Nummer 30

Der
Gute Kamerad

Spemanns Illustrierte Knaben-Zeitung.

23. Juli 1887

Der Sohn des Bärenjägers.

Von
K. May


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»Und wo werden sie sich morgen um diese Zeit befinden, Sir?« fragte Martin Baumann.

»Am oberen Ausgange des Cannons. Habt Ihr einen Grund, das so genau wissen zu wollen?«

»Einen direkten nicht; aber Ihr könnt Euch denken, daß ich den Vater in Gedanken begleite. Wer weiß, ob er noch lebt.«

»Ich bin ganz überzeugt davon.«

»Die Sioux können ihn getötet haben!«

»Mit diesem Gedanken braucht Ihr Euch nicht zu sorgen. Die Ogallala wollen ihre Gefangenen nach dem Häuptlingsgrabe bringen, und das werden sie auch thun; darauf könnt Ihr Euch verlassen. Je später die Unglücklichen getötet werden, desto länger dauern die Qualen, welche sie zu erdulden haben, und darum fällt es den Sioux gar nicht ein, sie ihnen durch einen früheren Tod abzukürzen. Ich kenne diese roten Kerls sehr genau, und wenn ich Euch sage, daß Euer Vater jedenfalls noch lebt, so könnt Ihr es glauben.«

Er wickelte sich in seine Decke, legte sich nieder und that, als ob er schlafen wolle. Unter den nicht ganz geschlossenen Lidern hervor aber beobachtete er Martin Baumann, den dicken Jemmy und den Hobble-Frank, welche leise und angelegentlich flüsterten, genau.

Nach einiger Zeit erhob der Dicke sich von seinem Platze und schlenderte langsam und scheinbar unbefangen nach der Seite hin, in welcher die Pferde graseten. Sofort stand auch Old Shatterhand auf und folgte ihm heimlich. Er sah, daß Jemmy sein Pferd, welches nur angehobbelt war, anpflockte, und trat nun schnell auf ihn zu.

»Master Jemmy, was hat Euer Gaul verbrochen, daß er nicht frei fressen soll?« fragte er ihn.

Der einstige Gymnasiast wendete sich erschrocken zu ihm um.

»Ah, Ihr seid es, Sir? Ich hielt Euch doch für eingeschlafen.«

»Und ich hielt Euch bis jetzt für einen ehrlichen Kerl!«

»Alle Teufel! Meint Ihr etwa, daß ich es jetzt nicht mehr bin?«

»Fast scheint es so!«

»Warum?«

»Aus welchem Grunde erschrakt Ihr so, als ich jetzt hierher kam?«

»Aus dem einfachen Grunde, aus welchem ein jeder erschrickt, der bei Nacht ganz unerwartet angeredet wird.«

»Der müßte ein ziemlich schlechter Westmann sein. Ein braver Jäger bewegt sich unter Umständen selbst dann nicht, wenn ganz unerwartet vor seinem Ohr ein Schuß abgefeuert wird.«

»Ja, wenn dabei die Kugel ihm durch den Kopf geht, so bewegt er sich allerdings nicht mehr!«

»Pah! Ihr wißt genau, daß es hier kein feindliches Wesen gibt! Es sollte niemand merken, daß Ihr Euer Pferd angepflockt habt.«

Der Dicke verbarg seine Verlegenheit hinter einem zornigen Tone:

»Jetzt, Sir, begreife ich Euch nicht. Kann ich denn mit meinem Pferde nicht mehr machen was mir beliebt?«

»Ja, aber heimlich braucht Ihr es nicht zu thun!«

»Von Heimlichkeit ist keine Rede. Unter den Pferden der Upsarocas befinden sich einige Schläger. Mein Gaul ist bereits einmal verletzt worden. Damit das nicht wieder geschehen möge, habe ich ihn angepflockt; er soll diese störrige Gesellschaft gar nicht aufsuchen können. Ist das eine Sünde, so hoffe ich, daß ich Vergebung finde.«

Er wendete sich ab, um zum Lager zurückzukehren. Old Shatterhand aber legte ihm die Hand auf die Schulter und bat:

»Bleibt noch einen kurzen Augenblick, Master Jemmy. Es kann nicht meine Absicht sein, Euch zu beleidigen; aber ich glaube Veranlassung zu haben, Euch zu warnen. Daß ich das unter vier Augen thue, mag Euch zeigen, wie hoch ich Euch schätze.«

Jemmy schob seinen Hut nach vorn, kratzte sich hinter dem Ohre, wie es sonst sein Freund Davy zu thun pflegte, wenn er sich in Verlegenheit befand, und antwortete:

»Sir, wenn ein anderer mir das sagte, so würde ich ihm ein wenig mit der Faust im Gesicht herumlaufen; von Euch aber will ich die Warnung annehmen. Also, wenn Ihr einmal geladen habt, so drückt in Kuckucks Namen los!«

»Schön! Welche Heimlichkeiten habt Ihr mit dem Sohne des Bärenjägers?«

Es dauerte eine kleine Weile, bevor Jemmy antwortete:

»Heimlichkeiten? Ich mit dem? Dann sind diese Heimlichkeiten so sehr heimlich, daß ich selbst von ihnen nicht das Geringste weiß.«

»Ihr flüstert immer miteinander!«

»Er will sich in der deutschen Sprache üben.«

»Das kann er auch laut thun. Ich habe bemerkt, daß er in letzter Zeit viel besorgter um seinen Vater ist als vorher. Er befürchtet, daß er von den Ogallala getötet worden sei, und ich gebe mir vergebliche Mühe, ihm das auszureden. Ihr habt vorhin gehört, daß er wieder davon anfing. Ich befürchte, daß er sich mit Gedanken trägt, welche zwar seiner Kindesliebe, nicht aber seiner Einsicht Ehre machen. Wißt Ihr vielleicht etwas davon?«

»Hm! Hat er Euch etwas davon gesagt, Sir?«

»Nein.«

»Nun, zu Euch hat er doch jedenfalls mehr Vertrauen, als zu mir. Wenn er gegen Euch schweigt, so wird er gegen mich nicht mitteilsamer sein.«

»Mir scheint, Ihr sucht eine direkte Antwort zu umgehen?«

»Fällt mir nicht ein!«

»Er hält sich seit gestern von mir und Winnetou zurück, und Ihr reitet stets mit ihm. Ich habe geglaubt, daraus folgern zu müssen, daß er Euch zu seinem Vertrauten gemacht hat.«

»Ich sage Euch, daß Ihr Euch da sehr irrt, obwohl Ihr sonst ein außerordentlich scharfsinniger Mann seid.«

»Also er hat Euch wirklich nichts mitgeteilt, woraus zu folgern wäre, daß er etwas beabsichtigt, was ich nicht billigen könnte?«

»Alle Teufel! Ihr stellt da ja ein wirkliches Examen mit mir an. Bedenkt, Sir, daß ich kein Schulknabe bin! Wenn mir jemand über seine Familienverhältnisse und Herzensangelegenheiten eine Mitteilung macht, so bin ich nicht berechtigt, einem anderen darüber Rede zu stehen.«

»Gut, Master Jemmy! Das, was Ihr jetzt sagtet, war zwar eine Grobheit, hat aber seine Richtigkeit. Ich will also nicht weiter in Euch dringen und genau so thun, als ob ich nichts bemerkt hätte. Geschieht aber etwas, was einen von uns in Schaden bringt, so weise ich alle Verantwortlichkeit von mir ab. Wir sind fertig.«

Er wendete sich ab und ging, nicht nach dem Lager hin, sondern nach der entgegengesetzten Seite. Er hatte sich über Jemmy geärgert und wollte seinen Unmut durch einen kurzen Gang zur Ruhe bringen.

Der Dicke schlenderte langsam nach seinem Feuer hin und brummte dabei leise vor sich hin:

»Ein verteufelt scharfes Auge hat dieser Mann! Wer konnte meinen, daß er etwas gemerkt habe. Recht hat er, vollständig recht, und ich wollte, ich hätte ihm alles sagen können; aber ich habe mein Wort gegeben, zu schweigen, und darf es nicht brechen. Besser wäre es, ich hätte mich mit dieser Sache gar nicht abgegeben. Aber der kleine Bärenjäger wußte so schön zu bitten, und da ist mir altem, dickem Waschbären das Herz mit dem Verstande davongelaufen. Na, hoffentlich nimmt die Angelegenheit ein gutes Ende!«

Als Old Shatterhand sich vorhin vom Feuer entfernt hatte, war von den Zurückbleibenden ein leises Gespräch über denselben Gegenstand geführt worden.

»O weh!« hatte der lange Davy dem Sohne des Bärenjägers zugeflüstert. »Da geht Shatterhand fort! Wohin?«

»Wer weiß es!«

»Ich bin es vielleicht, der es weiß. Mir scheint, er hat gar nicht geschlafen. Wenn einer in dieser Weise aufsteht, so ist er nicht aus dem Schlafe erwacht. Er hat uns wohl gar beobachtet.«


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»Warum sollte er das? Wir haben ihm ja keine Veranlassung zum Mißtrauen gegeben.«

»Hm! Ich freilich nicht, aber Ihr. Ich habe mich sehr wohl gehütet, viel mit Euch zu reden, wenn ich wußte, daß er es bemerken könne. So auch vorhin. Jemmy aber hält sich so unausgesetzt zu Euch, daß ein jeder annehmen muß, daß Ihr irgend eine Heimlichkeit mit ihm habt. Auch Old Shatterhand ist es wohl aufgefallen. Nun ist er dem Jemmy nach und wird sehen, daß dieser unsere Pferde anpflockt, damit wir sie nachher, wenn wir uns fortschleichen wollen, nicht lange Zeit zu suchen brauchen. Wenn er das wirklich sieht, so ist unsere Absicht mehr als halb verraten.«

»Ich werde sie dennoch ausführen!«

»Ich habe Euch gewarnt und warne Euch auch noch jetzt!«

»Aber bedenkt doch, mein lieber Davy, daß es mir ganz unmöglich ist, noch volle drei Tage zu warten! Ich sterbe vor Sorge um den Vater.«

»Old Shatterhand hat Euch aber doch erklärt, daß die Gefangenen noch leben müssen!«

»Er kann sich sehr leicht irren.«

»So können wir es auch nicht ändern.«

»Aber ich habe Gewißheit und kann mich danach richten. Wünscht Ihr etwa, daß ich Euch Euer Wort zurückgebe?«

»Besser für mich wäre es vielleicht.«

»Das sagt Ihr, dem ich ein so großes Vertrauen geschenkt habe,« bemerkte Martin in vorwurfsvollem Tone. »Habt Ihr denn vergessen, daß Ihr und Jemmy die ersten waret, welche mir ihre Hilfe anboten? Nun aber kann ich mich nicht mehr auf euch verlassen.«

»Zounds! Das ist ein Vorwurf, den ich nicht auf mir sitzen lassen darf. Ich habe mich von meiner Zuneigung zu Euch hinreißen lassen, Euch das Versprechen zu geben, und Ihr sollt mir nicht nachsagen, daß ich es nicht halte. Ich reite also mit; aber ich mache eine Bedingung!«

»Laßt hören! Ich erfülle sie, wenn es mir möglich ist.«

»Wir belauschen die Sioux-Ogallala nur, um zu erfahren, ob Euer Vater noch lebt.«

»Ja, einverstanden.«

»Wir machen nicht etwa auf unsere eigene Faust einen Versuch, ihn zu befreien.«

»Auch da bin ich Eurer Meinung.«

»Schön! Ich kann es mir lebhaft vorstellen, wie es in Eurem Herzen aussehen mag. Ihr steht eine reelle Angst um Euren Vater aus. Das rührt mein altes, gutes Gemüt, und ich begleite Euch. Aber sobald wir gesehen haben, daß er noch lebt, kehren wir um und reiten den anderen nach. Wenn Ihr nur nicht auf den Gedanken gekommen wäret, den Hobble-Frank mitzunehmen!«

»Er hat es verdient, daß ich diese Rücksicht auf ihn nehme.«

»Aber ich denke, daß er uns mehr schaden als nutzen werde.«

»O, Ihr irrt Euch in ihm. Er ist trotz aller seiner Eigenheiten ein mutiger und auch gewandter Kerl.«

»Das mag sein; aber er hat ein ganz entschiedenes Pech. Was er am besten anzufangen meint, das gelingt ihm am allerwenigsten. Solche Unglücksvögel sind die besten Geschöpfe, aber man muß sie meiden.«

»Ich habe es ihm nun einmal versprochen und will ihm nicht das Herzeleid anthun, mein Wort zurückzunehmen. Er hat in Freud' und Leid treu bei uns ausgehalten, und es ist eine Art Belohnung für ihn, wenn ich ihn mitnehme.«

»Und Wohkadeh? Geht er noch mit?«

»Ja. Wir haben so innige Freundschaft geschlossen, daß es ihm unmöglich ist, zurückzubleiben, während ich diesen Ritt unternehme.«

»So ist also alles in Ordnung, und es handelt sich nur darum, unbemerkt fortzukommen. Freilich wird es morgen früh eine große Sorge um uns geben, wenn wir verschwunden sind, aber ich denke, der Neger wird den Auftrag ausrichten. Da kommt Jemmy.«

Der Dicke kam herbei und setzte sich zu ihnen.

»Nicht wahr, Old Shatterhand hegt Mißtrauen?« fragte Davy.

»Ja. Er hat mich inquiriert wie einen Spitzbuben,« brummte der Dicke mißmutig.

»Du hast aber doch nichts gestanden?«

»Versteht sich ganz von selbst. Aber sauer ist es mir freilich geworden. Ich habe meine Zuflucht sogar zur Grobheit nehmen müssen. Das nahm er mir übel und ging fort.«

»Und er hat gesehen, daß du unsere Pferde anpflocktest?«

»Ich hatte es nur erst mit dem meinigen gethan. Er war mir glücklicherweise zu schnell nachgekommen. Laßt uns aber jetzt schweigen, damit wir sein Mißtrauen einschläfern. Da kommt nun auch der Mond. Wir wollen das Feuer auslöschen und uns dann unter die Bäume legen. Da gibt es Schatten, und man bemerkt unsere Entfernung nicht sogleich.«

»Gut, daß wir Mondschein haben; da finden wir wenigstens den Weg.«

»Er ist uns deutlich vorgezeichnet, immer am Flusse hinab. Einerseits ist es mir gar nicht lieb, daß wir gezwungen sind, die Gefährten zu täuschen, andererseits aber kann es ihnen auch nichts schaden. Früher hatten auch wir ein Wort zu sagen; jetzt aber sind Old Shatterhand und Winnetou die Kommandanten. Jemmy und Davy werden nur so nebenbei einmal um ihre Ansicht gefragt. Da ist es eigentlich ganz an der Zeit, ihnen zu zeigen, daß wir auch noch zu den Westmännern gehören, die einen Plan entwerfen und ihn auch ausführen können. Jetzt nun zur Ruhe. Sie darf für uns nicht lange währen.«

Das Feuer wurde ausgelöscht. Auch die Flammen, an denen die Indianer gesessen hatten, brannten nicht mehr. Die Gespräche waren verstummt. Old Shatterhand legte sich, als er zurückgekehrt war, neben Winnetou in das Gras. Nun war es still ringsum. Nur das schrille Pfeifen der dem Erdinnern entströmenden Dämpfe ließ sich in regelmäßigen Zwischenräumen hören.

Es verging weit über eine Stunde, da regte es sich leise unter den Bäumen, wo Frank, Jemmy, Davy, Martin und Wohkadeh sich zusammen gelagert hatten.

»Meine Brüder mögen mir folgen,« flüsterte der junge Indianer. »Es ist Zeit. Wer eher geht, der kommt eher an.«

Sie griffen nach ihren Waffen und sonstigen Sachen und schlichen sich leise unter den Bäumen dahin, den Pferden zu. Jemmy fand das seinige leicht; die anderen mußten erst gesucht werden; aber den scharfen Augen Wohkadehs gelang es schnell, die vier Tiere von den anderen zu unterscheiden.

Ohne ein leichtes Geräusch ging das freilich nicht ab. Darum blieben die fünf Flüchtlinge, als sie die Pferde beisammen hatten, eine kleine Weile lauschend stehen, um zu beobachten, ob ihr Verschwinden bemerkt worden sei.

Als es aber dort bei den Schlafenden ruhig blieb, führten sie die Pferde, deren Hufschlag durch das Gras gedämpft wurde, langsam fort.

Freilich, ganz unbemerkt entkamen sie nicht. Obgleich an die Nähe eines Feindes nicht gedacht werden konnte, waren doch einige Wachen, die sich von Zeit zu Zeit abzulösen hatten, ausgestellt worden. Für die Nacht war dies schon wegen den wilden Tieren im Walde notwendig. An einem dieser Wachtposten kamen sie vorüber.

Es war ein Schoschone. Er hörte sie kommen, wußte natürlich, daß die vom Lager her Nahenden Freunde sein mußten, und machte daher keinen Lärm. Der Schein des Mondes, welcher sich zwischen einzelnen Zweigen hindurch herniederstahl, erlaubte ihm, die Pferde zu sehen. Daß sich Männer mit ihren Tieren entfernen wollten, das erregte seine Verwunderung.

»Was haben meine Brüder vor?« fragte er.

»Schau mich an! Erkennst du mich?« antwortete Jemmy, nahe an ihn herantretend, so daß seine Gestalt deutlich zu bemerken war.

»Ja. Du bist Jemmy-petahtscheh.«

»Sprich leise, damit keiner der Schläfer geweckt werde. Old Shatterhand sendet uns aus. Er weiß, wohin wir gehen. Ist dir das genug?«

»Meine weißen Brüder sind unsere Freunde. Ich darf sie nicht hindern, die Befehle des großen Jägers auszuführen.«

Sie gingen weiter. Als sie so entfernt vom Lager waren, daß kein Huftritt dort mehr gehört werden konnte, stiegen sie auf, suchten die lichtere Nähe des Seeufers auf und trabten längs desselben hin, um den Ausfluß des Yellowstoneriver zu erreichen und demselben in nördlicher Richtung zu folgen.

Der Schoschone hielt den Vorfall für so einfach und selbstverständlich, daß er sich gar nicht die Mühe gab, später dem ihn ablösenden Posten eine Mitteilung darüber zu machen. So blieb die Entfernung der


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fünf kühnen oder vielmehr leichtsinnigen Deserteure unbemerkt, bis der Tag graute.

Um diese frühe Zeit sollte aufgebrochen werden. Daher erhoben sich, als die ersten Vogelstimmen in den Zweigen ertönten, alle von ihren Lagerorten. Da bemerkte Old Shatterhand zunächst, daß Martin Baumann fehlte. Da ihm sofort die gestrige Befürchtung zurückkehrte, forschte er nach Jemmy, und bald stellte es sich heraus, daß nicht nur dieser auch fehlte, sondern ebenso Davy, Frank und Wohkadeh nicht mehr vorhanden waren. Wie man sich dann sogleich überzeugte, hatten sie zu Pferde das Lager verlassen.

Nun erst jetzt meldete sich der Schoschone, welcher gestern abend die Wache gehabt hatte, und erzählte Old Shatterhand, welche Erklärung ihm von Jemmy gemacht worden war.

Winnetou stand dabei und konnte sich trotz seines sonstigen Scharfsinnes die Absicht, in welcher die Fünf sich so heimlich entfernt hatten, nicht denken.

»Sie sind den Sioux-Ogallala entgegen,« erklärte ihm Old Shatterhand.

»So haben sie ihr Hirn verloren,« zürnte der Apache. »Sie werden nicht nur der Gefahr, welcher sie entgegenreiten, nicht entgehen, sondern auch unsere Anwesenheit verraten. Warum aber wollen sie den Sioux begegnen?«

»Um zu erfahren, ob der Bärentöter noch lebe.«

»Ist er tot, so vermögen sie doch nicht, ihm das Leben zurückzugeben, und lebt er noch, so werden sie ihm Unglück bringen. Winnetou kann diesen großen Fehler den zwei kühnen Knaben verzeihen; die beiden alten, weißen Jäger aber sollten am Pfahle aufgestellt werden, den Squaws und Kindern zum Spotte!«

Da kam Bob, der Neger, herbei. Der Skunkgeruch war noch nicht ganz von ihm gewichen, so daß keiner der Leute ihn gern in seiner Nähe duldete. Er trug immer noch nur die alte Pferdedecke, welche der lange Davy ihm geschenkt hatte. Des Nachts, wenn es kühl wurde, hatte er sich bisher in das Fell des von Martin Baumann erlegten Bären gewickelt.

»Massa Shatterhand suchen Massa Martin?« fragte er.

»Ja. Kannst du mir Auskunft erteilen?«

»O, Massa Bob sein ein sehr kluger Massa Bob. Er wissen, wo Massa Martin sein.«

»Nun wo?«

»Sein fort, zu Sioux-Ogallala, zu sehen gefangen Massa Baumann. Massa Martin haben Massa Bob alles sagen, damit Massa Bob dann Massa Shatterhand wiedersagen.«

»Also doch ganz so, wie ich dachte!« sagte Old Shatterhand. »Wann wollen sie zurückkommen?«

»Wann sie haben sehen Massa Baumann, dann kommen uns nach an Fireholefluß.«

»Hast du sonst noch einen Auftrag?«

»Nein. Massa Bob weiter nichts wissen.«

»Dein guter Massa Martin hat da eine Dummheit gemacht; ich glaube, es kann ihm dabei an den Kragen gehen.«

»Was! Massa Martin an den Kragen? Da Massa Bob sich setzen sofort auf Pferd, um ihm nachreiten und erretten!«

Er wollte eiligst fort, hin zu den Pferden.

»Halt!« befahl ihm Old Shatterhand. »Du bleibst! Du darfst zu der ersten Dummheit nicht noch eine zweite fügen, welche noch größer sein würde.«

»Aber Massa Bob doch müssen retten sein lieb gut Massa Martin!« rief der treue Schwarze. »Massa Bob schlagen tot all ganz Sioux-Ogallala!«

»Ja, so wie du zum Beispiel auch den Bären totschlugst, als du vor Angst auf die Birke klettertest.«

»Ogallala sein kein Bär. Massa Bob sich nicht fürchten vor Ogallala!«

Er streckte seine großen Fäuste drohend aus und machte eine Miene, als ob er gleich zehn Ogallala verschlingen wolle.

»Nun gut, ich will es einmal mit dir versuchen, weil du deinen jungen Herrn so liebst. Mache dich bereit, in wenigen Minuten mit uns zu reiten!«

Und zu Winnetou, bei welchem jetzt der Häuptling der Upsarocas und der Häuptling der Schoschonen mit Moh-aw, seinem Sohne, standen, fuhr er fort:

»Mein Bruder wird den Ritt fortsetzen und mich am K'un-tui-temba, dem Maule der Hölle, erwarten. Mit mir aber werden reiten die fünfzehn Krieger der Upsarocas mit ihrem Häuptlinge und Moh-aw mit fünfzehn Kriegern der Schoschonen. Wir müssen diesen fünf vorwitzigen Menschen augenblicklich folgen, um sie zu retten, wenn sie sich in Gefahr befinden. Wann wir dem Häuptlinge der Apachen folgen werden, das weiß ich nicht. Auch kann ich nicht vorher bestimmen, von welcher Seite ich nach dem >Maule der Hölle< kommen werde. Mein Bruder mag nach beiden Seiten Männer senden, welche aufzupassen haben, denn es ist nun möglich, daß die Sioux eher am Grabe der Häuptlinge sind als ich mit meinen Kriegern.«

Nur wenige Minuten später galoppierte Old Shatterhand mit seinen Begleitern in derselben Richtung fort, in welcher die fünf Unvorsichtigen gestern abend das Lager verlassen hatten. Ob, wo, wann und unter welchen Umständen er sie einholen werde, das konnte er freilich nicht wissen.

Sie hatten natürlich einen weiten Vorsprung vor ihm. Der Ritt war zwar wegen der Nacht und ihrer Unbekanntschaft mit dem Terrain nur langsam vorwärts gegangen, aber dennoch lag beim Anbruch des Tages der Yellowstonesee bereits in bedeutender Entfernung hinter ihnen, und nun konnten sie die Pferde besser ausgreifen lassen.

Jemmy und Davy fühlten sich heute ganz in ihrem Elemente. Sie waren diejenigen, auf welche sich die drei anderen verlassen mußten, während in letzter Zeit nur wenig nach ihren Meinungen gefragt worden war. Und wenn sie die Gegend, in welcher sie sich befanden, auch gar nicht kannten, so verließen sie sich auf ihre Erfahrung und Gewandtheit und waren vollständig überzeugt, daß ihr Rekognitionsritt einen guten Ausgang finden werde.

Zu sehen gab es, als es hell geworden war, genug, ja mehr, als für den Zweck ihres Rittes eigentlich nützlich war. Die Scenerie des Flusses und seiner Ufer war eine so außerordentlich interessante, daß es keinem von ihnen gelang, die Ausrufe der Bewunderung, welche ihnen über die Lippen wollten, zurückzuhalten.

Das Thal des Flusses war zunächst ziemlich breit und bot zu beiden Seiten reiche Abwechselung. Bald stiegen die Höhen allmählich herab zu den Ufern, und bald strebten sie steilan zum Himmel empor; aber mochte die Formation sein, welche sie wollte, allüberall machten sich die Wirkungen unterirdischer Gewalten geltend.

Vor wer weiß wie vielen Menschheitsaltern ist diese Gebirgsregion ein See gewesen, welcher einen Flächenraum von vielen Tausend Quadratmeilen gehabt hat. Dann begannen unter seinen Wassern vulkanische Mächte ihre Thätigkeit. Es hob sich der Boden; er spaltete sich, und aus diesen Spalten schoß glühende Lava hervor, welche im kühlen Wasser des Sees zu Basalt erstarrte. Es öffneten sich ungeheure Krater, heißes Gestein wurde aus ihnen emporgetrieben und verband sich mit anderen Mineralien zu verschiedenartigen Konglomeraten, um den Boden zu bilden, auf welchem die zahlreichen heißen Mineralquellen ihre Niederschläge ablagern konnten. Dann hob eine gewaltige Ansammlung unterirdischer Gase mit unmeßbarer Gewalt den ganzen Boden dieses Sees empor, so daß seine Wasser abfließen mußten. Sie rissen sich tiefe Rinnen in die Erde. Loses Erdreich und weiches Gestein wurde fortgespült. Kälte und Wärme, Sturm und Regen halfen mit, alles, was nicht Widerstand zu leisten vermochte, zu zerstören, zu entfernen, und nur die harten, erstarrten Lavasäulen hielten aus.

So grub sich das Wasser zu einer Tiefe von tausend Fuß in die Erde ein; es fraß alles Weiche weg; es wusch die Felsen tiefer und tiefer aus, und so wurden die großartigen Cannons und die Wasserfälle gebildet, welche zu den Wundern des Nationalparkes gehören.

Da ragen dann die vulkanischen Ufer hoch empor, vielfach zerrissen und zerklüftet, vom Regen ausgewaschen, und bilden Formen, welche sich keine Phantasie zu erdenken vermag. Da glaubt man die Ruine einer alten Ritterburg zu sehen. Man kann die leeren Fensterhöhlen sehen, den Wartturm und die Stelle, an welcher die Zugbrücke über den Graben ging. Nicht weit davon ragen schlanke Minarets empor. Man meint, der Muezzin müsse auf den Söller treten und die Gläubigen zum Gebete rufen. Gegenüber öffnet sich ein römisches Amphitheater, in welchem Christensklaven mit wilden Tieren gerungen haben. Daneben steigt eine chinesische Pagode frei und kühn zur Höhe, und weiterhin am Flusses-


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laufe steht eine hundert Fuß hohe Tiergestalt, so massiv, so unzerstörbar scheinend, als sei sie dem Götzen eines vorsündflutlichen Volkes errichtet gewesen.

Und das alles ist Täuschung. Die vulkanischen Eruptionen haben die Massen geliefert, welche vom Wasser zu Gestalten gemeißelt wurden. Und wer diese Produkte elementarer Kräfte betrachtet, fühlt sich als einen mikroskopischen Wurm im Staube und hat allen Stolz vergessen, der ihn vorher beherrschte.

So ging es auch Jemmy, Davy und Martin Baumann, als sie am Morgen dem Laufe des Flusses folgten. Sie wurden nicht müde, ihrer Bewunderung Ausdruck zu geben. Was Wohkadeh fühlte und dachte, das war nicht zu erfahren; er sprach es nicht aus.

Natürlich benutzte der gute Hobble-Frank diese Gelegenheit, sein wissenschaftliches Licht leuchten zu lassen; aber heute fand er in dem dicken Jemmy keinen bereitwilligen Hörer, denn dieser hatte alle seine Aufmerksamkeit in den Augen konzentriert und forderte endlich den kleinen Sachsen gar in zornigem Tone zum Schweigen auf.

»Na, dann gut!« antwortete der einstige »Forschtbeamte«. »Was hilft's der Menschheet, daß sie diese Wunder erblickt, wenn sie sich weigert, sie sich erklären zu lassen! Da hat der große Dichter Gellert sehre recht, indem er sagt: >Was hilft der Kuh Muschkate!< Ich will also meine Muschkate und meinen Sempf ooch für mich behalten. Man kann im Gymnasium gewest sein und doch vom Yellohschtohne nichts verschtehn. Ich aber wasche von heute an meine Hände in lauter Unschuld. Da weeß ich wenigstens, woran ich bin!«

Da, wo der Fluß sich in einem ziemlich weiten Bogen nach Westen wendet, traten zahlreiche heiße Quellen zu Tage, welche ihre Wasser sammelten, um ein ansehnliches Flüßchen zu bilden, welches sich zwischen hohen Felsen hindurch in den Yellowstone ergoß. Es schien, als ob man das Ufer des letzteren von hier an nicht mehr direkt verfolgen könne, und darum bogen die Fünf links ein, um dem Laufe des heißen Flüßchens zu folgen.

Hier gab es weder Baum noch Strauch. Es war alle Vegetation erstorben. Die heiße Flüssigkeit hatte ein schmutziges Aussehen und roch wie faule Eier. Es war kaum zum Aushalten. Und doch wurde es nicht eher anders und besser, als bis sie nach einem stundenlangen, beschwerlichen Ritte die Höhe erreichten. Hier gab es auch klares, frisches Wasser, und bald zeigten sich Büsche, später sogar Bäume.

Von einem wirklichen Wege war natürlich keine Rede. Die Pferde hatten sich oft auf weite Strecken hin über Felsbrocken weg zu arbeiten, welche das Aussehen hatten, als sei ein Berg vom Himmel gestürzt und hier unten in lauter Stücke zerbrochen.

Diese Trümmer hatten oft eine wunderbare Gestalt, und oft blieben die fünf Reiter halten, um ihre Meinung über dieselbe auszutauschen. Dabei verging die Zeit, und es war bereits mittag, als sie erst die Hälfte des Weges zurückgelegt hatten.

Da erblickten sie von weitem ein ziemlich großes Haus. Es schien eine in italienischem Stile gebaute Villa zu sein, an welche sich ein mit einer hohen Mauer umgebener Garten lehnte. Ganz erstaunt blieben sie halten.

»Ein Wohnhaus hier am Yellowstone! Das ist doch gar nicht möglich!« sagte Jemmy.

»Warum soll das nicht möglich sein?« antwortete Frank. »Wenn off dem Sankt Bernhardt een Hostiz ist, so kann hier doch vielleicht ooch eens errichtet worden sein. Die Menschenmöglichkeet ist überall vorhanden.«

»Hospiz heißt es, aber nicht Hostiz,« bemerkte Jemmy.

»Fangen Sie nich etwa mit mir an! Haben Sie vorhin von meinen mineralischen Kenntnissen nischt profitieren wollen, so brauchen Sie mir jetzt Ihre zweifelhafte Weisheet ooch nich auszukramen! Sind Sie denn vielleicht schon mal off dem Sankt Bernhardt gewest?«

»Nein.«

»So schweigen Sie also ganz schtille! Nur wer da droben wohnt, kann drüber reden. Aber sehen Sie doch mal genauer nach dem Hause hin! Schteht da nich een Mensch grad vor dem Thore?«

»Allerdings. Wenigstens scheint es so. Aber jetzt ist er weg. Es wird wohl nur ein Schatten gewesen sein.«

»So? Da blamieren Sie sich wieder mal mit Ihren optischen Erfahrungen. Wo es eenen menschlichen Schatten gibt, da muß es unbedingt ooch eenen Menschen geben, der diesen Schatten geworfen hat. Das ist die bekannte Lehre von Pythagorassen seiner Hypotenuse off den zwee Kathedern. Und wenn der Schatten weg ist, so muß entweder die Sonne verschwunden sein oder derjenige, der den Schatten geworfen hat. Die Sonne ist aber noch da, folglich ist der Kerl fort. Wohin, das werden wir bald merken.«

Sie näherten sich dem Bauwerke schnell, und da erkannten sie freilich, daß es nicht von Menschenhänden errichtet, sondern ein Werk der Natur war. Die scheinbaren Mauern bestanden aus blendend weißem Feldspat. Mehrere Oeffnungen konnten von weitem leicht für Fenster gehalten werden. Eine weite, hohe Thüröffnung war auch vorhanden. Wenn man durch dieselbe blickte, so sah man eine Art weiten Hofes, welcher durch natürliche Felsencoulissen in mehrere verschieden große Abteilungen geschieden wurde. In der Mitte dieses Hofes sprudelte ein Quell aus der Erde hervor und schickte sein klares, kaltes Wasser gerade zum Thore heraus.

»Wunderbar!« gestand Jemmy. »Dieser Ort eignet sich prächtig zu einer Mittagsrast. Wollen wir hinein?«


Ende des neunundzwanzigsten Teils - Fortsetzung folgt.



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