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Wege zu Karl May zu
beschreiten, ist mit dreifacher Sinngebung möglich:
zunächst als biografische Skizze der einzelnen Stationen
seines Lebensweges; weiter in übertragener Bedeutung als
Betrachtung der in seinem Werk mit seltener Fantasie und
Fabulierkunst beschriebenen Reisewege; drittens – und das
sei in der Folge gewagt – handelt es sich um Wege, das
Phänomen May in Hinblick auf seine Leser zu deuten. Das
Œuvre Mays legt mit seiner verwirrenden Fülle der Stoffe
und literarischen Formen davon Zeugnis ab, mit welch
engagierter Anstrengung sich ein urwüchsiges Erzähltalent
allen Widerständen zum Trotz als freier Schriftsteller
entfaltete. Zum ersten Mal überwucherte seine Fantasie
sichtlich den Realitätsbezug, als er 1856 Hilfe in Spanien
bei edlen Räubern suchen wollte; er kam nur bis in die
»Gegend von Zwickau«. Es sollte Jahrzehnte dauern, bis er
nach seinen vielen imaginären Reisen endlich den Orient
tatsächlich kennenlernte, dann später auch
nordamerikanischen Boden betrat. – Oberste Stufe und Ziel
der Entwicklung des individuellen und sozialen Seins
stellen für May Humanität, Menschen- und Völkerfriede in
einer von Liebe durchwärmten Gesellschaft dar. Es lässt
sich nicht übersehen, dass sich hinter der Oberfläche
seiner Erzählungen aus Orient und Okzident Dimensionen der
Versittlichung und der Veredelung auftun. Die Helden der
Mayschen Reiseerzählungen, vor allem Old Shatterhand und
Winnetou, Kara Ben Nemsi und Hadschi Halef Omar,
überwinden einen ›Naturzustand‹ mit Zügen der Roheit und
Wildheit sowie der äußerlichen Aktionen in Richtung auf
vom Gewissen geleitete Moralität.
Karl May im Jahre 1898
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