor, blickte Ludwig von der Seite prüfend an und fragte:

»Als Rechtsanwalt kennen Sie natürlich alle Gesetze?«

»Jawohl.«

»Giebt es auch ein Gesetz über die Verschwiegenheit?«

»Welche Verschwiegenheit meinen Sie?«

»Diejenige der Advocaten.«

»Es giebt Paragraphen, welche einem jeden Beamten zur Pflicht machen, amtliche Geheimnisse zu verschweigen. Kann doch sogar der Angestellte irgend eines Privatmannes bestraft werden, wenn er die gefährlichen Geheimnisse seines Prinzipals verräth.«

»So! Das ist gut. Gesetzt den Fall, es kommt irgend Jemand zu Ihnen, der Sie Advocat sind, und fragt Sie um einen guten Rath. Dürfen Sie darüber mit Andern reden?«

»Nein.«

»Sie müssen es verschweigen?«

»Versteht sich.«

»Ah, da möchte ich jetzt die Gelegenheit ergreifen. So gut wie jetzt paßt es freilich nicht gleich wieder.«

»So wünschen Sie einen Rath von mir?«

»Schon mehr ein Gutachten.«

»So sprechen Sie.«

»Ja, Sie können mich sehr leicht dazu auffordern! Aber die Sache hat einen Haken.«

»Welchen?«

»Ich habe kein Geld. Ihr Advocaten seid die Richtigen. Ihr thut nichts umsonst, und Eure Preise sind so hoch gestellt, daß sie Unsereiner nicht erschwingen kann.«

»So schlimm ists doch nicht.«

»Jawohl. Für eine Antwort muß man Ihnen drei oder gar vier und fünf Mark bezahlen.«

»So viel nicht.«

»Ich habe es so gehört. Wenn ich Sie jetzt um einen Rath frage, so könnte ich Ihnen für denselben nur die fünfzig Pfennige geben, die ich erst von Ihnen erhalten habe.«

»Sie vergessen, daß wir uns jetzt nicht in meinem Bureau befinden.«

»Hier unter freiem Himmel ist es wohl umsonst?«

»Eigentlich auch nicht. Aber ich will berücksichtigen, daß Sie ein armer Teufel sind. Geld sollten Sie freilich auch haben.«

»Ich? Woher denn?«

»Nun, Sie haben doch im Zuchthause gearbeitet?«

»Und wie! Wenn man da sein Pensum nicht bringt, so ist gleich die Strafe dahinter.«

»Also haben Sie doch auch Etwas verdient!«


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»Ja, aber wieviel! Täglich drei Pfennige habe ich bekommen. Das macht rund für dreihundert Arbeitstage drei Thaler jährlich.«

»In acht Jahren also vierundzwanzig Thaler oder zweiundsiebzig Mark.«

»Davon habe ich die Hälfte für Kleinigkeiten verwenden dürfen. Bleiben also nur sechsunddreißig Mark.«

»Die haben Sie natürlich bei Ihrer Entlassung mitbekommen?«

»Ja.«

»Nun, wo sind sie?«

»Da fragen Sie mich?«

»Wie Sie hören.«

»Alle Teufel! Sie haben einen schönen Begriff vom Leben! Wovon lebt man denn eigentlich?«

»Vom Ertrage der Arbeit.«

»Und wenn man keine Arbeit erhält?«

»Das ist Ausrede. Arbeit giebts stets und überall.«

»Nur nicht für einen entlassenen Zuchthäusler. Zunächst will man sich, wenn man acht Jahre lang bei dem Zuchthausessen gebrummt hat, doch einmal eine Güte thun. Das kostet natürlich Geld. Nachher muß man leben, und wenn man nichts verdient, so lebt man eben so lang von der Schnure, wie sie reicht. Und ist sie zu Ende, so geht das Betteln an.«

»Auch Sie können Arbeit finden, wenn Sie nur ernstlich wollen.«

»Ich? Denken Sie denn, daß ein Advocat, ein Bürgermeister oder sonst Einer einen entlassenen Sträfling als Schreiber anstellt?«

»Mag sein, daß er das nicht thut. Aber warum wollen Sie gerade eine Stelle als Schreiber haben?«

»Weil ich Schreiber bin.«

»Wenn Sie keine solche Anstellung finden, so müssen Sie eben nach einer andern Arbeit greifen. Es kommt dann, wenn Sie sich gut führen, ganz von selbst die Zeit, in welcher man Ihnen Vertrauen schenkt. Dann können Sie ja wieder zur Feder greifen.«

»Sie haben gut Reden. Das ist Alles ganz anders als Sie denken. Wir wollen uns gar nicht darüber streiten. Die Sache ist die, daß ich keine Arbeit bekam und also meine paar Mark verlebt habe. Ich kann Sie für den Rath, den Sie mir geben sollen, nicht bezahlen.«

»So bekommen Sie ihn umsonst.«

»Wirklich?«

»Ja. Also sprechen Sie!«

»Vorher muß ich wissen, ob ich mich auf Ihre Verschwiegenheit verlassen kann.«

»Ganz gewiß.«

»Nun gut, so sagen Sie mir doch einmal, in welcher Zeit ein Verbrechen verjährt, so daß es nicht bestraft werden kann.«

»Das kommt auf das Verbrechen an und auf die Strafe, mit welcher es voraussichtlich belegt worden wäre.«


// 1623 //

»Das verstehe ich nicht.«

»Die Strafverfolgung verjährt nach Paragraph 67 des Reichsstrafgesetzbuches bei einem Verbrechen, welches mit dem Tode oder lebenslänglichem Zuchthause bedroht ist, in zwanzig Jahren.«

»Das ist mein Fall nicht.«

»Ist das Verbrechen mit einer längeren als zehnjährigen Strafe bedroht, so tritt die Verjährung in fünfzehn Jahren ein.«

»Auch das paßt nicht auf mich.«

»Alle anderen Verbrechen verjähren bereits in zehn Jahren.«

»Hm! Das paßt auf mich.«

»Haben Sie denn ein Verbrechen begangen, für welches Sie noch nicht bestraft worden sind?«

»Ja.«

»Was für eins?«

»Einen Diebstahl oder vielmehr eine Unterschlagung. Ich kann das sagen, weil es verjährt ist und nun nicht mehr bestraft werden darf.«

»Vielleicht irren Sie sich. Nämlich die Strafverfolgung verjährt in der angegebenen Zeit, nicht aber die Strafvollstreckung, wenn nämlich die Strafe rechtskräftig erkannt worden ist.«

»Das verjährt gar nicht?«

»O doch, aber später.«

»Nun, eine Strafe ist damals nicht erkannt worden.«

»Wie kommt das?«

»Weil ich gar nicht angezeigt worden bin. Was ich gethan habe, ist gar nicht an den Tag gekommen.«

»So! Wie lange ist es her?«

»Ueber zwanzig Jahre.«

»So können Sie freilich ruhig sein.«

»Schön! Das freut mich. Aber darf ich denn auch öffentlich davon reden, ohne daß man mich bestrafen kann?«

»Ja. Das werden Sie aber natürlich bleiben lassen!«

»Meinen Sie?«

»Ja. Es wird doch Niemand den Leuten erzählen, daß er eine Unterschlagung begangen hat.«

»Vielleicht doch!«

»Der Mann hätte nicht eine Spur von Ehrgefühl im Leibe.«

»Das mag richtig sein. Aber ich will auch nicht gerade öffentlich davon sprechen. Es sind nur einige Personen, zu denen ich davon reden möchte.«

»Auch das ist nicht gerade ein Beweis, daß Sie ein empfindliches Ehrgefühl besitzen.«

»Aber ich habe einen desto empfindlicheren Magen. Hunger thut weh. Ich will leben.«

»Ah, Sie wollen sich für die Mittheilung Ihres Verbrechens bezahlen lassen?«


// 1624 //

»Ja, weil ich damals für dasselbe schändlicher Weise nicht bezahlt worden bin.«

»Sie haben es im Auftrage eines Andern ausgeführt?«

»Ja. Und dieser Andere ist schuld, daß es nachher mit mir bergab gegangen ist. Ich war ein ehrlicher Kerl. Er hat mich zum Verbrecher gemacht. Er versprach mir goldene Berge und hat mich doch nicht bezahlt. Jetzt aber soll er mir bluten!«

»Nehmen Sie sich in Acht.«

»Ich fürchte mich nicht! Wenn er mich nicht bezahlt, zeige ich ihn an.«

»Sie vergessen, daß die Sache verjährt ist.«

»Das ist sie. Aber es ist damals ein ganz Unschuldiger bestraft worden. Wenn ich jetzt sage, wie es damals zugegangen ist, so wird die Unschuld dieses Mannes an den Tag kommen, und Alberg kann zwar nicht mehr bestraft werden, aber es ist alle mit ihm.«

»Alberg? Hm! Der Name kommt mir bekannt vor.«

»Ich hätte ihn verschweigen sollen; aber Sie dürfen ja nichts ausplaudern.«

»Das ist richtig. Wer ist der Mann?«

»Er ist von Adel.«

»Ah, ist es vielleicht der Baron von Alberg, welcher seinen Aufenthalt in Wien hat?«

»Ja. Er ist ein Oesterreicher.«

»Dieser, dieser ist Ihr Mitschuldiger?«

»Ja.«

»Hm! Hm! Wie ist das denn damals zugegangen?«

»Das werde ich mich hüten, zu sagen.«

Dem Könige lag natürlich gerade daran sehr viel, dies zu erfahren. Darum wendete er eine List an, indem er bemerkte:

»Nun, wenn Sie es verschweigen wollen, so kann ich nichts dagegen haben; aber dann hat auch die Auskunft, welche ich Ihnen gegeben habe, nicht den mindesten Werth.«

»So? Warum?«

»Weil eben der Baron ein Oesterreicher ist. Jenseits der Grenze gelten andere Gesetze.«

»Sapperment! So ists wohl auch mit der Verjährung anders?«

»Ja.«

»Und ich könnte womöglich doch noch bestraft werden?«

»Freilich. Eine richtige und treffende Auskunft kann ich Ihnen nur dann erst geben, wenn ich genau weiß, um was es sich handelt. Da Sie aber das verschweigen wollen, so müssen Sie eben verzichten.«

»Na, wenn es so ist, so wäre es ja die größte Dummheit, zu schweigen, zumal ich mich auf Ihre Verschwiegenheit verlassen kann. Soll ich es Ihnen erzählen?«

»Wie Sie wollen! Mir ist das sehr egal.«


// 1625 //

»Aber für mich ist es wichtig, richtige Auskunft zu erhalten. Nämlich Alberg hatte ein Mädchen haben wollen, welche ihm ein Anderer vor der Nase wegnahm - - -«

»Wer war sie?«

»Eine gewisse Emilie geborene von Sendingen. Sie heirathete aus Liebe einen Herrn von Sandau, einen Offizier.«

»Ah, der Name ist mir bekannt, und ich erinnere mich ganz leidlich eines Falles, von welchem ich einmal erzählen hörte. Dieser Sandau wurde wegen irgend eines militärischen Verbrechens infam kassirt.«

»Ja, das stimmt.«

»Er erhielt, glaube ich, eine Freiheitsstrafe?«

»Auch das ist richtig.«

»Und sodann ist er verschwunden. Von seiner Familie hat man auch nichts mehr gehört.«

»Auch seine Frau verschwand; das weiß ich gar wohl.«

»Hängt dieser Fall mit Ihrer Unterschlagung zusammen?«

»Ja. Ich habe das begangen, wofür er bestraft wurde.«

Der König blieb erschrocken stehen.

»Mensch!« rief er aus. »Sind Sie des Teufels?«

»Pah!« lachte Keilberg. »Ich wurde verführt. Alberg versprach mir eine bedeutende Summe, hat mir aber freilich keinen rothen Heller ausgezahlt.«

»Und Sie haben es übers Herz bringen können, daß eine unschuldige Familie die entsetzlichen Folgen tragen mußte!«

»Meinen Sie, daß ich mich etwa selbst hätte anzeigen sollen?«

»Ja, das meine ich. Es war Ihre Pflicht, sich dem Strafrichter zu stellen.«

»Werde mich hüten! Das Zuchthaus ist kein angenehmer Aufenthalt!«

»Sie sind diesem Aufenthalte aber doch nicht entgangen. Hätten Sie damals Ihre Pflicht gethan, so wäre die Strafzeit doch einmal vorüber gegangen, und da das die erste und einzige verbrecherische That war, die Sie begangen hatten, so konnten Sie doch leicht ein ehrlicher Kerl werden. Es wäre Ihnen dann die verbrecherische Zukunft erspart geblieben.«

»Hm! Sie mögen vielleicht Recht haben; aber damals hatte ich verdammt wenig Lust, mich einsperren zu lassen.«

»Sagen Sie, wie sich Alles zugetragen hat.«

»Nun, ich war auch Soldat, nämlich Compagnieschreiber. Herr von Sandau war zum Generalstab abcommandirt und hatte da viel zu schreiben. Ich besaß eine gute Handschrift und war ein offener Kopf. Darum gab er mir sehr oft seine Concepte zur Reinschrift. Geheime Sachen aber bekam ich natürlich nicht in die Hand.«

»Aber Zutritt hatten Sie zu ihnen?«

»Ja. Es kam sogar vor, daß ich in seiner Wohnung schrieb. Er saß da an seinem Schreibtische, während ich an einen Seitentisch postirt wurde. Ich hatte Gelegenheit, Alles zu beobachten, und wußte ganz genau das Fach


// 1626 //

seines Schreibtisches, in welches er diejenigen Scripturen, welche geheim zu halten waren, einzuschließen pflegte.«

»Eine solche haben Sie gestohlen?«

»Ja.«

»Mein Gott! Sie haben ja gar keine Ahnung, was für Folgen eine solche That nach sich ziehen kann!«

»Wenigstens damals wußte ich es nicht so wie heute.«

»Es kann dadurch eine Schlacht verloren gehen.«

»Das glaube ich heute ganz wohl.«

»Ein ganzer Feldzug kann dadurch verunglücken, ja, die Existenz des Staates kann auf das Spiel gestellt werden!«

»Darnach fragte Alberg nicht.«

»Aber Sie hätten sich das sagen sollen.«

»Ich war jung und lebenslustig. Ich hatte eine Geliebte, welche beim Ballet angestellt war. Ihr Gehalt reichte weder vorn noch hinten zu. Sie hatte mich fest und ich gab Ihr Alles, was ich erübrigen konnte. Ja, ich gab ihr noch mehr: Ich machte Schulden. Dadurch kam ich in Noth. Ich hatte einem Bekannten Etwas vorgeschwindelt, um Geld von ihm zu bekommen. Als ich es nicht zurückgeben konnte, drohte er mit der Anzeige. Ich wäre bestraft worden wegen falscher Vorspiegelung, wegen Betrugs oder so ähnlich. Ich befand mich in der größten Angst, und gerade da kam Alberg zu mir.«

»Kannte er Ihre Lage?«

»Weiß der Teufel, wie es zugegangen ist, er wußte Alles. Er versprach mir, die Schuld zu bezahlen und mir noch außerdem tausend Gulden zu geben, wenn ich einige der geheimen Papiere, welche sich in Sandau's Schreibtisch befanden, abschreiben wolle.«

»Also nicht stehlen?«

»Die Originale nicht. Aber ein Diebstahl war es doch, eine Unterschlagung.«

»Noch schlimmer!«

»Damals aber kam es mir wie eine Entschuldigung vor, daß ich nur die Abschriften zu nehmen hatte.«

»Und gelang Ihnen das so leicht?«

»Es ging leichter, als ich dachte. Herr von Sandau war einmal für einige Minuten aus dem Zimmer gegangen. Ich wußte genau, daß er mich nicht überraschen werde. Der Schlüssel steckte. Ich öffnete und nahm drei kleine Manuscripte heraus, die ich zu mir steckte.«

»Wie leicht konnte er bemerken, daß sie fehlten!«

»Ich wußte es, daß er nach kurzer Zeit für mehrere Stunden fortgehen werde. Es waren noch viele andere Manuscripte und Scripturen in dem Kasten. Er konnte das Verschwinden der Drei nur dann bemerken, wenn er nur grad sie augenblicklich gebraucht hätte. Das war aber nicht der Fall. Als er wieder hereinkam, saß ich an meinem Tische und war so in die


// 1627 //

Schreiberei vertieft, daß er nicht ahnen konnte, daß ich meinen Platz verlassen gehabt hatte.«

»Entsetzlich! Wie kann man so Etwas thun!«

»Pah! Es geschehen noch ganz andere Dinge. Was ich gedacht hatte, das geschah. Er zog den Schlüssel ab und entfernte sich. Seine mehrstündige Abwesenheit benutzte ich, die Abschriften der drei Manuscripte zu machen. Später kehrte er zurück und setzte sich wieder an die Arbeit. Als er sich dann abermals aus dem Zimmer entfernte, benutzte ich diese Gelegenheit, die Manuscripte wieder an ihren Platz zu legen. Am Abende erhielt Herr von Alberg die Abschriften.«

»Wußten Sie, welchen Zweck er verfolgte?«

»Daß er Sandau einen Streich spielen wolle, das wußte ich, welchen aber, das war mir nicht bekannt.«

»Gab er Ihnen Geld?«

»Nein. Er sagte, er müsse Handschriftproben von Sandau haben. Wenn ich diese ihm verschafft habe, werde er mich bezahlen, eher nicht.«

»Und Sie verschafften Sie ihm?«

»Ja. Das fiel mir ja sehr leicht. Es lagen so viele alte Schreibereien Sandau's herum, die er nicht mehr brauchte. Am nächsten Abende erhielt Alberg, was er wollte. Ich aber bekam kein Geld. Er hätte es vergessen, sagte er; er hätte nicht geglaubt, daß ich ihm seinen Wunsch bereits heute erfüllen werde. Dann war er verreist. Ich habe ihn erst nach Jahren wiedergesehen.«

»Und Sandau?«

»Wurde plötzlich verhaftet.«

»Weshalb?«

»Er hatte dem Militärattaché eines fremden Staates drei wichtige Arbeiten des Generalstabes zum Verkaufe angeboten.«

»Das waren diese Drei, welche Sie abgeschrieben hatten?«

»Ja.«

»Aber wie konnte man ihm beweisen, daß er es war, der das Angebot gemacht hatte?«

»Er hatte ja den Begleitbrief geschrieben, mit welchem er die Manuscripte einsandte. Dieser Brief war freilich gefälscht. Alberg hatte sich zu diesem Zwecke eine Handschriftprobe von ihm gewünscht.«

»Welch eine Niederträchtigkeit! Welche eine Bosheit und Verworfenheit!«

»Denken Sie davon, was Sie wollen! Schlecht war es von mir, noch schlechter aber von Alberg. Und die größte Schlechtigkeit beging er, indem er mir das Geld nicht gab.«

»Geschah Ihnen ganz recht!«

»Oho! Jeder Arbeiter ist seines Lohnes werth!«

»Das wäre ein Sündenlohn gewesen.«

»Ich konnte meine Schulden nicht bezahlen und wurde angezeigt. Na-


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türlich traf mich die erwartete Strafe. Ich wurde in Folge dessen ausgestoßen.«

»Das hatten Sie verdient!«

»Ich war Unteroffizier gewesen. Ich hätte später eine Anstellung erhalten; damit war es nun aus. Als ich meine Strafe überstanden hatte, etablirte ich mich als Privatschreiber. Was ich verdiente, das war zum Leben zu wenig und zum Verhungern zu viel. Ich suchte nach Alberg, um ihn zur Zahlung aufzufordern; aber ich suchte vergebens. Endlich aber erfuhr ich zufällig seinen Aufenthalt. Er war in Bad Eger. Ich reiste hin.«

»Aber er gab nichts?«

»Noch schlimmer. Er ließ mich hinauswerfen, als ich ihm mit der Anzeige drohte.«

»Und Sie zeigten ihn nicht an!«

»Ich hätte ja mich selbst anzeigen müssen.«

»Aber Sie wußten doch, welche Folgen Ihr Verrath für Sandau gehabt hatte?«

»Natürlich wußte ich es; aber ich wollte lieber einen Anderen an meiner Stelle als mich selbst im Zuchthaus wissen.«

»Jämmerlicher Mensch!«

»Sapperment! Hätten etwa Sie sich dem Gericht gestellt?«

»Unbedingt!«

»Das glaube ich nicht!«

»Leicht begreiflich! Wer so handelt wie Sie, der hat kein Verständniß für eine ehrliche Handlungsweise. Hätte ich vor einigen Wochen gewußt, daß Sie noch ein solches Verbrechen auf dem Gewissen haben, so wären Sie nicht begna-«

Er sprach das Wort nicht aus. Er merkte, daß er sich von seinem Zorne hatte zu weit hinreißen lassen. Keilberg fragte ganz verwundert:

»Was? Was wäre ich nicht?«

»Sie wären nicht begnadigt worden.«

»So! Haben Sie denn dabei etwas zu sagen?«

»Wenn ich auch nichts zu sagen habe, so hätte ich es doch für meine Pflicht gehalten, Diejenigen, welche über Ihr Gesuch zu entscheiden hatten, zu benachrichtigen.«

»Danke sehr! Gut, daß die Begnadigung nicht rückgängig gemacht werden kann! Sie wären im Stande -«

»Nein, haben Sie keine Sorge! Ich schreibe dem Könige nicht.«

»Aber Sie werden Alles, was ich Ihnen jetzt erzählt habe, verrathen.«

»Vielleicht.«

»Donnerwetter! Sie haben mir Verschwiegenheit versprochen.«

»Was ich verspreche, halte ich.«

»Nun, soeben sagten Sie, daß Sie mich vielleicht verrathen werden!«

»Das ist kein Widerspruch, obgleich Sie es für einen solchen halten.


// 1629 //

Könnte man denn die Ehre Sandau's nicht herstellen, ohne daß Ihre Person dabei in Gefahr kommt?«

»Das ist freilich möglich.«

»So meine ich es. Man könnte vielleicht Alberg zwingen, ein Geständniß abzulegen.«

»Da müßte er doch mich erwähnen!«

»Schadet nichts! Sie können ja nicht bestraft werden.«

»Nicht? Obgleich er ein Oesterreicher ist?«

»Trotzdem! Nun Sie mir Alles erzählt haben, kann ich Ihnen die Versicherung geben, daß die Sache verjährt ist.«

»Gott sei Dank! Da kann ich also ruhig sein.«

»Ja. Würden Sie bereit sein, gegen Alberg als Zeuge aufzutreten?«

»Wenn ich Etwas davon habe, ja.«

»Ah, Sie wollen es bezahlt haben?«

»Natürlich!«

»Wissen Sie, Keilberg, daß Sie ein ganz schändlicher Mensch sind?«

Sein Gesicht glühte vor Zorn. Der Andere aber antwortete ganz ruhig:

»Ja, das weiß ich.«

»Und Sie schämen sich nicht?«

»Nein. Was soll die Scham! Sie ist zu nichts nütze. Wollen Sie vielleicht diese Angelegenheit in die Hand nehmen?«

»Ja.«

»Sie werden nichts erreichen. Alberg wird sich hüten, ein Geständniß abzulegen. Uebrigens bin ich selbst der Mann, ihn zu peinigen. Wissen Sie, wohin ich will?«

»Nun?«

»Zu ihm.«

»Wo ist er?«

»Das ist meine Sache. Sie sind Advocat und haben als solcher Ihre Mucken. Sie sind im Stande, mich um die Ernten zu bringen, welche ich einheimsen will. Ich werde mich also hüten, Ihnen zu sagen, wo er sich befindet.«

»Ich werde es doch erfahren.«

»Von wem?«

»Von Ihnen. Ich lasse Sie nicht aus den Augen, bis ich es erfahren habe.«

»Sapperment! Sie werden mir unbequem!«

»Das kann mich nicht beirren. Die Ehre Sandau's muß wieder hergestellt werden.«

»Was nützt es ihm? Es ist ja verschollen!«

»Er mag verschwunden sein. Sein Name ist noch da, und dieser muß von dem an ihm haftenden Makel befreit werden.«

»Befreien Sie ihn! Adieu, Herr Advocat!«

Während er diese Worte sprach, that er einen schnellen Sprung in die


// 1630 //

Büsche hinein, welche an der Straße standen. Er ahnte, daß er mit dem Geständnisse, welches er abgelegt hatte, eine Gefahr gegen sich selbst heraufbeschworen habe, und wollte derselben entgehen.

Ludwig blieb einige Secunden überrascht stehen. Was sollte er thun? Den Menschen laufen lassen oder ihn festhalten? Gegen das Letztere sträubte sich natürlich Alles in ihm. Er zuckte die Achsel und setzte seinen Weg fort.

Bald sah er das Städtchen Eichenfeld vor sich. Sein Auge blieb an dem alten, baufälligen Thurm der Kirche haften. Ein Lächeln glitt über sein Gesicht und unwillkürlich griff er mit der Hand nach der Brusttasche.

Bald stand er neben dieser Kirche vor der Thür des Pfarrhauses. Er trat ein und klopfte. Die Wirthschafterin öffnete und fragte nach seinem Begehr.

»Ist Hochwürden zu sprechen?«

»Wer sind Sie?« fragte sie vorsichtig.

»Ich bin ein Fremder und möchte dem Herrn Pfarrer eine Mittheilung machen, über welche er sich freuen wird!«

»So kommen Sie herein. Freudenboten heißt man gern willkommen.«

Er kam in ein kleines, niedriges Stübchen, welches ganz von Blumenduft erfüllt war. An dem Tische saß der alte Pfarrer, eine grauhaarige, ehrwürdige Gestalt. Er hatte ein Buch vor sich. Als Ludwig eintrat, erhob sich der geistliche Herr und nahm höflich die Brille von der Nase.

»Willkommen, Herr,« sagte er. »Womit kann ich Ihnen dienen?«

»Ich komme nicht, mich von Ihnen bedienen zu lassen, Hochwürden. Ich bringe Ihnen eine Botschaft, von der ich hoffe, daß sie Sie recht freudig überraschen wird.«

»Das sollte mir sehr angenehm sein. Bitte, setzen Sie sich.«

Die Wirthschafterin schob Ludwig einen Stuhl herbei. Er setzte sich und begann:

»Meine Anwesenheit betrifft nämlich Ihre Kirche, Herr Pfarrer. Ich habe sie mir angesehen, allerdings nur äußerlich. Sie scheint außerordentlich reparaturbedürftig zu sein?«

»Ja, ganz außerordentlich. Man muß gewärtig sein, sie fällt einmal während des Gottesdienstes zusammen und begräbt die ganze Gemeinde unter sich.«

»Warum lassen Sie nicht bauen?«

»Warum? Herr, diese Frage beantwortet sich sehr leicht. Zum Bauen gehört Geld.«

»Und das fehlt Ihnen?«

»Leider! Meine Gemeinde ist eine der ärmlichsten des Landes.«

»Aber Sie sind mit den Ihnen anvertrauten Seelen wohl zufrieden?«

»Ja, lieber Herr. Ich weiß nicht ein einziges räudiges Schaf unter ihnen. Es betrübt sie gar sehr, daß ihnen die Mittel fehlen, ein Haus zu bauen, welches des Herrn würdig ist. Das Kirchenvermögen beträgt nur viertausend Mark. Die Gemeindeglieder haben freiwillig gerade ebenso viel zu-


// 1631 //

sammengesteuert. Das giebt achttausend. Aber wie will man damit eine Kirche bauen! Es ist allzu wenig.«

»Haben Sie sich nicht an die obere Behörde gewendet?«

»Ja, ich habe um eine Unterstützung in Form einer allgemeinen Kirchencollecte gebeten. Man hat mir dieselbe gewährt; aber der Sonntag, an welchem dieselbe abgehalten werden kann, ist noch nicht bestimmt.«

»Das ist leicht erklärlich. Dergleichen Gesuche gehen so häufig ein. Aber ich hätte geglaubt, daß Sie sich auch an den König hätten wenden können.«

»Das habe ich auch gethan, wenn auch mit großem Widerstreben.«

»Warum das?«

»Lieber Herr, unser guter König wird, wie man hört, so oft mit Bittgesuchen gedrängt, daß man sich wirklich scheut, sich in die Reihe von Bittstellern zu stellen, welche nur zu häufig die bekannte Mildthätigkeit des Herrschers mißbrauchen. Aber was will man thun, wenn man sich in Noth befindet! Mein Gehalt ist so armselig, daß ich kaum auszukommen vermag. Dennoch würde ich niemals eine Bitte aussprechen, welche meine Person zum Gegenstande hat. Da es aber meine liebe Kirchengemeinde betrifft, habe ich es gewagt, eine unterthänigste Eingabe einzureichen.«

»Und was war der Erfolg?«

»Es ist mir bisher noch nichts bekannt gemacht worden.«

Ein feines Lächeln spielte um die Lippen des Königs. Er sagte:

»Dennoch scheinen Sie von dem Erfolge Ihres Gesuches überzeugt zu sein.«

»In wiefern?«

»Weil Sie sich bereits mit dergleichen befassen.«

Er zog ein geöffnetes, aber leeres Couvert aus der Tasche und gab es dem Pfarrer hin. Dieser brachte es, ohne die Brille wieder aufzusetzen, in die Nähe der Augen und las die vier Zeilen, welche anstatt der Adresse auf demselben standen:

»Nicht Koryphä' bin ich,
   Nur unbekannt und klein,
Und dennoch bitt ich, laßt
   Mich mit Bewerber sein!«

»Ah!« sagte er. »Gehören Sie mit zu den Herren, welche hier zu entscheiden hatten?«

»Ja.«

»Das freut mich. Und Ihre Anwesenheit ist mir ein sehr erfreuliches Zeichen.«

»Ein Zeichen wofür?«

»Daß der junge Mann etwas vielleicht Brauchbares geliefert hat.«

»Haben Sie die Zeichnung gesehen?«


// 1632 //

»Nein. Ich weiß nicht, was er gezeichnet hat, und weiß auch nicht, zu welchem Zwecke es dienen soll.«

Der König machte ein ungläubiges Gesicht.

»Hochwürden,« sagte er, »ich darf natürlich die Wahrheit von Ihnen erwarten!«

»Gewiß! Zweifeln Sie daran?«

»Nein. Aber doch will es mir erscheinen, als ob Sie eben jetzt ein klein wenig Diplomat sein möchten.«

»Davon habe ich keine Ahnung. Ich bin ein armer Hirte meiner Gemeinde; aber zum Diplomat fühle ich weder Beruf noch auch Geschick in mir.«

»Wirklich? Sie haben nicht gewußt, um was es sich handelt?«

»Nein, gewiß nicht.«

»Dann giebt es hier einen ganz eigenthümlichen Zufall, der mir nun fast als Fingerzeig Gottes erscheint. In welcher Beziehung stehen Sie denn zu der Person, um welche es sich hier handelt?«

»Der Betreffende ist ein Glied meiner Gemeinde. Er hat die polytechnische Schule in München besucht und ging in Folge eines Stipendiums nach Italien. Von daher bekam ich kürzlich einen Brief, in welchem er mir mittheilte, daß er in einer deutschen Bauzeitung ein Preisausschreiben gelesen habe, er wolle sich trotz seiner Jugend an dem Wettbewerb betheiligen. Er schickte mir den Brief, dessen Couvert Sie mir jetzt wieder zeigen, und bat mich, ihn in einen Umschlag zu thun und an die Adresse nach München zu senden, welche er mir dabei angab.«

»Wußten Sie, was sein Brief enthielt?«

»Ich dachte es mir - eine Zeichnung?«

»Ja. Aber Sie wußten nicht, was für eine?«

»Ich weiß es heute noch nicht.«

»Nun, so sollen Sie es erfahren. Der König hat Ihr Gesuch erhalten. Sie baten um eine kleine Beisteuer zum Kirchenbau. Der König aber ist von der Art und Weise, in welcher Sie ebenso ergeben wie herzlich Ihre Bitte vortrugen, so gerührt gewesen, daß er nach näheren Erkundigungen sich entschloß, Ihnen die Kirche ganz und vollständig aus den Mitteln seiner Privatschatulle zu erbauen.«

Der Pfarrer sprang von seinem Sitze auf, schlug die Hände zusammen und rief:

»Herr, mein Gott! Sagen Sie mir da die Wahrheit?«

»Gewiß, Hochwürden.«

»Wenn das wirklich, wirklich wäre!«

»Es ist so. Ich bin von Seiner Majestät beauftragt, Ihnen diese Mittheilung zu machen.«

»Das ist so viel, so viel, daß ich es nicht zu fassen vermag.«

Man sah es dem alten, ehrwürdigen Herrn allerdings an, daß er so ziemlich perplex war. Er blickte nach oben, schüttelte den Kopf und wiederholte:


Ende der achtundsechzigsten Lieferung - Fortsetzung folgt.



Karl May: Der Weg zum Glück

Karl May – Forschung und Werk