Nummer 5

Der
Gute Kamerad

Spemanns Illustrierte Knaben-Zeitung.

5. Februar 1887

Der Sohn des Bärenjägers.

Von
K. May


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»Warum?« fragte der kleine Sachse überrascht.

»Hast du Wohkadeh nicht verstanden? Mein Vater ist von den Sioux Ogallalla gefangengenommen worden und soll am Marterpfahle elendiglich hingeschlachtet werden. Wir müssen ihn retten. In spätestens einer Stunde brechen wir nach dem Yellowstone auf!«

»Alle Teufel!« rief da Frank, auch rasch aufspringend. »Das soll den Roten schlecht bekommen!«

Auch der Neger erhob sich, raffte den Pfahl, welchen er vorhin mit hereingenommen hatte, auf und sagte:

»Masser Bob mitgehen! Masser Bob totschlagen all rot Hunde von Ogallalla!«

Da erhob der Indianer die Hand und sagte:

»Sind meine weißen Brüder Mücken, welche zornig umherfliegen, wenn sie gereizt werden? Oder sind sie Männer, welche wissen, daß die ruhige Beratung der That vorangehen muß? Wohkadeh hat noch nicht ausgesprochen.«

»Sage vor allen Dingen: Befindet mein Vater sich in Gefahr oder nicht?« drängte Martin.

»Du wirst es hören.«


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»Ich verlange, daß du es sagst, sofort, sofort!« brauste der Jüngling auf.

Da warnte Jemmy, der Dicke:

»Beruhigt Euch, mein junger Freund! Eile soll Weile haben. Vorerst laßt Wohkadeh erzählen; nachher können wir beraten, und sodann werden wir handeln.«

»Handeln? Ihr auch mit?«

»Das versteht sich ganz von selbst. Wir haben das Calummet geraucht und sind also Freunde und Brüder. Der lange Davy und der dicke Jemmy haben noch keinen im Stich gelassen, der ihrer Hilfe bedürftig war. Ob wir beide nach Montana reiten, um dort Büffel zu jagen, oder ob wir vorher einen Abstecher nach dem Yellowstone machen, um mit den Sioux-Ogallalla einen Walzer zu tanzen, das ist uns sehr einerlei. Aber es muß alles in der gehörigen Ordnung vor sich gehen, sonst macht es so alten Jägern, wie wir beide sind, keinen rechten Spaß. Setzt euch also wieder nieder und bleibt ruhig, wie es sich schickt und geziemt. Unser roter Freund hat recht: Wir sind Männer. Verstanden!«

»Das ist richtig!« stimmte der kleine Sachse bei. »Aufregung thut in keiner Lage gut. Wir müssen überlegsam sein.«

Nachdem die Drei sich wieder gesetzt hatten, fuhr der junge Indianer fort:

»Wohkadeh wurde von den Sioux-Ponca erzogen, welche Freunde der Bleichgesichter sind. Später wurde er gezwungen, ein Ogallalla zu sein; aber er wartete nur auf die Gelegenheit, die Ogallalla zu verlassen. Jetzt mußte er mit ihren Kriegern nach dem Yellowstone ziehen. Er war dabei, als sie den Bärentöter und seine Begleiter des Nachts im Schlafe überfielen. Die Ogallalla müssen während dieses Rittes vorsichtig sein, denn dort in den Bergen wohnen die Schoschonen, welche ihre Feinde sind. Wohkadeh wurde als Kundschafter ausgesandt, um die Wigwams der Schoschonen zu erspähen; aber er that dies nicht, sondern er ritt in größerer Eile nach dem Osten zur Hütte des Bärentöters, um dessen Sohn und Freund zu benachrichtigen, daß er gefangen ist.«

»Das ist brav, das werde ich dir niemals vergessen!« rief Martin. »Aber weiß mein Vater davon?«

»Wohkadeh hat es ihm gesagt und sich den Weg beschreiben lassen. Er hat so heimlich mit dem Bärentöter gesprochen, daß keiner der Sioux es bemerken konnte.«

»Aber sie werden es ahnen, wenn du nicht zu ihnen zurückkehrst!«

»Nein, sondern sie werden glauben, daß Wohkadeh von den Schoschonen getötet worden ist.«

»Hat mein Vater dir bestimmte Weisungen für uns mitgegeben?«

»Nein, Wohkadeh soll euch sagen, daß er mit seinen Begleitern gefangen ist. Nun wird mein junger, weißer Bruder selbst wissen, was er zu thun hat.«

»Natürlich weiß ich es! Aufbrechen werde ich, und zwar sofort, um ihn zu befreien.«

Er wollte abermals aufspringen; aber Jemmy ergriff ihn am Arme und hielt ihn zurück.

»Stop, my boy! Wollt Ihr etwa durch die Lüfte reiten, um noch heute abend bei den Indsmen zu sein und von ihnen auch ergriffen und gebraten zu werden? Wartet noch ein kleines Weilchen, junger Mann! Der dicke Jemmy hilft Euch gern, aber er hat keine Lust, mit seinem Kopfe durch eure Wand zu rennen. Wir haben ja noch nicht alles erfahren. Wohkadeh mag uns sagen, an welcher Stelle Euer Vater überfallen worden ist.«

Der Indianer antwortete:

»Das Wasser, welches die Bleichgesichter den Pulverfluß nennen, entsteht aus vier Armen. An dem westlichen derselben ist der Ueberfall geschehen.«

»Gut! Das wäre also jenseits des Camp Mac Kinney und südlich von Murphys Ranch. Diese Gegend ist mir nicht ganz unbekannt. Aber wie kann ein so berühmter Bärenjäger so unvorsichtig sein, sich überfallen zu lassen?«

»Der Jäger schlief, und der Mann, welcher die Wache hatte, war kein Mann des Westens.«

»Nur so allein ist es erklärlich. Welche Richtung haben sodann die Ogallalla eingeschlagen?«

»Nach den Bergen, welche von den Weißen das dicke Horn genannt werden.«

»Also nach dem Big-Horn-Gebirge. Und weiter?«

»Sie zogen an dem Kopfe des bösen Geistes vorüber - -«

»Ah, an Devils Head!«

»Nach dem Wasser, welches dort entspringt und in den Fluß des dicken Hornes läuft. Dort hörten wir von den feindlichen Schoschonen, und Wohkadeh wurde ausgesandt, dieselben zu erkundschaften. Er weiß also nicht, wie die Ogallalla weiter geritten sind.«

»Das ist auch nicht nötig. Wir haben Augen und werden ihre Fährte finden. Wann geschah der Ueberfall?«

»Es sind vier Tage vergangen.«

»O weh! Wann soll die große Leichenfeier stattfinden?«

»Zum Tage des vollen Mondes. An demselben Tage sind die Drei getötet worden.«

Jemmy rechnete in Gedanken nach und sagte dann:

»Wenn dies der Fall ist, so haben wir noch Zeit genug, die Roten zu erreichen. Wir haben noch volle zwölf Tage bis zum Vollmond. Aber wie stark sind die Ogallalla?«

»Als ich sie verließ, zählten sie fünf mal zehn und noch sechs.«

»Also sechsundfünfzig Krieger. Wie viele Gefangene haben sie?«

»Mit dem Bärentöter sind es sechs.«

»So wissen wir vorerst genug und können uns nun mitteilen, was wir zu thun gedenken. Lange uns zu beraten, das brauchen wir nicht. Martin Baumann, was gedenkt Ihr zu thun?«

Der junge Mann stand von seinem Sitze auf, hob die Rechte wie zum Schwure empor und antwortete:

»Ich gelobe hiermit, meinen Vater zu retten oder seinen Tod zu rächen, selbst wenn ich ganz allein die Sioux verfolgen und mit ihnen kämpfen müßte. Ich werde wohl sterben, aber meinen Schwur nicht brechen.«

»Nein, allein sollst du nicht ziehen,« sagte der kleine Hobbel-Frank. »Ich werde natürlich mit dir reiten und dich auf keinen Fall verlassen.«

»Und Masser Bob auch mitgehen,« erklärte der Neger, »um alt Massa Baumann befreien und Sioux Ogallalla totprügeln. Sie alle müssen in Hölle!«

Er machte dabei ein so grimmiges Gesicht und knirschte so laut mit den Zähnen, daß es zum Fürchten war.

»Und auch ich reite mit!« sprach Jemmy, der Dicke. »Es soll mir eine Freude sein, den Roten ihre Gefangenen zu entreißen. Und du, Davy?«

»Red' nicht so dumm!« antwortete der Lange gleichmütig. »Meinst du, ich bleibe hier und flicke meine Schuhe oder mahle Kaffee, während ihr euch so einen famosen Jux machen könnt? Ich dächte, du kenntest da deinen alten Kumpan zur Genüge!«

»Gut, alter Waschbär. Endlich gibt es wieder einmal etwas Ernsthaftes. Das Schießen auf Tiere wird mit der Zeit höchst langweilig. Aber Wohkadeh, was wird unser roter Bruder thun?«

Der Indianer antwortete.

»Wohkadeh ist ein Mandane, höchstens ein Pflegling der Ponca-Sioux, aber niemals ein Ogallalla. Wenn seine weißen Brüder ihm ein Gewehr geben mit Pulver und Blei, so wird er sie begleiten und mit ihnen sterben oder die Feinde besiegen.«

»Braver Kerl!« meinte der kleine Sachse. »Eine Büchse sollst du haben und alles andere auch, sogar ein frisches Pferd, denn wir haben ja vier Stück, also eins überzählig. Das deinige ist ermüdet und kann nebenher laufen, bis es sich erholt hat. Wann aber brechen wir auf, ihr Leute?«

»Sofort natürlich!« antwortete Martin.

»Allerdings dürfen wir keine Zeit versäumen,« stimmte der Dicke bei; »aber uns zu übereilen, ist auch nicht ratsam. Wir kommen durch wasser- und wildarme Gegenden und müssen uns mit Proviant versehen. Daß wir möglichst viel Munition mitnehmen, versteht sich ganz von selbst. Ueberhaupt bereitet man eine solche Expedition mit aller Umsicht vor, um nichts zu versäumen oder zu vergessen. Wir sind, wie wir hier stehen, sechs Mann gegen sechsundfünfzig Ogallalla. Das will viel heißen. Auch wissen wir nicht, ob die neun Pferdediebe, denen wir heute das Einmaleins vorgebetet haben, nicht noch Böses gegen uns im Schilde führen. Wir müssen uns unbedingt überzeugen, ob sie die Gegend verlassen haben oder verlassen werden. Und wie steht es mit diesem Hause? Wollt Ihr es unbeschützt zurücklassen?«

»Ja,« antwortete Martin.

»So kann es leicht sein, daß Ihr es bei der Rückkehr eingeäschert oder wenigstens ausgeräumt findet.«


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»Gegen das letztere können wir sorgen.«

Der Jüngling nahm eine Hacke und hackte den festgestampften Lehmboden im Vierecke auf. Da zeigte es sich, daß es hier eine mit Lehm verkleidete, also unsichtbar gewesene Fallthür gab, unter welcher sich eine sehr geräumige Vertiefung befand, in welcher man alles, was nicht mitzunehmen war, verbergen konnte. War dann der Lehm wieder über der geschlossenen Thür festgestampft, so konnte kein Unberufener das Dasein dieses Versteckes erraten. Und selbst, wenn das Gebäude in Brand gesteckt werden sollte, so stand zu erwarten, daß der Lehm des Bodens die versteckten Gegenstände gegen das Verderben schützen werde.

Die Männer machten sich jetzt an die Arbeit, den ganzen Inhalt des Raumes, soweit er nicht zu ihrer Ausrüstung zu gebrauchen war, in die Vertiefung zu schaffen. Auch mit den Bärenfellen wurde das gethan. Es befand sich eins von ganz besonderer Größe und Schönheit dabei. Als Jemmy es bewundernd betrachtete, nahm Martin es aus seiner Hand und warf es in das Loch hinab.

»Fort damit!« sagte er. »Ich kann diesen Pelz nicht sehen, ohne an die schrecklichsten Stunden meines Lebens zu denken.«

»Das klingt ja ganz so, als hättet Ihr bereits ein sehr langes Leben oder eine ganze Reihe von so schrecklichen Ereignissen hinter Euch, mein Junge.«

»Vielleicht habe ich auch wirklich bereits mehr erlebt als mancher alte Trapper.«

»Oho! Nicht aufschneiden!«

Martins Augen richteten sich mit beinahe zornigem Blicke auf den Dicken. Er fragte:

»Meint Ihr, daß der Sohn eines Bärenjägers keine Gelegenheit zu Erlebnissen habe?«

»Das bestreite ich freilich nicht.«

»So sage ich Euch, daß ich bereits als vierjähriger Bube mit dem Kerl gekämpft habe, welcher in dem Pelze lebte, den Ihr soeben bewundert habt.«

»Ein vierjähriges Kind mit einem Grizzly von dieser Mächtigkeit? Ich weiß, daß die Kinder des Westens von ganz anderem Holze geschnitzt sind als die Buben, welche da vorn in den Städten die Beinchen an ihrer Väter Wärmflaschen stemmen. Ich habe manch einen Jungen gesehen, der in New York ein Abcschütz wäre, aber doch seine Rifle zu gebrauchen wußte wie ein Alter. Aber - hm! wie ist es damals mit dem Bären zugegangen?«

»Das war da unten in den Bergen von Colorado. Ich hatte die Mutter noch und dazu ein allerliebstes Schwesterchen von drei Jahren, also ein Jahr jünger noch als ich. Der Vater war fortgegangen, um Fleisch zu schießen; die Mutter war draußen vor der Hütte, um Holz zum Feuer klar zu hacken, denn es war Winter und sehr kalt in den Bergen. Ich befand mich mit der kleinen Luddy ganz allein in der Stube. Sie saß zwischen der Thür und dem Tische am Boden und spielte mit der Puppy, die ich ihr aus einem Holzscheite geschnitzt hatte, und ich stand auf dem Tische, um mit dem großen Holzmesser ein M und ein L in den dicken Balken zu schneiden, welcher unter dem spitzen Dache von der einen Blockwand nach der gegenüberliegenden lief. Das waren die Anfangsbuchstaben meines Vornamens und desjenigen der lieben Luddy. Ich wollte nach Bubenart uns beide so verewigen. In diese schwere Arbeit vertieft, beachtete ich kaum einen lauten Schrei, welchen meine Mutter draußen ausstieß. Da er sich nicht wiederholte, arbeitete ich unbesorgt und vor Anstrengung schwitzend an der Verewigung weiter. Dann hörte ich, daß die Thür mit Gewalt aus dem Riegel gestoßen wurde. In der Meinung, daß die Mutter so geräuschvoll eingetreten sei, weil sie Holz auf den Armen habe, drehte ich mich gar nicht um, sondern sagte nur: >M'a, das ist für Luddy und mich. Dann kommst auch du mit P'a 1) daran.<

»Anstatt ihrer Antwort hörte ich ein tiefes, tiefes Brummen. Ich drehte mich um. Nun müßt Ihr wissen, Mesch'schurs, daß es noch nicht Tag war, aber draußen leuchtete der Schnee, und auf dem großen Herde brannte ein Holzklotz, dessen Flamme die Stube erleuchtete. Was ich beim Scheine derselben erblickte, war allerdings gräßlich. Grad vor der armen Luddy, welche vor Entsetzen keinen Laut hervorbrachte, stand ein riesiger grauer Bär. Sein Fell war mit Eis bezottelt, und sein Atem dampfte. Das sprachlose Schwesterchen hielt ihm bittend die hölzerne Puppy entgegen, als wolle es sagen: >Da nimm meine Puppe, aber thu nur mir nichts, du böser, lieber Bär!< Aber der Grizzly hatte kein Erbarmen. Mit einem Tatzenschlag warf er Luddy nieder, und dann zermalmte er ihr mit einem einzigen Bisse das kleine, süße, blonde Köpfchen. Ihr müßt nämlich wissen, Mesch'schurs, daß der erste Biß des Bären stets nach dem Kopfe seines Opfers geht, denn das Gehirn ist sein größter Leckerbissen. Noch heute höre ich das Malmen und Krachen - heavens, ich kann es nicht vergessen, nie, nie - - -!«

Er hielt in seiner Erzählung inne. Keiner unterbrach die eingetretene Stille, bis er fortfuhr:

»Auch ich konnte mich vor Entsetzen nicht bewegen. Ich wollte um Hilfe rufen, brachte aber keinen Laut hervor. Ich sah die Glieder des Schwesterchens im Rachen des Untieres verschwinden, bis nichts mehr übrig war als die hölzerne Puppy, welche zu Boden gefallen war. Ich hatte das lange Messer krampfhaft in der Hand; ich wollte vom Tische herabspringen, um mit dem Bären um das Leben Luddys zu kämpfen; aber ich war ja vom Schreck gelähmt. Nun jetzt kam er auf mich zu und richtete sich mit den Vorderpranken an dem Tische empor. Gott sei Dank! In diesem Augenblicke erhielt ich den Gebrauch meiner Glieder wieder. Sein schrecklicher, penetranter Atem stank mir bereits in das Gesicht, da nahm ich das Messer zwischen die Zähne, umfaßte den Balken mit den Armen und schwang mich auf denselben hinauf. Er wollte mir nach und riß dabei den Tisch um. Das war meine Rettung.
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Jetzt nun rief ich freilich auch um Hilfe, doch vergebens; die Mutter kam nicht, obgleich sie meine Stimme hören mußte, denn die Thüre stand offen und ein kalter Luftstrom drang herein. Der Grizzly richtete sich in seiner ganzen Länge auf, um mich vom Balken herabzuholen. Ihr habt seinen Pelz gesehen und müßt es mir also glauben, wenn ich euch sage, daß er mich mit seinen Vordertatzen ganz gut erlangen konnte. Aber ich hatte das Messer in der Hand, hielt mich mit der Linken fest an und stach mit der Rechten nach der Pranke, welche er nach mir ausstreckte -
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Was soll ich euch den Kampf beschreiben, meinen Jammer und meine Angst! Wie lange ich mich verteidigt habe, weiß ich nicht; in einer solchen Lage wird eine Viertelstunde zur Ewigkeit; aber meine Kräfte schwanden, und beide Vordertatzen des Bären waren vielfach zerstochen und zerschnitten, als ich trotz seines Brummens und Heulens das Bellen unseres Hundes hörte, den der Vater mitgenommen hatte. Draußen vor der Hütte erhob er seine Stimme, wie ich noch niemals die Stimme eines Hundes gehört habe; dann kam er hereingestürzt und warf sich augenblicklich auf das riesige Raubtier. Ein jeder von euch ist wohl einmal Zeuge eines Kampfes mehrerer Hunde gegen einen Bären gewesen. Aber ein einzelner Hund gegen einen solchen Grizzly, ohne daß sein Herr mit der Büchse und dem Messer dabei anwesend ist, das solltet ihr sehen und auch hören. Ihr wißt, daß die wild gewordenen Hunde in den Staaten eine wahre Landplage geworden sind. Sie dezimieren die Schafherden. In Ohio allein rechnet man, daß jährlich gegen sechzigtausend Schafe durch diese gefräßigen, herrenlosen Tiere zu Grunde gehen, in den Vereinigten Staaten überhaupt aber jährlich eine halbe Million. Diese Hunde zeichnen sich durch eine ungeheure Kühnheit aus; sie gehen selbst dem Bären zu Leibe. Einen solchen hatten wir an uns gewöhnt und gezähmt. Er war ein häßlicher Köder, aber ungemein stark und uns treu ergeben. Als er sich jetzt auf den Bären warf, heulte er nicht, sondern er brüllte förmlich auf wie ein Raubtier. Er faßte ihn bei der Kehle, um sie ihm zu zerreißen; der Bär aber zerfleischte ihn mit seinen gewaltigen Tatzen. Nach der Zeit von einer Minute war der Hund tot - in Stücke zerrissen, und der wütende Grizzly wendete sich nun wieder gegen mich.«

»Aber Euer Vater?« fragte Davy, welcher selbst wie die anderen mit größter Spannung zugehört hatte. »Wo der Hund ist, da kann der Mann nicht gar ferne sein.«

»Allerdings, denn eben richtete sich der Grizzly wieder unter dem Balken auf, um
  

1) P'a und M'a sind Abkürzungen für Papa und Mamma. 


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nach mir zu langen, den Rücken nach der Thüre gekehrt, so erschien der Vater unter derselben, im Gesichte bleich wie der leibhaftige Tod.

»Vater, Hilfe!« schrie ich auf, einen Stoß nach dem Bären führend.

"Es mit der linken Hand beim Pelze fassend, stieß ihm die lange Klinge zwischen die bekannten beiden Rippen."

Er antwortete nicht. Auch ihm war die Kehle wie zugeschnürt. Er erhob das geladene Gewehr - jetzt wird er schießen! Doch nein, er senkte es wieder. Er war so aufgeregt, daß der Lauf in seinen Händen wankte. Er warf das Gewehr weg, riß den Bowiekneif aus dem Gürtel und sprang von hinten auf das Tier ein. Es mit der linken Hand beim Pelze fassend, trat er seitwärts vor und stieß ihm die lange Klinge bis an das Heft zwischen die bekannten beiden Rippen. Aber augenblicklich sprang er auch wieder zurück, um von dem Bären im Todeskampfe nicht gefaßt zu werden. Das gewaltige Tier stand unbeweglich, röchelte und stöhnte in ganz unbeschreiblicher Weise auf, griff dann mit den Vorderpranken in die Luft und brach tot zusammen. Wie sich später herausstellte, war ihm die Klinge gerade in das Herz gedrungen.«

»Gott sei Dank!« meinte Jemmy, indem er tief und laut aufatmete. »Das war Hilfe in der größten Not. Aber Eure Mutter, mein junger Sir?«

»Die - - oh, ich habe sie nicht wieder gesehen.«

Er wendete sich ab, als ob er sich schäme, und wischte sich mit einer raschen Handbewegung zwei Thränen aus den Augen.

»Nicht wiedergesehen? Wieso?«

»Als der Vater mich vom Balken herabgeholt hatte, er zitternd und ich an allen Gliedern bebend, fragte er nach der kleinen Luddy. Laut aufschluchzend erzählte ich ihm, was geschehen war. Ich habe noch niemals wieder ein Menschenangesicht gesehen wie dasjenige, welches der Vater dabei zeigte. Es war aschfahl und wie von Stein. Einen Schrei stieß er aus, einen einzigen, aber was für einen! Gebe Gott, daß ich niemals wieder etwas Aehnliches zu hören bekomme! Dann war er still. Er setzte sich auf die Bank und legte das Gesicht in die Hände. Auf meine liebkosenden Worte antwortete er nicht; als ich ihn nach der Mutter fragte, schüttelte er mit dem Kopfe; aber als ich dann hinausgehen wollte, um nach ihr zu suchen, faßte er mich beim Arme, daß ich vor Schmerz laut aufschrie.

»Bleib!« gebot er mir. »Das ist nichts für dich!«

Dann setzte er sich wieder nieder und saß da eine lange, lange Zeit, bis das Feuer niedergebrannt war. Dann schloß er mich ein und begann hinter der Hütte zu arbeiten. Ich versuchte, das Moos, welches zwischen die einzelnen Blocks gestopft war, an einer Stelle zu entfernen. Es gelang. Als ich nun hinausblickte, sah ich, daß er eine tiefe Grube anfertigte - der Bär hatte, bevor er in die Hütte kam, meine Mutter überfallen und zerrissen. Ich hab' nicht einmal gesehen, wie Vater sie zur Ruhe gebettet hat, denn er überraschte mich beim Lauschen und sorgte dafür, daß ich nicht wieder an die Wand gelangen konnte.«

»Schrecklich, schrecklich!« sagte Jemmy, indem er sich mit dem Aermel seines Pelzes die Augen wischte.


Ende des fünften Teils - Fortsetzung folgt.



Karl May: Der Sohn des Bärenjägers