Teil III

Mittelalter

  
 
Die Humanisten des 15. und 16. Jahrhunderts waren es, die den Begriff des Mittelalters einführten, als Bezeichnung für die Epoche zwischen dem Ende der Antike und der Renaissance. Für sie war diese Epoche gekennzeichnet vom Verfall der lateinischen Sprache und Bildung, während in der Renaissance eine Wiedergeburt antiker Gelehrsamkeit einsetzte. In der Zeit der Aufklärung sprach man dann vom »finsteren Mittelalter«, das man verachtete, und umgekehrt wurde diese Ära von den Romantikern verklärt – sie idealisierten sie als Zeitalter einer gläubigen und ritterlichen Gemeinschaft eines christlichen Abendlandes. Und so viele gegensätzliche Ansichten und grundsätzliche Bedenken es auch dagegen gab: der Begriff hat sich gehalten. Schwierigkeiten bereitet nach wie vor die zeitliche Abgrenzung. Wir brauchen diesen Diskussionen im Einzelnen nicht nachzugehen und nur festzuhalten, dass sich als Ergebnis der Völkerwanderung und der islamischen Expansion im 8. Jahrhundert eine Mächtekonstellation herauskristallisierte, in der Byzanz, das Reich der Kalifen und das Fränkische Reich die führende Rolle spielten. Später übernahmen das Heilige Römische Reich (deutscher Nation, wie später hinzugefügt wurde) und Frankreich eine Vormachtstellung, aber auch die übrigen »Reiche« – ob im Westen, England beispielsweise, Norden (Dänemark), Süden (Spanien, Portugal) oder Osten (Polen, Russland) erwiesen sich im Laufe der Zeit als immer mächtiger. Vom 5. /6. Jahrhundert bis zum 10./11. spricht man vom Frühmittelalter; danach bis etwa Mitte des 13. Jahrhunderts schloss sich das Hochmittelalter an, berühmt vor allem durch die Blüte des Rittertums und als Zeitalter der Kreuzzüge; und dann folgte noch das Spätmittelalter, das mit den großen Entdeckungen (Columbus 1492), der Reformation (1517) und der Wiederentdeckung der Antike im Humanismus auslief. Das Mittelalter bildete eine eigenständige Kulturepoche in Europa, die – trotz nationaler Unterschiede – durch eine gemeinsame Grundhaltung getragen war. Diese zeigte sich in der Gesellschaft, die ständisch geordnet war und sich von der naturalwirtschaftlichen Adelsherrschaft bzw. dem Lehnswesen und dem Rittertum bis zum Aufstieg des Bürgertums und des Städtewesens mit seiner Geldwirtschaft entwickelte, in der religiösen Geisteshaltung – die Kirche bewahrte lange Zeit die Glaubens- und Kultureinheit –, sowie in Kunst, Wissenschaft und Literatur – man denke hier nur an die Blüte der Scholastik. Eines kann man mit Fug und Recht sagen: rückständig und finster war diese Epoche auf keinen Fall, nicht grausamer als unsere Zeit, sie hatte Licht und Schatten wie alle Epochen der menschlichen Geschichte, und allenthalben finden wir heutzutage noch ihre Spuren. Auch sie hatte ihre »Großen«.


1. Das Fränkische Reich

Die Franken, die »Freien« oder »Kühnen«, waren ein germanischer Stammesverband, der sich durch den Zusammenschluss verschiedener kleinerer Stämme am mittleren und unteren Rhein herausbildete. Erstmals in der Geschichte tauchen sie im 3. Jahrhundert auf, als fränkische Gruppen nach Gallien eindrangen. Ein fränkischer Kernstamm waren die Salier vom Niederrhein, die im 4. Jahrhundert in Nordbrabant siedelten. Im 4. und 5. Jahrhundert ließen sich Franken zwischen Lüttich und Tournai nieder – sie wurden von Kleinkönigen aus der Dynastie der Merowinger regiert; zu dieser Zeit siedelten die Rhein-Franken am Niederrhein und hatten ihren Königssitz in Köln. Von Tournai aus gründete Chlodwig dann um 500 das Fränkische Reich, wovon schon früher die Rede war, wobei sein Übertritt zum christlichen (katholischen, nicht arianischen) Glauben eine der wichtigsten Voraussetzungen für die Einheit des Reiches war. Zwar wurde das Reich nach Chlodwigs Tod 511 unter seinen vier Söhnen aufgeteilt, die in Paris, Reims, Soissons und Orléans residierten, aber insgesamt wurde es immer mächtiger: 531 geriet Thüringen unter fränkische Herrschaft, in den folgenden drei Jahren wurde Burgund erobert, und nach und nach kamen Alemannen, Baiern und Hessen in fränkische Abhängigkeit. Allerdings schwächten Auseinandersetzungen zwischen Königtum und Aristokratie die Herrschaft, und nach dem Tod König Dagoberts I. 639 bröckelten zusehends Ansehen und Königtum der Merowinger; die eigentliche Herrschaft übten die Hausmeier, die Verwalter, aus. Als Pippin von Heristal, später genannt Pippin II. (gest. 714), ein Karolinger, wie das Geschlecht der Arnulfinger später nach Karl dem Großen genannt wurde, 687 Hausmeier des gesamten Frankenreiches wurde und in dieser Eigenschaft seinen Zerfall verhinderte, und als dann noch sein Sohn Karl Martell (ca. 688–741) die rechtsrheinischen Stämme unterwarf und vor allem durch den Sieg bei Poitiers über die Araber 732 die muslimische Bedrohung des Frankenreiches abwehrte, war der Weg frei für seinen Enkel, Pippin III. (714–768), den letzten merowingischen König abzusetzen und sich 751 selbst zum König der Franken zu erheben. So einfach war das zwar nicht, denn ihm fehlte das königliche Geblüt, aber durch die kirchliche Salbung, die die fränkischen Bischöfe vornahmen, und die Anerkennung der Zeremonie durch den römischen Bischof, also den Papst, damals Zacharias (Pontifikat 741–752), wurde die Krönung vollzogen. Als er dann noch Papst Stephan II. (Pontifikat 752–757) gegen die Langobarden unterstützte und die von den Langobarden besetzten und von ihm zurückgewonnenen Gebiete dem Papst übereignete (»Pippinsche Schenkung«), womit er die Grundlage für den späteren Kirchenstaat schuf, war der Weg für die weitere Erstarkung des Frankenreiches geebnet; der Weg war frei für eine so bedeutende Herrschergestalt wie Karl den Großen, aber hier ist auch der tiefste Grund für die verhängnisvolle weitere Geschichte der Konkurrenz zwischen Kirche/Papsttum und Kaisertum um die weltliche Vorherrschaft zu sehen: das karolingische Königtum, entstanden von des Papstes Gnaden, und der Papst, abhängig vom Schutz durch den König (Patricius Romanorum), und auch für die sicher eher weniger segensreiche Ausrichtung der deutschen Geschichte im Mittelalter nach Italien.

Vater Europas: Karl der Große

Die Taten Karls des Großen erscheinen im Rückblick so gewaltig, dass bereits Zweifel an seiner Existenz aufkamen. Hatte es ihn überhaupt gegeben? Handelt es sich nicht um die größte Geschichtsfälschung in der Geschichte überhaupt, sind nicht die Jahre 614 bis 911 schlicht dazu erfunden, weil Kaiser Otto III. (geb. 980; König 983; Kaiser 996; gest. 1002) Kaiser des neuen Jahrtausends sein wollte und Papst Gregor XIII. (geb. 1502; Pontifikat 1572–1585) dies bei seiner Kalenderreform kaschierte? Lassen sich damit Ungereimtheiten und Fälschungen, mangelnde Quellen und Brüche im Kunststil erklären, die den angeblich eingeschobenen Jahrhunderten zugeschrieben werden? Haben nicht Kirche und Kaiser einfach einen »Überkaiser« als Ahnherrn gebraucht, auf den sie sich beliebig für ihre Argumente berufen konnten, wenn es um Schenkungen oder Ansprüche ging? Tatsächlich umranken kaum eine andere mittelalterliche Herrschergestalt derart viele Sagen und Legenden wie Karl den Großen, die im 14. Jahrhundert sogar zu einem regelrechten »Königszyklus« vereinigt wurden, von denen das wenig geschichtsträchtige, aber um so traurig-schönere Rolandslied nur eine ist. Aber ihn – und mit ihm fast 300 Jahre mit all den dokumentierten Persönlichkeiten aus dieser Zeit (60 Prozent der Quellen aus dieser Zeit werden für echt gehalten) aus der Geschichte verschwinden zu lassen – wird von der Zunft der Historiker doch für schlicht unmöglich gehalten; allein die Möglichkeit einer Koordination einer gleichartigen Fälschung über derart viele Länder und in derart vielen Dokumenten erscheint schlicht als absurd. Dazu gesellen sich dann noch Bewertungen des Kaisers wie die eines »undeutschen Kaisers« oder gar des »Sachsenschlächters« der Himmlerschen NS-Propaganda (letzteres machte nicht einmal Hitler mit) einerseits oder dem heiligen Kämpfer gegen die islamischen Eroberer andererseits, die mit dem wahren Karl auch nicht viel zu tun haben.
 

Karl der Große

Karl der Große, Idealbild, gemalt 1513 von Albrecht Dürer (Wikipedia)

  
Manches weiß man über Karl zugegebenermaßen nicht so genau, so kennt man seinen Geburtsort nicht. Auch das Geburtsjahr Karls war umstritten. Allerdings geht man heute davon aus, dass er 748 (oder 747?), wahrscheinlich am 2. April, geboren wurde. Pippin hatte vor seinem Tode das Reich unter seinen Söhnen geteilt, aber da Karls jüngerer Bruder Karlmann schon 771, erst zwanzigjährig, starb und Karl dessen Söhne enterbte, regierte er nun allein über das Frankenreich, das er zielstrebig vergrößerte. Schon 772 begannen seine Kriege gegen die Sachsen, die erst 804 völlig ins Fränkische Reich aufgenommen und auch, zumindest äußerlich, christianisiert waren. Diese Kriege waren grausam und blutig, aber das sogenannte »Blutbad von Verden«, bei dem Karl 782 angeblich 4500 Sachsen enthaupten ließ, gehört wohl auch zu den Fälschungen oder Irrtümern, die über ihn kursierten und sich teilweise bis heute halten. So beruht die »Schlächterei« wohl auf einem simplen Abschreibefehler: ein Kopist machte im Mittelalter aus dem »delocati« der um 1100 entstandenen Quelle, was »umgesiedelt« bedeutet, ein »deloccati«: »hingerichtet«, aus einer schon zu Römerzeiten üblichen Umsiedlungsaktion also einen Massenmord.
     Karl besiegte 773/774 die Langobarden, was ihm den Titel »König der Langobarden« einbrachte. Nach Südwesten dehnte er das Reich bis zum Ebro aus; hier holte er sich bei den Basken eine Niederlage, der historische Hintergrund für die Rolandsage, aber errichtete die Spanische Mark. 788 beseitigte er das Herzogtum Bayern, 791 bis 811 zerschlug er das Reich der Awaren, Böhmen wurde tributpflichtig, die slawischen Sorben von seinem Reich abhängig (806). Im Norden gelang es ihm, die Dänen zu befrieden, wodurch auch dort die Grenze gesichert wurde. Der Höhepunkt seiner »Karriere« kam dann im Jahre 800, als ihn Papst Leo III. (Pontifikat 795–816) am 25. Dezember zum Kaiser krönte. Er war nicht etwa Kaiser des Frankenreiches, sondern »Römischer Kaiser« – das alte Römische Reich wurde erneuert, erst 812 allerdings kam es zu einer gegenseitigen Anerkennung des östlichen – byzantinischen – und westlichen – römischen Kaisertums.
     Damals, lange vor dem Investiturstreit, war Papst Leo gewissermaßen Karls Untertan – Karl regelte die kirchlichen Angelegenheiten, wie es ihm gefiel, und Leo ließ die päpstlichen Münzen nach den Regierungsjahren Karls datieren. Karls eigentliche Leistung bestand indes in der Verwaltung seines Reiches und seiner Förderung der Kultur. Selbstständige Herzogtümer und Stammesorganisationen schaffte er ab; an ihre Stelle setzte er eine Grafschaftsverfassung, an den Grenzen richtete er je eine sogenannte Mark, einen das Reich sichernden Grenzraum, als Grafschaft ein; Königsboten als sein verlängerter Arm übten die Aufsicht über die örtlichen Grafen und Bischöfe aus, wenn das auch nicht überall in seinem Riesenreich gelang. Er betätigte sich als Gesetzgeber, wovon die Kapitularien, die Königsgesetze der Karolinger, übrigens in lateinischer Sprache (unter Karl wurde das Spätlatein wieder auf klassisches Niveau gebracht), Zeugnis geben, und er ließ die Volksrechte der in seinem Reich lebenden Stämme und Völker aufschreiben. Speziell Wissenschaft und Bildung blühten unter ihm in der sogenannten »karolingischen Renaissance«: die Liturgie wurde vereinheitlicht, die karolingische Minuskel entstand als reichseinheitliche Schrift, die in ihren Kleinbuchstaben in der Antiqua bis heute erhalten ist (Karl bemühte sich in seinen späteren Lebensjahren rührend um das Erlernen des Alphabets), es gab eine reichsweit verwendete Währung, den Denar. Die Ausbildung der Geistlichkeit wurde ebenso reformiert wie das Heerwesen. An seinem Hof versammelte er berühmte Gelehrte wie den angelsächsischen Leiter seiner Hofschule und späteren Abt von Tour Alkuin (730–804) oder seinen Biografen Einhard (770–840). Karl brachte auch die Kenntnis der Werke der Antike voran. Er lebte seit 794 in seiner Residenz, der Pfalz Aachen, wohin ihn wohl auch die heißen Quellen zogen – am Ende seines Lebens litt er unter Gicht und Fieber. Auch das war ungewöhnlich in seiner Zeit: ein fester Hauptsitz statt der ständigen Rundreise durch das Reich von Pfalz zu Pfalz. 805 wurde hier die Pfalzkapelle eingeweiht, die nach dem Vorbild von San Vitale in Ravenna errichtet war. In ihr wurde er auch nach seinem Tode am 28. Januar 814 beigesetzt. Karl war fünfmal verheiratet und hatte nebenbei noch Konkubinen; 18 Kinder sind von ihm namentlich bekannt. Die schöne Alemannnin Hildegard, die er zur Frau nahm, als sie 13 war, schenkte ihm in 12 Ehejahren sechs Kinder, darunter den einzigen überlebenden Sohn Ludwig (geb. 778; reg. 814–840), später »der Fromme« genannt, den er 813 zum Mitkaiser erhob – drei Jahre später erfolgte die Kaiserkrönung. Karl maß, wie man durch die Untersuchung der Skelettreste aus dem Aachener Karlsschrein 1843, 1945 und 1988 feststellte (vorausgesetzt, es handelte sich tatsächlich um die Skelettreste Karls), stolze 1,90 m und war von ungewöhnlich kräftigem Körperbau, aber nicht daher hatte er seinen Beinamen Karl der Große, sondern aufgrund seiner Machtposition und seiner gewaltigen integrierenden Leistung. Die Aufklärer, die sonst das Mittelalter verachteten, zollten ihm höchsten Respekt, lobten seine Erfolge auf allen Gebieten, seinen Charakter und seine Milde und Würde, und hoben hervor, dass er offenbar seiner Zeit weit voraus gewesen sei. Der Historiker Demandt zählt auch die Kaiserkrönung Karls zu den »Sternstunden der Geschichte: »Die karolingische Renaissance leitet jenen großen Prozess der Antikenrezeption ein, der die abendländische Kultur zu dem gemacht hat, was sie geworden ist […] Mit der Kaiserkrönung Karls des Großen zu Weihnachten 800 in Rom übernahmen die Franken die römische Reichsidee. Dieses Ereignis eröffnet die Folge von Renaissancen, ohne welche die Geistesgeschichte Europas kaum vorstellbar wäre. Die Turbulenzen der Völkerwanderungszeit waren überwunden, und es wurde möglich, auf allen Lebensgebieten an die römischen Traditionen anzuknüpfen: in Staatsleben und Rechtswesen, in Literatur und Kunst, in Wissenschaft und Technik. […] Der alte Gedanke eines Vielvölkerstaates lebt wieder auf und mit ihm die Bemühung um die Aneignung und Weiterentwicklung der antiken Tradition. Karl wollte die Welt unter christlichen Vorzeichen vereinigen, wie Alexander unter griechischen, Augustus unter römischen und Mohammed unter islamischen. Karl der Große gehört zu den wenigen Gestalten, deren Beiname ‚der Große’ sich ohne ernst zu nehmenden Widerspruch gehalten hat. Bei den Franzosen und Engländern ist er Charlemagne, bei den Italienern Carolo Magno, die slawischen Völker leiten ihr Wort für König Kralj von Karl ab […] Die von Karl dem Großen erneuerte römische Kaiserwürde endete zwar, als auf Druck Napoleons Franz II. sie am 6. August 1806 niederlegte. In den tausend Jahren zuvor aber war sie die höchste weltliche Ehre, die es in Europa gab, ein Sinnbild seiner Zusammengehörigkeit.« Der anonyme Verfasser des Karls-Epos hat Karl als pater Europae bezeichnet, zu Recht. Schon bald nach seinem Tode hieß er »Karl der Große«, was durch die idealisierte Darstellung von Notker Balbulus (»der Stammler«, 840–912) in seiner Gesta Karoli Magni (um 885) offiziell wurde. Auch das ist mit Sicherheit gerechtfertigt. Schließlich wurde er auf Veranlassung Kaiser Friedrichs I. Barbarossas (geb. 1122; König 1152; Kaiser 1155; gest. 1190) auch noch heilig gesprochen: 1165 bzw. 1176. Sein Tag ist der 28. Januar, also sein Todestag; allerdings ist seine Verehrung nur »gestattet, nicht anerkannt«; d. h. dass die Kanonisation kirchenrechtlich nicht vollgültig ist. Aber sei’s drum: Karl der Große lebt weiter in seiner Historizität, in den zahlreichen Darstellungen, die es von ihm gibt, sei es die Metzer Reiterstatuette aus dem 9. Jahrhundert, die sich im Louvre befindet, das Gemälde von Albrecht Dürer (1471–1528), die Zeichnung seiner Krönung von Alfred Rethel (1816–1859) oder das Fresko von Hermann Wislicenus (1825–1899), wie er die Irminsäule zerstört, um nur ein paar zu nennen, oder in den Darstellungen in Kirchen oder auf dem Karlsschrein im Aachener Domchor von 1215, in den Kaiser Friedrich II. (geb.1194; König 1212; Kaiser 1220; gest. 1250) seine Gebeine eigenhändig eingeschlossen hat, und in den zahlreichen Sagen und Legenden. Wie Kaiser Barbarossa wartet auch Karl der Große in einem Berg, und zwar im Unterberg zwischen Salzburg und Berchtesgaden, auf seine Auferstehung. Alle 100 Jahre wacht er auf, und wenn die Raben immer noch um den Berg fliegen, schläft er weitere hundert Jahre…Als die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) 1957 gegründet wurde, entsprachen die damaligen Gründerstaaten Frankreich, Italien, Beneluxstaaten und Deutschland vom Gebietsumfang her in etwa dem Reich Karls des Großen, und nicht ohne Grund wird jedes Jahr in Aachen der Karlspreis an eine Persönlichkeit verliehen, die sich um die Aussöhnung und Einigkeit in Europa verdient gemacht hat …

Keine Epigonen: Hugo, Heinrich, Arnulf, zweimal Wilhelm, nochmals Hugo und Theobald die Großen

Das Reich der Franken hielt sich nicht lange in der Form, wie es Karl der Große hinterlassen hatte. Nach dem Tod seines Sohnes Ludwig des Frommen wurde es im Vertrag von Verdun 843 unter dessen drei Söhnen aufgeteilt. Der nördliche Teil des mittleren Gebietes (Lotharingen) fiel später in den Verträgen von Meerssen (870) und Ribemont (880) an die östliche Reichshälfte. Danach kam es ausgerechnet unter dem schwachen Kaiser Karl III. dem Dicken (geb. 839; reg. 882–887) noch einmal zu einer Vereinigung der Teilreiche (885–887), aber danach spaltete sich das Reich endgültig auf, in das Westfränkische Reich, also das spätere Frankreich, das Ostfränkische Reich, das spätere »Deutschland« sowie Burgund und Italien. Die Abfolge von Königen und Kaisern in den rund 70 Jahren bis zum Beginn der Ottonenzeit im späteren deutschen Reichsgebiet war von einer verwirrenden Vielzahl von Kaisern und Königen bestimmt, die überwiegend Karl oder Ludwig hießen und mit entsprechenden Beinamen wie »das Kind«, »der Kahle« u.a. versehen waren. Dann gab es auch noch zwei Herrscher namens Lothar, einen Karlmann und einen Arnulf, aber das können wir hier übergehen. Das Westfränkische Reich erstreckte sich zwischen Rhône-Mündung und Schelde und reichte von den Argonnen bis zur Saône und den Cevennen. Zwar verfiel die Macht die Karolinger immer mehr, aber die Monarchie als solche blieb bestehen, überdauerte die Normanneneinfälle, trotz des Verlustes der Normandie, überstand auch die Abtrennung des umstrittenen Lothringen, das 925 endgültig an das Deutsche Reich fiel, bis es dann 987 den Kapetingern gelang, den Thron zu besteigen. Vorausgegangen war die faktische Ausübung der Macht durch Hugo den Großen, den Grafen von Paris, der 923 einer der mächtigsten Männer im Lande wurde, als sein Vater, der westfränkische Gegenkönig Robert I., im Kampf gegen den eigentlichen König (Karl III. der Einfältige, geb. 879; reg. 893/898–929) gefallen war. Er erbte nämlich dessen weiträumigen Besitz zwischen Loire und Seine. Er ist nun schon der zweite Hugo der Große; der andere, der uns bereits begegnet ist, lebte später und war mit den kirchlichen Reformen von Cluny verbunden. Da die Anhänger Roberts siegreich waren (Karl starb in Haft), hätte Hugo Gegenkönig oder gar König werden können, lehnte aber ab. Hugo war mithin ein »Robertiner«, die man später «Kapetinger« nannte, und war Herzog von Franzien, wie der ursprünglich fränkische Teil des Westfrankenreiches im Nordosten hieß. Eine seiner wichtigsten Taten war, dass er 936 die Rückkehr König Ludwigs IV. (ca. 921–954) unterstützte. Dieser hatte seine Kindheit im Exil in England zubringen müssen, um nicht Rudolf II. von Burgund zum Opfer zu fallen, der zum französischen König gewählt worden war. Nun war Rudolf gestorben, und der französische Adel, allen voran Hugo, riefen Ludwig zurück und erhoben ihn zum König. Wiederum hätte Hugo König werden können, und wieder verzichtete er. Aber Ludwig der Überseeische, wegen seines Exils so genannt, wurde ein König von Hugos Gnaden, der zwar sein mächtigster Vasall war, aber ihn entsprechend lenkte. Er musste ihm sogar den Titel »Herzog der Franken« (»dux Francorum«) verleihen, ein Rang, der eigens für ihn geschaffen wurde, womit er eine einzigartige Stellung gleich nach dem König einnahm. Dieses Amt glich dem der Hausmeier bei den Merowingern. Als sich Ludwig von Hugos Einfluss befreien wollte, kam es zum Krieg. Hugo der Große hatte Hadwig, die Schwester Ottos des Großen geheiratet und konnte dessen Unterstützung sicher sein, vor allem, als Ludwig Lothringen zurück erobern wollte. Aber auch Ludwig war mit Otto verschwägert: er hatte 940 dessen Schwester Gerberga in seine Gewalt gebracht und geheiratet. Am Ende regelte allerdings Otto der Große die Streitigkeiten, von allen Seiten als Schlichter gerufen, weil er auf eine Balance der Kräfte im Westfrankenreich bedacht war, und er wurde sogar von verschiedenen Mächten als Schutzherr angesehen. Doch waren die Kämpfe nicht beendet, und so zog Otto am Ende gegen Hugo ins Feld. Erst 950 kam es zum Frieden, nachdem sich sogar noch die Kirche gegen Hugo gestellt hatte und er exkommuniziert worden war. 954 starb Ludwig an den Folgen eines Reitunfalls, aber auch jetzt wollte Hugo nicht König werden. Seine Stellung im Reich wurde jedoch noch einmal bedeutsamer, und er regierte nun auch in Burgund und, wenigstens nominell, in Aquitanien. Hugo starb im Juni 956. Warum er nie König werden wollte, sondern sich mit der Stellung des zweiten Mannes im Staate begnügte, wird sich wohl endgültig nie klären lassen, und sein Beiname beinhaltete ursprünglich auch nicht politische Größe, sondern »der Ältere«, zur Unterscheidung von seinem Sohn mit Hadwig, Hugo dem Jüngeren (ca. 940–996), der bald nach dem Tod seines Vaters auch sein Erbe als »Herzog von Frankreich« antrat und 987 zum König gewählt wurde, womit er die Dynastie der Kapetinger begründete. Aber der Beiname Hugo der Große hat sich sogar in den großen Lexika und Enzyklopädien erhalten, und sicher besaß er auch politische Größe.

Diese Geschichte ist noch nicht zu Ende. In Burgund brachte es Heinrich I. ebenfalls zu einem »Großen«. Er kam um 946 zur Welt und war zunächst Graf von Nevers und ab 965 bis zu seinem Tode am 15. Oktober 1002 Herzog von Burgund. Wie bei Hugo dem Großen bedeutete sein Beiname »der Große« ursprünglich auch nur »der Ältere«, um ihn von dem späteren Herzog Heinrich II. (1008–1060) von Burgund, einem Enkel Hugo Capets, zu unterscheiden – dieser wurde als Heinrich I. seit 1031 König von Frankreich. Heinrich der Große war der Bruder von Hugo Capet, der älter war als er, und wohl auf dessen Einfluss hin von den burgundischen Edlen zum Herzog von Burgund gewählt worden. Er diente als Lehns- und Gefolgsmann seines Bruders, und als dieser französischer König wurde, wurde Burgund Kronlehen. Heinrich starb ohne Erben, und so wurde das Herzogtum von der französischen Krone eingezogen, was im burgundischen Adel auf heftigen Widerstand stieß.
     Ein Zeitgenosse von Hugo dem Großen war Arnulf I. der Große von Flandern. Sein Vater war Graf Balduin II. der Kahle von Flandern, seine Mutter Aelfthryd von Wessex, immerhin die Tochter König Alfreds des Großen von England (es wimmelte um diese Zeit allenthalben von »Großen«). Er kam um 900 zur Welt. Als sein Vater 918 starb, erbte er den nördlichen Teil der Grafschaft Flandern; Zug um Zug vergrößerte er sein Herrschaftsgebiet, das sich nach der Einahme von Amiens von der Schelde bis zur Somme erstreckte, und durch eine geschickte Heiratspolitik sicherte er die Grenzen. Eine seiner bedeutendsten Leistungen war eine Klosterreform; immerhin war er Laienabt der großen Abteien seiner Grafschaft und Schirmvogt der geistlichen Herrschaften in seinem Gebiet. Er zählte zu den mächtigsten französischen Feudalherren seiner Zeit und nannte sich häufig Markgraf, um seine starke Stellung zu betonen. Zwar war er französischer Vasall, aber er neigte den Ottonen zu. Ohne Kriegszüge ging es auch bei ihm nicht; vor allem kämpfte er gegen die Normannen und ermordete 942 deren Herzog Wilhelm. Seine Gebietserweiterung und seine Ehepolitik machten ihn »groß«, aber das war auch eher lokal, denn anders als Hugo der Große hatte Arnulf nicht Einfluss in ganz Frankreich. Immerhin wehrte er von Flandern alle Herrschaftsansprüche der lothringischen Herzöge ab. Er starb am 27. März 965.

Es wurde schon erwähnt, dass Hugo der Große seine Herrschaft über Aquitanien nur nominell ausüben konnte. Hier gab es auch einen »Großen«, nämlich Wilhelm V. den Großen, nicht zu verwechseln mit dem Ritter und büßenden Mönch, dem wir schon begegnet sind. Er wurde von seinem Vater Wilhelm IV. ab 993 an der Regierung beteiligt und folgte ihm zwei Jahre später als Herzog nach, als er abdankte. Er verstand es wie nur wenige andere, ein weit verzweigtes Netz aus Heirats-, Verwandtschafts- und Freundschaftsbündnissen zu knüpfen. So war er dem deutschen Kaiser Heinrich II. (geb. 973 oder 978; reg. 1002–1024) freundschaftlich verbunden und hielt Beziehungen zu den Königen von England, Dänemark und Navarra. Verschwägert war er mit diversen Fürsten Frankreichs. Überall war er sehr beliebt. Allen französischen Machtansprüchen im Südwesten widersetzte er sich erfolgreich; durch seine Bündnis-, Lehens- und Vasallenpolitk gewann er ganz Aquitanien; keiner wagte es, sich gegen ihn zu erheben. Man hat ihn hochgelobt; er war sehr gebildet – u. a. gründete er eine Bibliothek; er trat als Gönner von Künstlern und Gelehrten auf, galt als Förderer und Wohltäter der Kirche – so gründete er Kirchen oder das Kloster Maillezais, er unterstützte auch die Cluniazensische Klosterreform – und glich von seinem Auftreten her einem König, ja, er fühlte sich dem König von Frankreich als ebenbürtig. Er galt als milde, freigebig, tapfer und weise im Rat, also hatte er alle Eigenschaften, die einen Großen auszeichneten. Mehrfach pilgerte er nach Rom oder Santiago de Compestella. Im Jahre 1024, nach dem Tode Heinrichs II., trugen ihm die italienischen Edlen die Königs- oder gar Kaiserkrone an, worin sich seine hohe Stellung dokumentiert, aber er lehnte vernünftigerweise ab. Am Ende seines Lebens, nachdem er seinen Sohn 1025 an der Regierung beteiligt hatte, zog er sich als Mönch in das von ihm gegründete Kloster zurück und starb im Januar 1030.

Und noch einen Wilhelm den Großen hat es gegeben – er ist Graf von Burgund und Mâcon gewesen: Wilhelm I. der Große (Tête Hardie). Er kam 1020 zur Welt und wurde 1057 nach dem Tod seines Vaters Graf von Burgund, 1078 auch Graf von Mâcon und stieg damit zum mächtigsten Mann in der Region auf. Als der deutsche Kaiser Heinrich IV. im Winter 1076/77 seinen Gang nach Canossa antrat, wurde er von Wilhelm dem Großen in Besançon empfangen, und Wilhelm emöglichte dem Kaiser auch den Zug über das Jura-Gebirge nach Savoyen. Ansonsten hat er sich aber offenbar in den Konflikt zwischen Kaiser und Papst nicht eingemischt. Noch zu Lebzeiten gelang es ihm, das bedeutendste Bistum der Grafschaft Burgunds, Besançon, mit seinem Sohn Hugo (gest. 1101) zu besetzen (1086). Wilhelm starb am 12. November 1087 in Besançon, wo er in der Kathedrale Saint Ètienne beigesetzt wurde. Mit seiner Frau Stephanie (gest. nach 1088) hatte er sieben Söhne und vier Töchter. Drei Söhne nahmen am Ersten Kreuzzug teil, der vierte, Guido, wurde Priester, dann 1088 Erzbischof von Vienne und 1119 sogar Papst. Als Papst Kalixt II. ordnete er den sogenannten zweiten venezianischen Kreuzzug an, bei dem 1122 Damaskus angegriffen wurde. Er starb 1124. Die Familie Wilhelms des Großen beteiligte sich in starkem Maße an den Kreuzzügen, für den Zweiten brachte sie allein zehn Kreuzritter bei. Drei von Wilhelm des Großen Töchtern ehelichten Männer, die im Ersten Kreuzzug für die »Befreiuung des Heiligen Landes« gen Osten zogen; sein Sohn Rainald II. kam 1097 auf dem 1. Kreuzzug ums Leben.

Hinsichtlich der Kreuzzüge ist noch ein weiterer Hugo zu erwähnen, der den Beinamen »der Große« erhielt: Hugo Magnus von Vermandois. Er kam 1057 als dritter Sohn König Heinrichs I., der eben im Zusammenhang mit Heinrich dem Großen erwähnt wurde, zur Welt. Schon zu Lebzeiten wurde er von zeitgenössischen Chronisten und Kreuzugsteilnehmern »der Große« genannt. Aber es scheint, dass der Beiname Magnus bei den Kapetingern für ihre »Hugos« nicht ungewöhnlich war. Hugo war einer der Anführer im Ersten Kreuzzug. Bekannt wurde er vor allem durch sein überaus arrogantes Auftreten, u.a. dem byzantinischen Kaiser Alexios Komnenos (geb.1048; reg. 1081–1118) gegenüber. Diesem schrieb er, noch bevor er mit seiner Flotte zur Mittelmeerüberquerung ablegte: »Wisse, Basileus, dass ich Basileus aller Basileis bin [d.h. König aller Könige] und der größte von allen unter dem Himmel. Und es ist angebracht, wenn du mir gleich bei meiner Ankunft entgegenkommst und mich in aller Pracht und meinem Adel entsprechend empfängst.« – Hugo also seinem Selbstverständnis zufolge ein »echter Großer«! Das kam natürlich beim byzanthinischen Kaiser nicht besonders gut an. Pech war zudem, dass Hugos Flotte bei der Überquerung der Adria 1096 von Bari aus in einen Sturm geriet; Hugo verlor viele Schiffe, wurde aber mit samt dem größten Teil seiner Leute von den Byzanthinern gerettet. Er selbst wurde unter Hausarrest gestellt und kam erst frei, als er dem byzanthinischen Kaiser den Treueid geschworen hatte. Das Kreuzfahrerheer durchquerte dann unter großen Entbehrungen Kleinasien. Nach der Eroberung Antiochas 1098 kehrte Hugo, zuerst noch zu einer erfolglosen Mission zu Alexios mit der Bitte um Hilfe gesandt, nach Frankreich zurück. Da er allerdings sein Gelübde, bis nach Jerusalem vorzudringen, nicht eingehalten hatte, drohte ihm, abgesehen von der allgemeinen Verachtung, seitens des Papstes sogar die Exkommunikation, und so machte er sich drei Jahre später noch einmal auf in Richtung Heiliges Land. In einer Schlacht bei Heraklia wurde er verwundet, entkam aber nach Tarsus, wo er am 18. Oktober 1101 an seinen Verletzungen starb.

Beenden wir dieses Kapitel mit Theobald dem Großen, einem Regenten der Champagne. Er wurde 1093 geboren; sein Vater war Graf Stephan Heinrich von Blois, seine Mutter Adela eine Tochter Wilhelms I. des Eroberers (geb. 1027; reg. 1066–1087), und so war er auch der ältere Bruder des späteren englischen Königs Stephan (geb. ca. 1097; reg. 1135 – 1154). Theobalds Mutter, unter deren Vormundschaft er zunächst stand, hatte großen Einfluss auf ihn. 1125 trat er das Erbe seines Onkels an: die Grafschaft Troyes und den Titel eines Grafen der Champagne. Sein Leben verlief insgesamt kriegerisch. Er stand im Gegensatz zu seinem Lehnsherrn König Ludwig VI. (geb. 1081; reg. 1108–1137), gegen den er sich wegen seines Anspruchs auf eine vakant gewordene Grafschaft erhob, aber der Aufstand endete ohne Erfolg. Nun folgte ein Hin und Her zwischen Gefolgschaft und Gegnerschaft, was dahin führte, dass der König 1127 die Champagne verwüstete. Danach, 1135, ging es nach dem Tode Heinrichs I. um den Königstitel in England; als ältester Enkel Wilhelms des Eroberers hätte Theobald Anspruch gehabt, doch sein Bruder Stephan bootete ihn mit des Papstes Hilfe aus, überließ ihm aber als Ausgleich die Krone der Normandie. Wenig später kam es zu einem neuen Krieg mit dem König. Diesmal ging es um den Streit zwischen König und Papst über die Einsetzung eines Erzbischofs, bei dem Theobald für den Papst Partei ergriff. Dabei ließ der König in barbarischer Weise eine Kirche mit 1000 Menschen darin in Vitry niederbrennen. Auf Vermittlung des Papstes kam es nun zum zwangsweisen Frieden, Ludwig musste die Champagne räumen und auch in der Erzbischofsfrage nachgeben. Zu dieser Zeit brach in England ein Bürgerkrieg aus, was der Graf von Anjou dazu nutzte, in der Normandie einzufallen; durch den Krieg mit Ludwig gebunden, musste Theobald tatenlos zusehen, wie ihm die Normandie verloren ging, aber infolge des Machtzuwachses des Grafen von Anjou, der Ludwig nicht recht sein konnte, kam es nun zur endgültigen Aussöhnung zwischen König und Theobald. Letzterer starb am 10. Januar 1152. – Was ist von seinem kriegerischen Leben geblieben? Nun, er erweiterte den Einfluss der Champagne im Osten Frankreichs nicht unerheblich; sogar in Burgund waren ihm mehrere Herzöge untertan. Aber seinen Nachruhm sicherte er sich vor allem durch seine wirkungsvolle Förderung der Zisterzienser: er stiftete wichtige Ordenseinrichtungen, wie z. B. die Abtei von Clairvaux. Der einflussreiche Abt und Kirchenlehrer Bernhard von Clairvaux, dem wir schon begegnet sind, war ihm ein Vertrauter und Freund. Als der scholastische Philosoph und Papstlehrer Pierre Abaelard – die Liebesgeschichte zwischen ihm und Heloise wurde zu den bekanntesten und ergreifendsten des europäischen Mittelalters gezählt – aus Saint Denis fliehen musste, gewährte ihm Theobald Asyl. Und nicht zu vergessen: Theobald stellte die Champagnemessen unter gräfliche Schirmherrschaft; damit leitete er eine wirtschaftliche Entwicklung der Champagne ein, die die Region zu einer der am meisten prosperierenden, ja reichsten Europas werden ließ. Ein Glas Champagner also auf Theobald den Großen!

Die Widerständler: Gralion MUR und Alain die Großen

Am Rande des Fränkischen Reiches, im Nordwesten, lebten kleinbritische Kelten. Es handelte sich um das Herzogtum Bretagne, das ungefähr der heutigen französischen Region dieses Namens entsprach. Im Jahre 56 v. Chr. hatte es Cäsar erobert; als Armorica wurde es Teil des römischen Galliens. Erst im 5./6. Jahrhundert n. Chr. siedelten dort Briten, die Bretonen. Auch dieses raue Territorium hatte »Große« in der Geschichte, über die allerdings nicht viel bekannt ist. Auf das Königreich Armorica folgte das Königreich Dommonée, dann in der West-Bretagne das Königreich Cornuailles. Sein erster Herrscher war Gradlon Mur, den man »den Großen« nannte; er regierte bis 505. Ab Mitte des 9. Jahrhunderts bildete die Bretagne ein zeitweise unabhängiges Herzogtum. Damals, im 9. Jahrhundert, 831, hatte Kaiser Ludwig der Fromme den bretonischen Kleinkönig Nominoë zum Fürsten ernannt. Seine Nachfolger übernahmen den Königstitel und gingen zum Fränkischen Reich auf Distanz, aber die ständigen Auseinandersetzungen und Kämpfe zwischen rivalisierenden Fürsten verhinderten die Entwicklung eines echten mit zentraler Gewalt ausgestatteten Königtums. In Folge der ständigen Normannenüberfälle im 9. und 10. Jahrhundert näherten sich die Bretonen der Normandie an und begaben sich in ein Vasallenverhältnis zum dort regierenden Herzog.
     Widerstand gegen die Franken, Widerstand gegen die Normannen und Kriege unter einander – das waren die Hauptlinien der bretonischen Geschichte. Das Fränkische Reich suchte seine Grenze zur Bretagne durch eine Mark zu sichern, aber hier begann eine wilde Gegend mit sich unabhängig fühlenden Bewohnern, und diese Geisteshaltung findet sich noch heute bei vielen Bretonen.
     Nach Nominoë regierte von 851 bis 857 sein Sohn Erispoë, dann ein Neffe von Nominoë: Salomon der Heilige, der 874 ermordet wurde. Daraufhin kam es zu einer Art Erbfolgekrieg, den die Normannen beendeten, indem sie beide Thronaspiranten entmachteten. Den Kampf um den Thron führten nun Verwandte weiter; einer davon, Alain von Vannes, siegte schließlich in der Schlacht von Questembert 888 und wurde ein »guter« König, 890 gekrönt, er regierte bis 907, und ihn nannte man Alain I. den Großen. Nach seinem Tode gingen die Kämpfe unter einander und gegen die Normannen weiter, die erst 937 aus Nantes vertrieben werden konnten.
     Erst 1297 wurde die Bretagne als französisches Herzogtum bestätigt, und 1532 fiel es als letztes bedeutendes Lehnsfürstentum durch Heirat an Frankreich. Bis zur Französischen Revolution behielt die Bretagne Sonderrechte, und noch im 20. Jahrhundert machte das Land durch militante Autonomiebestrebungen auf sich aufmerksam. Widerständler gab und gibt es dort also bis heute.


2. Heiliges Römisches Reich (deutscher Nation)

Die »theodisca lingua« war – mittellateinisch ausgedrückt – die fränkische Volkssprache im Gegensatz zum Lateinischen. Der Ausdruck ist seit 786 erstmals belegt. Anfang des 9. Jahrhunderts sprach man auch von der »rustica lingua romana«, dem Altfranzösischen. Im 7. Jahrhundert war der Begriff »theudisk, »dem eigenen Stamm zugehörig« (von »thiot«, Volk) im Fränkischen Reich entstanden, im Unterschied zu »walhisk« gleich »welsch«, d. h. »romanisch«. Im Lauf der Zeit verdrängte das althochdeutsche, bei den ostfränkischen Völkern entstandene »diutisc«, das dem westfränkischen »theudisk« entsprach, das mittellateinische »theodiscus« und wurde zur allgemeinen Bezeichnung der Sprachen im ostfränkischen Reichsgebiet; daraus entwickelte sich der Begriff »deutsch«. Es mussten aber noch an die zweihundert Jahre vergehen, bis die Bezeichnung auch auf die Menschen angewandt wurde, die das »Deutsche« sprachen; dies geschah erstmals im um 1080 entstandenen Annolied.
     In den Gebieten, in denen »deutsch« gesprochen wurde, also im Ostfrankenreich, hatten sich in der späten Karolingerzeit etliche Umstrukturierungen ergeben. Wie wir gesehen haben, hatten die Karolinger die Stammesherzogtümer abgeschafft und durch Grafschaften ersetzt. Nun aber wurden mit dem Verfall der Macht der Karolinger die alten Herzogtümer wiederbelebt, wenn auch nicht unbedingt in der alten Form. Das brachte viele neue Konflikte mit sich; starke Adelsgeschlechter waren die Konradiner (ab 830 im hessischen Rhein-Main-Gebiet) und die Liudolfinger im Gebiet zwischen Leine und Harz ab Mitte des 9. Jahrhunderts. Und der erste »deutsche« König, der nach dem Tode König Ludwigs (IV.) dem Kind (geb. 893; reg. 900–911) von den bedeutendsten Vertretern des Ostfränkischen Reiches gewählt wurde, der allerdings noch an der Schwelle zwischen fränkischer und deutscher Geschichte stand, der glücklose Konrad I. (geb. ca. 880/85; reg. 911–918), scheiterte mehr oder weniger an allen seinen Aufgaben; er war als König auch nicht gekrönt, »nur« gesalbt worden. Immerhin schlug er seinen größten Widersacher als Nachfolger vor, den Sachsen (Liudolfinger) Heinrich, dem es als König Heinrich I. (geb. ca. 876; reg. 919–936) gelang, aus den verfeindeten Herzogtümern ein neues und halbwegs einiges Reich zu schaffen: der Beginn des mittelalterlichen Deutschen Reiches. Vielfach wird dieses Reich ab 911/919 angesetzt, manchmal sogar schon ab 843. Die Bezeichnung Heiliges Römisches Reich kam erst später auf: sie wurde als Amtsbezeichnung auf den Herrschaftsbereich des abendländischen Römischen Kaisers angewandt, d. h. auf das Deutsche Reich, Italien (seit 951) und Burgund (seit 1033). Seit 1034 sprach man vom Romanum Imperium, was aber schon zum Kaisertitel Karls des Großen gehört hatte; vom Sacrum Imperium ist seit 1157 in Königsurkunden die Rede, seit 1254 vom Sacrum Romanum Imperium, und dies lediglich in lateinischer Sprache. In deutscher Sprache gibt es das Heilige Römische Reich erst ab den Zeiten Kaiser Karls IV. (geb. 1316; König 1346, Kaiser 1355; gest. 1378); der Zusatz »Deutscher Nation« (Nationis Germanicae) wurde seit 1512 verwendet und betraf auch nur das Deutsche Reich und nicht Italien und Burgund. Im Weströmischen Reich war – im Gegensatz zum Oströmischen, wo in Byzanz das Kaisertum noch lange erhalten blieb – die Reichsidee mit dem Ende seines Bestehens 476 weitgehend erloschen. Aber mit der Kaiserkrönung Karls des Großen 800 wurden das alte Weströmische Reich und die dahinter stehende Idee auf die Franken übertragen; mit der Kaiserkrönung Ottos des Großen 962 auf die Deutschen. Von der Idee her war dieses Reich, so jedenfalls wurde es im Mittelalter gesehen, allen anderen Staaten des Abendlandes überlegen, auch durch seine übernationale Zusammensetzung und seine Verbindung mit der römischen Kirche, und trotz ihres Niedergangs im Lauf der Jahrhunderte lebte die Reichsidee auch nach 1806 in anderer Form, z. B. als Reichspatriotismus fort. Als Begründer des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation kann Otto der Große angesehen werden.

Vater des Vaterlandes: Otto der Große

Das Reich von Ottos Vater trug noch keine besondere Bezeichnung; es hieß allgemein »Heinrichs Reich«. Erst sein Sohn Otto sollte ein »neues« Reich daraus machen. Dieser hatte sich die Wiederholung der Erfolge Karls des Großen zum eigenen ehrgeizigen Ziel gesetzt, strebte nach europäischer Hegemonie, und nach dem grandiosen Sieg über die Ungarn 955 auf dem Lechfeld bei Augsburg gelang es ihm tatsächlich, das Kaisertum zu erneuern und damit die Grundlagen für das Heilige Römische Reich und schließlich für Deutschland zu legen und somit auch die Hegemonie in Europa zu erreichen. Nach diesem Sieg feierte ihn sein Heer bereits als »Kaiser« (imperator) und als »Vater des Vaterlandes«, und immer öfter wurde er damals schon als der »Große« bezeichnet.
     Geboren wurde Otto am 23. November 912 als ältester Sohn König Heinrichs I. und seiner Gemahlin Mathilde. Als sein Vater 936 gestorben war, wurde Otto in Aachen zum König gewählt, eine Besonderheit, da das Reich nicht unter allen Söhnen aufgeteilt wurde, wie es die Franken gehandhabt hatten, sondern als Sachse bestimmte Heinrich seinen Erstgeborenen zum Nachfolger. Doch hatte er damit die Saat für familiäre Auseinandersetzungen gelegt, mit denen Otto in der ersten Hälfte seiner Regierungszeit zu kämpfen hatte. Zudem suchte er von Anfang an, die Zentralgewalt des Reiches zu stärken und die Machtbefugnisse der Herzöge einzuschränken. Sein älterer Halbbruder Thangmar erhob sich vor diesem Hintergrund 938 gegen ihn und kam dabei ums Leben; auch sein Bruder Heinrich (919/920–955) versuchte 939, im Verein mit den Herzögen von Franken und Lotharingen, ihn zu stürzen, aber wurde gefangen gesetzt, und die feindlichen Herzöge verloren zwei Schlachten und fielen. Otto verzieh seinem Bruder bald, ebenso, als dieser 941 noch einmal einen Anlauf nahm und Otto ermorden wollte, und er übertrug ihm 947 sogar das Herzogtum Bayern. Dem König war bewusst, dass er auf Dauer nicht gegen seine Verwandten und gegen die Herzöge regieren konnte, doch das Resultat seiner Politik bestand in der Schaffung des ottonisch-salischen Reichskirchensystems des 10. und 11. Jahrhunderts, d. h. die starke sowohl personelle als auch institutionelle Verbindung zwischen Königstum und Kirche bzw. ihren Vertretern. So erhielten meist ihm nahe stehende und loyale Bischöfe oder auch treue Verwandte als Kirchenvertreter weltliche Aufgaben und wurden seine wichtigste Stütze. Dieses auf dem Reichstag von Arnstadt 954 endgültig formulierte System sollte allerdings spätestens im 11. Jahrhundert, während des Investiturstreites, und noch an die hundert Jahre länger all seine Schattenseiten zeigen. – Dazu betrieb Otto eine geschickte Heiratspolitik und brachte damit im Laufe der Zeit so gut wie alle Herzogtümer in königsnahe oder gar königliche Hand. Die Geschichte seiner Beziehung zu Hugo dem Großen und dem französischen König Ludwig IV. dem Überseeischen wurde bereits erzählt – ihr Ausgang bestand darin, dass Otto zum Schützer und Stützer des französischen Königtum wurde, eine Rolle, die er auch für Burgund und Italien übernahm. Er selbst hatte die Enkeltochter Alfreds des Großen von England, Edith (eigentlich Eadgyth), geheiratet, die 946 starb. Fünf Jahre später vermählte er sich mit Adelheid (ca. 931–999), der Tochter Rudolfs II. von Burgund, die schon mit sechzehn Jahren mit König Lothar von Italien verheiratet worden war. Als dieser schon 950 starb, gerade mal 23 Jahre alt, wurde sie von Berengar von Ivrea gefangen gesetzt, der selbst König werden wollte, aber vor dem Problem stand, dass Adelheid als Königinwitwe durch Wahl eines neuen Gemahls die Nachfolge des Königs bestimmen konnte – so sah es das alte lombardische Gewohnheitsrecht vor. Mit ihren Begleitern, einem Priester und einer Magd, grub sie einen Fluchttunnel; sie rief König Otto um Hilfe, dessen Ritter sie retteten, und bald wurde sie an Ottos Seite Königin. So wurde Otto auch König von Italien. Adelheid selbst war eine der bemerkenswertesten Frauen der deutschen Geschichte. Nach dem Tode Ottos beriet sie den neuen Kaiser, ihren Sohn Otto II. (geb. 955; (Mit-) König 961; (Mit-) Kaiser 967; reg. 973–983). Und, nachdem Ottos II. Gemahlin Theophano (959 (?)–991) gestorben war, war sie von 991 bis 994 mit Erzbischof Willigis von Mainz (gest. 1011), dem Erzkanzler des Reiches seit 975, Regentin für ihren Enkel Kaiser Otto III. Am Rande bemerkt: Willigis veranlasste den Bau des Mainzer Domes und wurde später heilig gesprochen. Desgleichen wurde auch Adelheid schon 1097 heilig gesprochen. Adelheid hätte den Titel »die Große« allemal verdient gehabt, aber dieser Beiname blieb ihrem Mann vorbehalten.
     953 brach gegen Otto eine große Empörung aus, in die auch sein Sohn Liudolf (930–957), der Herzog von Schwaben, verwickelt war, aber die Stimmung schlug gegen die Aufständischen um, als die Ungarn 954 bis zum Rhein vorstießen. Nach der vernichtenden Niederlage der Ungarn auf dem Lechfeld war Ottos Stellung unangefochten; die Ungarn zogen sich in die pannonische Tiefebene zurück, wo sie sesshaft wurden und später zum christlichen Glauben übertraten. Mit der Gründung der bayerischen Ostmark legte Otto nun auch den Grundstein für das spätere Österreich. Außerdem dehnte Otto die Ostgrenze gegen die Slawen bis nach Brandenburg und weiter aus und sicherte sie: durch die Gründung von Bistümern, dessen bedeutendstes das Erzbistum Magdeburg als Missionszentrum 968 wurde, und mit Hilfe seiner Ritter, vor allem unter dem tüchtigen Markgrafen der Elbmark Gero, der schon 937 den Oberbefehl in den Grenzgebieten auf beiden Seiten der Elbe erhalten hatte und 965 starb.
     Schon 951/952 war Otto im Zuge seiner Vermählung mit Adelheid in Italien gewesen. Als er 960 wegen der unruhigen Zustände in Oberitalien von Papst Johannes XII. (ca. 937–964, Pontifikat 955–963) zu Hilfe gerufen wurde, brach er 961 mit einem großen Heer auf und traf im Januar 962 in Rom ein. Hier wurde er am 2. Februar zum Kaiser gekrönt, mit ihm wurde Adelheid Kaiserin. Damit band er die Kaiserwürde an das deutsche Regnum, also das spätere Heilige Römische Reich (deutscher Nation), übernahm aber auch die Schirmvogtei über das Papsttum und orientierte die Reichspolitik nach Italien, was Historiker im Lauf der Zeit durchaus auch als zwiespältig angesehen haben. In der Zeit danach kam es zum Zerwürfnis mit dem Papst, den Otto 963 kurzerhand absetzte. Hatte er im Jahr zuvor noch die Pippinsche Schenkung bestätigt, bestimmte er nun, dass künftig ein Papst nur mit kaiserlicher Bestätigung gewählt werden durfte. Es gab noch weitere Verwicklungen, und so kam er erst Anfang 965 nach Deutschland zurück, wo sein Bruder Brun (925–965), der Erzbischof von Köln und Herzog von Niederlothringen, die Regierungsgeschäfte in seinem Sinne geleitet hatte. Von 966 bis 972 hielt sich Otto noch einmal in Italien auf, also fast sechs Jahre, obwohl er dort nach dem anfänglichen Zwist mit den Römern kaum mehr größere Schwierigkeiten hatte. In dieser Zeit ließ er seinen Sohn Otto 967 zum Mitkaiser und einzigem Nachfolger krönen. Als diesem auch noch der byzantinische Kaiser seine Nichte Theophano zur Frau gab – die Hochzeit fand im April 972 in Rom statt – war auch die Anerkennung seines Kaisertums durch Byzanz gesichert; das Kaisertum war seitdem an die »deutschen« Herrscher gekoppelt.

Otto kam im August 972 gerade rechtzeitig zurück, um dann auf dem Hoftag von Quedlinburg zu Ostern 973 die Huldigungen der Gesandtschaften aus den europäischen Fürstentümern, einschließlich Frankreich, entgegen zu nehmen, die seine hegemoniale Stellung und seine Vormacht anerkannten. Wenig später, am 7. Mai, starb Otto in seiner Pfalz Memleben und wurde im Magdeburger Dom beigesetzt. Er hatte sein Ziel, die Nachfolge Karls des Großen anzutreten, erreicht. Äußerlich ähnelte er seinem Vorbild allerdings nicht: Er war klein, untersetzt mit massigem Körper und breiten Schultern, hatte ein gerötetes Gesicht mit langem roten Bart und war wegen seiner Zornesausbrüche bekannt und gefürchtet. Er liebte die Jagd, den Kampf, Reiten und Sport ohnehin. Erst in späteren Jahren begann er, sich mit geistigen Dingen zu beschäftigen. Er war schon 34 alt, als er lesen und schreiben lernte. Seine Haltung war nicht königlich, von Erhabenheit war wenig zu spüren. Aber es wäre falsch, ihn für derb und dem Geistigen gegenüber für unaufgeschlossen zu halten. Mehr noch als ihm allerdings war es sein Bruder Brun, dem der kulturelle Aufschwung des Reiches in dieser Zeit zu verdanken war. Die Domschulen, vor allem die Kölner, errangen einen hohen Ruf. Die Goldschmiedekunst blühte; dafür stehen kostbare Behältnisse für die Heiligenreliquien, Kelche, Monstranzen und vor allem die Kaiserkrone selbst und andere Reichskleinodien. Die Reichskrone, die heute in der Wiener Schatzkammer aufbewahrt wird, wurde vermutlich bereits von Otto getragen; sie bildet Jesus Christus mit zwei Engeln und daneben die alttestamentlichen Könige David und Salomo ab, womit sie den religiös legitimierten Führungsanspruch des Kaisers dokumentiert. In den Klöstern wurden damals religiöse Texte von Hunderten von Schreibern nicht nur abgeschrieben, sondern künstlerisch verziert, mit bunten Bildern versehen. In der Baukunst entwickelte sich der »romanische« Stil. Und allgemein wurde die Zeit Ottos zu einem bedeutenden, »großen« Zeitalter. Otto selbst wurde von seinem Zeitgenossen Widukind als »Caput orbis«, als »Haupt der Welt« bezeichnet, und von den Zeiten Ottos von Freising (ca. 1112–1158), des bekannten mittelalterlichen Chronisten, an, also dem 12. Jahrhundert, der ihn als erster so nannte, hieß er Otto der Große. Nach ihm hat kein König bzw. Kaiser des Reiches diesen Titel wieder getragen. Dafür gab es aber in »deutschen« Landen einige bedeutende Grafen und Herzöge, denen man diesen Titel verlieh, und auch in der späteren Geschichte, in der Neuzeit, stoßen wir auf sie.

Grafen und Herzöge von Rang und Namen: Konrad, Albrecht, Gerhard und Amadeus die Großen

Kommt man nach Dresden und besucht bei einer Besichtigung den Schlossplatz und seine Umgebung, gleich bei den Brühlschen Elbterrassen, so erreicht man auch den Langen Gang, der den Georgenbau mit dem Johanneum verbindet. Er wurde zwischen 1586 und 1588 erbaut. An seiner Außenseite – nach innen begrenzt er den Stallhof, wo im Mittelalter ritterliche Spiele und Turniere veranstaltet wurden und der mit seiner Ringstechbahn heute noch die einzige gut erhaltene Turnieranlage in Europa aufweist – kann man den berühmten, 101 m langen Fürstenzug bewundern, der, ein Werk von Wilhelm Walther, 1876 hier angebracht wurde und alle Herrscher des Geschlechts Wettin auf insgesamt 24000 Meißener Porzellankacheln zeigt. Schreitet man ihn ab, so stößt man auf Konrad den Großen, einen von jenen wenigen deutschen Fürsten, die diesen Titel verliehen bekamen und der hier einen Ehrenplatz erhielt. Konrad I. aus dem Adelsgeschlecht der Wettiner wurde wohl um 1098 geboren. Schon 929 hatte König Heinrich I. auf dem Burgberg von Meißen die Reichsburg Misni errichtet und sie zum Zentrum der deutschen Herrschaft im mittleren Elbegebiet gemacht. Sie war Sitz der Markgrafen, der Bischöfe (seit 968) und seit 1068 der Burggrafen von Meißen. 1089 kam Meißen an die Wettiner, und bald danach trat Konrad auf den Plan. Nach diversen Erbstreitigkeiten, in deren Folge er sogar im Kerker landete, aber zum Glück wieder freikam, erhielt er um 1123/25 die Markgrafschaft Meißen, ein Lehen von Kaiser Heinrich V. (geb. 1086; König 1089/99; Kaiser 1111; gest. 1125), das Kaiser Lothar III. von Supplinburg (geb. 1075; König 1125; Kaiser 1133; gest. 1137) 1130 bestätigte Letzteren begleitete er auf seinem Zug nach Unteritalien 1132. Vier Jahre später wurde er mit der Mark Lausitz belehnt, und im Jahre 1143 erhielt er auch noch das Rochlitzer und Milzener Land.
     Das Verdienst von Konrad bestand darin, dass er den späteren Wettiner Territorialstaat und die Wettiner Hausmacht begründete. Er förderte die Ostkolonisation und verbreitete Macht und Christentum über die Elbe hinaus bis zur Oder. Am Kreuzzug gegen die Wenden nahm er 1147 persönlich teil. Auch mit kluger Diplomatie gelang es ihm, seine Macht zu vergrößern. Er entspannte das Verhältnis zu Polen und verband durch eine geschickte Heiratspolitik die bedeutenden Geschlechter der Askanier (Markgraf Albrecht der Bär; ca. 1100–1170) und Wettiner. Sein gutes Verhältnis zur Kirche, vor allem zu den Magdeburger Erzbischöfen, war ihm ebenfalls für den Ausbau seiner territorialen Macht von Nutzen. Die Nachwelt rühmte seine Verbindung aus weltlicher Tatkraft, irdischem Machtstreben und tiefer Frömmigkeit von Jugend auf und verlieh ihm die Titel Konrad der Große, aber auch Konrad der Fromme, zumal er 1156 allem Herrschertum entsagte und als Laienbruder in das von ihm gegründete Kloster auf dem Lauterberg, dem heutigen Petersberg bei Halle, eintrat, wo er am 5. Februar 1157 starb.

Albrecht I. der Große, Herzog von Braunschweig-Lüneburg, stammte aus dem Hause der Welfen, dem im 12. Jahrhundert Herzog Heinrich der Löwe von Sachsen und Bayern alle Ehre gemacht hatte, ohne aber den Titel »der Große« zu erhalten. Braunschweig, an der Oker gelegen, kann seine Ursprünge auf Kaufmannssiedlungen aus dem 9. Jahrhundert zurückführen. Seit Kaiser Lothar III. war der Ort welfisch und wurde 1031 als Braunschweig erstmals erwähnt. Im Laufe der Zeit entwickelten sich hier insgesamt fünf Stadtteile, meist Kaufmanns- und Handwerkersiedlungen. Hier wurde auch die Residenz Heinrichs des Löwen, die Burg Dankwarderode, errichtet. Im 13. Jahrhundert wurden die im Laufe der Zeiten entstandenen Bezirke Alt- und Neustadt, Burgbezirk, »Hagen« und »Sack« mit einer Mauer umbaut, mit Burg Dankwarderode und Dom auf der Okerinsel im Mittelpunkt, und 1227 wurde der Siedlung das Stadtrecht bestätigt. Bald danach erblickte Albrecht das Licht der Welt, 1236, und wurde 1252 nach dem Tode seines Vaters, also schon mit 16 Jahren, Herzog; zusammen mit seinem jüngeren Bruder Johann, über den er zunächst noch die Vormundschaft gehabt hatte, regierte er das Land. Um einem Streit um die Herrschaft zu begegnen, teilte Albrecht schließlich 1267 das Territorium und überließ sogar seinem Bruder das Recht, sich seinen Teil zu wählen. So bekam Johann das Lüneburger Land mit Hannover, Albrecht das Gebiet um Braunschweig und Wolfenbüttel mit Ländereien um Göttingen und Calenberg. 1269 wurde die Teilung endgültig rechtswirksam. Albrecht begründete somit das »Ältere Haus Braunschweig«, Johann das »Ältere Haus Lüneburg«. Albrecht, der wohl ob seiner weisen, vom Wunsch nach Frieden und Einigung getragenen Entscheidungen von der Nachwelt Albrecht der Große genannt wurde, starb am 15. August 1279 und wurde im Braunschweiger Dom bestattet. Sein Sohn Luther (oder Lothar; 1275–1335), jüngster von sechs Söhnen, war von 1331 bis zu seinem Tode Hochmeister des Deutschen Ordens.

Der nächste »Große« führt uns weiter nach Norden, ins heutige Schleswig-Holstein, das eine wechselvolle Geschichte erlebte. Ursprünglich handelte es sich bei Schleswig um ein Herzogtum an Eider und Schlei, das seit der Karolingerzeit zwischen Dänen und Fränkischem Reich umstritten war. Hier, an der Grenze zu Jütland, ließ der dänische König Göttrik (Godfred), der 810 starb, eine Wallanlage, das Danewerk, errichten bzw. eine ältere, die schon seit 737 bestanden haben soll, ausbauen, um zum Schutz gegen das Frankenreich den Zugang zu Jütland zu sperren.. Sie war etwa 30 km lang und wurde bis ins 12. Jahrhundert immer wieder um weitere Wälle erweitert. Zwischen 1025 und 1035 fiel das Gebiet an den dänischen König Knut den Großen, dem wir bald wieder begegnen werden, und Schleswig wurde Ende des 11. Jahrhunderts ein weitgehend selbstständiges Herzogtum, wenn es auch unter der Statthalterschaft der dänischen Könige verblieb. 1232 wurde Abel (1218–1252) Herzog von Schleswig, und dieser Abel war auch von 1250 bis 1252 König von Dänemark. Die nächsten Jahrzehnte waren von Unsicherheiten und Unruhen geprägt. In dieser Zeit brachte es Graf Gerhard III. der Große von Holstein-Rendsburg zu Macht und Ansehen, sowohl in Schleswig als auch in Dänemark. Geboren wurde er, aus der Rendsburger Linie des Hauses Schauenburg stammend, um 1292. Nach dem Tod seines Vaters 1304 wurde er Graf von Holstein-Rendsburg. In der Geschichte von Dänemark und Schleswig sollte er bald eine wichtige Rolle spielen. Als er 1313 seine Schwester Adelheid mit Herzog Erich II. von Schleswig verheiraten konnte, legte er die Grundlage für die Vereinigung von Schleswig und Holstein. Und auch in Dänemark spielte er wesentlich mit auf dem politischen Parkett. Nach dem Tode Erichs 1326 gelang es ihm nämlich, seine Ansprüche gegenüber König Christoph II. von Dänemark (geb. 1276; reg. 1319–1332) aufrecht zu erhalten, und gleichzeitig schaffte er es mit Hilfe des mit ihm verbündeten dänischen Adels, die Wahl seines noch unmündigen Neffen Waldemar, den Sohn Erichs II., auf den dänischen Königsthron als Waldemar III. (geb. 1314; reg. 1326–1330; gest. 1364) unter seiner Vormundschaft durchzusetzen. Christoph II. musste das Land verlassen. Damit mischte Gerhard in der Innenpolitik Dänemarks kräftig mit. Gleich als ersten Schritt ließ er sich noch 1326 von Waldemar III. Schleswig als Lehen geben und war damit der erste Schauenburger, dem das gelang; allerdings war das nicht besonders schwer, da Waldemar ja unter seiner Vormundschaft stand. Und erstmals befanden sich nun Schleswig und Holstein in einer Hand; zudem musste Waldemar zusichern, dass Schleswig und Dänemark nicht mehr gemeinsam unter derselben Herrschaft stehen sollten. Christoph II. kehrte allerdings unter Einräumung großer Zugeständnisse 1329/30 nach Dänemark als König zurück, und Waldemar III., gegen den sich immer mehr innere Gegner gewandt hatten und der darob 1330 abdankte, erhielt nun die schleswigsche Herzogswürde. Als König Christoph 1332 starb, übernahm Gerhard die Regierung über Jütland und Fünen; wegen des Erhalts von Fünen hatte er schon 1329 auf Schleswig verzichten und es abtreten müssen. Jedoch erwarb er 1340 gegen die Abtretung von Nord-Jütland Schleswig erneut. Zu dieser Zeit verlor er aber die Unterstützung des dänischen Adels, der sich Christophs Sohn Waldemar als Nachfolger wünschte. Diese immer bedrohlicher werdende Opposition und Bauernaufstände führten zu chaotischen Zuständen, und am 1. April 1340 tötete Gerhard ein jütländischer Verschwörer, ein Ritter namens Niels Ebbbesen, in Randers. Gerhards Söhne verzichteten nunmehr in Anbetracht der blutigen Auseinandersetzungen weise auf alle Ansprüche in Dänemark, und Christophs Sohn wurde als Waldemar IV. Atterdag (ca. 1320–1375) dänischer König – er verwickelte sich nach 1361 in einen langen Krieg mit der Hanse, der erst 1370 endete.
     Das Schleswigsche Herzoghaus starb 1375 aus, daraufhin kam das Gebiet 1386 als dänisches Lehen an die Schauenburger (Schaumburg). Seine folgende Geschichte schwankte weiterhin zwischen der Zugehörigkeit zu Dänemark und »Deutschland«, wobei sich die Schleswiger und Holsteiner immer wieder auf den Ripener Freiheitsbrief von 1460 beriefen, demzufolge Schleswig und Holstein ewig ungeteilt zusammenbleiben sollten. In den deutsch-dänischen Kriegen 1848/50 und 1864 erreichten die nicht enden wollenden und unerfreulichen Auseinandersetzungen erneut einen Höhepunkt – hier gewann sogar das alte Danewerk noch einmal an Bedeutung – dann fiel Schleswig-Holstein endgültig an »Deutschland« bzw. richtigerweise an Preußen (Nordschleswig kam 1920 durch Volksabstimmung an Dänemark). Diese Auseinandersetzungen spiegeln sich auch in der Beurteilung Gerhards III. in der deutschen und dänischen Geschichtsschreibung wider. In den Querelen und Kriegen des 19. Jahrhunderts wurde die Rolle Gerhards als Vereiniger von Schleswig und Holstein herausgestellt, für diese Betrachtung war er eben Gerhard der Große. Die nationalistische dänische Seite sah in ihm dagegen einen Quertreiber, der Dänemark in einer schweren Krise weiter gedemütigt und sich einen Teil dänischen Territoriums angeeignet hatte – für sie blieb er der »kahlköpfige Graf«, der »kullecke greve«, wie »der groote Gert« in der dänischen Geschichtsschreibung überwiegend genannt wurde.

Die Geschichte des nun folgenden Grafen hätte auch im Zusammenhang mit dem Reich der Franken geschildert werden können, aber sein Gebiet Savoyen gehörte nun mal zum Heiligen Römischen Reich, und daher müssen wir ihn an dieser Stelle nennen. Savoyen, ein historisches Gebiet in den heute französischen Alpen an der Grenze zu Italien, war im Altertum von keltischen Stämmen besiedelt und kam 121 v. Chr. unter römische Herrschaft. Die von den Römern hier 443 n. Chr. angesiedelten Burgunder wurden 532 durch die Franken niedergeworfen, und ihr Land gehörte seitdem zum Fränkischen Teilreich Burgund. 1032/34 wurde Savoyen Teil des Heiligen Römischen Reiches. Als Graf von Savoyen regierte von 1285 bis 1323 Amadeus V., den man den »Großen« nannte. Geboren um 1250 in Le Bourget, bestand seine Hauptleistung in der Vereinigung und Erweiterung der Herrschaft über die savoyischen Länder. Dafür regelte er nach innen die Unteilbarkeit und Vererbung nach dem Erstgeburtsrecht in männlicher Linie. Nach außen gewann er die Oberhoheit Savoyens über die Gebiete der Grafen von Genf, ja, ließ sich zum Beschützer der Stadt Genf erklären. Zum einen beendete er die Streitigkeiten um das Wallis, zum anderen unterstützte er die Städte der Westschweiz gegen Rudolf I. von Habsburg (geb. 1218; reg. 1273–1291), der nach dem für die deutsche Geschichte so trostlosen Interregnum zum König des Heiligen Römischen Reiches gewählt worden war. So schloss er sich auch dem französischen König Philipp IV. dem Schönen (geb. 1268; reg. 1285–1314) an und erhielt nach einem erfolgreichen Feldzug in Flandern die Normandie als Vizegrafschaft. Philipp der Schöne war, wie allgemein bekannt, der treulose Urheber des schnöden Verrats an dem Orden der Templer, offenbar, weil es ihm um den Schatz der Templer ging, und im Palast von Amadeus in Paris wurden 1309 auch siebzehn Tempelritter verhört, nachdem 1307 die führenden Persönlichkeiten des Ordens festgenommen worden waren. Aber Savoyen war nach wie vor Teil des Heiligen Römischen Reiches, und so blieb Amadeus auf Dauer nichts anderes übrig, als sich ihm anzunähern. Anlass bot der Tod von König Albrecht I. von Habsburg (geb. 1255; reg. 1298–1308); der neue König Heinrich VII. von Luxemburg (geb. 1274/75; reg. 1308–1313) wollte entgegen den Wünschen von Philipp dem Schönen das alte Königreich Burgund-Arelat wieder errichten. Philipp ließ daraufhin die Stadt Lyon besetzen, Grund für Amadeus, Partei für Heinrich VII. zu ergreifen, aber Heinrich hatte keinen Erfolg, und so scheiterte auch Amadeus und gab den Versuch einer Ausdehnung nach Westen in Richtung Frankreich auf. Dafür richtete er sein Augenmerk nun auf Italien. Als Heinrich nach Rom zog, wo er 1312 zum Kaiser gekrönt wurde – die erste Kaiserkrönung seit 92 Jahren, schloss sich ihm Amadeus an, und zum Dank wurde er noch im selben Jahr zum Reichsfürsten und zum Generalvikar der Lombardei ernannt; auch die Grafschaft Asti, heutzutage aus anderen Gründen vom Namen her bekannt – man denke an den entsprechenden Sekt! – erhielt er als Lehen. Am 16. Oktober 1323 starb Amadeus V. der Große in Avignon; Anna, seine Tochter aus 2. Ehe, heiratete 1325 den nachmaligen byzantinischen Kaiser Andronikos III., der von 1328 bis zu seinem Tode 1341 regierte und sich, nachdem er durch einen Staatsstreich gegen seinen Großvater an die Macht gekommen war, vor allem seinen Vergnügungen widmete, unterbrochen allenfalls durch Kriegszüge gegen Bulgaren, Serben und Türken. Amadeus’ bedeutendste Leistung bestand hauptsächlich in der Sicherung Savoyens. Ob er daher den Titel »der Große« erhielt und verdiente? Aber so findet man ihn noch heute in den großen Enzyklopädien. Und vielleicht bereitete er auch den Boden dafür, dass Savoyen einen bedeutenden Platz in der Geschichte behielt. Die Grafen, die 1416 zu Herzögen wurden, erkoren das oberitalienische Piemont zu ihrem Kernland. Seit 1720 stellte das Haus Savoyen die Könige von Sardinien, ab 1861 die Könige von Italien. Und der edle Streiter gegen die Türken, Prinz Eugen von Savoyen-Carignan (1663–1736), ist ohnehin bis heute ein Begriff …

Böhmische Kämpfer: Grabissa, Slauko und Prokop die Großen

Unter Böhmen versteht man bekanntermaßen eine historische Landschaft in Mitteleuropa, die heute das Kernland der Tschechischen Republik bildet. Der Name leitet sich von den ursprünglichen Siedlern her, den keltischen Boier, die um 60 v. Chr. von germanischen Stämmen verdrängt wurden. Etwa ein halbes Jahrhundert später erschienen die Markomannen, und als diese nach rund 500 Jahren ins heutige Bayern zogen, wanderten slawische Stämme ein. Unter ihnen setzten sich die Tschechen durch, die im 9./10. Jahrhundert die Führung übernahmen. Ihre Herzöge stammten aus dem Geschlecht der Přemysliden, das der Legende nach von dem Bauern Přesmyl begründet worden war. Dieser war angeblich mit Libussa verheiratet, der legendären Gründerin von Prag, die die Ehre hatte, in Schauspielen von Clemens Brentano (1778–1842) und Franz Grillparzer (1791–1872) sowie in einer Oper des tschechischen Komponisten Bedřich (Friedrich) Smetana (1824–1884) wieder aufzuerstehen, und in deren Sage die ursprüngliche Dominanz der Frauen in einem Matriarchat, «tschechische Amazonen« und die Gleichberechtigung der Geschlechter ihre feste Rolle haben, wie es der Historiker Patrick J. Geary beschreibt. Im 9. und bis zu Beginn des 10. Jahrhunderts (906/907) war Böhmen Teil des Großmährischen Reiches, um im 10. Jahrhundert dann zum Heiligen Römischen Reich zu kommen. Anfangs des 11. Jahrhunderts wurde Böhmen mit Mähren und Schlesien vereinigt.
     Zu Beginn des 12. Jahrhunderts verfasste Cosmas von Prag seine Chronik Böhmens, die bis 1125, dem Jahr seines Todes, reicht. Während er Libussa eher zwiespältig und sagenverklärt schildert, so versucht er bei anderen Sujets die »Wahrheit« darzustellen. Eine Gestalt, die bei ihm auftaucht, ist Grabissa der Große, aber auch bei diesem kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass er als eine widersprüchliche Persönlichkeit geschildert wird. Viel erfährt man ohnehin nicht über ihn. Er war ein böhmischer Adliger aus dem Geschlecht der Hrabischitz, auf den offenbar nicht viel Verlass war und der für Unstimmigkeiten sorgte und sich selbst in Schwierigkeiten brachte. In die Auseinandersetzungen zwischen dem böhmischen Herzog Boňvoj und dem Přemysliden-Herzog Vladislav I. (reg. 1109–1117 und 1120–1125) hineingezogen, musste er, während sich Boňvoj in Sicherheit brachte, die Prager Burg verteidigen, die Boňvoj, von Vladislav kurz vorher gestürzt, 1109 zurückeroberte. Aber dieser triumphierte zu früh. Mit Hilfe Kaiser Heinrichs V. gewann Vladislaw I. seine Herrschaft zurück, und die Gefolgsleute Boňvojs wurden hart bestraft. Was aus Grabissa wurde, berichtet Cosmas nicht. Erst für das Jahr 1116 erwähnt er ihn erneut, mit dem Hinweis, dass er im mährischen Vlčnov eine stark befestigte Burg erbaute. Noch einmal nennt er ihn: für das Jahr 1121, und schildert ihn als vorbildlichen Vater und guten Christen. Schließlich soll er an der Seite des böhmischen Herzogs und späteren Königs Vladislavs II. (reg. 1061–1092) 1158 gefallen sein, der für Kaiser Friedrich Barbarossa in den Krieg zog, als dieser 1158 seinen zweiten Italienfeldzug unternahm, u. a. um Mailand zu unterwerfen.

Als deutsche Reichsfürsten erhielten die Přemysliden 1198 die erbliche Königswürde, der 1290 die Kurwürde folgte. Ottokar I. (geb. ca. 1155; reg. 1198–1230) konnte sich erfolgreich bei König Philipp von Schwaben (geb. 1176/77; ermordet 1208), der 1198 in Mainz gekrönt wurde, dafür einsetzen und erhielt auch die Bestätigungen des Papstes (1203) und 1212 die des späteren Kaisers Friedrich II. Böhmen wurde von ihm kulturell und wirtschaftlich sehr gefördert. Im 13. Jahrhundert gründeten die Přemysliden viele Städte, lockten vor allem deutsche Siedler an und förderten die deutsche Kultur. Einer der Städtegründer war Slauko der Große, ein böhmischer Fürst, der um 1207 Burggraf in Bilin war und es zum höchsten Kämmerer unter Ottokar I. brachte; er füllte dieses Amt von 1198 bis 1202 und noch einmal von 1212 bis 1226 aus, nachdem Ottokar I. gegen den Kaiser opponiert hatte und der damalige Kämmerer Cernin aus Böhmen verbannt worden war. Slauko gründete die Städte Schlackenwerth und Schlaggenwald sowie das Zisterzienserkloster Ossegg, wohin er Mönche aus dem bayerischen Waldsassen holte. Der Titel »der Große« tauchte zum ersten Mal 1211 auf. Als loyaler Gefolgsmann des Königs, dessen Vertrauen er in hohem Maße gewann, zeigte er auch diplomatisches Geschick. Im Konflikt Ottokars mit dem Prager Bischof Daniel II., der den Einfluss der Kirche gegenüber dem König stärken wollte, wurde Slauko 1219 ausersehen, mit fünf anderen Abgesandten mit dem Bischof einen Kompromiss auszuhandeln. Sowohl einer positiven Würdigung durch den König als auch selbst durch den Papst, damals Honorius III. (Pontifikat 1216–1227), konnte er sich rühmen. So beschenkte Honorius auch das von Slauko 1206 gegründete Kloster der Jungfrau Maria Ossegg 1221 mit Reliquien von heiligen Märtyrern wie Kosmas und drei weiteren sowie der seligen Jungfrau Petronilla, und der Prager Bischof und der Papst nahmen das Kloster unter ihren Schutz. Slauko selbst schenkte dem Kloster noch viele Ländereien, einschließlich der dazu gehörigen Dörfer, wie das eben in dieser Zeit so Brauch war, befreite es von Zöllen und sicherte ihm weitere Einnahmen. Er starb 1226 in Ossegg; den Ehrentitel verliehen diesem besonnenen und edlen Kämpfer für Kultur, Religion und Wirtschaft schon seine Zeitgenossen.

König Ottokar II. (geb. 1233; reg. 1253–78) gelang es, Böhmen zur Großmacht zu erheben. Die Přemysliden starben indes 1306 aus, und Böhmen fiel an die Luxemburger (1310–1437). Deren bedeutender Abkömmling, der schon erwähnte Kaiser Karl IV., Enkel von Kaiser Heinrich VII., regierte das Heilige Römische Reich von Prag aus, wo er 1348 die erste deutsche Universität gründete, und Böhmen wurde durch ihn zu hoher Blüte geführt. Allerdings brachen 1419 die Hussitenkriege aus, die sich bis 1433/34 hinzogen. Bekanntermaßen hatte der tschechische Theologe und Reformator Johannes Hus (oder Huß; ca. 1370–1415) seine Lehren mit dem Scheiterhaufen bezahlt. Der Name Hussiten leitete sich zwar von ihm ab, aber von den Zielsetzungen her gab es unter dieser Bezeichnung diverse kirchenreformerische und revolutionäre Bewegungen in Böhmen. Allenfalls gemeinsam war ihnen der Laienkelch als Zeichen eines Eucharistieverständnisses, das allein als bibelgemäß angesehen wurde. Neben den Kalixtinern bzw. Ultraquisten, die vor allem in der Abendmahlslehre von der Kirche abwichen, gab es als zweite bedeutende Strömung die Taboriten, benannt nach dem Berg Tabor in Israel, wo Jesus in Versuchung geführt oder nach einer späteren Tradition verklärt wurde. Während die erst genannte Richtung vor allem von Adel und Bürgertum getragen wurde, standen hinter den Taboriten die Unterschichten. Hier verbanden sich soziale Forderungen mit religiösen. Es handelte sich um eine sozialrevolutionär-chiliastische Bewegung, die über die Forderungen der anderen Richtung nach Laienkelch, freier Predigt, strenger Kirchenzucht, Säkularisation des Kirchenguts und Verzicht des Klerus auf Reichtum noch hinausging und Gütergemeinschaft, also eine Art Kommunismus, Abschaffung der kirchlichen Einrichtungen und Gebräuche und sogar die Aufrichtung eines Reiches Gottes mit Waffengewalt forderte. Hier kam also die soziale Not der Bauern als Auslöser der Kriege 1419 noch dazu. Beide Bewegungen standen im Widerstreit. Gemeinsam war ihnen vielleicht die Volkswut gegen die Geistlichkeit und die Gegnerschaft gegen Kaiser Sigismund (Siegmund; geb. 1368; König 1410; Kaiser 1433; gest. 1437) als »Hus-Mörder«; dieser wiederum warb für den erbarmungslosen »Kreuzzug« gegen die Hussiten. Um die seit dem 13. Jahrhundert bestehende Burg Tabor entstand 1420 ein Hussitenlager, aus dem sich später die im Süden der Tschechischen Republik liegende Stadt Tabor mit heute etwa 35000 Einwohnern entwickelte. Der anfänglich bedeutendste Führer der Taboriten war J. Žiška z Trocnova (Johann Schischka von Trocnow), aber er starb schon 1424 an einer pestartigen Krankheit, nachdem ihm vorher, vor allem 1422, glorreiche Siege gegen Sigismund und seine Heere gelungen waren, er hatte es auch immer verstanden, die Zwistigkeiten zwischen einzelnen hussitischen Führern zu schlichten. Ihm folgte für einen Teil seiner ehemaligen Anhänger Prokop nach, der heute als Prokop der Große in den Enzyklopädien zu finden ist. Geboren in Böhmen um 1380, wurde er Feldhauptmann und nach dem Tode Žiškas Anführer der Taboriten. Er führte sie auf seinen Kriegszügen, die im Lauf der Zeit zu immer brutaleren Raubzügen ausarteten, mit denen er Böhmen und benachbarte Länder verheerte, bis nach Österreich und Ungarn, Brandenburg und Sachsen, in die Lausitz und die Pfalz, nach Schlesien, Franken und Ungarn. Besonders in Schlesien hinterließen die Hussiten auch Besatzungen, mit denen sie das Land immer wieder aufs Neue ausraubten. Das ganze Heilige Römische Reich zitterte vor ihnen. Lange behaupteten sie sich gegen die kaiserlichen Truppen, die natürlich in der Übermacht waren, und wurden zum Schrecken der Obrigkeit und der Geistlichkeit. Kaiser Sigismund, der sein Versprechen auf freies Geleit gegenüber Hus gebrochen hatte, musste Kompromisse eingehen. Nach der Schlacht bei Taus 1431 erkannte das Basler Konzil 1433 die Forderungen der gemäßigteren Kalixtiner, die in den sogenannten »Vier Prager Artikeln« niedergelegt waren, weitgehend an, d. h. Laienkelch, freie Predigt des Wortes Gottes, frommer Wandel des Klerus und Herstellung christlicher Zucht. Aber die Taboriten kämpften weiter. Auch die Kalixtiner verbanden sich nun mit den Kaiserlichen. So wurden die Taboriten in der Schlacht bei Lipan am 30. Mai 1434 geschlagen. Prokop der Große, den man auch Prokop den Geschorenen bzw. den Kahlen nannte, kam dabei ums Leben. Die Taboriten ergaben sich unter denselben Bedingungen wie die Ultraquisten und erkannten zwei Jahre später auch Sigismund als König an. Und was ist geblieben? Die taboritische Tradition lebte teilweise fort in der Lehre der Böhmischen Brüder. In Böhmen erstarkte der tschechische Pronationalismus, was sich für die weitere Entwicklung als sehr bedeutsam herausstellte, vor allem, als Böhmen zu Ungarn (1471 – 1526) und dann zum habsburgischen Österreich (1526 – 1918) gehörte. Der Dreißigjährige Krieg nahm hier seinen Ausgang. Nach vielen Kriegen und schwankendem Schicksal entstand in der 1. Hälfte des 19. Jahrhunderts eine tschechische Nationalbewegung, und das alte Böhmen ging nach dem Ersten Weltkrieg in der Tschechoslowakischen Republik auf. Da aber gab es auch schon lange kein Heiliges Römisches Reich mehr …



3. Westliches und nördliches Europa

Kelten waren es, die im 1. Jahrtausend v. Chr. im heutigen Groß-Britannien siedelten. Der Zinnreichtum des Landes, der für den Handel im Altertum wichtig war, zog die Römer an, die, nachdem zwei Feldzüge Cäsars (55 und 54 v. Chr.) keinen großen Erfolg gebracht hatten, ab 43 n. Chr. das Land eroberten. Aber sie konten weder Irland noch Schottland zu ihrer Provinz Britannia hinzu gewinnen, und ihnen gelang es auch nie, die Einwohner zu romanisieren, was ihnen in Gallien durchaus glückte. Zu Beginn des 5. Jahrhunderts zogen fast alle römischen Truppen ab, und nun, der Überlieferung nach ab 449, drangen nordwestgermanische Stämme ein, die »Angelsachsen«, und unterwarfen mit der Zeit den Hauptteil Englands. Schottland und Wales blieben allerdings in keltischer Hand. Sieben Königreiche entstanden, deren Bewohner, dank der gemeinsamen Sprache und Kultur, auch dank des sich allmählich ausbreitenden Christentums, das von Irland und Rom aus schon seit dem 6./7. Jahrhundert eingeführt worden war, mit der Zeit zu einem Volk, dem angelsächsischen, zusammenwuchsen. Gefahr drohte ihm allerdings im 9. und 10. Jahrhundert von den dänischen und norwegischen Wikingern, den Normannen.
     Die Dänen werden im 6. Jahrhundert zum ersten Mal erwähnt; sie kamen wohl aus Südschweden und drangen in das von Germanen bewohnte Land ein, wo sie mehrere kleine Königreiche gründeten. Über ein Jahrhundert nach König Göttrik, der, wie beschrieben, das »Danewerk« hatte errichten lassen, fasste der König den größten Teil des heutigen Dänemark unter seiner Herrschaft zusammen, der als eigentlicher Gründer des dänischen Staates gilt: Gorm der Alte, der um 950 starb. Nur rund ein Jahrzehnt später nahm sein Sohn Harald Blauzahn (»Blåtand«) 960 das Christentum an, womit er die Geschicke des Landes entscheidend bestimmte; er starb um 987. Aber auch das Christentum konnte die dänischen Wikinger nicht davon abhalten, die englischen Küsten zu verheeren, womit sie schon 793 begonnen hatten. Hier standen sie den norwegischen Wikingern in nichts nach. In Norwegen hatten bis ins 9. Jahrhundert ebenfalls mehrere Kleinkönigtümer existiert, die um 872 von König Harald I. Harfågre erstmals vereinigt wurden. Norwegische Wikinger kamen auf ihren Raub- und Handelszügen, die schließlich auch Erkundungsfahrten wurden, über England hinaus nach Nordwest-Frankreich, Grönland und schließlich im Jahre 1000 unter Leif Ericsson (ca. 975–ca. 1020) bis nach Nordamerika, nach »Vinland«, in die Gegend, wo heute die Stadt Boston steht. In die andere Richtung segelten die schwedischen Wikinger, die Waräger. Im heutigen Schweden hatte das Stammeskönigtum des Geschlechts der Ynlingar schon früh die Svear geeinigt, um 600 hatten sie die Gauten (Göten) in Götaland besiegt, und der Ynglingarkönig Erich VII. Segersäll (»der Siegreiche«; gest. 994) herrschte am Ende des 10. Jahrhunderts auch in Dänemark. Die Waräger, man kann sie auch als Kriegerkaufleute bezeichnen, kamen auf der Wolga und dem Dnjepr bis nach Byzanz; sie waren die eigentlichen Gründer des Kiewer Reiches und daher maßgeblich auch für die Geschichte Russlands und der Ukraine, und sie beherrschten große Teile des nordeuropäischen Fernhandels. Das Christentum fasste erst spät in Schweden Fuß; erst Anfang des 11. Jahrhunderts breitete es sich nach Norden aus; und als der Sohn Erichs VII., König Olaf III. Skötkonung (»Schoßkönig«), der etwa 995 bis 1022 regierte, 1008 den Schritt wagte und sich taufen ließ, gelang ihm der Durchbruch, zumal er gleich noch die staatlichen Verwaltungsformen, die sich in den Staaten Mitteleuropas herausgebildet hatten, und die Bischofsverfassung übernahm. Das Erzbistum Uppsala wurde 1164 begründet. Zu jener Zeit hatten sich auch die Einfälle der Wikinger in anderen europäischen Ländern weitgehend beruhigt. In diesen rauen Zeiten hatten sich verschiedene Herrscher als »Große« ins Buch der Geschichte geschrieben …

Bedeutende Gründer von Reichen: Alfred und Knut die Großen

Den dänischen Wikingern, unter denen die Bewohner des späteren England zu leiden hatten, erwuchs ein bedeutender Widerpart: König Alfred, der wohl volkstümlichste angelsächsische Herrscher, den man »den Großen« nannte. Er wurde 848 oder 849 in Wantage in der heutigen County Berkshire geboren und 871 nach dem Tode seines Vaters Aethelwulf (reg. 838–871) zum König gekrönt – er war der Herrscher des zu der Zeit letzten unabhängigen Königreiches auf angelsächsischem Boden, nämlich des südlich der Themse gelegenen Wessex. Alfred galt als hübscher und eleganter Mann und als hervorragender Jäger. Auch als klug und kriegstüchtig ist er überliefert. Man sagte ihm allerdings auch nach, dass er an epileptischen Anfällen gelitten habe, z. B. in seiner Hochzeitsnacht. Im Frühsommer 878 musste er nach einer Niederlage vor den Dänen unter ihrem Anführer Guthrum, die seit sieben Jahren sein Reich immer stärker bedrohten, flüchten – sie hatten damals schon Teile von Wessex in ihrer Gewalt – und zog sich auf eine Flussinsel zurück. Aber ihm sollte es schließlich beschieden sein, die Dänen in langwierigen Kämpfen zurückzuwerfen. Er sammelte alle Truppen, die er auftreiben konnte. Bei Edington in der County Wiltshire besiegte er dann die Dänen im Sommer 878 in einer aufreibenden Entscheidungsschlacht; so waren sie bereit, einen Vertrag abzuschließen, mit dem sie sich in die Gebiete nordöstlich von London (Ostanglien) zurückziehen sollten. Zwar verblieben den Dänen weite Ländereien, aber Alfred verhinderte damit, dass ganz England dänisch wurde, wie es eine Zeit lang gedroht hatte, und er schuf damit auch eine Basis für eine etwaige Rückeroberung der übrigen von den Dänen gehaltenen Gebiete. Interessant ist, dass Alfred den Dänen auch das vertraglich festgelegte Versprechen abnahm, sich taufen zu lassen. Tatsächlich hielt sich Guthrum an die Zusage, doch die meisten seiner Anhänger folgten ihm wohl nicht, sondern zogen in andere Länder, z. B. nach -Frankreich, um ihre Beutezüge dort weiter zu führen. Von den Dänen, die im Lande verblieben, siedelten die meisten im äußersten Osten.
     Alfred aber ging mit seinen Sicherungsmaßnahmen noch darüber hinaus. Ihm war daran gelegen, alle angelsächsischen Gebiete zu vereinigen. Er ließ planmäßig ein System von Befestigungsanlagen errichten – in zwölf Jahren entstanden 33 Burgen im ziemlich gleichmäßigen Abstand von 30 Kilometern, sogenannte »burhs«, woran die Endung von Städtenamen »burough« noch heute erinnert – ordnete das Heer neu und machte sich an den Aufbau einer Flotte. Alle Maßnahmen waren gegen die Dänen und etwaige sonstige Aggressoren gerichtet. Und das war auch gut so, denn 886 zeigte sich Guthrum erneut feindselig. Doch für Alfred war der Sieg jetzt kein großes Problem mehr. Er eroberte sogar das von den Dänen besetzte London. Nun zwang er den dänischen Anführer zu einem Vertrag, in dem das angelsächsische Königtum in Wessex und im westlichen Mercien anerkannt wurde. Den Dänen blieben die Gebiete nordöstlich einer Linie London-Chester. So hatte Alfred eines seiner Ziele erreicht und konnte sich als König aller »Engländer« bestätigen lassen. London überließ er dem König von Mercia, Aethelred, aus dessen Haus auch seine Frau stammte, und seine älteste Tochter Aethelflaed gab er ihm zur Frau. Von seinen Enkelinnen heiratete, wie schon erwähnt, eine den Westfranken-König Karl den Einfältigen, die andere den späteren Kaiser Otto den Großen. Aber Alfred dachte auch daran, den Bildungsstand in seinem Reich zu heben, um sein Volk kulturell zu einigen. Er selbst war immer schon sehr an Bildung interessiert gewesen, hatte sogar 884 begonnen, Latein zu lernen. Er wusste auch, dass gemeinsame Literatur und höherer Bildungsstand grundlegend für die gemeinsame Identität eines Volkes sein würden. Ein Achtel seiner Einkünfte verwendete er für das Bildungswesen (ein weiteres Achtel übrigens für die Armenfürsorge). An seinen Hof zog er angelsächsische und auch fremde Gelehrte, wie Grimbald von St. Bertin oder seinen Biografen Bischof Asser (gest. 909/910), der allerdings nicht als ganz verlässlich gilt, wo sie u. a. die Werke von Augustin, Gregor dem Großen, Boëthius, oder dem berühmten Beda Venerabilis (673–735), dem bedeutendsten angelsächsischen Gelehrten seiner Zeit, übersetzten; ja, er selbst beteiligte sich sogar an den Übersetzungen. Er gab damit der Entwicklung des Altenglischen einen gewaltigen Anschub. Als einer der ersten europäischen Häupter erkannte er die zunehmende Bedeutung der Volkssprachen und sammelte auch Volkslieder, die er mit den Spielleuten an seinem Hof sang. Wichtig war auch die von ihm veranlasste Zusammenstellung des angelsächsischen Rechtes, das auf den bisherigen Rechtsgewohnheiten basierte und die dahin wichtigsten Rechtstexte aus dem 7. Jahrhundert ablöste. Mit diesen kultur- und rechtspolitischen Maßnahmen suchte er das Volk zu einen, aber auch für die neuen Zeiten zu rüsten. »Er lässt sich«, wie Will Durant schreibt, »mit einem Riesen wie Karl dem Großen nicht vergleichen, denn seine Unternehmungen erstreckten sich nur auf ein kleines Gebiet; aber in seinen sittlichen Eigenschaften – seiner Frömmigkeit, seiner bescheidenen Redlichkeit, Mäßigkeit, Geduld und Höflichkeit, seiner Hingabe an das Volkswohl und seinem Bestreben, die Bildung zu fördern – gab er seinem Volke Vorbild und Antrieb …« Als er am 26. Oktober 899 nach fast dreißig Regierungsjahren starb, hatte er für sein Land Unglaubliches geleistet, und der Titel »der Große« stellte sich bald nach seinem Tode mehr oder weniger von selbst ein. Sein Gesetzbuch wurde erst um 1020 erneuert, und dann durch einen anderen »Großen«, nämlich Knut den Großen.

Der angelsächsische König Aethelstan (reg. 924–939) drängte die Wikinger weiter zurück und herrschte fast über das ganze heutige England. Damit legte der den Grundstock für ein nationales Königtum und Reich. Aber erneut brachen die Dänen, die Wikinger, in einem zweiten Ansturm über England herein, und diesem waren die Angelsachsen dann doch nicht mehr gewachsen. Die von dem dänischen König Sven Gabelbart (reg. 986–1014) eingeleitete Eroberung Englands brachte Knut II. von Dänemark zum Abschluss, dem die Nachwelt ebenfalls den Titel »der Große« zugesprochen hat. Geboren um 995, eroberte er zusammen mit seinem Vater Sven Gabelbart 1013 England. Vorausgegangen waren der erfolglose Versuch des schwachen Königs Aethelred des Ratlosen (reg. 978–1013), die das Land verheerenden Wikinger mit horrenden Zahlungen (»Danegeld«) friedlich zu halten, und dann die »dänische Vesper« am 13. November 1002, bei der auf geheime Anordnung des Königs die meisten waffenfähigen Dänen umgebracht wurden. Unter den Ermordeten befand sich auch die Schwester des dänischen Königs Sven. Dieser schwor Rache und fiel 1003 und vor allem 1013 mit ungeheurer Wucht in England ein. Er konnte sich seiner englischen Krone allerdings nur ein Jahr erfreuen, denn er starb bereits im Februar 1014 an den Nachwirkungen der Feldzüge. Knut bemühte sich um die Anerkennung seiner eigenen Königswürde, aber diese blieb ihm versagt, zumal er nur von seiner eigenen Flotte zum König ausgerufen worden war; er konnte sich gegen den alten und neuen englischen König Aethelred, der in die Normandie zu Herzog Richard II., dem Bruder seiner Frau Emma, geflohen war, und den seine Anhänger aus dem Exil zurückriefen, nicht durchsetzen. So zog er sich erst einmal fluchtartig nach Dänemark zurück, wo sein Bruder Harald Svensson regierte. Hier war für ihn auch weiter nichts zu gewinnen, obwohl ihn Harald als Mitkönig anerkannte. So nahm er im Spätsommer 1015 einen neuen Anlauf, England zu erobern. Diesmal hatte er Erfolg: Er konnte London unterwerfen und im Oktober 1016 den neuen englischen König Edmund II. Ironside, den Sohn des im April 1016 während der Belagerung Londons verstorbenen Aethelred, in der Schlacht bei Ashingdon schlagen – hinterher behauptete man, er habe durch Verrat gesiegt. Edmund kämpfte allerdings so verbissen, dass die Dänen trotz Ashingdon schon um den Sieg fürchteten. Zunächst als Herrscher von Mercia Mitkönig (eine weise Entscheidung, nicht auch noch Edmund zu stürzen; denn nur so konnte er allmählich im Volk Vertrauen aufbauen), wurde Knut nach Edmunds baldigem, noch 1016 – im November – erfolgtem Tod im nächsten Jahr alleiniger und vor allem allgemein akzeptierter König. England war nun ganz in seiner und dänischer Hand. Seine Stellung nutzte er allerdings zunächst brutal aus. Eine ganze Reihe englischer prominenter Führer wie Edmunds Bruder ließ er hinrichten oder ermorden, und Mitglieder der Königsfamilie wie die Kinder von Edmund Ironside schickte er ins Exil. Aber als er erfuhr, dass Aethelreds Witwe Emma mit ihren Kindern noch am Leben war und in Rouen bei ihrem Bruder lebte, erkannte er die Chance zur Versöhnung und bot ihr seine Hand (1017). Er war erst 23 Jahre alt und Bezwinger, wenn auch nicht Mörder ihres Mannes, sie immerhin schon 33, aber sie willigte ein. Seine erste Lebensgefährtin Aelgifu (seine »Konkubine«, nicht Gemahlin, aber Mutter zweier Söhne von ihm) hatte zu verzichten, ohne aber die Verbindung zu ihm ganz aufgeben zu müssen. Als Knuts Bruder Harald in Dänemark 1018 starb, wurde er auch unangefochtener König von Dänemark. In Schweden war der bereits erwähnte König Olaf Schoßkönig an der Macht. Hatte Knuts Vater in Schweden noch mächtig hinein regiert, verweigerte Olaf Knut die Unterwerfung und sicherte sich ganz im Gegenteil eine Allianz mit dem norwegischen König Olaf Haraldsson (reg. 1016–1028). Beide Olafs versuchten eine Invasion in Dänemark, aber ohne eine Entscheidung zu ihren Gunsten zu erreichen. Knuts Stellung als König von England und Dänemark blieb unangefochten, und 1027 konnte er sogar in Rom Seit’ an Seit’ mit den mächtigsten Herrschern seiner Zeit an der Kaiserkrönung Konrads II. (geb. ca. 990; König 1024; Kaiser 1027; gest. 1039) teilnehmen. Durch ein Bündnis mit Konrad II. gegen Polen gelang es Knut noch, sich Schleswig zu sichern. Seine spätere Beendigung von Grenzstreitigkeiten hier wurde besiegelt durch die Verlobung seiner Tochter Gunhild (oder Kunigunde) mit Konrads Sohn, dem späteren Kaiser Heinrich III., 1035; die Hochzeit erfolgte ein Jahr später; Gunhild starb aber schon 1038, erst 20jährig. Überhaupt betrieb Knut eine auf Verständigung ausgerichtete Heiratspolitik. Er selbst hatte, wie erwähnt, Emma, die Witwe Aethelreds, geehelicht, um die dynastische Kontinuität in England sicherzustellen und zum Ausgleich beizutragen, aber auch, um die konstruktiven Verbindungen zur Normandie fortzusetzen – schließlich war Emma die Schwester des dortigen Grafen Richard II. Als dieser 1026 starb, drohten die guten Beziehungen allerdings in die Brüche zu gehen, aber da verheiratete Knut seine Schwester Estrith mit Robert I. (gest. (Gift?) bei Schiffspassage vor Palästina 1035), der nun Graf der Normandie war, und sorgte wieder für bessere Verhältnisse, jedenfalls eine Zeit lang; denn 1034 sandte Robert I. eine Flotte gegen Knut zur Invasion in England aus, die allerdings bei der Insel Jersey vom Sturm zerstreut wurde. Robert I. war tapfer, aber grausam, und hieß nicht von ungefähr Robert der Teufel.
     Knut regierte in England gerecht und schenkte dem Land eine Ära des Friedens. Seine Herrschaft war für England ein Segen. Hier unterstützte er auch die Kirche – er nahm das Christentum an – und erwies sich ihr als Wohltäter. Seine englischen Untertanen haben es nie bereut, dass sie ihn ohne große Widerstände akzeptiert haben. Er achtete ihre Gebräuche und Gesetze, aber brach auch die Macht der Adligen zu Gunsten des Volkes. Der von ihm aufgebaute Verwaltungsapparat, den er zumeist Engländern überließ, sicherte die Beständigkeit und Qualität der Regierung. Anders sah es in Schweden und Norwegen aus. Sein klares Ziel war die Unterwerfung Norwegens. Nachdem die Invasion der beiden Olafs in Schonen, wie erwähnt, nichts gebracht hatte, schickte Knut nach seiner Rückkehr aus Rom den norwegischen König 1028 ins Exil nach Russland (damals war Olaf schon 12 Jahre König in Norwegen); mit Olafs strengem Regiment und Vorgehen unzufriedene Freibauern und Edle hatten Knut ins Land gerufen und sich mit ihm verbündet, aber im nächsten Jahr kehrte Olaf zurück und nahm den Kampf auf. Olaf hatte das Land streng, wenn auch meist gerecht regiert und rigoros die Christianisierung vorangetrieben. Auch jetzt standen Engländer und Dänen sowie norwegische Bauern gegen ihn. Es kam zur entscheidenden Schlacht am 29. Juli 1030 bei Stiklestad, Olaf starb an seinen Verletzungen, gerade einmal 35 Jahre alt, aber seitdem als Norwegens Nationalheiliger verehrt – schon 1031 wurde er heilig gesprochen. Nun war Knut auch König von Norwegen; er überließ die Regentschaft seiner ehemaligen Gefährtin Aelgifu und ihrer beider noch minderjährigem Sohn Sven. Auch sonst konnte Knut sein Reich nur über Regenten und Vizekönige regieren, was ihm ziemlich viel Verdruss bescherte. In Norwegen beendete Olafs Sohn Magnus der Gute (reg. 1035–1047) die Herrschaft von Aelgifu schon 1035, aber wie vorher schon in ihrer Heimat Nordengland war sie bei den Norwegern sehr beliebt gewesen. Knut selbst starb am 12. November 1035 in Shaftesbury in England und wurde im Old Minster in Winchester beigesetzt. Winchester war gewissermaßen seine Hauptstadt geworden.
     Eine Zeit lang war Knut der mächtigste Herrscher in West- und Nordeuropa, der noch dazu, sieht man von seiner dünnen Hakennase ab, sehr gut aussah. Wirklich nachhaltig war seine Regentschaft aber nur in England, wo er Verwaltung und Recht reformierte, z. B. durch die Erneuerung der Gesetzestexte von Alfred dem Großen. In Dänemark begründete er Bischofssitze; die Einführung der ersten dänischen Münze geht auf ihn zurück. Sein »Nordsee-Großreich« zerbrach allerdings schon kurz nach seinem Tode, 1035 löste sich Norwegen ab, 1042 England, als Knuts jüngster Sohn Hardeknut – 1037 König von Dänemark und 1040 nach dem Tod seines Bruders Harald Hasenfuß König von England – starb. Aufgrund eines Erbvertrages stand Dänemark von 1042 bis 1047 sogar selber unter norwegischer Herrschaft. Knut selbst wurde ob seiner Taten und Leistungen zu Knut dem Großen. Er ist heute noch aus einem anderen Grund bekannt. Der Legende nach soll er versucht haben, vom Meer Gehorsam für seine Anordnungen zu fordern. Als sich dieses trotz seines Befehls nicht zurück zog, sondern seine Füße und Beine überspülte, soll er die Macht von Königen für wertlos erachtet und nur noch Gott als den wahren Herrn anerkannt haben; er soll sogar von da ab nie wieder seine goldene Krone aufgesetzt haben. »Basierend auf der Geschichte von Knuts Überzeugung, den aufbrandenden Wellen Einhalt gebieten zu können, spricht man in England auch heute noch vom »Knut-Syndrom« (Canute Syndrome). Gemeint ist der Glauben vor allem von Politikern und Managern, in ihrer großen Macht selbst das schlichtweg Unabwendbare noch abwenden zu können.« (Fraesdorff). Resümierend urteilt Will Durant über Knut den Großen, dem er Sympathie entgegenbringt, wenn auch nicht so viel wie Alfred dem Großen: »Er war als Däne gekommen und starb als Engländer…Knut war mehr als nur ein Eroberer; er war ein Staatsmann.«
     Nach Alfred und Knut erhielt kein englischer Herrscher mehr den Beinamen »der Große«. Königin Elisabeth I. (geb. 1533; reg. 1558–1603) hätte den Ehrentitel sicherlich verdient gehabt, aber das wollte die Geschichte nicht…

Dem Gedächtnis weit gehend entschwunden: Maelgwn, Rhun, Rhodri, Llywelyn und Gregor die Großen

Als germanische Stämme ins heutige Großbritannien eindrangen, durchlief Wales eine politische Entwicklung, die sich vom Rest der Insel abhob. Einer der Ursprünge der berühmten Arthus-Sage ist offenkundig in Wales zu suchen – viele Historiker vermuten in Arthus, dessen reales Vorbild vielleicht im 6. Jahrhundert lebte, mehr als nur eine Sagengestalt, und es gibt auch Stimmen, die im Sagenkranz um Arthus Wales’ möglicherweise bedeutendsten Beitrag zur europäischen Kultur sehen, so jedenfalls nachzulesen in der Encyclopedia Americana. In Wales gab es etliche unabhängige Fürstentümer, wie die Königreiche Gwynedd, Powys, Deheubarth, Brycheiniog und Morganwg, die in steter Fehde mit einander lagen. Der letzte Herrscher eines vermutlich mehr oder weniger vereinigten Britanniens war Cadwaladr, der 664 starb. Seine Standarte, ein roter Drache auf grünem Grund, stellt noch heute die Flagge von Wales dar. Ein Jahrhundert später befestigte Offa, der angelsächsische König von Mercia seit 757, gestorben 796, die Grenze zwischen den Engländern und den Walisern, den Kelten, durch einen nach ihm benannten Damm. Nach zwei Kriegszügen gegen Wales ging es ihm nicht mehr um Eroberung, sondern um die Markierung der äußersten Grenzen seiner Macht. Die Spuren des Dammes sind noch heute sichtbar, und auch heute noch spricht man oft in England von Wales als »hinter Offas Damm gelegen«.
     Von den Königreichen in Wales stach Gwynedd hervor. Von etwa 520 bis etwa 549 regierte hier Maelgwn, dem die Nachwelt den Titel »der Große« verlieh. Ihm folgte Rhun, der bis etwa 580 an der Macht war, und auch ihn ehrte man mit dem Beinamen »der Große«. Im 9. Jahrhundert gelang es dann dem Gwynedder König Rhodri dem Großen, der seit 844 herrschte und 878 starb, Wales unter seiner Herrschaft zu vereinen. Er zeichnete sich vor allem durch seine Verteidigung von Wales gegen die Normannen aus, und als Rhodri den Großen findet man ihn auch in der Encyclopedia Americana. Sein Reich hatte nicht lange Bestand, und erst im nächsten Jahrhundert gelang die Einigung von Wales noch einmal einem Gwynedder, nämlich Howell dem Guten (Hywel Dda, 942–950), auf den auch das erste Gesetzeswerk von Wales zurückgeht. 1066 eroberten die Normannen nicht nur England, sondern auch Südwales. Während sie in diesen Gebieten Grenzmarken mit Rittern oder Grafen als Herren einrichteten, widerstanden ihnen die Waliser im Norden. Rhodris des Großen Fürstentum Powys, das er innerhalb von Gwynedd begründete, hielt sich selbstständig bis 1075, aber auch nach Verlust der Unabhängigkeit brachte es bedeutende Könige hervor. Einer davon war Llywelyn der Große (Llywelyn ab Iorwerth), also noch einmal ein Gwynedder, der, 1173 geboren, von 1200 bis 1240 regierte und als geschickter Krieger und Staatsmann fast ganz Wales unter seine Herrschaft brachte. Mit König Johann I. von England (Johann ohne Land; geb. 1167, reg. von 1199–1216; gest. 1217), dem Bruder und Nachfolger von König Richard I. Löwenherz (geb. 1157, reg. 1189–1199) schloss er ein Abkommen, das ihm zehn Jahre gute Verhältnisse mit dem Nachbarland ermöglichten; er heiratete auch 1205 Johanns uneheliche Tochter Johanna. Aber 1210 verschlechterten sich die Beziehungen, und er verlor einige Gebiete an England. Nun baute er gute Verhältnisse zu englischen Baronen auf, und dadurch und über Bündnisse mit anderen walisischen Fürsten gewann er die Gebiete zurück. In der englischen Politik, die schließlich 1215 zu der dem König Johann aufgezwungenen Magna Charta Libertatum führte, der »großen Urkunde der Freiheiten«, der im Lauf der Zeit wichtigsten Grundlage des englischen Verfassungsrechtes, spielte er eine bedeutende Rolle. Nach Johanns Tod gab es Auseinandersetzungen mit der englischen Krone, auch wenn diese ihn in seiner Stellung in Wales bestätigt hatte, aber vor allem Kämpfe mit anderen walisischen Herrschern, die 1234 mit einem Friedensschluss beendet wurden, und Llywelyn war unangefochten zum mächtigsten walisischen Herrscher aufgestiegen. Er starb am 11. April 1240. Sein Enkel Llywelyn ap Gruffydd, der 1246 an die Macht kam, konnte, nachdem »des Großen« Söhne nur Chaos ins Land gebracht hatten, die Einheit noch einmal herstellen, aber König Eduard I. von England (geb. 1239; reg. 1272–1307) trachtete danach, Wales und Schottland unter der englischen Krone zu vereinigen. Mit Schottland gelang es ihm nur vorübergehend, aber Wales eroberte er 1282. Llywelyn, der 1267 noch mit Billigung der englischen Krone den Titel Prinz of Wales angenommen hatte, fiel; sein Kopf wurde am Tower von London aufgehängt, Wales kam zu England, und 1301 wurde der Titel eines Prinzen von Wales von Eduard I. auf den englischen Thronfolger übertragen – von diesem wird er noch heute getragen, aber wer kennt schon noch Rhodri oder Llywelyn die Großen? …
     Gregor den Großen (ca. 540–604) sollte man dagegen kennen. Er war ein bedeutender Papst und einer der sogenannten vier lateinischen Kirchenlehrer; im Teil ‚Intermezzo‘ ist er uns bereits im 2. Kapitel ›Die Kirchenlehrer‹ begegnet. Was aber den wenigsten bekannt sein dürfte, ist, dass es noch einen Träger dieses Titels gab: den schottischen König Gregor den Großen, der in der Encyclopedia Americana beschrieben ist. Das vereinigte schottische Königreich war 844 durch Kenneth MacAlpine gegründet worden; Gregor folgte 878 als fünfter König dessen Sohn Aed und übernahm die Herrschaft für den eigentlichen Erben, den noch nicht volljährigen Eocha, mit dem er elf Jahre lang regierte, bis beide vertrieben wurden. Während seiner Herrschaft eroberte er Teile von Northumbria. Vor allem soll er der erste gewesen sein, der der schottischen Kirche ihre Freiheit gab, die bis dahin unter Knechtschaft gestanden hatte. Ob damit die Befreiung von säkularer Herrschaft verbunden war oder nur die Übertragung von Privilegien von einer Kirche, Dunkeld, zur Kirche von St. Andrews, darüber diskutieren die Historiker immer noch. Gregor der Große, zur Zeit des englischen Königs Alfred des Großen ein bedeutender Herrscher, starb 889 in Schottland. Leider fiel auch er, im Gegensatz zu seinem berühmten Namensvetter, dem Papst, dem Vergessen anheim …

Um Frieden und Einheit bemüht: Waldemar und Margarete die Großen

Das Ringen Dänemarks mit England, aber auch mit Schweden und Norwegen um Macht und Einfluss, hatte am Ende Dänemark eher geschadet als genützt. Wie wir gesehen haben, hat England die dänische Herrschaft wieder abgeschüttelt, nachdem Knut der Große gestorben war, und Dänemark war eine Zeit lang sogar Norwegen untertan. Erst unter Waldemar I. gewann Dänemark wieder an Ansehen; man hat ihn daher »den Großen« genannt. Geboren wurde er am 1. Januar 1131, acht Tage, nachdem sein Vater Knut Laward ermordet worden war. Seinen Namen erhielt er nach dem Großvater seiner Mutter, dem russischen Grandprinzen Vladimir. Als König Erich III. 1147 starb, beanspruchte Waldemar den Thron und übernahm schon einmal die Macht über Jütland. Es vergingen zwar zehn Jahre bis zu seinem Sieg über seine Widersacher, aber dann war er unangefochtener König von Dänemark. Seine erste Aufgabe sah er darin, die Küstengebiete vor den räuberischen Wenden zu schützen. Die nicht enden wollenden Thronstreitigkeiten hatten diese dazu benutzt, ständig in Dänemark einzufallen und das Land zu verheeren. Die Wenden lebten an der Ostsee und waren zu dieser Zeit noch Heiden. Sie fanden fast keinen Widerstand vor, da die Bauern geflohen waren. Waldemar baute ein schlagkräftiges Heer auf und schaffte wieder Ruhe und Frieden, nachdem er die Wirren im eigenen Land beendet hatte. Im Bunde mit dem Sachsenherzog Heinrich dem Löwen und unterstützt von seinem Freund, dem kriegerischen Bischof von Roskilde, Absalon (1128 (?)–1201), zog er 1168/69 gegen die Wenden in ihrem eigenen Land zu Felde, eroberte die Insel Rügen, machte sie lehnspflichtig und zwang die Wenden, den christlichen Glauben anzunehmen. Schon vorher – 1162 – hatte er die Lehnsoberhoheit Kaiser Friedrichs I. Barbarossa anerkannt. Damals war es ihm noch darum gegangen, des Kaisers Hilfe gegen Heinrich den Löwen zu erhalten, dessen Expansionspolitik im Norden auch an seiner Herrschaft gerüttelt hatte. Trotzdem: Als Waldemar 1168 das wendische, gut verteidigte Arkona eroberte, womit er Heinrich zuvor gekommen war, bekam Heinrich die Hälfte des Tempelschatzes und des Tributes der Insel Rügen. Aber wichtiger war, dass er die slawische Gefahr beseitigt hatte. Absalon, der 1177 auch Erzbischof von Lund wurde, konnte nun die dänische Kirche stärken und ihren Einfluss bis Rügen und Pommern ausdehnen. Schon 1167 hatte er die Burg Havn errichten lassen, die Keimzelle für die spätere Hauptstadt Kopenhagen. Absalon, der nach Waldemars Tod ebenfalls einflussreicher Berater von dessen Sohn Knut VI. (reg. 1182–1202) wurde, unterstützte Waldemar auch in anderer Hinsicht: Mit Erzbischof Eskil von Lund gab es offenen Konflikt und Streit; die meisten Bischöfe hielten unter Führung von Absalon zu Waldemar. Am 25. Juni 1170 kam es zur Aussöhnung zwischen Kirche und Krone; sie wurde symbolisiert durch die Weihung von Waldemars Vater Knut Laward zum Heiligen, und Waldemars Sohn Knut wurde beim selben Anlass gekrönt. Es war der im ersten Anlauf erfolgreiche Versuch, aus dem Wahlkönigtum in Dänemark ein erbliches zu machen, aber der Erfolg war nur vorübergehend. Waldemar der Große starb am 5. Dezember 1182. Seine Regierung hatte seinem Land zwölf Jahre Frieden und Wohlstand gebracht, und auch wieder Macht und Ansehen – sichtbares Zeichen dafür war auch seine Erweiterung des Danewerks.

Nach dem Tode Waldemars des Großen knüpften seine Söhne Knut VI. und Waldemar II. (geb. 1170; reg. 1202–41) an seine Erfolge an: sie eroberten weitere wendische Gebiete an der mecklenburgisch-pommerschen Ostseeküste, 1201 das deutsche Holstein und 1219 Estland. Allerdings gingen diese deutschen und wendischen Eroberungen wieder verloren, und Estland wurde 1346 dem Deutschen Orden verkauft. Waldemar IV. Atterdag, der diesen Verkauf tätigte, andererseits aber 1361 Gotland erwarb, ist uns schon in Verbindung mit dem Grafen Gerhard III. dem Großen von Schleswig und Holstein begegnet. Er unterlag im Krieg gegen die Hanse und musste 1370 Frieden schließen. Seine Tochter war Margarete die Große.
     Margarete ergeht es wie Hatschepsut von Ägypten: Offiziell trägt sie den Titel »die Große« nicht, aber inoffiziell wird sie so genannt. So haben Dunbar, Petersen und Jessen das Werk Christine von Schweden. Karoline Mathilde von Dänemark und Norwegen. Margarete die Große von Dänemark in drei Bänden (Paderborn 2004) herausgebracht. Damit gibt es ein eigenständiges Werk mit dem Titel Margarete die Große, und sicher wird sich diese Ehrbezeichnung in Anbetracht ihres Lebenswerkes mit der Zeit auch durchsetzen.
 

Margarete die Große

Margarete die Große von Dänemark, Abbild auf Margarethes Sarg (Wikipedia)

 
Unter Waldemar IV. hatte Dänemark begonnen, im Konzert der großen europäischen Mächte wieder mehr Einfluss zu erhalten. Von allen Herrschergestalten, die das nördliche Europa in dieser Epoche hervorgebracht hat, war Margarete I. ganz eindeutig die bedeutendste. Geboren wurde sie in Søborg auf der Insel Seeland im März 1353. Als sie zehn Jahre alt war, verheiratete sie ihr Vater mit König Haakon VI. Magnusson (geb. 1339; reg. 1355–1380) von Norwegen und Schweden. Waldemar IV. starb 1375. Margarete begab sich daraufhin mit ihrem damals erst fünfjährigem Sohn Olaf nach Kopenhagen, wo sie sich dem Königswahlkollegium, bestehend aus Adligen und Geistlichen, stellte; tatsächlich gelang es ihr, zu erreichen, dass der Prinz zum König gewählt und sie selbst als Regentin Dänemarks anerkannt wurden. Glückliches oder unglückliches Skandinavien – wie dem auch sei: Haakon VI. starb 1380, und nun wurde Olaf gerade in dem Alter, in dem seine Mutter geheiratet hatte, König von Norwegen, aber da er noch unmündig war, übernahm seine erst 27 jährige Mutter nun auch die Regentschaft in Norwegen »und erweckte mit ihrem Mut und ihrer taktvollen Klugheit das Erstaunen ihrer an männliche Unfähigkeit und Brutalität gewohnten Zeitgenossen, so dass die dänischen und norwegischen Barone, die mit ihren Königen oftmals so wenig Federlesens gemacht hatten, der weisen und um das Landeswohl besorgten Fürstin ehrerbietige Gefolgschaft leisteten.« (Will Durant). Dank ihres diplomatischen Geschicks erhielt Olaf dann 1385 auch noch den schwedischen Thron. Leider starb Olaf schon zwei Jahre später, erst 17 Jahre alt. Für Margarete hätte dies den Verlust ihrer Macht bedeuten können. Aber es kam anders: Sie hatte inzwischen schon so viel Ansehen erworben und so viele Erfolge vorzuweisen, dass die dänischen Wahlmänner sie 1387 zur Regentin Dänemarks erkoren, unter Missachtung des von der Verfassung vorgesehenen Ausschlusses der weiblichen Thronfolge. Ein Jahr später folgte Norwegen trotz des dort gegebenen Erbkönigtums, und wiederum ein Jahr später auch Schweden, dieses Land allerdings, weil hier der Adel mit König Albrecht von Mecklenburg (ca. 1340–1412; als Albrecht III. Herzog von Mecklenburg 1385–88 und seit 1395) unzufrieden war – man hatte ihn 1364 auf den Thron gesetzt, ein schwacher Herrscher, der sich aber nun anmaßte, gegen den sich als Herren aufspielenden und das Volk unterdrückenden Adel mehr Gewicht zu erhalten – Margarete schickte ein Heer, das Albrecht schlug und bis 1395 gefangen setzte. Nun war sie Königin aller drei skandinavischen Reiche. Und 1397 wurden diese Erfolge sogar noch einmal getoppt: In Kalmar in Schweden traten die Wahlkollegien aller drei Länder zu einem gemeinsamen Reichstag zusammen und krönten ihren Großneffen Erich von Pommern (ca. 1382–1459), der schon 1388 in Norwegen als Erbkönig anerkannt worden war, zum gemeinsamen König. Dabei wurde auch die ewige Vereinigung aller drei Länder proklamiert – dabei sollten allerdings Gesetzgebung oder gar Autonomie der Einzelstaaten unangetastet bleiben (Kalmarer Union). Margarete übernahm nun auch für den damals fünfzehnjährigen Erich die Regentschaft (Generalvollmacht für die Reichsverweserschaft) und regierte weise und vorausschauend. Ihr nordisches Großreich umfasste neben Dänemark, Schweden und Norwegen auch Schleswig, Holstein, Grönland, Island, die Faröer und die Shetland-Inseln. Als sie plante, das Herzogtum Schleswig noch fester an ihr Reich zu binden, begab sie sich mit Erich nach Flensburg. Dort herrschte allerdings die Pest. Sie starb, gemessen an ihren Aufgaben zu früh, an dieser Seuche am 28. Oktober 1412 auf einem Schiff im Flensburger Hafen. In Flensburg ist sie noch heute unvergessen, da sie hier die Duburg hatte errichten lassen. Im Dom von Roskilde ist ihr Sarkophag an exponierter Stelle zu besichtigen. Die von ihr geschaffene Kalmarer Union der drei Staaten hielt sich mit Unterbrechungen bis 1523, die dänisch-norwegische Personalunion von 1380 sogar bis 1814. »Kein europäischer Monarch jener Zeit hat ein so ausgedehntes Reich regiert, und keiner mit solchem Erfolg«, hat Will Durant resümiert. Sie brachte dem Reich Ruhe und Ordnung, und auch der Adel hielt zu ihr. Sie war auf jeden Fall eine ganz ungewöhnliche Frau. Den Ehrentitel »die Große« auch offiziell hätte sie auf jeden Fall verdient, aber immerhin wird sie manchmal – und das offiziell – »die Semiramis des Nordens« genannt.
     Leider gelang es Erich, der als Erich XIII. regierte, nicht, in die Fußstapfen seiner Großtante zu treten. Seine Politik war denkbar unglücklich. Er – wie alle seine Nachfolger – blieben im Grunde dänische Könige und vernachlässigten Norwegen und Schweden. Es kam zum Aufruhr, vor allem in der Bauernschaft. Schon 1439 wurde er erst in Dänemark, dann in den anderen Reichsteilen abgesetzt. Sein Neffe schwesterlicherseits Christoph von Bayern (man höre und staune: ein Bayer im Norden), der alle ihm gestellten Bedingungen annahm, wurde als Christopher III. zum König gewählt. Als er schon 1448 starb, bedeutete das auch das vorläufige Ende der Kalmarer Union…

Exkurs: Namentlich »Große«

Vorgestellt werden in diesem Buch Persönlichkeiten, die mit dem Titel der oder »die Große« geehrt wurden. Es gab aber auch einige, die wirklich diesen Namen trugen, die tatsächlich »der Große« hießen. Da sie in erster Linie in Norwegen anzutreffen waren, sollen die bedeutendsten von ihnen in diesem Zusammenhang erwähnt werden. Sie hießen Magnus, und das bedeutete (von lateinisch magnus »groß«) »der Große«. Magnus I. der Gute (geb. 1024; reg. 1035–1047) war der Sohn Olafs des Heiligen, dem wir weiter oben bei seinem verlorenen Kampf gegen Knut den Großen begegnet sind. Als die Norweger den Sohn Knuts vertrieben hatten, holten sie den im russischen Exil lebenden Magnus auf den Thron, und sieben Jahre später wurde er auch – durch Erbvertrag – König von Dänemark. 1043 verteidigte er Schleswig erfolgreich gegen einen Wendeneinfall. Ein späterer König mit diesem Namen war Magnus V. Erlingsson (1156–1184); er wurde 1163 norwegischer König, allerdings unter Festlegung von Thronfolgerechten für Magnus, bei der die Kirche maßgeblichen Einfluss gewann: die dänische Krone wurde als »Lehen des heiligen Olaf« vergeben. Dagegen empörten sich 1180 dänische »Nationalisten«; Magnus musste fliehen und kam vier Jahre später in einer Schlacht am Sogneford ums Leben. Magnus VI. Lagabøter (1238–1280), der »Gesetzesverbesserer«, war ein weiterer Träger dieses Namens – er regierte seit 1263 als König. Das Land- und Stadtrecht, das er ausarbeiten ließ (1274), blieb bis 1604 in Kraft; die Kirche durfte zwar ihre eigene Gerichtsbarkeit behalten, aber Norwegen bekam damit dennoch eine Rechtseinheit. Für Schweden stellte diese Rechtseinheit Magnus VIII. Eriksson (1316–1374), König von Norwegen (1319–55) und – als Magnus II. Eriksson – König von Schweden (1319–64), im Jahr 1350 her. Er ertrank im Hardangerfjord.
     Der Name Magnus war seinerzeit nicht unüblich. In Sachsen hieß Magnus der letzte aus dem Geschlecht der Billunger, der seit 1072 Herzog von Sachsen war und sich am Sächsischen Fürstenaufstand 1070 bis 1075 gegen den unglückseligen Heinrich IV., den durch den Gang nach Canossa 1077 traurig-berühmten Kaisser, beteiligte, ja sogar an führender Stelle, was dann zu seiner mehrfachen Gefangensetzung führte. Durch seine Heiratspolitik baute er dynastische Verbindungen zu den Askaniern und Welfen auf. Magnus starb hoch geehrt im Jahre 1106.
     Zur Zeit der Regierung von Kaiser Lothar III. von Supplinburg, einem von der Nachwelt vielfach unterschätzten Kaiser, der aber den deutschen Landen immerhin für zehn Jahre so etwas wie ein »Goldenes Zeitalter« bescherte, wüteten in Dänemark wieder einmal heftige Thronstreitigkeiten. Knut, der Herr zwischen Schleswig und Lübeck, sächsischer Lehnsmann, den Lothar mit Wagrien belehnt hatte, war von einem weiteren Magnus heimtückisch, bei friedlichem Treffen, ermordet worden; Magnus wiederum war der Sohn von Niels, dem Onkel von Knut, der ihn, als er noch unmündig war, beiseite geschoben hatte, um selbst den dänischen Thron zu besteigen. Knut hatte dies nicht akzeptiert, Magnus strebte ebenfalls nach dem Thron, und Knuts Halbbruder Erich Edmund nun nach Knuts Tod ebenso. Schon standen sich Lothar, der zu Erich hielt, und Niels 1131 am Danewerk gegenüber, zur Schlacht bereit. Aber Niels und Magnus verhandelten und sühnten die Tat; drei Jahre später schwor Magnus Lothar den Lehnseid. Noch 1134 wurden Niels und Magnus jedoch erschlagen, und Erich Edmund als letztendlicher Sieger, wenn auch kaum als »lachender Dritter«, erhielt nun den dänischen Thron und Dänemark als Lehen Kaiser Lothars.
     Und das Fazit? Der Name Magnus sagt nichts über tatsächliche Größe, auch wenn die eine oder andere große Tat von den Trägern dieses Namens begangen wurde. Da war Jarl Haakon (ca. 937–995) aus anderem Holz geschnitzt. Jarl war in Skandinavien die Bezeichnung für einen Freien, später für einen hohen königlichen Beamten. Jarl Haakon führte zwar selbst seine Abstammung auf Odin zurück, war aber kein König, und doch regierte er Norwegen als de facto – König von etwa 975 bis zu seinem Tode. Man nannte ihn nicht selten Haakon, den »großen Jarl« …


4. Vom östlichen Europa bis zum Balkan

Slawen und Finnen waren schon im 9. Jahrhundert die Gründer der befestigen Stadt Nowgorod, die zu den ältesten russischen Städten gehört. Beherrscht wurde sie wohl ursprünglich von den Normannen, den Warägern, die uns bereits begegnet sind. In Nowgorod vertrieben die Bewohner die Normannen wieder, aber bald waren die finnischen und slawischen Bevölkerungsgruppen so zerstritten, dass die Stadt leicht abermals den Skandinaviern in die Hände fiel. Deren Anführer Rurik (ca. 830–879), ein vom Mythos verklärter normannischer Held, begründete um 862 eine feste Herrschaft in Nowgorod, legte hier den Grundstock für das russische Reich und wurde zum Ahnherr des russischen Herrschergeschlechtes. Von Nowgorod aus, das durch weite Handelsbeziehungen mit der muslimischen und byzantinischen Welt in Verbindung stand und zu einer Zeit immer mehr zu Wohlstand gelangte, als Städte wie Genua oder Pisa schon an Einfluss verloren, wurde das russische Reich bis weit nach Süden ausgedehnt. Oleg, später ein Lieblingsheld der Zarin Katharina der Großen, eroberte weite Landesteile, unterwarf die slawischen Nachbarn, machte nach der Eroberung 882 Kiew zum Mittelpunkt des Reiches und beherrschte, als er 912 oder 922 starb, ein Reich, das vom Bug bis zur Wolga und vom Schwarzen Meer bis zum Nordmeer reichte. Sein Enkel Swatoslaw vergrößerte abermals das russische Reich um ein beträchtliches Ausmaß, unter anderem durch die Eroberung des Chasarenreiches. Zwar endete er unrühmlich, er wurde 973 erschlagen, und sein Bezwinger ließ sich aus seinem Schädel ein Trinkgefäß machen, aber durch Swjatoslaw ist Alt-Russland große und mächtig geworden – so mächtig, dass der schon unter Rurik begonnene Versuch, Konstantinopel zu erobern, bis 1043 noch fünfmal wiederholt wurde, wenn auch immer ohne Erfolg. Sein Sohn Wladimir der Heilige brachte Russland unter den Einfluss der griechischen Kirche und Gedankenwelt; bis zum Ende des Zarentums war Russland in Religion, Kunst, Münzwesen, Kultur und Alphabet von diesem Gedankenkreis geprägt. Unter Wladimirs Sohn Jaroslaw dem Weisen (geb. 978; reg. 1016–1018 und 1019–1054) erreichte das Kiewer Reich (»Kiewer Rus«) seinen Höhepunkt, aber durch das von ihm eingeführte unglückliche Erbrecht säte er Zwietracht zwischen die Großfürsten, und nach seinem Tode zerfiel das Reich sehr schnell. Russland erlebte dann bis zur Ankunft der Mongolen (ab 1223) 83 Bürgerkriege, 293 Fürsten, die um 64 Fürstentümer stritten, 46 Invasionen und 16 Kriege gegen nicht-russische Völker; Kiew sank nach der Zerstörung durch die Mongolen 1240 (und schon vorher) allmählich zur Bedeutungslosigkeit herab.

Im 10. Jahrhundert war auch für Polen der Beginn der Staatswerdung. Im Jahre 966 trat Herzog Mieszko (reg. ca. 960–992) aus dem Geschlecht der Piasten zum Christentum über, allerdings nicht zum griechisch-byzantinischen, sondern zum lateinischen, d. h. römisch-katholischen. Sein Reich umfasste vor allem das Gebiet um die mittlere Weichsel und die mittlere Warthe. Unter seinen Nachfolgern vergrößerte es sich immer mehr; der Raum um Krakau, Schlesien, Mähren, Böhmen, die Westslowakei, die Lausitz und Pommern kamen, wenn auch teilweise nur vorübergehend, dazu. Kaiser Otto III. erhob Herzog Boleslaw den Tapferen (Chrobry; geb. ca. 967; Herzog 992; gest. 1025) zum »Bruder und Mitarbeiter des Reiches« und begründete mit ihm das direkt dem Papst unterstellte Erzbistum Gnesen mit den drei Bistümern Krakau, Breslau und Kolberg. Im Jahr seines Todes wurde Boleslaw zum König gekrönt. Sein Reich lag – eine nicht ganz einfache Situation – zwischen dem Heiligen Römischen Reich, Dänemark, Böhmen und im Osten dem Kiewer Reich. Aber wie auch in Russland schwächten Erbfolgestreitigkeiten und Teilungen das polnische Reich in den kommenden Jahrzehnten. Dazu trat der Angriff der Mongolen, die trotz aller Legenden nicht in der Schlacht von Liegnitz 1241 von einem deutsch-polnischen Heer aufgehalten wurden, sondern sich wegen interner Schwierigkeiten um die Herschernachfolge zurückzogen. Zwar wurde Polen 1320 dauerhaft zum Königreich erhoben, aber wenig später (1339/53) schied Schlesien aus dem Staatsverband aus und wurde ein Teil Böhmens und damit auch indirekt Teil des Heiligen Römischen Reiches.

Noch ein Reich erstarkte im Osten Europas in diesem Zeitraum: Litauen. Baltische Litauer, die von Slawen von der oberen Oka und Wolga vertrieben worden waren, nahmen wohl zu Beginn des 9. Jahrhunderts vom heutigen Litauen Besitz. In zahlreiche Kleinfürstentümer zersplittert, wurde das Gebiet im 14. Jahrhundert unter Großfürst Gedimin (reg. 1316–41) geeinigt; er machte Wilna zur Hauptstadt seines Reiches, das er nach Osten vergrößerte, wo er z. B. Minsk unter seine Oberhoheit brachte. Sein Sohn Algirdas (reg. 1345–77) erweiterte das inzwischen als Großreich zu bezeichnende Reich bis zur Oka und zum Dnjepr. Großfürst Jagiello (reg. 1377–1434) verbündete sich mit Polen, um eine Union gegen den Deutschen Orden zu schaffen – er ließ sich taufen und heiratete die polnische Thronerbin Hedwig; so war der Weg bereitet, dass er 1386 die polnische Königskrone als Wladyslaw II. erhielt, womit er die Dynastie der Jagiellonen begründete. Seinem Vetter Witold (Vytautas), dem man den Ehrentitel »der Große« verlieh, überließ er die Großfürstenwürde in Litauen. 1410 besiegte dann das litauisch-polnische Heer den Deutschen Orden in der berühmten Schlacht von Tannenberg.
     So sieht der geschichtliche Rahmen aus, in dem mehrere »Große« eine Rolle spielten.

Krieger, Diplomaten und ein Heiliger: Wladimir, Mstislaw, Kasimir und Witaut die Großen

Wladimir der Heilige wurde gerade erwähnt. Ihm wurde ebenfalls der Ehrentitel Wladimir der Große verliehen; so jedenfalls wird er auch in der Enyclopedia Americana genannt. Er wurde um 956 geboren und erhielt nach dem Tod seines Vaters Swjatoslaws einen Teil dessen Reiches; die übrigen Teile bekamen die anderen Söhne Swjatoslaws, nämlich Oleg und Yaropolk. Natürlich entbrannte sofort Streit zwischen den Brüdern. Oleg wurde schon bald getötet, und Wladimir musste nach Skandinavien fliehen. Von dort kehrte er mit Warägern zurück, brachte seinen verbliebenen Bruder verräterisch um und wurde somit 978 Großfürst von Kiew. Wladimir, dem die Geschichte nachsagt, er habe ursprünglich neben fünf rechtmäßigen Frauen noch 800 Nebenfrauen in verschiedenen Städten gehabt und sei ein wilder, Götzen anbetender Barbar gewesen, ließ sich 988 taufen. Vorausgegangen war, dass die Kirchen der benachbarten Staaten nach seiner Machtkonsolidierung zunächst versuchten, ihn von ihrem jeweiligen Glauben zu überzeugen. Daraufhin beriet sich Wladimir mit seinen Adligen und sandte Beobachter in die anderen Länder, um herauszufinden, wie die Menschen unter den Bedingungen der verschiedenen Religionen, sei es römisch-katholisches oder griechisch-orthodoxes Christentum, Islam oder Judentum, lebten. Als seine Abgesandten aus dem Bereich der griechisch-orthodoxen Kirche zurückkehrten und berichteten, sie wüssten nicht mehr, ob sie im Himmel oder auf Erden gewesen seien, entschied er sich für diese Religion. Verstärkt wurde diese Entscheidung durch seinen Wunsch, die Schwester des byzantinischen Kaisers Basileios (geb. 958(?); reg. 976–1025), Prinzessin Anna, zu heiraten. Basileios II. gilt als einer der bedeutendsten byzantinischen Kaiser schlechthin; er führte Byzanz zur einer damals ganz hervorragenden Macht in der christlichen und muslimischen Welt; unter ihm erreichte das byzantinische Reich seine größte Ausdehnung. Interessanterweise hat kein byzantinischer Herrscher je den Titel »der Große« erhalten; auch Basileios II. nicht, der es »nur« zu einem Basileios »der Bulgarentöter« brachte. Er stimmte der Heirat unter der Bedingung der Taufe von Wladimir zu, und die Hochzeit wurde auf der Krim gefeiert. Russland stieg somit endgültig zu einem Teil der »zivilisierten Welt« auf. Das Christentum wurde zur Staatsreligion und Wladimir durch seine Taufe innerlich so verwandelt, dass er später in der russischen Kirche zum Heiligen erkoren wurde – sein Tag in der russisch-orthodoxen Kirche ist der 15. Juli, der Tag seines Todes – er starb am 15. Juli 1015. Den Rest seines Lebens widmete er der Verbreitung von Kultur und Zivilisation in seinem Reich. Unter seinem Sohn und Nachfolger Jaroslaw dem Weisen, unter dem das Kiewer Reich seinen Höhepunkt erreichte – er starb 1054 – gab es dann rund vierhundert prachtvolle Kirchen; auf acht Märkten trafen sich Händler aus Byzanz und Holland, aus Skandinavien, Deutschland und Ungarn. Es entstanden schon unter Wladimir Klöster und Schulen – Bildung und Erziehung waren Wladimir ein großen Anliegen – und ein Gesetzbuch, das die Todesstrafe ausdrücklich nicht vorsah. Auch die Armenfürsorge wurde schon unter ihm aufgebaut.
     Wladimir vergrößerte sein Reich, dessen Einheit er bewahrte. Seine zwölf Söhne dienten ihm als Gouverneure der verschiedenen Distrikte, waren ihm aber tributpflichtig. Sein Tod bedeutete für sie allerdings leider das Signal zum Krieg um das Reich, aber zu dessen Glück setzten sich Jaroslaw und Mstislaw durch, die das Reich bis 1036 gemeinsam regierten. Den eigentlichen Anfang vom Ende begründete Jaroslaw durch die Teilung seines Reiches unter seinen fünf Söhnen…
     Wladimir hat den Titel »der Große« sicher verdient. Warum ihn ein anderer russischer Fürst, Mstislaw I., erhielt, wissen vermutlich nur wenige. Er wurde 1076 geboren und war von 1125 bis zu seinem Tode 1132 Großfürst des Kiewer Reiches. Schon 1088 war er Fürst von Nowgorod geworden, wo er zahlreiche Kriege gegen die Esten (Tschuden) führte. Über ihn ist insgesamt wenig bekannt. Im Rahmen weiterer Feldzüge kämpfte er auch gegen die Litauer und verheerte das Gebiet von Polzk, aber er machte sich auf der anderen Seite um den Bau von Kirchen und Klöstern in Nowgorod verdient. Nach seinem Tod und dem seines ihm in der Regierung folgenden Bruders Jaropolk II. 1139 beschleunigten Nachfolgestreitigkeiten den weiteren Zerfall des Kiewer Reiches. Es musste eine lange Zeit vergehen, Jahrhunderte dauerte es, bis wieder russische Herrscher den Titel »der Große« erhielten: Die Zaren Iwan und Peter sowie Zarin Katharina die Großen. Warum er nicht dem hervorragenden Fürsten von Nowgorod (1236–1251) und Großfürsten von Wladimir (seit 1252) Alexander Newski (geb. ca. 1220; gest. 1263) verliehen wurde, der 1240 an der Newa die Schweden, zwei Jahre später den Deutschen Orden auf dem Eis des Peipussees und 1245 in drei Schlachten litauische Heere besiegt hatte und durch seine kluge Politik Nowgorod vor der Zerstörung bzw. Plünderung durch die Mongolen bewahrte, bleibt ein Rätsel der Geschichte, aber immerhin wurde er Heiliger der russisch-orthodoxen Kirche; sein Tag ist der 23. November, und er gilt als der bedeutendste Nationalheld der russischen Geschichte…

Die Entwicklung Polens seit seinen Anfängen wurde bereits skizziert. Polen gehört nicht zum östlichen Europa, sondern zum östlichen Mitteleuropa, aber seine Geschichte ist so sehr mit der Russlands und Litauens verknüpft, dass wir sie getrost in diesem Zusammenhang erzählen können. Auch Polen hat einen »Großen«, und zwar Kasimir III. den Großen. Als letzter der Dynastie der Piasten kam er 1310 zur Welt. Als er 1333 den Thron bestieg, erbte er ein von ständigen Kriegen zermürbtes Land, das zwar von seinem Vater weitgehend vereinigt worden und immerhin vom Heiligen Römischen Reich anerkannt war, aber es gab noch genug zu tun, und so sah er sich gezwungen, mehr auf Diplomatie als auf Krieg zu setzen. Zunächst erkannte er 1335 im Vertrag von Wischegrad die Oberhoheit über Schlesien durch den König von Böhmen an und gab ihm noch ein stolzes Sümmchen Geldes dazu, und dieser verzichtete im Gegenzug auf alle Ansprüche auf den polnischen Thron. Dann, acht Jahre später, schloss er im Frieden von Kalisch einen Vertrag, in dem er das umstrittene Gebiet Pommerellen (Westpreußen), das Michelauer und das Kulmer Land dem Deutschen Orden überließ, dafür aber die Region Kujawien und das Dobrziner Land zurück erhielt. Zwar brachte er im Westen solche territorialen Opfer, aber dafür erwarb er schrittweise 1349, 1352 und 1366 die ostgalizischen bzw. rotreußischen Fürstentümer Lemberg, Halitsch und einen Teil Wolhyniens, sicherte sie endgültig für Polen und gliederte Masowien (1351–1356) und Chelm (1366) Polen als Lehensfürstentümer an, indem er alte rechtliche Forderungen teilweise auch militärisch durchsetzte. Sein Neffe König Ludwig I. von Ungarn (Ludwig von Anjou) unterstützte ihn dabei – er wurde bei einem Treffen in Buda 1355 in einem Erbvertrag unter einigen für Polen günstigen Randbedingungen als Nachfolger des kinderlosen Kasimir auf dem polnischen Thron bestätigt – auch er ein »Großer«, dem wir in Kürze wieder begegnen werden. Unter Kasimir dem Großen machte Polen rasante Fortschritte auf wirtschaftlichem und kulturellem Gebiet. Er hatte die Zeichen der Zeit erkannt, sah, dass das alte Rittertum sich überlebt hatte – die Feuerwaffe war bereits erfunden – und das Volk in anderen Kategorien dachte. So gab er Anstöße für Handel und Gewerbe und weitete sie aus. Er unterstützte die unteren Schichten, stärkte die Bauern gegenüber dem Adel und wurde darob als »Bauernkönig« bezeichnet, allgemein eher als Ehrentitel verwendet, und umgekehrt suchte er die großpolnische Adelsopposition zu spalten, auch wenn er den Adel als Kronrat brauchte. Zu seiner Zeit ließen sich viele Juden in Polen nieder, und Kasimir stattete sie mit Privilegien aus. Er gründete Städte und Dörfer, die deutsches Recht erhielten – schließlich siedelte dort auch jede Menge Deutsche, vereinheitlichte das Münzwesen und mit einer Zusammenstellung der gebräuchlichen Gesetze auch das Rechtswesen, zumal er auch neue Gerichtshöfe gründen ließ. Er schuf eine einheitliche Verwaltung durch neue Reichsämter und führte eine Reorganisation des Kriegswesens durch. War bisher nur der Adel zum Kriegsdienst verpflichtet gewesen, wurde nun auch der Bürger waffenfähig, und die Kirche musste Stellvertreter entsenden. Im Jahre 1364 gründete er die Universität von Krakau nach dem Modell italienischer Rechtsschulen. Als Kasimir am 5. November 1370 starb, hatte er Polen zu einer bedeutenden Macht in Europa gemacht, »war das vordem erschöpfte und verachtete Polen ein reiches und angesehenes Kulturland« geworden, wie es ein Historiker ausdrückte; er legte damit den Grundstock für die Macht seiner Nachfolger, der Jagiellonen, und er hatte den Weg zur Union mit Litauen geebnet, kurzum ein tatsächlich »großer« Herrscher.

Mitbegründer des litauisch-polnischen Großreiches war Vytautas der Große, der auf Polnisch Witold hieß und auch als Witaut in der Literatur bezeichnet wird. Als in Litauen 1930 ein Orden für besondere Verdienste um den Staat geschaffen wurde, nannte man ihn den »Orden des Vytautas des Großen«. Witold kam 1350 zur Welt. Zu der Zeit war das Großfürstentum in zwei Teile geteilt. Gedimin, den wir bereits erwähnt haben, hatte zwei Söhne: Kestutis, der von 1345 bis 1382 regierte, herrschte im westlichen Teil, an der Grenze zum Deutschritterorden, und Algirdas (1345–1377) regierte im östlichen Teil, von wo aus er dreimal gegen Moskau zog und es belagerte. Der Ausbreitung der Litauer wurde wenig Widerstand entgegengesetzt, so dass sie relativ friedlich erfolgte, zumal die bisherigen Fürsten ihre Position behalten durften, wenn sie Tribut entrichteten. Litauen wurde römisch-katholisch, als Großfürst Jagiello, der Sohn Algirdas’, die polnische Königin Hedwig (Jadwiga; ca. 1374–1399) heiratete, eine der Bedingungen für die 1386 erfolgte Union zwischen Polen und Litauen. Witold, der Sohn von Kestutis und damit Cousin von Jagiello, war damit nicht einverstanden, weil er um Litauens Einfluss fürchtete, und revoltierte zunächst dagegen mit Waffengewalt. Schließlich akzeptierte er jedoch das Bündnis und wurde Großfürst von Litauen. Unter ihm erreichte die Ausdehnung von Litauen ihren Höhepunkt, als seine Truppen an die Küste des Schwarzen Meeres gelangten. Im Laufe seines Zuges an den unteren Dnjepr 1396 schlug er die dort ansässigen Tataren entscheidend; über zehntausend Familien brachte er nach Litauen; aus der gleichzeitig unterworfenen, im 8. Jahrhundert entstandenen jüdischen Sekte der Karaiten (Karäer, davor Ananiten nach dem Gründer Anan Ben David genannt) – 500 verschleppte er nach Litauen – rekrutierte er später seine Leibwache. Zwar musste er drei Jahre danach eine herbe Niederlage gegen die Tataren einstecken, aber sein Einfluss auf die Goldene Horde, wie die Bezeichnung für den Verbund der Tataren in Russland lautete, blieb nach wie vor sehr stark. Mittlerweile nahmen die Spannungen mit dem Deutschen Orden zu; dieser hatte stark an Macht gewonnen und große Ländereien erworben. Er hetzte allenthalben bei den deutschen Fürsten und in Rom gegen Polen und Litauen. So kam es zum Krieg, den vor allem Witold betrieb. Am 15. Juli 1410 wurde der Orden in der Schlacht von Tannenberg vernichtend geschlagen. Zum ersten Mal, so ist überliefert, hat damals das polnische Heer das Tedeum in polnischer Sprache gesungen. Auch wenn der Friede von Thorn 1411 für den Orden einigermaßen glimpflich aussah, war dessen Macht im Osten gebrochen, und auch der Einfluss des Deutsche Reiches auf Osteuropa. Wiltolds Werk und Sieg bedeutete eine Wende – nämlich die Wiedererneuerung und Stärkung des Slawentums. Wiltold selbst stieg zum einflussreichsten Herrscher in Osteuropa auf. Auch innenpolitisch hat er für sein Land Großes geleistet. So gab er der jüdischen Bevölkerung Privilegien, unterstützte die Katholiken und ließ die Schriftkultur verbreiten. Die Union blieb, trotz vieler Wechselfälle und eines mehrfachen Hin und Her – Witold richtete sich häufig neu aus – erhalten und er selbst recht eigenständiger Großfürst von Litauen. Er starb am 27. Oktober 1430 ohne Nachkommen. Als »Großer« blieb er der polnischen und litauischen Bevölkerung in Erinnerung, vor allem in den schweren Zeiten. Denn die weitere Entwicklung hielt für Polen noch viele Wechselfälle des Glücks und schlimme Schicksalsschläge bereit, man denke nur an die vielfältigen polnischen Teilungen und Freiheitskämpfe. Aber das ist eine andere Geschichte.

Glänzende Herrscher auf dem Balkan: Simeon, Petar Krešimir, Stefan Uroš, Basarab und Mirtschea die Großen

Auf der Balkanhalbinsel findet sich eine Reihe teils uralter Staaten: Bulgarien, Kroatien, Serbien und Rumänien, dazu noch Griechenland, Albanien und die europäische Türkei, um nur eine grobe Aufzählung zu geben. Bulgarien zählte im Altertum zur Landschaft Thrakien. Nachdem es einige Jahrhunderte zum Mazedonischen Reich gehört hatte, kam es im 1. Jahrhundert unter römische Herrschaft. Slawische Einwanderer siedelten hier seit Ende des 5. Jahrhunderts. Die Protobulgaren, von turktatarischer Herkunft, richteten in dem Gebiet nach 675 eine Herrschaft auf, und schon 681 erkannte das Byzantinische Reich die Gründung des ersten Bulgarischen Reiches an, dessen Herrscher Khan Asparuch (gest. 701) war. Rund zweihundert Jahre später, um 865, nahm das Land unter Boris I. das orthodoxe Christentum an und führte seit 885 das kyrillische Alphabet ein. Ihm sind wir im Zusammenhang mit Papst Nikolaus dem Großen bereits begegnet. Boris dritter Sohn war Simeon, der 864 geboren worden und am kaiserlichen Hof von Byzanz aufgewachsen war, wo er eine umfassende Ausbildung erhalten hatte. Mit Byzanz hatte der Friede lang angedauert, aber als Simeon 893 den Thron des bulgarischen Reiches bestieg, endete er aus wirtschaftlichen Gründen und wegen Handelsfragen. Simeons Regierungszeit bis zu seinem Tode 927 bedeutete den Höhepunkt des mittelalterlichen Bulgariens. Auch wenn der größte Teil davon in fruchtlosen und teilweise für die durchquerten Länder wie Griechenland verheerenden Kriegszügen gegen Konstantinopel bestand – er belagerte es 913, und erneut 924; bei dieser Gelegenheit wurde er zum bulgarischen Zaren ausgerufen – gelang es Simeon, die bulgarische Grenze in Richtung Adria auf serbisches Gebiet voranzuschieben. Adrianopel wurde von ihm zweimal erobert. Er nannte sich »Kaiser und Autokrat aller Bulgaren und Griechen« und bei anderer Gelegenheit »Zar der Bulgaren und Rhomäer« (d. h. Oströmer, wie sich die Byzantiner selbst nannten) und versuchte, aus seiner Hauptstadt Preslaw ein Zentrum zu machen, das mit Byzanz in Glanz und Reichtum konkurrieren sollte.Tatsächlich hat man hier schöne Überreste byzantinischer Architektur und Skulptur entdeckt. Byzanz seinerseits gelang es, die Kroaten, Serben und Ungarn gegen Simeon aufzuhetzen, und auch die Griechen kämpften gegen ihn einen langwierigen Zermürbungskrieg. Nachdem er Zar geworden war, kehrte endlich mehr oder weniger Frieden ein. Simeon holte verschiedene Gelehrte und Theologen an seinen Hof. Sie begannen mit der Übersetzung der byzantinischen geistlichen Literatur ins Altslawische, das kyrillische Alphabet setzte sich endgültig durch, und 923 wurde das Slawische zur offiziellen Staats- und Kirchensprache erhoben. Hier und in der Vergrößerung des Reiches, das vom Schwarzen Meer bis zur Adria und Ägäis reichte und die stärkste Macht auf dem Balkan darstellte, lag die große Bedeutung von Simeon, den die Nachwelt »den Großen« genannt hat, ein Titel, der sich allerdings nicht in allen Quellen findet. Er bescherte, zumindest in seinen letzten Jahren, seinem Reich etwas wie ein »goldenes Zeitalter«, aber nach seinem Tod verlor das alte bulgarische Reich sehr schnell an Bedeutung, 972 bzw. 1018 fiel es an Byzanz, und erst 1185/87 entstand es als 2. bulgarisches Reich neu.
     Ein weiteres bedeutendes Land auf dem Balkan ist Kroatien. Das ist heute so, und das war auch schon in der Vergangenheit der Fall. In römischer Zeit, seit kurz vor der Zeitenwende, war Kroatien ein Teil Pannoniens bzw. Illyriens. Ab dem 7. Jahrhundert wanderten slawische Stämme ein und besiedelten das Land. Ab 845 herrschte dort ein Fürst, 924 wurde es ein Königreich mit Tomislaw als erstem König, und die kroatische Herrscherdynastie gewann Slawonien und die dalmatinischen Städte hinzu. Damals existierte Kroatien gewissermaßen schon in der heutigen Form, bestand also aus der Küstenregion und den nördlichen Gebieten, die damals Pannonien hießen. 1102 wurde eine Personalunion mit Ungarn begründet, die sich bis 1918 halten konnte. Auf Tomislaw ging die kroatische Dynastie zurück, und einer seiner Nachfolger war Peter Krešimir IV., den die Nachwelt »den Großen« nannte, wenn sich der Titel auch – wie bei Simeon – nicht durchgängig findet. Er regierte von 1059 bis zu seinem Tod 1074. Unter ihm erhielt Kroatien im Mittelalter seine größte Ausdehnung, daher der Titel, den sonst in der kroatischen Geschichte kein Herrscher mehr bekam. Bedeutsam war auch, dass Petar die katholische Kirche förderte, im Widerspruch zu einem großen Teil des Klerus und des Volkes, die der griechisch-orthodoxen Kirche zuneigten. Er schenkte der Kirche Ländereien, baute Kirchen und Klöster, wie das Kloster der Hl. Maria in Zadar. Aber auch zu Byzanz pflegte er gute Beziehungen; dagegen nahmen ihn die Normannen bei einem Überfall gefangen, und er musste die Städte Zadar, Split und Trogir abtreten, um wieder frei zu kommen; diese Städte gliederte dann Venedig seinen Machtbereich ein, nachdem es die Normannen vertrieben hatte. Die Auseinandersetzungen mit Venedig blieben ein Teil der kroatischen Geschichte.
     Auch Serbien weist einen »Großen« in seiner Geschichte auf, und diesem ist sogar ein eigener Artikel in der Encyclopedia Americana gewidmet. Er stammte aus der prominenten serbischen Nemanya-Dynastie: Stephen Nemanya V. bzw. Stevan Uroš I. der Große. Geboren um 1220, kam er 1243 an die Macht. Er heiratete Helena, eine französische oder deutsche Prinzessin, die Schulen, Bibliotheken und Kirchen gründete, während er Befestigungsanlagen baute und sein Reich vergrößerte; u. a. gewann er durch Eroberungszüge große Gebiete in Mazedonien dazu. Helene war ihm eine wichtige Stütze und legte wie er auf Pomp wenig Wert. Er galt als Volkskönig, dem es auch daran gelegen war, Unterschiede in seinem Reich, seien es kirchlicher oder regionaler Art, auszugleichen. Unter ihm entwickelte sich bemerkenswerterweise das Bergwesen in Serbien; hierin lag für Serbien eine Haupteinnahmequelle, und bald belieferte Serbien ganz Europa mit Silber, was fast ein Drittel des europäischen Silbermarktes ausmachte. 1276 stürzte ihn sein ältester Sohn; er zog sich in ein Kloster zurück und starb am 1. Mai 1277, von der Nachwelt mit dem Ehrentitel »der Große« geehrt.
     Werfen wir noch einen Blick nach Rumänien. Die ehemaligen Donaufürstentümer Moldau und Walachei sowie Siebenbürgen bilden im Großen und Ganzen das heutige Rumänien. Die Urbevölkerung, die Daker und Geten, wurden durch die römische Herrschaft seit dem 1. Jahrhundert weitgehend romanisiert, daran änderten auch die vielen in der Folgezeit durchziehenden Völker wie Goten, Alanen, Hunnen, Awaren und andere nichts, noch wurden sie von ihnen oder auch den im 6./7. Jahrhundert einfallenden Slawen vertrieben. Als Volk tauchen die Rumänen im 13. Jahrhundert erstmals urkundlich auf. Die Siebenbürger Sachsen siedelten hier ab 1150, nachdem sich vorher schon Ungarn (Magyaren) in dem Gebiet niedergelassen hatten. Aber erst im 14. Jahrhundert wurden in diesen Regionen, nämlich in der Walachei und in der Moldau, die ersten Staaten gebildet. Angeblich wurde die Walachei als Staat von einem gewissen Radu Negru, einem Woiwoden aus Transsylvanien, gegründet, der ab 1290 mit seinen Anhängern in die Tiefländer des heutigen Rumänien zog. Die Geschichte ist mit vielen Legenden ausgeschmückt; vielleicht hieß er auch Ivancu oder Tihomir. Interner Streit in Ungarn gab Basarab dem Großen, der auch Basarab der Gründer hieß (reg. 1330–1352), den Anstoß, 1330 die Walachei von ungarischem Vasallentum zu befreien – dasselbe geschah dann 1359 in der Moldau, und Basarab und seine Nachfolger konnten in der Folge über mehrere Dekaden ihre Unabhängigkeit bewahren. Der bedeutendste unter ihnen war Mirtschea (Mircea, Mrtschea) der Große, der 1386 bis 1394 und dann noch einmal von 1397 bis 1418 regierte. Er wird auch Mirtschea der Ältere genannt, aber in der Geschichte hat sich doch der Titel »der Große« erhalten. Er war kein König im westlichen Sinn, sondern betitelte sich als Groß-Woiwode. Für sein Volk war er der »Herr«, und er verlangte nur den Zehnten, gelegentliche Geschenke und Heeresfolge – nicht Untertanen war das Volk für ihn, sondern eher Gefährten. Er führte den byzantinischen Doppeladler auf seiner Bekleidung, die einer fürstlichen in nichts nachstand, er trug einen roten Mantel und rote Schuhe; sein Name erschien in roter Schrift auf den Urkunden. Mit Unterstützung aus Polen eroberte er die Dobrudscha. Ein Teil seines Heeres kämpfte auch 1389 im Kosovo. Fünf Jahre später gelang es ihm, die Türken zu besiegen, aber 1417 konnte sich die Walachei nicht mehr gegen den türkischen Ansturm wehren – kein Verbündeter kam Mirtschea zu Hilfe – und wurde ein tributpflichtiger Staat. Insgesamt haben aber die Walachei, die Moldau (ab 1513) und Siebenbürgen (ab 1538) mehr Glück im Umgang mit den Türken gehabt als andere Fürstentümer – sie wurden nie zu türkischen Provinzen, sondern konnten sich durch Tributzahlungen bis zum Beginn des 18. Jahrhunderts eine weit reichende innere Selbstständigkeit bewahren, und der Moldau erwuchs in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts noch einmal ein bedeutender Herrscher, Stefan III. der Große, der zum rumänischen Nationalheiligen avancierte – ihm werden wir in der »Neuzeit« wieder begegnen.

Herr von Nord bis Süd: Ludwig der Große

Wir hätten ihn im Zusammenhang mit der polnischen Geschichte behandeln können, im Rahmen der Erbfolge von Kasimir dem Großen, aber das wäre ihm nicht gerecht geworden. Er hätte auch zur Geschichte des Balkans gepasst, aber auch nicht völlig adäquat, und auch in die Geschichte der südeuropäischen Länder hätte man ihn einordnen können, aber eben auch nicht ohne jeden Zweifel. So erscheint es am besten, ihm ein eigenes Kapitel zu widmen, das dann auch schon zu den südeuropäischen »Großen« überleitet.
 

Ludwig der Große

Ludwig der Große (Wikipedia)

 
Geboren wurde Luwig am 5. März 1326 im ungarischen Visegrád. Sein Vater war König Karl Robert von Ungarn, der 1342 starb. Zu dieser Zeit war Ungarn ein mächtiges, unabhängiges Königreich. Hier, im mittleren Donautal, dem alten römischen Pannonien, hatten sich nach dem Rückzug der Römer um 400 germanische und hunnische Stämme niedergelassen. Unter Attila, der 453 starb, wurde es Mittelpunkt des Hunnenreiches. Nach Langobarden, Wandalen und Gepiden, letztere für längere Zeit, kamen Ende des 6. Jahrhunderts die Awaren; deren Herrschaft beendete Karl der Große spätestens Anfang des 9. Jahrhunderts, und nun, seit 896, erschienen die Magyaren auf der Bildfläche und nahmen das Pannonische Becken für sich ein. Ursprünglich aus der Gegend zwischen Ural und Wolga, dem finno-ugrischen Sprachraum, stammend, assimilierten sie die einheimischen Völker und gingen auf Raubzüge gegen die Nachbarländer, in denen sie Angst und Schrecken hervorriefen. Ihre Niederlage auf dem Lechfeld 955 und später noch eine weitere vor Byzanz 970 beendeten diesen Teil der ungarischen Geschichte. Großfürst Géza (ca. 940/945–997), der seit etwa 970 regierte, bereitete die Christianisierung und Sesshaftwerdung seines Volkes vor und festigte die fürstliche Macht. Sein Sohn war der berühmte ungarische König Stephan I. der Heilige (geb. ca. 970/975; Fürst 997; König 1000; gest. 1038), ein Schwager Kaiser Heinrichs II. – er christianisierte sein Volk teils mit Gewalt, unterdrückte aber auch den Widerstand der Stammesfürsten und errichtete eine zentralistische Königsherrschaft. Nach ihm ist die Stephanskrone benannt, das ungarische Staatssymbol, und er selbst wurde zum Schutzpatron Ungarns und 1083 heilig gesprochen. Ungarn behauptete sich seine Macht in Europa, auch wenn es Mitte des 11. Jahrhunderts vorübergehend vom Heiligen Römischen Reich lehensabhängig war. Ab 1102 kam es zur Personalunion mit Kroatien; um 1150 begann die ungarische Krone mit der Ansiedlung von Deutschen in Siebenbürgen. 1222 erzwang der ungarische Adel vom König in der »Goldenen Bulle« die Festlegung seiner Vorrechte. Nur rund 20 Jahre später drangen die Mongolen ein und eroberten und besetzten das Land. Aber auch sie zogen sich eines Tages wieder zurück, und die Ungarn konnten ihre Herrschaft und ihr Land festigen. In dieser Situation betrieb Ludwig I. der Große eine Politik der immensen Ausweitung seiner Herrschaft. Diese Expansion hatte aber durchaus auch sehr starke dynastische Hintergründe. Ludwig war der Ururenkel Königs Karl I., Graf von Anjou (1226–1285), der seit 1246 Graf der Provence und 1263 vom Papst mit dem bislang staufischen Königreich Sizilien belehnt worden war. In Verteidigung dieser neu verliehenen Rechte gegen die Staufer ließ er auch den Staufererben Konradin 1268 hinrichten. Seine Hauptstadt verlegte er nach Neapel, Sizilien selbst sollte ihm, worauf wir bald zurückkommen, nicht lange erhalten bleiben. Karls langfristiger Plan war eine Herrschaft über das Mittelmeer, in die auch Ungarn mit einbezogen werden sollte. Daraus sollte zwar nichts werden, aber immerhin gelang es dem Haus Anjou, die Macht über Sizilien, Neapel und Ungarn zu gewinnen. Ludwigs Vater Karl Robert wurde noch in Neapel geboren und hieß allgemein Caroberto; er verlor zwar die Herrschaft über Süditalien, aber gewann dafür immer mehr Einfluss im östlichen Mitteleuropa. Er heiratete Elisabeth, die Tochter des polnischen Königs und begründete damit die ungarisch-polnische Allianz, die im mittleren Europa eine bedeutende Rolle spielte. Für Karl Roberts Pläne war der Verlust Süditaliens nicht entscheidend, er hatte auch die ungarische Residenz nach Visegrád verlegt – anders aber für Ludwig. Dieser war zwar in Ungarn geboren und machte das von den Mongolen 1241 zerstörte Budapest 1361 zur Hauptstadt des ungarischen Reiches, mit einem Hofe der Könige von Anjou, der an Glanz nichts zu wünschen übrig ließ, aber an seinem Plan, auch Neapel und Sizilien für seine Krone zurück zu gewinnen, ließ er nicht rütteln. Seine Ansprüche auf die Krone von Polen sind schon erwähnt worden. 1370 wurde er nach dem Tod seines Onkels Kasimir des Großen König von Polen. Das Hauptaugenmerk seiner Politik lag aber in ganz anderer Richtung. Polen war für ihn uninteressant. Er setzte seine Mutter Elisabeth, die ja aus Polen stammte, als Regentin von Polen ein und übertrug dem polnischen Adel viele Rechte; für seine polnischen Untertanen galt er nur als »Ludwig der Ungar«. Ansonsten trug er den Ehrentitel »Ritterkönig«, und in den vierzig Jahren seiner Herrschaft ist er überwiegend von einem Feldzug zum nächsten geeilt. Sein großer Traum war eine Machtkonstellation in Europa, die von Polen und Ungarn über Dalmatien auf dem Balkan bis nach Neapel und Sizilien reichen sollte. Dabei waren Polen und Ungarn für ihn zweitrangig; von Bedeutung war für ihn vor allem das Mittelmeer. Hier stieß er aber auf den Widerstand der Republik Venedig, die sich als aufblühende Handels- und Wirtschaftsmacht ebenso für die Handelsstützpunkte Dalmatiens interessierte wie er. Von 1345 bis 46, 1356 bis 58 und 1378 bis 81 kämpfte Ludwig siegreich gegen Venedig; im Frieden von Zadar 1358 gewann er Dalmatien mit Ragusa, und für das Land begann nun eine Zeit der wirtschaftlichen Blüte, zumal die dalmatinischen Städte von ihm – anders als unter venezianischer Herrschaft – weit gehende Autonomie erhielten. Zum abermaligen Krieg gegen Venedig kam es von 1378 bis 1381 an der Seite Genuas im sogenannten Chioggiakrieg, dessen Ende Ludwig erneut die Herrschaft über Dalmatien sicherte. Zudem festigte Ludwig die Oberhoheit über Bosnien, die Walachei, die zwischen 1344 und 1369 unter seine Lehenshoheit geriet, und die Moldau, die er für seinen Onkel unter polnische Herrschaft brachte; von 1365 bis 69 unterwarf er das westbulgarische Vidin und machte aus dem alten bulgarischen Zarentum ein ungarisches Banat. Auf den Thron von Neapel verhalf er 1380 dem letzten männlichen Vertreter der Nebenlinie Anjou-Durazzo. Das Großreich, das Ludwig nun regierte, reichte vom Baltikum bis zur Adria. Aber er war nicht nur im Felde unterwegs. Er suchte, den katholischen Glauben zu verbreiten, und – keine weitsichtige Entscheidung – verweigerte dem Kaiser von Byzanz aus Glaubensgründen Militärhilfe gegen die anstürmenden Osmanen – auch sein Herrschaftsbereich sollte den Osmanen nicht lange standhalten können. Vor dem Hintergrund seiner Förderung des Katholizismus war ihm die Sekte (»Häretikergruppe«) der Bogomilen in Bulgarien ein Dorn im Auge, die er daher bekämpfte. 1367 gründete er die Universität Fünfkirchen (Pécs), womit er sich auch ein kulturelles Andenken schuf. Ludwigs erste Frau Margarete von Luxemburg, eine Tochter Kaiser Karls IV., war 1349 nach kinderloser Ehe an der Pest gestorben; seine zweite Frau Elisabeth, die Tochter Stjepans II., des Banus von Bosnien, gebar ihm drei Töchter, von denen die älteste schon als Kind starb. Maria, die zweitälteste, wurde als seine Nachfolgerin »König« von Polen und heiratete dann Kaiser Sigismund, und seine jüngste Tochter Hedwig wurde als seine Nachfolgerin »König« von Polen, wo sie dann als Gemahlin Wladyslaws II. Jagiellos, des Begründers der Jagiellonen, zur Großfürstin von Polen-Litauen avancierte. Ludwig starb am 10. September 1382 in Tyrnau. Bei seinem Volk blieb er lebendiger Erinnerung als Ludwig der Große, und das bis heute.


5. Südliches Europa

Die frühen Siedler auf der Iberischen Halbinsel waren die Iberer, später – seit dem 6. Jahrhundert v.Chr. – siedelten auch Kelten dort; seit etwa 1100 v.Chr. kamen die Phönikier und gründeten ihre Kolonien, danach auch Griechen, und schließlich kam das Land unter römischen Einfluss, wurde Teil des Römischen Imperiums, mit enormer wirtschaftlicher Bedeutung – nicht nur Gold und Silber, sondern auch Wein und Öl waren hier ausschlaggebend. Als Rom an Macht und Einfluss verlor, kamen Sweben, Alanen und Wandalen auf die iberische Halbinsel, und im Anschluss daran die Westgoten. Für deren Geschichte war vor allem ihr Übertritt vom Arianismus zum Katholischen Glauben 587 entscheidend. Innere Wirren schwächten ihr Reich, in dem sie ohnehin mit der Zeit in der ursprünglichen (romanischen) Bevölkerung aufgingen, so dass es 711 für die muslimischen Araber, die Mauren, von Nordafrika her im heutigen Spanien einfallend, nicht all zu schwer war, sie zu besiegen und das Land zu erobern. 756 entstand das selbstständige Emirat von Córdoba, das von 929 bis 1031 Kalifat war. Für das Land war die Maurenzeit eine gute Zeit; Handwerk, Landwirtschaft und vor allem das geistige, kulturelle Leben blühten, erreichten einen Höhepunkt. Dennoch fühlten sich die Christen einer fremden Macht untertan, unselbstständig, abhängig auch von einer religiös ganz anders denkenden Herrschaft.
     Der Gedanke an die Reconquista, an die Rückeroberung der ursprünglich christlichen Gebiete durch christliche Heere, wurde nie aufgegeben. Im Norden des Landes, am Kantabrischen Gebirge, war die arabische Eroberung stecken geblieben; der Pyrenäen-Raum war nach wie vor fränkisch. In den asturischen Bergen begann schon bald nach dem entscheidenden Sieg der Mauren der Widerstandskampf. Pelayo, wahrscheinlich ein westgotischer Adliger, begründete das Königreich Asturien. Er besiegte bereits 718 oder 722 die Araber bei Covadonga und gilt damit als derjenige Fürst, der die Reconquista einleitete. Er starb im Jahre 737 und wird heute als spanischer Nationalheld verehrt. Den Ehrentitel »der Große« erhielt er nicht, aber andere nach ihm.

Kämpfer für Ehre und Reich und gegen die Mauren: Alfons, Sancho, Ferdinand und Raimund Berengar die Großen

In Asturien erhielt über 150 Jahre nach Pelayo der erste Herrscher in diesem Raum den Beinamen »der Große«: Alfons III. wurde um 848 geboren und 866 König von Asturien. In verschiedener Hinsicht vergrößerte er sein Reich, u. a. eroberte er Navarra und drang nach Alt-Kastilien vor; er dehnte die Grenze seines Territoriums über den Douro aus und besetzte Coimbra im heutigen Portugal; die Hauptstadt Asturiens verlegte er nach León, seiner beliebtesten Residenz, und schuf damit den Grundstock für die Entstehung des Königreiches León. Seine erfolgeichen Kämpfe gegen die Mauren und seine Politik der Wiederbesiedlung der Gebiete, aus denen die Mauren vertrieben worden waren, brachten ihm den Titel »der Große« ein. Als er schon älter war und eigentlich das Recht gehabt hätte, seine Erfolge zu genießen, erhob sich sein Sohn García gegen ihn. Zwar gelang es Alfons, die Rebellion zu unterdrücken, aber nun erhoben sich auch seine Frau und seine jüngeren Söhne gegen ihn – sie setzten ihn ab und teilten sich das Reich unter einander auf. García sollte zum Begründer der Dynastie der Könige von León werden. Alfons ging nach der Absetzung, die sich im Sommer 910 ereignete, in die Verbannung und starb bald danach. Interessant ist er, abgesehen von seinen Kämpfen gegen die Mauren, noch aus einem anderen Grunde: er hinterließ eine Chronik, entweder von ihm selbst verfasst oder doch zumindest in Auftrag gegeben und von ihm überwacht, die Crónica Alfonso III. Sie stellt die Geschichte des Westgotenreiches ab 672 und die des asturischen Reiches bis zu Alfons’ Regierungsantritt dar, sozusagen des asturischen als Fortsetzung des Westgotenreiches. Trotz aller Fälschungen und der tendenziösen Propaganda zu Gunsten des Könighauses oder vielleicht gerade deswegen wurde das Werk zu einer ideologischen Grundlage der Reconquista und diente ihr als Ansporn.
     Wesentlich erfolgreicher als Alfons der Große war bald nach ihm Sancho III. der Große von Navarra. Geboren um 990, stand er bis 1004 unter der Vormundschaft seines Onkels väterlicherseits. Er gründete im Norden des heutigen Spanien ein großes Reich um Navarra. 1028 fiel ihm Kastilien durch Heirat zu – er heiratete die Erbin Mayor, die ihm vier Söhne gebar, und 1029 eroberte er das nördliche Kastilien und das östliche León; Aragonien, Sobrarbe und Asturien huldigten ihm ebenfalls. Damit herrschte er praktisch über den nördlichen Teil der iberischen Halbinsel. Den Mittelpunkt seines Reiches bildete Navarra. Durch Förderung der Bildung und Stärkung der Kirche versuchte er, dieses Reich zu festigen. Aber nach seinem Tode zerfiel es schnell, ja, kurz vor seinem Ableben schuf er dazu noch selbst durch die Teilung die Grundlage; alle Teile, die er mühsam geeint hatte, wurden bald wieder selbstständig. Kastilien und León wurden seinem Sohn Ferdinand zugesprochen, der wie sein Vater den Titel »der Große« erhielt, eine der seltenen Beispiele in der Geschichte, dass ein Vater und sein Sohn mit diesem Ehrentitel bedacht wurden. Nerses und Isaak von Armenien sind das andere Beispiel. Ferdinand I. wurde um 1016/1018 geboren und 1029 von seinem Vater mit der Grafschaft Kastilien belehnt. Nach dem Tod von Sancho am 18. Oktober 1035 wurde er dort Alleinherrscher und erbte dann auch noch 1037 das Königreich León. Die Krönung erfolgte 1038, und Ferdinand führte nun den Titel »König von León und Burgos«. Ferdinand war eine Kämpfernatur. Er hatte 1037 schon seinen Schwager Bermudo III. von León besiegt. Im Jahre 1054 erweiterte er Kastilien nach dem Sieg über seinen Bruder García von Navarra bis zum Ebro und ging dann gegen die Mauren vor. Ihnen nahm er Teile Portugals ab und dehnte die Grenzen seines Reiches bis fast zum Tejo aus. Von daher wurde er seit 1054 sogar »Kaiser« genannt, und seine militärischen Erfolge waren es auch, die ihn zu Ferdinand den Großen machten. Er starb am 27. Dezember 1065 in León.
     Portugal löste sich 1075 von Kastilien, 1137 wurden Katalonien und Aragonien vereint, und Kastilien und León endgültig 1230. Mit dem Zerfall des Kalifats von Córdoba nach 1031 begann auch die entscheidende Phase der Reconquista. In dieser Zeit gab es noch einmal einen »Großen«: Raimund Berengar III. von Barcelona. Er wurde 1082 in Rodez geboren und schon mit 15 Jahren alleiniger Regent als Graf von Barcelona, Girona und Osona. Unter seiner Herrschaft gelang es ihm, das katalanische Gebiet erheblich auszuweiten. Fast alle katalanischen Grafschaften konnte er in seinen Machteinfluss bringen. Durch seine Heirat mit Dulcia, der Erbin der Provence, fiel auch diese reiche Region an ihn. Mit den italienischen Seerepubliken Genua und Pisa, mit denen er Beziehungen knüpfte, griff er 1114 und ein Jahr später die maurischen Piratenfestungen von Mallorca und Ibiza an, womit er vielen christlichen Sklaven das Leben rettete. Auch maurische Festlandsstützpunkte wie Valencia bekämpfte er mit der Unterstützung durch Pisa.
     Am Ende seines Lebens wurde Raimund Berengar der Große zum Templer. Er hatte in erster Ehe Maria, die zweite Tochter des spanischen Nationalhelden El Cid (Rodrigo Ruy Diaz; 1043–1099) geheiratet, seine dritte Frau war die eben erwähnte Dulcia aus der Provence. Als er 1131 in Barcelona starb, konnte er ein gewaltiges Reich vererben – es erstreckte sich im Osten bis nach Nizza. Sein Sohn aus der Ehe mit Dulcia war Raimund Berengar IV. (geb. ca. 1113; reg. 1131–1162), der die Grundlage für das mächtige Doppelreich Barcelona/Aragonien schuf, die »Krone Aragon«, wie dieses Gebilde genannt wurde.
     Die Reconquista erzielte bald große Erfolge. Nach einander fielen Toledo (1085), Saragossa (1118), nach längerer Atempause 1236 Córdoba und dann noch 1248 Sevilla. Aragonien-Kastilien brachte es bis zur Mitte des 15. Jahrhunderts zur Vormacht im westlichen Mittelmeer; es beherrschte die Balearen, Sizilien, Sardinien und das Königreich Neapel. Hören wir Sizilien und Neapel, so werden wir an Ludwig den Großen erinnert, und nicht nur ihn als »Großen« treffen wir hier.

Streiter um Macht und Ansehen: Hugo, Waimar und Peter die Großen

Begeben wir uns in den Mittelmeerraum, nach Italien, genauer gesagt in die Toskana, eines der beliebtesten Urlaubsziele der Deutschen heutzutage. Nach dem Niedergang des Römischen Reichs stand Tuszien, wie das antike Etrurien nun hieß, erst unter ostgotischer, dann unter byzantinischer, langobardischer und schließlich fränkischer Herrschaft, letzteres seit 774. Unter den Franken wurde die Toskana Grafschaft, dann Markgrafschaft, und einer der Markgrafen war wiederum ein Hugo, nun schon der dritte, den man »den Großen« nannte. Hugo von Tuszien wurde um 945 geboren. Ab 970 war er Markgraf von Tuszien und als solcher die bedeutendste Stütze der Ottonen in Italien. Hugo nahm am Reichstag zu Quedlinburg zu Ostern 991 teil und wurde auch drei Jahre später zum Reichstag nach Sohlingen bei Höxter eingeladen, auf dem der spätere Kaiser Otto III. für volljährig erklärt wurde. Otto III. schenkte ihm ein Grundstück in Ingelheim. Bekannt aus seinem Leben ist die Einzelheit, dass er zusammen mit Konrad von Spoleto 996 zum Schutz von Papst Gregor V. in Rom zurück gelassen wurde. Dieser war ein Cousin von Kaiser Otto III. und hieß eigentlich Bruno. Mit 24 wurde er im Mai 996 zum Papst gewählt und war damit der zweite (oder sogar der erste?) Deutsche auf dem Stuhl Petri. Seine erste (und insgesamt wichtigste) Tat war die Krönung Ottos III. zum Kaiser. Aber er überwarf sich mit diesem, hatte auch in Rom keine Freunde und wurde aus Rom vertrieben, was Hugo und Konrad nicht verhindern konnten. Er zog sich in die Lombardei zurück. Nun, man wählte, wie in diesen Fällen üblich, einen Gegenpapst, aber mit Hilfe kaiserlicher Truppen konnte Gregor als ordentlicher Papst zurückkehren und unterstützte nun seinen Cousin in der Politik, wenn auch nicht besonders gern. Schon im Jahre 999 starb er, möglicherweise an Malaria. Hugo der Große von Tuszien verschied am 21. Dezember 1001 in Pistoia.
     Während die deutschen Kaiser in Ober- und Mittelitalien immer mehr an Einfluss gewannen – Otto der Große hatte 951 den italienischen König Berengar II. (ca. 900–966) nach nur einjähriger Regierungszeit zur Lehensnahme gezwungen und nach Deutschland verbannt, wurden Unteritalien und Sizilien im Laufe des 11. Jahrhunderts von den Normannen erobert. Nach den Phönikiern und Griechen waren die Römer nach Sizilien gekommen und hatten aus Sizilien eine fast 700 Jahre überdauernde römische Provinz gemacht (241 v. Chr. bis 440 n.Chr.). Von 827 bis 1061 herrschten die Araber auf Sizilien, die 901 Palermo zur Hauptstadt machten. Und 1061 kamen nun die Normannen, die rund 30 Jahre für die Eroberung brauchten. Unter ihrer Herrschaft bildete sich eine glanzvolle Hochkultur, die europäische mit byzantinischen und arabischen Elementen und Traditionen verband.
     In Salerno in Unteritalien regierte Anfang des 11. Jahrhunderts Fürst Waimar; er trug den Ehrentitel »der Große«. Zu dieser Zeit lebten in Süditalien unter anderem Griechen, Reichsdeutsche, Araber und langobardische Fürsten, die sich alle unter einander bekämpften. Eine ständige Bedrohung stellten die »Ungläubigen« dar, die Sarazenen. Waimar begab sich als »patricius« in ein Abhängigkeitsverhältnis zu Byzanz, um sich vor ihnen zu schützen. 1017 kamen normannische Pilger auf ihrer Rückreise vom Gelobten Lande nach Salerno, eher zufällig, aber sie halfen Waimar dem Großen zum Sieg in dessen Krieg gegen die Sarazenen. Er hätte sie gern noch länger in seinen Diensten gehabt, aber sie zog es nach Hause, nicht ohne Waimar den Hinweis zu geben, dort gäbe es noch viele tüchtige und tapfere Männer. Durch entsprechende, ausgesucht wertvolle Geschenke, die seine Boten in die Normandie brachten, gelang es Waimar dann doch, Ritter zum Kampf gegen seine Gegner anzuwerben. Warum auch immer, wahrscheinlich aufgrund besserer Bezahlung, traten sie bald in die Dienste des Herzogs von Neapel. Dieser schenkte ihnen Land (1029), wo sie ein Jahr später unter Graf Rainulf die befestigte Stadt Aversa (la Normanna) gründeten. Kaiser Konrad II. übertrug Waimar 1038 die Städte Capua, Gaëta und Aversa, und als Waimar als hiesiger Vertreter des Kaisers den Besitz der letzteren Stadt dem Grafen Rainulf bestätigte, wurde aus dieser normannischen Gründung sogar ein Reichslehen, und Rainulf erweiterte es 1043 zur Grafschaft Aversa. Von nun ab strömten immer mehr Normannen nach Sizilien; die Flut war nicht mehr aufzuhalten, aber Waimar der Große hat durch seine Initiative unwissentlich einen bedeutenden Beitrag zur sizilianischen und abendländischen Geschichte geleistet.
     Sizilien wurde Teil des Königreiches Neapel und kam mit diesem 1194 an die Staufer, die hier abermals, vor allem unter Kaiser Friedrich II., dem wir schon mehrfach begegnet sind, einen Staat von hoher Kultur gründeten. Wie schon erwähnt, erhielt nach dem Tode Friedrichs II. Karl von Anjou Sizilien als Lehen des Papstes, aber er wurde damit nicht froh. Am Ostermontag 1282 brach zur Vesperzeit ein Aufstand der Bürger Palermos gegen Karl von Anjou aus, der bald auf die ganze Insel übergriff; in dieser »Sizilianischen Vesper« wurden fast alle Franzosen umgebracht oder von der Insel vertrieben, mit ihnen das Haus Anjou. Wer nun aber kam, waren die – Spanier. Als Schwiegersohn des Staufers Manfred (1232–1266), des zweiten Sohnes Friedrichs II., erhob der König von Aragon Peter III., später der Große genannt, Anspruch auf dessen Erbe. Manfred hatte nach dem Tode König Konrads IV. (geb. 1228; König 1237; reg. 1250–1254), des Sohnes und Erben Friedrichs II., zunächst auf Nachfolge und Herrschaft spekuliert, obwohl auch der Sohn Konrads IV., Konradin, Ansprüche erhob, aber die Päpste Urban IV. (geb. um 1200; Pontifikat 1261 – 64) und Clemens IV. (geb. um 1195; Pontifikat 1265–68) strebten eine andere Lösung an. Wie erwähnt, erhielt Karl von Anjou Sizilien als Lehen. Er schlug Manfred entscheidend; dieser fiel in der Schlacht von Benevent 1266, und Konradin wurde hingerichtet. Für Karl diente Sizilien lediglich als Quelle für Steuern und Soldaten, er beutete das Volk gnadenlos aus, und selbst der Aufstand 1282 nagte kaum an seinem Selbstbewusstsein. Im Kampf gegen Karl von Anjou eroberte Peter III. wenige Monate später Sizilien.
     Peter III., geboren zwischen 1238 und 1243, wurde 1276 König von Aragon und Graf von Barcelona. Erst kurz auf dem Thron, musste er einen Aufstand der maurischen Bevölkerung Valencias niederschlagen. 1281 zog er mit einer großen Flotte, die rund 15.000 Mann umfasste, gegen die arabischen Piratennester und sonstigen Stützpunkte in Tunis aus, als er von dem Aufstand der Sizilianer gegen Karl von Anjou hörte. Aus Palermo erreichte ihn ein Hilferuf. Sofort dirigierte er seine Streitmacht um und landete am 30. August 1282 bei Trapani. Die sizilianischen Adligen boten ihm die Krone an, die er annahm, und am 4. September wurde er in Palermo zum König Peter I. von Sizilien ausgerufen, nur um noch im selben Jahr von Papst Martin IV. (geb. zw. 1210 und 1220; Pontifikat 1281–1285) in den Bann getan zu werden – das galt sogar noch rund ein Jahrhundert lang für die Herrscher Siziliens, und Karl von Anjou rüstete zu einem großen Kriegszug gegen Aragon. Aber vergeblich bemühte er sich um eine Rückeroberung. Französische und päpstliche Truppen fielen in Spanien ein, doch gelang es Peter, sie zurückzuschlagen. Karl von Anjou starb am 7. Januar 1285, und auch Peter, der, um die Kriegskosten decken zu können, den aragonischen Ständen mehr Einfluss auf die Regierung zubilligen musste, im sogenannten »Privilegio general« – die starke Stellung, die er den Ständen gewährte, gewähren musste, um ihren Widerstand aufzufangen, hat die Geschichte Aragonien nachhaltig geprägt – starb in diesem Jahr, am 10. November 1285. Er ging als Peter der Große in die Geschichte ein, lange vor dem russischen Peter dem Großen, den wir vor Augen haben, wenn wir den Ehrentitel bei einem »Peter« hören. Peter III. hat mit dazu beigetragen, Spanien als größte Mittelmeermacht zu etablieren. Als 1469 durch die Heirat der Erben der beiden spanischen Hauptreiche, Isabella I. von Kastilien (geb. 1451; reg. 1474–1504) und Ferdinand II. von Aragonien (geb. 1452; reg. seit 1468 (Sizilien) bzw. 1479–1516 (Kastilien und León)) die Basis für den Spanischen Staat geschaffen war, bedeutete das auch den Aufstieg Spaniens zur Weltmacht. Das Reich konnte in ferne Länder und Kontinente aufbrechen…


6. Asien

Von fernen Ländern wusste man im Europa des Mittelalters nur wenig. Die Beziehungen Karls des Großen zu Harun ar-Raschid (geb. 763 oder 766; reg. 786–809), die Einfälle der Araber, später die Kreuzzüge, die Eroberungen der Mongolen und die (immer noch umstrittenen) Reisen Marco Polos (1254–1324) 1271 bis 1295 ins Chinesische Reich weiteten dann doch allmählich den Blick. Der Begründer des riesigen Weltreiches der Mongolen, Dschingis Chan, eigentlich Temüdschin (geb. ca. 1155, 1162 oder 1167; reg. 1206–1227) hätte den Titel »der Große« aus europäischer Sicht sicher verdient gehabt, aber er, den man den »ozeangleichen Herrscher«, den »Weltherrscher« nannte, hätte darüber wohl nur müde gelächelt. Aber ein paar »Große« in fernen Ländern außerhalb Europas gab es durchaus.

Einzelne bedeutende Fürsten in Asien: Aschot, Gurgen, David, Alexander, Parakrama Bahu und Sejong die Großen

Georgien war schon im Altertum bedeutend. Der westliche Teil stand unter griechischem, der östliche unter persischem Einfluss. Der östliche wurde als Iberien bezeichnet, was aber nichts mit der Iberischen Halbinsel zu tun hat. Ab 65 v. Chr. war Georgien dann römisch, und schon im 4. Jahrhundert hielt das Christentum Einzug. Erst bedrohte Byzanz die georgische Unabhängigkeit, dann die persischen Sassaniden, und schließlich eroberten das Land die Araber im 7. Jahrhundert. Während die Muslime in Georgien weit gehend die Macht innehatten, gelangte dort ein bedeutender Fürst zu Ansehen, dem die Nachwelt den Titel »der Große« verlieh. Es handelte sich um Aschot I., einen Prinzen aus Iberien, der ab 813 als Großherzog und später erster iberischer König des georgischen Fürstentums Tao-Klardschetien, der Gegend von Artvin in der heutigen Türkei, regierte. Er entstammte dem nachmals so berühmten Geschlecht der Bagratiden, die Georgien im 12. und 13. Jahrhundert zur Blütezeit führten. Auch Aschot erweiterte seinen Machtbereich. Um ohne offene Flanke gegen die muslimischen Eindringlinge kämpfen zu können, stellte sich Aschot unter den Schutz der Byzantiner, die ihm den Titel »Kuropalates« von Iberien verliehen, der etwa dem des fränkischen »Hausmeier« entsprach. Er förderte das Christentum und ließ zahlreiche Kirchen und Klöster errichten. Auch war ihm daran gelegen, die von den Arabern oder von Choleraepidemien entvölkerten und verwüsteten Regionen wieder zu beleben und erneut zu besiedeln. Im Kampf gegen die Araber, deren Kalif Aschot als Prinzen Iberiens anerkannte, konnte er manche Erfolge verzeichnen, eroberte einige Gebiete und vertrieb den gegnerischen Stamm der Kacheten aus Zentraliberien. Aber als der Vizekönig des Kalifen in Armenien um 827/828 einen Feldzug in den Kaukasus führte, wendete sich sein Glück. Die Araber vertrieben ihn aus Zentraliberien, und er wurde am Altar einer von ihm selbst erbauten Kirche in seiner Burg in Artanugi (Ardanue in der Türkei) im Januar 830 von Abtrünnigen getötet. Von der georgisch-orthodoxen Kirche wurde Aschot I. der Große heilig gesprochen; sein Gedenktag ist der wahrscheinliche Tag seiner Ermordung: der 29. Januar.
     Nach Aschot erhielte noch weitere Fürsten Georgiens den Titel »der Große«: Gurgen II. , der von 918 bis 941 regierte, David III., der von 961 bis 1000 die Macht inne hatte und dem Byzanz 989 ebenfalls den Titel Kuropalat verlieh – beide waren Großherzöge von Tao, und schließlich noch Alexandre I. aus der Dynastie der Bagratiden, König in Georgien von 1412 bis 1442.

In einem ganz anderen Teil der Welt gelangte ein Herrscher ebenfalls zum Ehrentitel »der Große«, der ihn nun wirklich verdient hat: Parakkama bzw. sanskritisch Parakrama Bahu I. von Ceylon. Nicht von ungefähr wurde er in der Einleitung zu diesem Buch zitiert. Der Titel ist nicht jüngeren Datums. Schon um 1910 schrieben Historiker über ihn: »[er) war von allen denen, die auf dem singhalesischen Königsthrone gesessen haben, der größte. Man muß sich das Elend vergegenwärtigen, dem das Land zur Zeit seiner Jugend fast erlag, um zu würdigen, was dieser Mann, den die Geschichte mit Recht  d e n  G r o ß e n  nennt, durch Geist, Willen und Vaterlandsliebe gewirkt hat.« Ceylon hatte eine unruhige und blutige Geschichte hinter sich. Im Hochmittelalter, etwa ab 1000, entstanden Reiche – meist unter südindischem Einfluss – und vergingen wieder. Um die Mitte des 12. Jahrhunderts gab es ein singhalesisches Königtum so gut wie nicht mehr. Kleine Fürstentümer regierten in ihren Regionen. Eines davon, das Land der »zwölftausend Dörfer«, gehörte dem Vater Parakramas. Letzterer wuchs in den Bergen auf: »Er wurde in Religion, in den verschiedenen Systemen des Rechtes, in Rhetorik, Poesie, in Tanz und Musik, im Reiten, im Gebrauche von Schwert und Bogen gründlich ausgebildet und erlangte darin den höchsten Grad von Vollkommenheit«, so die Überlieferung. Im Jahre 1153 übernahm er die Macht. Hören wir noch einmal die eben zitierten Historiker (Emil Schmidt / Richard Schmidt) im Teil über Indien in Helmolts Weltgeschichte: »Nach dem Tode seines Oheims zur Herrschaft über das kleine Fürstentum gelangt, gab er diesem eine treffliche Verwaltung, führte ein geordnetes Steuerwesen ein, sorgte für möglichste Ausnutzung alles Regen- und Flußwassers zu künstlicher Bewässerung des Bodens; zugleich aber übte er im Hinblick auf eine Einigung seines größeren Vaterlandes die waffenfähige Mannschaft.« Parakrama gelang es, die übrigen Fürstentümer der Insel zu erobern. Jedoch beließ er die ursprünglichen Herrscher in ihrer Machtposition und erwarb dadurch ihre Freundschaft; sie setzten schließlich den Sieger als Nachfolger ein. Nach nicht allzu langer Zeit war Parakrama der Herr der gesamten Insel. Gegen Burma und Südindien unternahm er erfolgreiche Feldzüge und verlangte dabei die Wiedergutmachung von Unrecht, das Ceylon früher zugefügt worden war.
     Parakramas Hauptleistung bestand darin, dass er aus Ceylon, einer verödeten Insel, ein wohlhabendes Land, eine Insel voller Wohlstand und Frieden, machte. Er ließ tausende von Stauseen anlegen – die größten wie das »Meer des Parakrama« erreichten die Ausdehnung des Vierwaldstätter Sees – bzw. wiederherstellen. Tausende von Kanälen wurden neu gebaut oder ausgebessert. Wo bis vor kurzem noch fieberschwangeres Sumpfland und undurchdringlicher Dschungel die Landschaft beherrscht hatten, erstreckten sich nun riesige Reisfelder und Fruchtbaumpflanzungen. Verfallene Dörfer wurden renoviert, die alte, heruntergekommene Hauptstadt Polonnaruwa erstand in neuem Glanz, mit herrlichen Palästen, Gartenanlagen und Klöstern. Ordnung schuf Parakrama auch in der Verwaltung; sein Steuersystem war milde und gerecht, er beseitigte die Übelstände in der Religionsgemeinschaft (der Buddhismus war die tragende Religion), bemühte sich um die Hebung der Sittlichkeit der Priesterschaft und beendete die Feindschaft zwischen den Hauptsekten. Als er 1186 starb, hatte er eine der bedeutendsten Leistungen in der Geschichte seines Landes und weit darüber hinaus erbracht. »Was gibt es in der Welt, das nicht von beharrlichen Männern ausgeführt werden könnte?« war sein Wahlspruch. Misst man seine Taten an denen vieler waffenklirrender, kriegslüsterner Recken, die den Titel »der Große« erhielten, so fallen diese neben ihm reichlich ab. In der Hauptstadt Polonnaruwa befindet sich eine Monumentalstatue des Königs, die manchmal für eine Statue Buddhas gehalten wird.
     Nach seinem Tode zerfiel das Reich bedauerlicherweise schnell. Nur kurze Friedensperioden unterbrachen die ständigen Thronstreitigkeiten und sonstigen inneren Unruhen. Im Norden entstand im 14. Jahrhundert ein unabhängiges tamilisches Königreich – die Spannungen zwischen Tamilen und Singhalesen dauern an bis in unsere Zeit. König Parakrama Bahu VI. (reg. 1415–1467) gelang es noch einmal, ganz Ceylon zu einen; auch er förderte Religion, Kunst und Wissenschaft, aber nach seinem Tod zerfiel das Reich erneut, und unter Parakrama Bahu VIII. (reg. 1484–1509) landeten die Portugiesen auf Ceylon, was für die alten Strukturen endgültig das »Aus« bedeutete.

Einen Herrscher, der den Titel »der Große« erhielt, und das sicher auch zu Recht, gab es auch in Korea. Auch dieses Land hatte – wie überall auf der Welt – eine wechselvolle und blutige Geschichte hinter sich. Das erste, noch ganz von der Legende verklärte Reich soll schon 2333 v. Chr. gegründet worden sein, aber geschichtlich fassbar wurde Korea erst ab ungefähr 400 v. Chr. Im Lauf der Jahrhunderte bildeten sich hier drei Reiche: Koguryŏ, Paekche und Silla, die im 1. Jahrhundert Gestalt annahmen. Von ihnen setzte sich Silla am Ende durch, das mit chinesischer Hilfe die beiden anderen Reiche 660 bzw. 668 unterwarf. Aber auch dessen Herrschaft war nicht von Dauer, und es folgte eine lange Zeit der Zersplitterung. Erst das 918 im Norden gegründete Reich Koryŏ, woher die Bezeichnung Korea rührt, brachte bis 936 ganz Korea unter seine Herrschaft. Ab etwa 1231 herrschten dann bis Mitte des 14. Jahrhunderts die Mongolen in Korea, die auch 1274 und 1281 Waffenhilfe bei ihren Angriffen auf Japan erzwangen. Diese »Bruderschaftshilfe« hatte aber nur zur Folge, dass nun japanische Piraten die Küsten Koreas unsicher machten. Erst Ende des 14. Jahrhunderts fand Korea wieder einen starken Mann, General Yi Songgye (1335–1408), der den letzten König von Koryŏ stürzte und die Yi-Dynastie begründete. Nachdem er eine radikale Landreform durchgeführt hatte, erlaubte er seinen Anhängern, ihn auf den Thron zu setzen. Als König T’aejo (oder Taejong) zeigte er viel Tatkraft. Er verlegte den Regierungssitz ins heutige Seoul und teilte das Reich in acht Provinzen. Der bis dahin in Korea sehr einflussreiche Buddhismus wurde vollständig unterdrückt (kein buddhistischer Priester durfte Seoul mehr betreten); an seine Stelle trat der Konfuzianismus, aber in einer derart strikten Form, wie er selbst in China nicht ausgeübt wurde, und er wurde fast zur Staatsreligion. Auch ansonsten lehnte sich Korea sehr stark an China an, sei es hinsichtlich Tracht und Verwaltung, Kalender oder Zeitrechnung. Menschenopfer und das Lebendigbegraben von Dienern anlässlich vornehmer Begräbnisse, bis dahin angeblich noch üblich gewesen, schaffte der neue Herrscher völlig ab. Seine Nachfolger waren allesamt tüchtige Leute, denen das Wohl des Volkes am Herzen lag. Einer von ihnen war Sejong der Große.
     Sejong kam am 6. Mai 1397 im heutigen Südkorea zu Welt und wurde zunächst Yi Do genannt. Als er 21 Jahre alt war, trat sein Vater, der wie der Dynastie-Gründer auch den Namen Taejong trug, zu seinen Gunsten zurück. Sejong, der vierte König der neuen Dynastie, zeigte sich schon als Kind als sehr wissbegierig. Er war an allen wissenschaftlichen Bereichen außerordentlich interessiert und für die Verbreitung des Wissens und des Konfuzianismus überaus aufgeschlossen. So gründete er schon 1420 die sogenannte »Halle der Verdienstvollen«, eine Art königlicher Akademie, deren Ziel genau darin bestand, den Konfuzianismus zu verbreiten, die wissenschaftliche Forschung zu unterstützen und junge Talente zu fördern. Die »Halle« bildete einen Anziehungspunkt für viele Wissenschaftler und Gelehrte, und aus ihren Reihen erwuchsen wiederum neue Gelehrte, die viele Neuerungen entwickelten. Sejong selbst nahm aktiv daran teil; zusammen mit verschiedenen Wissenschaftlern erarbeitete er das koreanische Alphabet Hanguel, das 1443 vollendet war und 1446 veröffentlicht wurde. Im selben Jahr gründete er auch ein linguistisches Forschungsinstitut in seinem Palast, und in den folgenden Jahren ließ er eine Reihe von Kommentaren und Büchern, darunter auch Sammlungen von chinesischen Gedichten mit koreanischer Übersetzung veröffentlichen. Von all diesen Arbeiten wirkte die Entwicklung der koreanischen Schrift am meisten nach.
     Sejong starb am 18. Mai 1450. Er gilt als der weiseste König in der Geschichte Koreas und war auch der einzige, der in Korea den Ehrentitel »der Große« erhielt. Seit 1990 wird »für außergewöhnliche Projekte oder Programme im Bereich der Grundbildung und Alphabetisierung« der König-Sejong-Preis verliehen, und zwar von niemandem Geringerem als der UNESCO.
     Unter der Yi-Dynastie erlebte Korea, nunmehr Chosŏn genannt, das »Land der Morgenstille«, vor allem im 15. Jahrhundert eine kulturelle Blüte. Nach erfolglosen Invasionsversuchen der Japaner Ende des 16. Jahrhunderts kam Korea ab 1627 unter chinesische Oberhoheit, die bis 1894 bestand und zu einer rigorosen Abschottung Koreas nach außen führte, deren Ende die Japaner 1876 erzwangen. Die Yi-Dynastie überdauerte bis 1910. Man kann sich fragen, ob das mehr als ein Zeichen ihrer Stärke oder eher als ein Zeichen ihres Festhaltens an bestimmten Traditionen, ihres »Einfrierens« und »Konservierens« gewisser politischer, wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Ordnungen mit einem überaus konservativ interpretierten Konfuzianismus als Leitbild zu interpretieren ist. Die Entwicklung Koreas im 20. Jahrhundert und die jüngste Geschichte Südkoreas zeigen im Gegensatz dazu durchaus eine starke Flexibilität und ungeheure Dynamik der Gesellschaft und Kultur. Sejong der Große hat in seiner Zeit noch sehr viel dafür getan, sein Land an die neuen Verhältnisse anzupassen, es an die »Neuzeit« heranzuführen, in der die Wissenschaften eine immer größere Rolle spielten.

      


   

Teil IV – Neuzeit

Kleine Weltgeschichte der »Großen«