Soweit Harald Mischnicks Ausführungen. Neulich hatte ich die Gelegenheit, Ernstthals Örtlichkeiten zu überprüfen. Das Resultat: Wollschlägers Urszene ist in der Tat eine logistische Unmöglichkeit. Denn man muss sogar mehr als nur einen leichten Bogen gehen, wie Mischnick schreibt, um zum Geburtshaus (Karl May Haus) zu gelangen. Wenn man den Leichenweg (heute Bergstraße) in südlicher Richtung verlässt, kann man ganz und gar nicht direkt geradeaus die Niedergasse (heute Karl-May-Straße) erreichen. Man muss sich zunächst ein Stück nach links wenden und kommt dann erst über die Mittelstraße zum Geburtshaus. Eine gerade Überquerung über den Marktplatz ist damals wie heute völlig ausgeschlossen. Die St. Trinitatiskirche und die dahinter liegenden Bauten des Marktplatzes versperren die Sicht zur Karl-May-Straße. Das Haus am Marktplatz, in dem May mit seinen Eltern 1869 neben der Kirche lebte (später abgebrannt), konnte allerdings vom Leichenweg gesehen werden, somit war eine direkte Überquerung des Marktplatzes dorthin möglich. Und diese Stelle kann auch heute noch direkt vom ehemaligen Leichenweg geradlinig erreicht werden. Wer dorthin will, geht gewiss den geraden - den kürzesten Weg - und geht nicht einen Umweg außen um den Marktplatz herum!Ich ging den Leichenweg hinab, über den Markt hinüber und öffnete leise die Tür unseres Hauses, ...
»Wie siehst du aus! Schnell wieder fort, fort, fort! ...«
Hans Wollschläger meint […], daß jene Worte nicht Karl [May], sondern einem von ihm postulierten Geliebten der Mutter gegolten hätten. […] Wollschläger führt an, daß sich die von ihm so genannte Urszene nicht im Jahre 1869 abgespielt haben könne. […] Weiterhin postuliert Wollschläger, daß die angebliche Urszene sich in voller Länge so wie beschrieben ereignet habe, allerdings viele Jahre vor 1869 und mit Karl als nur passivem, lauschenden Zuhörer. Seine Rekonstruktion der Örtlichkeit liest sich folgendermaßen:
»Wer in Ernstthal den Leichenweg hinab kam, mußte nicht über den Markt hinüber gehen, um in das Haus neben der Kirche St. Trinitatis zu gelangen, in dem die Familie May seit dem April 1845 wohnte; er mußte es aber tun, wenn es ihn weiter geradeaus in die Niedergasse zog, auf das Haus zu, in dem May geboren wurde und seine frühe Kindheit verbrachte.«
Wollschläger vermutet, daß der kleine Karl 1844/45 die Lauscherfahrung machte, seine Mutter habe ihre Zuneigung von ihm abgezogen und »einen Geliebten gehabt«. Wollschlägers Ausführungen sorgten seinerzeit für großes Aufsehen und Dispute, werden aber bis heute immer noch bei Veröffentlichungen herangezogen, obgleich sie der Örtlichkeit wegen auf wackligen Füßen stehen.
[…] um zur Tür unseres Hauses zu gelangen, so mußte er [May] durchaus nicht in die Niedergasse wollen, denn über den Markt hinüber muß nicht mit ‘gerade hinüber’ im mathematischen Sinne gleichzusetzen sein, sondern kann im normalen Sprachgebrauche ebensogut ‘schräg hinüber’ bedeuten, denn exakt geradeaus über den Marktplatz in die Niedergasse kommt man bis heute vom Leichenweg her schon allein der Kirche wegen nicht, sondern muß in leichtem Bogen über ihn gehen und zudem eine diesen mit der jetzigen Karl-May-Straße verbindende Gasse durchwandern.
http://www.karl-may-stiftung.de/mischnick3.html
Zwei aktuelle Fotos verdeutlichen die örtlichen Gegebenheiten. Die Aufnahmen entstanden vor der Einmündung der Bergstraße (Leichenweg).
Bild 1:
Bild 2:
Bild 1 zeigt die Örtlichkeit, wenn man geradeaus die Bergstraße verlässt und Bild 2, wenn man sich etwas halbrechts wendet. Dort, wo sich auf Bild 2 das zweite Haus von rechts befindet, stand einst das Haus, in dem May mit seinen Eltern lebte. Eine direkte Überquerung des Marktplatzes (schräg hinüber) ist eindeutig möglich, zum Geburtshaus unmöglich. Wollschlägers Urszenen-These (Jb-KMG 1972/73) ist deshalb aus logistischen Gründen unhaltbar.
Ralf Harder