Metamorphosen
Vom gescheiterten Schullehrer zum
Bestsellerautor –
vom Erfolgsschriftsteller zum
religiösen Visionär
Eine Hommage an Karl May zum 180. Geburtstag
In der breiten Öffentlichkeit wird Karl May sehr unterschiedlich
wahrgenommen. Gegner reduzieren ihn nach wie vor auf das Image des
Trivialschriftstellers und Abenteurers oder gar Lügners à la
Münchhausen. Nach meiner Auffassung geschieht ihm da Unrecht.
Eine beachtliche Wende
Vor 180 Jahren, am 25. Februar 1842, wurde in Ernstthal (heute
Hohenstein-Ernstthal) am Rande des Erzgebirges der Schriftsteller Karl
May als Sohn eines armen Webers und einer späteren Hebamme geboren. Die
allgemeine Hungersnot in der Region in den 1840er Jahren belastete Mays
Kindheit schwer. Auch seine Jugendjahre mündeten in eine Katastrophe.
Nach kurzer Tätigkeit als Lehrer und Katechet wurde May unehrenhaft aus
dem Schuldienst entlassen – aufgrund eines angeblichen Vergehens, das
nach heutigem Forschungsstand gar nicht strafwürdig war. Doch die
Folgen für May waren verheerend. Ohne berufliche Perspektive und
seelisch verstört war er in den 1860/70er Jahren wegen skurriler,
phantastischer – und schauspielerisches Talent verratender –
Eigentumsdelikte insgesamt mehr als acht Jahre lang inhaftiert. Ob und
in welchem Grade er angesichts seiner damaligen psychischen Verfassung
schuldfähig war, ist in der May-Forschung allerdings umstritten. Nach
heutigen Maßstäben würde in solchen Fällen ein psychiatrisches
Gutachten erstellt. Tätern wie dem jungen, traumatisierten Karl May
würden – zumindest – Strafmilderungsgründe zugebilligt oder sogar
Schuldunfähigkeit wegen einer psychotischen Erkrankung.
Was das äußere Verhalten und die – vermutlich – inneren Verwüstungen im
Leben des jungen Karl May angeht, sehe ich interessante Parallelen zu
den abenteuerlichen Taten und zur Seelenlandschaft des ›Grünen
Heinrich‹, der Titelfigur in Gottfried Kellers autobiographischem
Roman. Eine weitere, ebenso verblüffende, Analogie zu dem großen
Schweizer Dichter: die mangelnde Eignung für einen bürgerlichen Beruf,
stattdessen die literarische Karriere. Was man in ähnlicher Weise auch
bei Gerhart Hauptmann, Thomas Mann, Hermann Hesse und einer Reihe
anderer großer Autoren belegen kann.
Betrachtet man sein tragisches, geradewegs in den Ruin führendes
Vorleben, so gelang May eine höchst erstaunliche Metamorphose: Ab
1875/76 brachte er es (zunächst als Redakteur, später als freier
Schriftsteller) zu einem der produktivsten und meistgelesenen deutschen
Autoren des 19. und 20. Jahrhunderts – bekannt geworden vor allem als
Erfinder von Winnetou und Old Shatterhand, Kara Ben Nemsi und Hadschi
Halef Omar.
Zur Rezeption
Besonders die Verfilmungen von May-Romanen in den 1960er Jahren trugen
dazu bei, dass der sächsische Erzähler weiterhin gelesen wurde und
berühmt blieb. Freilich haben diese Wildwest- und Orientfilme mit dem
literarischen Gesamtwerk Karl Mays nur sehr wenig zu tun. Mays
Bedeutung als Autor geht weit über das Verfassen von
Abenteuergeschichten und das Genre der Unterhaltungsliteratur hinaus.
Dichter wie Hermann Hesse und Carl Zuckmayer, aber auch der
neomarxistische Philosoph Ernst Bloch lobten Mays Werke in hohen Tönen.
Die Schriftsteller Arno Schmidt und Hans Wollschläger beschäftigten
sich intensiv mit Mays Leben und Werk. Der katholische Theologe und
Religionswissenschaftler Joseph Bernhart schrieb – mit Bezug auf
Kindheitserlebnisse – über Karl May: »Dort das Werk und hier der Mann,
dort die Wunschwelt des Dichtenden und hier der Täter in der Hand der
Polizei – man muss sehr unreif oder sehr reif sein, um ruhig das eine
mit dem andern hinzunehmen. Wäre ich damals so reif wie jung gewesen,
so hätten Winnetou und Karl May einander so viel oder so wenig
angegangen als der Weizenhalm und der Dung, aus dem er treibt.« Von dem
Dichter Werner Bergengruen schließlich stammt der kluge Hinweis: »Karl
May ist naiv zu genießen oder von einem höheren Punkte aus. Seine
Gegner sind Leute, welche die Naivität verloren, jenen höheren Punkt
aber nicht einzunehmen gewusst haben.«
Freilich gibt es auch andere Stimmen. Nicht so erleuchtete Geister
halten May für einen Betrüger und verachten seine Werke als
Unterhaltungsschrott für unreife Kinder. Doch in der belletristischen
Gegenwartsliteratur, bei erstklassigen Schriftsteller/innen, findet May
noch immer Beachtung und Anerkennung.
Der Karl-May-Verlag hat eine Liste
von über 300 Politiker/innen (von
Konrad Adenauer über Jutta Ditfurth und Joschka Fischer bis Oskar
Lafontaine, Andrea Nahles, Claudia Roth, Winfried Kretschmann und Olaf
Scholz), Schriftsteller/innen (von Bertolt Brecht über Heinrich Böll,
Friedrich Dürrenmatt, Peter Härtling und Günter Grass bis Peter Handke,
Elke Heidenreich und Doris Dörrie), Theolog/innen (wie Albert
Schweitzer und Margot Käßmann) und sonstigen Kulturschaffenden (von Wim
Wenders bis Tom Buhrow) publiziert – Prominenten, die sich alle sehr
positiv zu May äußerten. Wichtige Namen fehlen allerdings auf dieser
Liste, etwa der katholische Religionsphilosoph Romano Guardini oder der
evangelische Theologe Helmut Gollwitzer, die May ebenfalls sehr hoch
schätzten.
Bekanntlich liest der Protagonist Bastian in Michael Endes Roman ›Die
unendliche Geschichte‹ (1984) mit Leidenschaft ›Winnetou‹. Weniger
bekannt: Martin Walser, einer der renommiertesten deutschen Autoren der
Gegenwart, outet sich in der Süddeutschen Zeitung (2011) als
begeisterter May-Leser: nicht nur in den Jugendjahren, sondern viel
mehr noch im Erwachsenenalter! Die Georg-Büchner-Preisträgerin
Felicitas Hoppe erwähnt den Autor Karl May gleich mehrmals in ihrem
Roman ›Prawda. Eine amerikanische Reise‹ (2018). In Ralf Rothmanns
Bestsellerroman ›Der Gott jenes Sommers‹ (2018) heißt das
Lieblingspferd der Protagonistin Luisa »Karl May«. Der mit höchsten
Literaturpreisen gekrönte Schriftsteller Michael Köhlmeier dichtet in
seinem fulminanten 1000-Seiten Roman ›Matou‹ (2021) dem Protagonisten –
einem hoch gebildeten Kater à la ›Kater Murr‹ – an, dass er unter
anderem die drei ›Winnetou‹-Bände auswendig deklamieren könne. Und die
Friedrich-Hölderlin-Preisträgerin Eva Menasse lässt in ihr Meisterwerk
›Dunkelblum‹ (2021) ganz unvermittelt über eine Romanfigur die
Bemerkung einfließen: »Sie wurde geboren, als der amerikanische
Bürgerkrieg zu Ende ging, als Karl May zum ersten Mal ins Arbeitshaus
kam und Max und Moritz
erschien.«
Es ist anzunehmen, dass alle diese hoch dekorierten Literaten Mays Werk
nicht nur zum eigenen Plaisir genossen haben, sondern auch in ihrer je
eigenen Schreibart durch May, mehr oder weniger, beeinflusst wurden.
Nicht zuletzt der prominente, mit renommierten Literaturpreisen geehrte
österreichische Schriftsteller Norbert Gstrein (geb. 1961) nahm in
mehreren seiner Romane Anleihen bei Karl May.
Die wissenschaftliche
Auseinandersetzung mit Mays Leben und Werk geht
seit 1969 zunehmend ins Detail. Vor allem in den Jahrbüchern der
Karl-May-Gesellschaft werden literaturwissenschaftliche, philologische,
biographische, ethnologische, pädagogische, historische, juristische,
soziologische, gesellschaftspolitische, psychiatrische,
psychoanalytische, ethische, theologische, religionsphilosophische und
noch viele weitere Gesichtspunkte des ›Phänomens Karl May‹ in
akribischen Beiträgen diskutiert. Darüber hinaus liegen inzwischen ein
gutes Dutzend Biographien und zahlreiche Monographien zu Einzelaspekten
der May-Forschung vor. Ja, über kaum einen anderen Autor existiert eine
so umfangreiche – und so kontroverse – Sekundärliteratur wie über May.
Die zweite Verwandlung
Karl May »war ein Mensch, der ungezählten Millionen das Unglück
erleichtert, das Glück vermehrt hat, und er war letzten Endes auch ein
großer Schriftsteller« (Hans Wollschläger). Was bleibt nun gültig im
poetischen Werk Karl Mays? Die Bereitschaft, im »Nebenmenschen, selbst
wenn er auf
Irrwegen geht, den Bruder in Christo zu sehen«, hielt Albert Schweitzer
für »das Unvergängliche« an Mays Büchern.
Der sächsische Erzähler behandelt in bewegender Weise existenzielle
Themen wie Freundschaft und
Liebe, Schuld und Vergebung, Trauer und Leid, Sterben und Tod. Er
stellt sich den großen Menschheitsfragen »Wer sind wir? Woher kommen
wir? Wohin gehen wir?« May verkündet – was nicht jedem Leser gefällt –
den Glauben an einen allmächtigen, liebenden Gott. In vielen seiner
Bücher geht es zugleich um wahre Humanität,
um die Völkerverständigung,
um soziale Gerechtigkeit, manchmal, etwa in ›Winnetou IV‹, auch um
ökologische Verantwortung und die Gleichstellung von Mann und Frau –
also um brandaktuelle Themen.
Romane wie ›Durch die Wüste‹, ›Durchs wilde Kurdistan‹, die
›Winnetou‹-Trilogie, ›Der Sohn des Bärenjägers‹, ›Die Sklavenkarawane‹,
›Das Vermächtnis des Inka‹ oder ›Der Ölprinz‹ sind nach wie vor
empfehlenswerte Bücher – für Jugendliche wie für Erwachsene. Aus meiner
Sicht jedoch verdient in erster Linie Mays mehrschichtiges,
symbolistisches Spätwerk (nach der Orientreise 1899/1900) auch künftig
Beachtung. In den Schlussbänden III/IV des Orientromans ›Im Reiche des
silbernen Löwen‹, ebenso in den Spätwerksromanen ›Und Friede auf
Erden!‹, ›Ardistan und Dschinnistan‹ sowie ›Winnetou IV‹ befasst sich
Karl May – streckenweise in faszinierender Bildsymbolik – mit
philosophisch-theologischen Fragen. Überdies plädiert er in
hochliterarischen Gleichnissen und Parabeln für den Weltfrieden, für
die Rückbesinnung auf den wahren Kern des christlichen Glaubens,
für die ökumenische Einheit der Kirchen, für den interreligiösen Dialog
zwischen Judentum, Christentum, Islam und fernöstlichen Religionen.
Das
Alterswerk markiert eine weitere Metamorphose in Mays Leben und
Streben. Gab es in Mays früheren Büchern – dem damaligen Zeitgeist
entsprechend – noch eine maskuline Dominanz und hin und wieder auch
rassistische und antisemitische Erzählpartien, so werden derartige
Auffassungen im Alterswerk zurückgenommen: in einem unerwarteten, den
Großteil der Lesergemeinde irritierenden Paradigmenwechsel. Die
wichtigste Romanfigur ist jetzt nicht mehr ein männlicher deutscher
Held à la Old Shatterhand, sondern eine alte kurdische Frau: Marah
Durimeh, die weise, vorausschauende, absolut unkriegerische Königin im
»Land der Sternenblumen«. Generell bekundet der Autor im irenischen
Spätwerk klar und entschieden: Alle Menschen, gleich welcher Hautfarbe,
welchen Geschlechts und welcher religiösen (oder auch nicht-religiösen)
Glaubensüberzeugung, sind Gottes Kinder, seine geliebten Töchter und
Söhne. Die (von einigen May-Biographen ignorierte oder nur am Rande
beachtete) spirituelle Tiefendimension, die Mays Gesamtwerk grundiert,
kommt in den späten Romanen noch weit deutlicher zur Geltung. Deshalb
widmet der evangelische Theologe Werner Thiede in seinem Buch über
christliche Mystik (2019) Karl May ein eigenes Kapitel – neben
Mystikern wie Wilhelm Löhe, Rudolf Steiner oder Teilhard de Chardin.
Was den
Handlungsverlauf und den neuen, partienweise rhythmischen, Schreibstil
betrifft, kann man sagen: Mays Bücher verloren an äußerer Spannung,
gewannen aber an innerer Dramatik und bildlicher Ausdruckskraft – und
somit an literarischem Gewicht.
Die österreichische Pazifistin und Schriftstellerin Bertha von Suttner,
Trägerin des Friedensnobelpreises 1905, verehrte den späten Karl May
sehr. In einem Nachruf an den Gesinnungsfreund schrieb sie: »In dieser
Seele lodert das Feuer der Güte.«
Hermann Wohlgschaft
Karl May – Forschung und Werk
Karl May – Erinnerungsstätten
Reisen
zu Karl May – Biografieforschung aus der Karl-May-Geburtsstadt