Lieferung 55

Karl May

12. September 1885

Der verlorne Sohn
oder
Der Fürst des Elends.

Roman aus der Criminal-Geschichte.


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»Wenn man so nahe steht, daß man sogar unter die Schaukel greifen kann, dann ist eine optische Täuschung gar nicht möglich.«

»Dann ist es um Deine Physik sehr schlecht bestellt. Es gehört gar kein Newton oder Humbold dazu, dieses Kunststück zu begreifen.«

»Also ein Kunststück ist es doch?«

»Ja freilich!«

»Der Unterkörper ist vorhanden?«

»Ja.«

»Aber man fühlt ihn ja nicht unter der Schaukel!«

»Weil er sich hinter derselben befindet.«

»Unmöglich! Man kann doch nicht einen lebenden menschlichen Körper zerschneiden und die obere Hälfte auf die Schaukel stellen, die untere aber hinter dieselbe bringen.«

»Von einem Zerschneiden ist gar keine Rede. Natürlich liegt es in meinem Interesse, daß kein Mensch erfahre, in welcher Weise das Kunststück zu Stande kommt, Dir aber kann ich es erklären.«

»Ich bitte Dich wirklich sehr darum! Deine Tau-ma ist also wohl eine vollständige, regelrecht gewachsene und ausgebildete Person?«

»Ja. Ein jedes Frauenzimmer kann als Tau-ma auftreten. Denke Dir eine kleine, schmale aber sehr tiefe Bühne, in deren äußerstem Vordergrunde eine gewöhnliche Schaukel hängt, ein Bretchen mit Schnuren oder Ketten. Die Bühne an sich mit schwarzem Tuche tapezirt und vollständig unerleuchtet, also dunkel. Der vordere Theil aber, da, wo sich die Schaukel befindet, ist sehr hell erleuchtet, wozu sogar scharfe Reflectoren verwendet werden, damit auf die Schaukel, aber auch nur auf sie, ein recht grelles Licht falle. Ebenso hell erleuchtet ist der Zuschauerraum. Was wird nun die Folge dieser großen Helligkeit der vorderen Parthie sein?«

»Daß die hintere Parthie desto dunkler erscheint.«

»Richtig. Es ist ganz unmöglich, zu sehen, was sich hinter der Schaukel befindet.«

»Ah! Dort also befindet sich der Unterkörper!«

»Ja.«

»Aber wie? In welcher Lage.«

»Sehr einfach: Es ist nicht nur eine Schaukel da, sondern es sind deren zwei vorhanden, eine vordere, welche grell beleuchtet ist, und eine hintere, welche man des tiefen Dunkels wegen nicht zu erblicken vermag. Auf der vorderen liegt der Ober-, auf der hinteren aber der Unterkörper.«

»Da müssen die Zuschauer aber doch sofort bemerken, daß der Oberkörper nicht auf der Schaukel steht, sondern auf ihr liegt. Sie werden also den Unterkörper nicht unter, sondern hinter ihr suchen, und dann ist das ganze Geheimniß verrathen.«

»Langsam, langsam! Daran haben wir gar wohl gedacht. Wir haben eine höchst einfache Vorrichtung erfunden, durch welche das Publikum auf das Vollständigste getäuscht wird. Wir befestigen nämlich auf die vordere, hell


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erleuchtete Schaukel eine künstliche Taille, eine - will ich sagen - eine ausgestopfte Schnürbrust, ein massives Corset. Die Tau-ma nimmt nun auf der hinteren Schaukel Platz. Ihr Oberkörper ist entblößt, ihr Unterkörper aber schwarz umhüllt. Sie streckt sich so weit vor, daß ihr Busen das ausgestopfte Corset erreicht, legt ihre beiden Brüste hinein, richtet den Kopf empor und ergreift mit den Händen die Schnuren der Schaukel. Verstehst Du es nun?«

»Ja. Verteufelt scharfsinnig!«

»O nein, sondern verteufelt einfach! Da vorn Alles erleuchtet ist, so tritt ihr Gesicht, ihr Hals, ihre Brust, und so treten auch ihre Arme, von hellem Puder unterstützt, so scharf hervor, daß man von dem anderen Theile ihres Körpers unmöglich Etwas bemerken kann. Man hält das ausgestopfte Corset für ihren wirklichen Oberkörper, der auf der Schaukel sitzt. Es ist gar nicht möglich, anders zu denken, denn man darf ja die Tau-ma befühlen. Man fühlt Kopf, Arme, Schultern und Busen; man hält es also gar nicht für möglich, getäuscht zu sein.«

»Eine raffinirte Schlauheit! Da läßt sich allerdings begreifen, daß diese Tau-ma ißt und trinkt und auch alles Andere macht.«

»Je schöner die Person ist, desto besser. Die Körperparthie, welche zu sehen ist, also vom Scheitel bis zum Busen, muß tadellos geformt sein. Besonders muß die Brust diejenige Ueppigkeit besitzen, welche zur Erreichung der nothwendigen Täuschung nöthig ist. Meine Tau-ma war diesen Ansprüchen gewachsen. Wo aber finde ich Ersatz für sie?«

»Es giebt ja Mädchen genug!«

»Aber wenige, wie ich sie brauche.«

»Du erhebst wohl Extraansprüche?«

»Ja, und zwar zu meiner Sicherheit. Im gewöhnlichen Comödiantenvolke finde ich keine Tau-ma, wie ich sie brauche. Abgenutzte Schönheiten nützen mir nichts, und ein frecher, vorlauter Charakter bringt mich nur in Gefahr. Ich suche ein schönes, üppiges, sanftes Mädchen, welches möglichst sich noch nie in dieser Sphäre bewegt hat. Erblickt der Zuschauer ein reines, keusches Gesicht, sanfte, verschleierte, nicht herausfordernde Augen, und hört er Antworten, welche ihm die Gewißheit geben, daß er es hier mit einem unverdorbenen Wesen zu thun hat, so ist die Wirkung des Kunststückes verzehnfacht, die Einnahme vervielfacht sich ebenso, und Niemand getraut sich, die Erscheinung so unzart und zudringlich zu betasten und zu untersuchen, daß eine Entdeckung zu befürchten steht. Blond muß sie auch sein, weil helles Haar von dem Dunkel des Hintergrundes besser absticht als braunes oder schwarzes. Du siehst also, wie schwer es für mich ist, wieder eine Tau-ma zu finden!«

»Und doch mußt Du eine haben?«

»Ja.«

»Brauchst Du diese Einnahme so nöthig?«

»Nein. Ich kann ohne sie recht gut auskommen; aber wenn ich jährlich mit diesem 'größten Wunder der Welt' so viele Tausende mehr verdienen kann, wäre es doch höchst albern, wenn ich auf eine solche Einnahme ver-


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zichten wollte. Kennst Du nicht vielleicht eine Person, welche sich eignen würde?«

»Hm! Deine Ansprüche sind zu groß. Ein braves, reines, unbescholtenes Mädchen, welches sich demnach zu einer solchen Schaustellung hergiebt, sich Kopf, Schultern, Hals, Brust und Arme entblößen und vom Publikum betasten und untersuchen läßt - fast unmöglich!«

»Nicht unmöglich, sondern nur schwierig. Es giebt nämlich eine strenge Herrin, unter deren Sclavinnen ich hundert brauchbare Tau-ma's finden könnte.«

»Wer wäre das?«

»Die Noth.«

»Da hast Du allerdings recht. Und Noth giebt es überall.«

»Am allermeisten in großen Städten. Ich kam nach hier, um mir eine Tau-ma zu suchen.«

»So suche in den armen Stadttheilen, auf Hintergebäuden, bei armen Beamten, welche nicht das trockene Brod verdienen, sondern bei zwanzig Gulden sich - - - oh, bei diesen zwanzig Gulden denke ich - - - hm!«

»Woran?«

»An eine arme Beamtenfamilie, welche - - Sapperment, diese Emilie Werner wäre ein Prachtstück für Dich!«

»Was ist ihr Vater?«

»Er ist mein Theaterdiener.«

»Wieviel Gehalt?«

»Zwanzig Gulden.«

»Wie viel Köpfe zu ernähren?«

»Weit über zehn.«

»Mit zwanzig Gulden monatlich? Das ist ein viel, viel größeres Kunststück als meine Tau-ma! Ist sie hübsch?«

»Sogar schön.«

»Voll?«

»Genugsam. Wenn sie sich satt essen könnte, würde sie sogar üppig sein.«

»Bei guter Büste?«

»Da bleibt nichts zu wünschen.«

»Hängt sie sehr an den Eltern?«

»Ich glaube.«

»Hat sie einen Geliebten?«

»So weit kenne ich die Verhältnisse nicht.«

»Wenn ich sie einmal sehen könnte!«

»Das kannst Du. Und zwar sollst Du sie so sehen, daß Du vollständig orientirt sein kannst, nämlich fast ganz entkleidet.«

»Wie willst Du das fertig bringen, wenn sie, wie Du sagst, ein braves Mädchen ist?«

»Das laß meine Sorge sein. Ihr Vater befindet sich jedenfalls draußen im Vorzimmer. Er darf Dich jetzt nicht sehen. Tritt einmal da in das


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Nebenzimmer! Wenn Du die Thür ein Wenig offen läßt, wirst Du hören, was ich mit ihm zu besprechen habe.«

Der Kunstreiter entfernte sich. Sein Bruder klingelte. Jean, der Diener, trat ein.

»Ist Werner da?«

»Ja, gnädiger Herr.«

»Soll eintreten!«

Jean drehte sich um, blieb einen Augenblick lang stehen und machte wieder Rechtsumkehrt.

»Gnädiger Herr!« sagte er.

»Was giebt es noch?«

»Dieser Werner hat einige Male um Gehaltszulage angehalten, wie ich hörte?«

»Ja. Was soll das hier.?«

»Ich war in seiner Wohnung. Es war fürchterlich. Kopf an Kopf. Er braucht es wirklich!«

»Mache keinen Unsinn. Zulage zu vergeben ist nicht Deines Amtes; darum laß Deinen Vorwitz.«

»Der Executor war bei ihm!«

»Woher weißt Du das?«

»Er hat es mir soeben erzählt. Er weinte dabei.«

»Mensch, ich glaube, aus Dir ist ein altes Weib geworden! Seit wann hast Du Dir denn ein so mitleidiges Herz angeschafft? Ich habe es bei Dir nie bemerkt.«

»Das will ich aufrichtig sagen. Er glaubt, daß meine Fürbitte vom Vortheil sei und hat mir für drei Jahre lang die Hälfte der Zulage versprochen, die er bekommt.«

»Alle Teufel, bis Du aufrichtig!«

»Ich würde aber dieses Geld gar nicht annehmen,« fuhr Jean unbeirrt fort. »Ich brauche es nicht, denn ich habe einen gütigen Herrn; er aber hat es desto nöthiger. Zweiunddreißig Gulden Steuern schuldig und ein halbes Jahr Miethzins. Er soll nächstens gerichtlich herausgeworfen werden.«

»Erzählte er auch das?«

»Ja.«

»So hat er kein Ehrgefühl.«

»Vom Ehrgefühl bezahlt man weder Hauszins noch Steuern, gnädiger Herr! Dazu Arzt und Apotheke!«

»Mache, daß Du fortkommst! Ich mag nichts weiter hören. Er soll eintreten! Marsch hinaus!«

Jean schickte den Theaterdiener herein. Dieser grüßte sehr unterwürfig und wartete die Anrede ab.

»Ich höre, daß Deine Frau krank ist?« fragte der Intendant, welcher es für gerathen hielt, diplomatisch vorzugehen.

»Sehr!« lautete die Antwort.


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»Ist es gefährlich?«

»Der Arzt macht mir Sorge.«

»Hm! Und ausgepfändet bist Du worden?«

»Ich kann es nicht leugnen.«

»Und aus der Wohnung sollst Du geworfen werden?«

»Leider!«

»Aber Mensch, wie kann man es so weit kommen lassen?«

»Wenn ich die Steuern und den Zins von meinem Gehalte abziehe, kommt auf die Person meiner Familie noch nicht ganz ein halber Gulden pro Monat!«

Mit diesen einfachen Worten hatte er das ganze jammervolle seiner Lage bezeichnet.

»Deine Leute mögen nebenbei arbeiten!« rieth der Intendant.

»Das thun sie auch, sonst wären wir bereits verhungert!«

»Du bist einige Male wegen Zulage eingekommen. Das geht nicht so schnell. Wollen sehen, ob es nächstes Jahr möglich ist, Dir Etwas mehr zu zahlen, jetzt aber geht es nicht an. Aber eine Kleinigkeit zu verdienen, dazu bietet sich heute gleich eine passende Gelegenheit.«

»Ich werde sie mit Freuden ergreifen!«

»Ich hoffe es! Hast Du gehört, daß die Bellmann ganz plötzlich unwohl geworden ist?«

Werner erbleichte. Er ahnte, was nun kommen werde, und vergaß in seiner Bestürzung, eine Antwort zu geben.

»Nun?« fragte der Intendant.

»Ich habe es nicht erfahren.«

»Sie kann leider heute nicht auftreten, heute, da gerade der Stern des Harems gegeben wird. Hat vielleicht Deine Tochter Zeit?«

»Sie hat sehr nothwendig, Herr Intendant.«

»Was denn?«

»Sie strickt Seelenwärmer und muß morgen abliefern. Sie muß die Nacht hindurch arbeiten.«

»Sie mag übermorgen abliefern.«

»Das geht nicht. Sie würde ihre Arbeit einbüßen.«

»Aber ich brauche sie! Sie ist gerade geeignet, die Stelle der Bellmann zu ersetzen.«

»Gnädiger Herr, meine Tochter ist nicht engagirt,« wagte Werner zu bemerken.

»Aber Du!«

»Sie steht zur Bühne in keinem Verhältnisse.«

»Desto mehr Du!«

»Sie besitzt keine Routine, keine Uebung, keine Begabung!«

»Ist hier auch nicht nöthig!«

»Sie kennt übrigens auch das Stück gar nicht!«


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»Auch das wird nicht verlangt. Sie hat sich in malerischer Haltung auf den Divan zu legen. Das ist Alles.«

»Und dennoch möchte ich ganz ergebenst ersuchen, dies von meinem Kinde nicht zu verlangen!«

Da zog der Intendant die Stirn in Falten und sagte:

»Aus welchem Grunde?«

»Ich kenne dieses Stück. Die Lieblingssultanin erscheint in einer Weise, welche - - -«

Er stockte.

»Nun, welche - -?«

»Welche für Emilie unmöglich sein würde.«

»Ach was gar! Was die Bellmann kann, das kann Deine Tochter auch. Sie ist doch keine Gräfin!«

»Herr Intendant, bitte, haben Sie Mitleid mit ihr und mit mir!«

»Mitleid wäre hier sehr am unrechten Orte. Du willst Zulage haben und weigerst Dich, mich aus einer solchen Verlegenheit zu reißen, obgleich es Dir so außerordentlich leicht wäre. Einen solchen Theaterdiener kann ich nicht gebrauchen. Jeder Andere würde es für eine Ehre halten, seinem obersten Vorgesetzten behilflich sein und nebenbei seine Tochter bewundert sehen zu können.«

»Es hat nicht jeder dieselben Ansichten über diese Bewunderung, Herr Intendant.«

»So mache ich Dich auf Deinen Contract aufmerksam!«

»Ich habe in demselben nicht gefunden, daß ich meine Kinder zur Verfügung zu stellen habe.«

»Wörtlich allerdings nicht; aber ein Paragraph verlangt, daß Du in jeder Beziehung die Bemühungen Deiner Vorgesetzten zu unterstützen hast. Nun, dies ist heute der Fall, und dies wird heute von Dir verlangt.«

Werner blickte verlegen vor sich nieder. Er wußte nicht, was er sagen sollte.

»Ferner,« fuhr der Intendant fort, »steht in dem Contracte, daß ich bei offenbarer Gehorsamsverweigerung das Recht habe, Dich augenblicklich zu entlassen.«

»Gnädiger Herr, das werden Sie nicht thun!« rief der Ärmste voller Angst.

»O, gerade das werde ich thun; verlaß Dich darauf! Ich habe dafür zu sorgen, daß das Stück in würdiger Weise über die Bretter geht. Eine andere Rücksicht darf ich nicht walten lassen. Nun also, ja oder nein!«

Die Lippen Werner's bebten. Er mußte sich die größte Mühe geben, seine Thränen zurückzuhalten.

»Werden Sie mich wirklich entlassen, wenn Emilie Ihrer Forderung nicht entspricht?« fragte er.

»Unweigerlich und auf der Stelle! Ich gebe Dir hiermit mein Ehrenwort darauf!«


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»Mein Gott! Wie soll ich sie dazu bringen!«

»Du bist Vater; Du hast zu befehlen; mache von diesem Rechte Gebrauch!«

»Es ist so hart und schwer!«

»Larifari! Uebrigens sollst Du dafür eine Gratification erhalten!«

Da trat Werner einen Schritt näher, faltete die Hände und fragte unter zurückgehaltenem Schluchzen:

»Gnädigster Herr, ist es gar nicht möglich, daß uns dies erlassen werde?«

»Nein. Lassen wir alle Weiterungen! Willst Du, oder willst Du nicht.«

»Ich - muß!« stieß Werner hervor.

»So eile nach Hause und schicke das Mädchen zum Regisseur. Er befindet sich auf der Bühne und wird ihr die erforderliche Anleitung geben.«

Werner wankte hinaus. Es war ihm, als sei er einer Abtheilung der Folterkammer entstiegen, um in eine andere geschleppt zu werden. Seine Beine wankten, seine Kniee zitterten. Er lehnte sich unten im Flur an die Wand und schluchzte:

»Mein Kind, mein liebes, gutes, reines Kind! Wie soll ich, Dein Vater, Dir sagen, was von Dir verlangt wird. Und doch wirst Du es thun, um uns vom Verhungern zu erretten. O Gott, o Gott, ich möchte sterben, wenn ich nicht gezwungen wäre, für die Meinen zu leben!«

Und oben trat der Kunstreiter lachend aus dem Nebenzimmer und sagte:

»Mensch, weißt Du, was Du bist?«

»Nun, was denn?«

»Ein Teufel, ein Satan, ein Belial!«

»Hast Du alles gehört?«

»Jedes Wort.«

»Und Du tadelst mich?«

»Fällt mir gar nicht ein. Ich tadle Dich nur in dem Falle, wenn das Mädchen nicht so schön ist, wie Du gesagt hast. Paßt sie mir aber, so hast Du an dem Alten Dein Meisterstück gemacht, wie ich es an seiner Tochter machen werde.«

»Du glaubst, sie herumkriegen zu können?«

»Gewiß!«

»Aber Du hast gehört, wie sich der Vater sträubt sie auf die Bühne zu lassen? Was würde er sagen, wenn Du ihm mittheilst, daß sie die Tau-ma machen soll!«

»O Du riesengroßer Dummhut Du! Meinst Du wirklich, daß ich ihm das sagen werde?«

»Nicht?«

»Fällt mir gar nicht ein! Habe ich sie aber erst einmal fest, so heißt es einfach: sie muß.«

»Wie aber willst Du sie bekommen?«

»Mit Hilfe der Herrin, von welcher ich vorhin sprach, der Noth. Dein Untergebener befindet sich in verteufelt mißlichen Verhältnissen. Wenn ich den Retter spiele, fällt mir sein Vertrauen zu.«


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»Dann darf er aber keinesfalls erfahren, daß wir uns kennen oder gar, daß Du mein Bruder bist.«

»Bitte, bitte, belehre nur mich nicht! Ich weiß ganz genau, wie ich solche Leute zu nehmen habe. Hauptsache ist natürlich, zu sehen, ob sie wirklich werth ist, daß man sich Mühe giebt.«

»Du wirst in hohem Grade befriedigt sein. Wir wollen aufbrechen, weil es nothwendig ist, den Regisseur zu unterrichten, bevor das Mädchen kommt.«

Einige Minuten später schritten sie dem Theater zu. Im Innern desselben befanden sich nur zwei Menschen, der Regisseur und seine Frau, welche auch Schauspielerin war. Er trat dem Intendanten neugierig entgegen.

»Hat es Kampf gekostet, gnädiger Herr?« fragte er.

»Ja, aber ich habe Gehorsam gefunden. Das Mädchen wird kommen. Aber - hm! - ich und dieser Herr hier möchten ungesehen beobachten, wie sie ihre Rolle auffaßt. Wir werden hinter die Prospectgardine treten. Natürlich wird sie sich sträuben, so decolletirt, wie es verlangt wird, die Probe zu machen. Ich aber muß darauf bestehen.«

»Wollen wir es ihr nicht für jetzt erlassen?«

»Nein. Muß sie jetzt, so fällt es ihr heut Abend leichter. Ihre Frau mag sie entkleiden, und Sie können ja mit Ihren Augen so schonend wie möglich sein. Schaffen Sie also den Divan herein. Ich verlange, daß sie, nur an den Hüften vom Schleier bedeckt, volle zehn Minuten auf dem Divan liegen bleibt. Das ist das beste Mittel, dieses dumme Schamgefühl zu tödten. Wir ziehen uns jetzt hinter die Prospectgardine zurück. Lassen Sie nicht ahnen, daß Lauscher da sind!«

Er nahm seinen Bruder bei der Hand und führte ihn nach dem hinteren Theile der Bühne, welche jetzt den inneren Theil eines muhammedanischen Hauses vorstellte. Dort befand sich in der Gardine eine vingirte Thüröffnung, hinter welcher die Beiden, nachdem sie sich zwei Stühle besorgt hatten, Posto faßten.

Sie hatten nicht sehr lange zu warten, so stellte die Tochter des Theaterdieners sich ein. Sie war durch den nur für die Bühnenmitglieder reservirten und für diese stets offenen Eingang gekommen. Der Regisseur empfing sie mit freundlichem Gruße.

»Sie wissen, um was es sich handelt, Fräulein Werner?« fragte er.

Sie war blaß. Man sah es ihr an, daß sie geweint habe.

»Ja,« antwortete sie. »Vater hat es gesagt.«

»Sie sollen die Parthie der Lieblingsfrau des Sultans übernehmen.«

»Ist sie schwer?«

»Nein, gar nicht.«

»Habe ich zu sprechen?«

»Kein Wort. Wäre dies der Fall, so dürfte ich es wohl nicht wagen, Ihnen diese Rolle anzuvertrauen. Das Lampenfieber würde Ihnen und somit auch uns und der ganzen Vorstellung gefährlich werden. Aber zu einer kleinen Probe werden Sie sich dennoch verstehen müssen.«


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»Was habe ich zu thun?«

»Sie haben hier auf diesem Divan Platz zu nehmen, möglichst in schöner, ansprechender Haltung, und dabei so zu thun, als ob Sie Ihr Nargileh rauchten.«

»Was ist das?«

»Nargileh heißt Wasserpfeife. Es wird nämlich auch in den Harems, also von Frauen, geraucht.«

»Wenn ich weiter nichts zu thun habe, so ist eine Probe doch wohl nicht nöthig, Herr Regisseur.«

»O dennoch. Wir müssen die erforderliche Körperlage suchen und einüben und auch sehen, wie der Schleier um Ihre Hüften zu drapiren ist.«

»Um die Hüften?« fragte sie erstaunt.

»Ja, gewiß.«

»Einen Schleier trägt man doch nur im Gesicht!«

»Für gewöhnlich. Im Harem aber ist es anders. Die muhammedanischen Frauen haben nämlich fast weiter nichts zu thun, als sich alle mögliche Mühe zu geben, ihren Männern zu gefallen. Sie müssen zeigen, daß sie schön sind, und das können sie am Besten, wenn sie im Harem möglichst alle überflüssigen Kleider entfernen: Sie zeigen sich als lebende, reizende Statuen der Göttin der Liebe, nur in einen durchscheinenden Schleier gehüllt.«

»Ohne Kleider?« fragte sie voller Angst.

»Ja.«

»Auch ich soll unbekleidet sein?«

»Gewiß.«

»Das kann ich nicht! Das ist mir unmöglich! Das bringe ich nicht fertig.«

»Warum nicht? Es ist ja so leicht!«

»Ich - ich - ich schäme mich zu Tode!«

»Das denken Sie nur! Uebrigens meine ich ja nicht, daß Sie nackt sein werden. In gewissem Sinne werden sie bekleidet sein, sogar am ganzen Körper. Sie werden natürlich Trikots anlegen.«

»Und wie lange soll ich hier auf dem Divan liegen?«

»Zwei Acte lang.«

»Mein Gott! Und alle die Zuschauer werden auf mich sehen! Giebt es denn wirklich keine Andere, welche das übernehmen kann?«

»Leider nicht!«

»Ich werde vor Scham vergehen!«

»Sie brauchen sich nicht zu schämen. Sie sind ja ganz und gar nicht häßlich!«

»O, ich wollte, ich wäre häßlich, so häßlich, daß kein Mensch mich ansehen möchte! Der Herr Intendant weiß gar nicht, welche Aufgabe er mir da gestellt hat!«

»Aber, er hat es befohlen, und wir müssen gehorchen. Hier ist meine


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Frau, welche Ihnen behilflich sein wird. Gehen Sie mit ihr nach der Damengarderobe. Ich werde hier warten, bis Sie fertig sind.«

Die Frau des Regisseurs bemächtigte sich des armen Mädchens und ging mit demselben ab.

»Nun,« flüsterte der Intendant seinem Bruder zu, »wie gefällt sie Dir?«

»Reizendes Kind!«

»Nicht wahr?«

»Ihre Formen versprechen etwas. Bin sehr neugierig, wie sie sich in den Tricots ausnehmen wird.«

»Du wirst zufrieden sein.«

Sie warteten schweigend. Von der Seite her, wo die Damengarderobe lag, wurden unterdrückte Stimmen hörbar. Die eine klang aufgeregt, bittend und klagend, die andere zuredend, begütigend, beruhigend. Erst nach längerer Zeit trat die Schauspielerin auf die Bühne.

»Nun, fertig?« fragte ihr Mann.

»Ja,« antwortete sie.

»Wo ist sie denn?«

»Dort!«

Sie deutete zwischen die Coulissen hinein, wo Emilie stand.

»So kommen Sie doch, Fräulein!« rief er.

»Ich - ich kann nicht!« erhielt er als Antwort.

»Es geht schon, es geht, versuchen Sie es nur!«

Sie trat einige Schritte näher, dann aber blieb sie wieder stehen.

»Bitte, bitte!« sagte er ungeduldig.

»Ach Gott! Erlassen Sie es mir doch!«

»Das ist unmöglich! Warum verstecken Sie sich hinter die Coulissen! Ich verspreche Ihnen, Sie möglichst wenig anzusehen. Angreifen werde ich Sie ja gar nicht.«

Sie versuchte es. Sie trat zwischen den Coulissen hervor. Sie war nur in fleischfarbenen Tricots. Um ihre vollen Hüften schlang sich ein äußerst dünner Schleier.

»So ist's recht!« sagte er. »Nur näher, immer näher!«

Sie wollte gehorchen. Sie that einen Schritt vorwärts, da sah sie seine Augen auf sich gerichtet. Sie legte die beiden Hände auf den Busen und rief:

»Nein, nein! Es geht nicht!«

Sie wollte sich umwenden, um zu fliehen. Da aber war er auch schon neben ihr, vor ihr. Er versperrte ihr den Weg, ergriff sie beim Arme und sagte in strengem Tone:

»Machen sie keine Dummheiten! Ich lasse es mir gefallen, wenn eine Dame zurückhaltend ist; gar zu viel aber ist eben gar zu viel!«

Sie versuchte, ihren Arm zu befreien; er aber hielt sie fest. Er sah ein, daß er sie nicht fliehen lassen dürfe.

»Lassen sie mich! Lassen Sie mich fort!« bat sie.

»Nein, nein! Kommen sie! Da ist der Divan!«


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Er schob sie hin. Sie schloß die Augen und gehorchte. Er drückte sie auf das Polster nieder.

»So!« sagte er. »Nun habe ich Sie doch angreifen müssen. Daran sind Sie selbst schuld. Wenn Sie wollen, daß ich Sie nicht mehr berühren soll, so fügen Sie sich! Ihre Stellung ist unschön, unpassend. Ziehen Sie doch die Beine herauf. Die Haltung, welche Sie zeigen, muß eine vollständig ungezwungene sein.«

Sie versuchte, zu gehorchen. Hinter der Prospectgardine stieß der Intendant seinen Bruder an und flüsterte:

»Sapperment! Siehst Du?«

»Ja, ja!«

»Sie ist noch schöner, als ich dachte!«

»Ja. Ein reizendes Geschöpf!«

»Wird sie eine gute Tau-ma abgeben?«

»Eine famose sogar! Sie ist unvergleichlich! Ah!«

Es war ihr doch nicht gelungen, ihrem Körper die von dem Regisseur gewünschte Lage zu geben. Dieser sagte:

»Nicht so ängstlich! Sie dürfen mit Ihren Formen nicht kargen. Sie müssen freigebiger sein. Stützen Sie sich mit dem Ellbogen auf das Kissen und richten Sie den Oberkörper ein wenig empor. Die Büste muß mehr hervortreten. Sie müssen plastischer sein! Mehr, noch mehr, viel mehr!«

In seinem Eifer faßte er ihren Arm, um ihn in die erforderliche Lage zu bringen. Sie zuckte bei dieser Berührung zusammen. Sie hatte die Augen geschlossen gehalten; jetzt öffnete sie dieselben. Sie ließ den Blick an sich herabgleiten und schnellte dann, über und über erglühend, von ihrem Sitze empor.

»Was ist's? Warum bleiben Sie nicht?« rief er ärgerlich.

»Es ist mir unmöglich!«

»Dummheit! Bleiben Sie!«

»Nein, nein!«

»Setzen Sie sich! Gleich setzen Sie sich wieder!«

Er griff nach ihr. Sie aber riß sich los.

»Lieber will ich sterben!«

Mit diesem Rufe eilte sie fort, zwischen die Coulissen hinein, nach der Garderobe zurück.

»Verdammte Ziererei!« sagte der Regisseur. »Geh, Frau, hole sie wieder!«

Sie ging, kam aber bald zurück und meldete:

»Ich kann nicht zu ihr.«

»Warum?«

»Sie hat die Garderobenthür von innen verriegelt.«

»Dann werde ich sie selbst holen.«

Er ging. Man hörte ihn klopfen und rufen. Es war vergebens, denn er kehrte zurück und kam hinter die Prospectgardine zu den zwei Brüdern.

»Was soll ich machen, Herr Intendant?« fragte er.


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»Sie zwingen!«

»Aber wie? Womit?«

»Drohen Sie ihr mit der Entlassung ihres Vaters.«

»Ich zweifle sehr, daß dies helfen wird. Solche Prüderie ist hier zwar ganz am unrechten Orte, aber sie liegt doch in der weiblichen Natur. Und gegen die Natur läßt sich eben nur schwer ankämpfen.«

»Versuchen sie nur! Sie muß gehorchen.«

Nach einiger Zeit kehrte Emilie vollständig angekleidet zurück. Sie sagte in bittendem Tone:

»Ich möchte dem Vater gern gehorchen, Herr Regisseur, aber man verlangt das Unmögliche von mir.«

»Warum ist es Anderen nicht unmöglich!«

»Das begreife ich nicht.«

»Es kann doch nicht so schwer sein, sich hier einfach auf den Divan zu legen.«

»Es ist schwerer als alles Andere. Bitte, lassen Sie mich gehen!«

»Nein, ich kann Sie nicht fort lassen. Bleiben Sie! Legen Sie die Kleider wieder ab!«

»Nun nicht wieder,« antwortete sie entschlossen. »Ich habe gesehen, daß ich diese Rolle nicht auf mich nehmen kann!«

»Aber Sie müssen! Wir haben keine Andere!«

»Es muß sich eine Andere finden. Ich kann nicht!«

»Aber bedenken Sie die Folgen!«

»Sie können nicht so schlimm sein wie die Rolle selbst!«

»Meinen Sie? Wie nun, wenn Ihr Vater entlassen wird, Fräulein Werner!«

»Das wird man nicht thun!«

»Vielleicht doch!«

»Er ist unschuldig. Er hat nichts gethan, was seine Entlassung rechtfertigen könnte.«

»Er nicht, aber Sie!«

»Man hat ja gar kein Recht, von mir zu verlangen, daß ich mit auftrete.«

»Man hat das Recht, solche Aushilfe von Ihrem Vater zu verlangen.«

»So mag man mir eine Rolle geben, die ich auch wirklich übernehmen kann. Diese aber spiele ich auf keinen Fall!«

»Wirklich?« ertönte es hinter ihr.

Sie drehte sich schnell um und erblickte den Intendanten, welcher von seinem Ärger herbeigetrieben worden war.

»Der Herr Intendant!« sagte sie erschrocken.

»Ja, ich selbst bin da!«

»Sie haben mich belauscht!«

Bei dem Gedanken, daß er sie so ohne Hülle gesehen habe, traten Thränen der Scham in ihre Augen.


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»Ja, ich habe Sie beobachtet,« antwortete er in strengem Tone. »Was fällt Ihnen denn eigentlich ein, daß Sie ohne alle Ursache davonlaufen?«

»O, es ist wohl nicht ohne alle Ursache!«

»Sie sind ein dummes, albernes Ding! Gleich kehren Sie nach der Garderobe zurück, um sich wieder auszuziehen!«

Sie hatte vor dem obersten Vorgesetzten ihres Vaters allen Respect, aber die rücksichtslosen Worte, deren er sich bediente, benahmen ihr alle Verlegenheit.

»Ob das, was Sie albern nennen, wirklich albern ist, will ich nicht entscheiden,« sagte sie. »Ich weiß blos, daß ich Ihrem Befehle nicht gehorchen kann.«

»Ich werde Sie zwingen!«

»Womit?«

»Wenn Sie nicht augenblicklich gehorchen, werde ich Ihren Vater fortjagen!«

»Das können Sie nicht!«

»Das kann ich, und das werde ich!«

Sie sah es ihm an, daß er wirklich entschlossen war, es zu thun; aber sie dachte jetzt nicht an die Folgen dieses Unglückes, sie gehorchte nur der Regung ihres Herzens.

»Dann werden Sie uns ins Elend stürzen,« sagte sie; »aber ich will lieber Hunger und alles Andere leiden, als das thun, was Sie verlangen. Adieu!«

Noch ehe man sie zurückhalten konnte, eilte sie von dannen. Der Regisseur folgte ihr schnell, konnte sie aber nicht mehr erreichen.

»Was ist nun zu thun?« fragte er, als er zurückgekehrt war, den Intendanten.

»Verdammte Ziererei!« stieß dieser zwischen den Zähnen hervor. »Nun stecken wir grad in derselben Verlegenheit wie zuvor!«

»Es wird uns nichts Anderes übrig bleiben, als nun doch eine der Statistinnen zu nehmen.«

»Allerdings. Aber dieser Werner soll es entgelten!«

»Wollen sie ihn wirklich entlassen?«

»Ganz gewiß!«

»Ich möchte doch lieber abrathen!«

»Warum?«

»Er hat den guten Willen gehabt, zu gehorchen. Er hat seine Tochter geschickt. Daß sie sich so obstinat zeigt, dafür wird er wohl kaum verantwortlich zu machen sein.«

»Meinen Sie? Oho! Er hat mir zu gehorchen und seine Tochter ihm. Hat er sie so schlecht erzogen, daß sie es wagen darf, zu widerstreben, so trifft eben ihn die Verantwortung.«

»Und doch gestatte ich mir die Meinung, daß es vorsichtiger sein würde, ihn nicht zu entlassen.«

»Vorsichtiger? Das klingt ja grad, als ob wir etwas zu befürchten hätten!«


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»Das ist es allerdings, was ich sagen will.«

»So sprechen Sie deutlicher!«

»Wie nun, wenn er sich nicht entlassen läßt?«

»Wie will er das anfangen?«

»Er kann den Rechtsweg betreten, und da ist es sehr leicht möglich, daß sich das Gericht für ihn entscheidet. Es fragt sich ja, ob wir so weit gehen können, ihn für die Weigerung seiner Tochter verantwortlich zu machen.«

»Selbst wenn Sie Recht hätten, kann man mich nicht zwingen, ihn in seiner Stellung zu belassen. Ich hätte ihm eine Monatsgage auszuzahlen, da er monatliche Kündigung hat. Zwanzig Gulden mehr oder weniger, was mache ich mir daraus!«

»Das weiß ich. Aber das Aufsehen!«

»Welches Aufsehen?«

»Wird er schweigen? Die Presse erfährt es. Man wird nicht nur davon sprechen, sondern vielleicht darüber schreiben. Man wird sagen, daß wir brave Töchter unserer Untergebenen zwingen, etwas zu thun, was gegen das natürliche Schamgefühl ist.«

»Das werden wir ruhig abwarten. Sollte man wirklich so etwas schreiben, so werden wir zu antworten wissen. Uebrigens möchte ich Sie wohl fragen, welchen Grund Sie haben, sich dieses Werners anzunehmen?«

»Ich spreche nur, weil ich es für meine Pflicht halte. Doch gestehe ich, daß mich der arme Teufel dauert.«

»Dieses Mitleid ist am unrechten Orte!«

»Vielleicht nicht so sehr, wie der Herr Intendant denken. Kennen Sie die Familienverhältnisse Werners?«

»Genau nicht.«

»Nun, er hat mit seinen zwanzig Gulden fast ebenso viele Mäuler zu sättigen. Dazu die schreckliche Krankheit, an welcher seine arme Frau leidet!«

»Schreckliche Krankheit? Ist sie denn krank?«

»Sogar unheilbar.«

»Davon weiß ich nichts!«

»Er spricht nicht davon. Er sucht es zu verheimlichen, und er hat alle Ursache dazu.«

»Was fehlt ihr denn?«

»Sie leidet am Krebse.«

»Am Krebse? Alle Teufel! Seit wann?«

»Seit einigen Jahren bereits.«

»Wo hat sie diese Krankheit?«

»Im Gesicht. Es ist überhaupt von einem Gesichte bei ihr nicht mehr die Rede. Alle Fleischtheile sind weggefressen.«

»Und das erfahre ich erst jetzt! Warum ist mir das nicht schon längst gemeldet worden?«

»Weil Niemand etwas Genaueres weiß. Ich selbst habe es erst gestern erfahren und auch nur durch reinen Zufall.«


// 1311 //

»Aber der Theaterarzt muß es wissen. Ich werde ihm einen Verweis geben, den er nicht einrahmen lassen wird. Eine so gefährliche, ansteckende Krankheit hätte er mir zu melden gehabt.«

»Er weiß nichts davon. Werner hat sich wohl eines anderen Arztes bedient.«

»Ach so! Hm! Nun, wir werden ja sehen! Also, suchen Sie sich unter den Statistinnen eine, welche sich wenigstens leidlich für die vacante Rolle eignet. Auf dieses alberne Fräulein Werner werden wir nun verzichten müssen.«

Er entfernte sich mit seinem Bruder. Dieser blieb, ehe sie in's Freie traten, hinter dem Eingange stehen und fragte:

»Wirst Du den Theaterdiener wirklich entlassen?«

»Ja, sicher.«

»Trotz den Bemerkungen, welche der Regisseur machte? Sie sind nicht ganz unbegründet?«

»Sie fallen hier gar nicht in's Gewicht. Du willst wohl vergessen, daß Werner's Frau den Krebs hat?«

»Was geht das Dich an!«

»Mich? Sehr viel! Ich kann nicht dulden, daß wir Alle täglich mit einer Person zu thun haben, welche eine höchst ansteckende Atmosphäre athmet. Diese Krankheit ist Grund genug, ihn augenblicklich zu entlassen.«

»Und das thust Du wirklich?«

»Ja.«

»Schön, schön! Ausgezeichnet!«

»Ah, das ist nach Deinem Sinne?«

»Ganz und gar!«

»Wieso?«

»Du arbeitest mir da vortrefflich in die Hände. Er sieht die Noth, das Elend, den Hunger vor der Thür. Wenn ich da als Retter erscheine, werde ich sehr leichtes Spiel haben.«

»Hm! Du willst sie wirklich engagiren?«

»Das versteht sich!«

»Aber sie wird es Dir ebenso machen wie mir!«

»Das weiß ich.«

»Was nützt sie Dir also? Du kannst sie nicht gebrauchen.«

»Keine Sorge! Ist sie einmal bei mir, so gehorcht sie.«

»Das bezweifle ich!«

»Pah! Ein Circusdirector hat ganz andere Mittel, sein Personal gefügig zu machen, als so ein armer Teufel von Theaterintendant. Natürlich liegt mir sehr daran, daß Werner seine Entlassung möglichst bald erfährt!«

»Er wird sie augenblicklich erfahren.«

»Du lässest ihn benachrichtigen?«

»Nein. Ich gehe sofort selbst zu ihm.«

»Du selbst?«


// 1312 //

»Ja. Es ist sehr nothwendig, mich selbst von der Gefährlichkeit der Krankheit seiner Frau zu überzeugen. Nur auf diese Weise kann ich erfahren, was ich am Besten thue. Gehe jetzt zu mir nach Hause. Ich werde Dir Bericht erstatten.«

»Danke! Selbst ist der Mann. Ich gehe auch zu Werner.«

»Was fällt Dir ein!«

»Keine Sorge! Ich werde nicht unvorsichtig sein. Natürlich gehe ich nicht mit Dir zu ihm. Ich werde das Terrain recognosciren, um zu erfahren, wie ich an ihn kommen kann. Gehe Du also voran. Ich folge Dir, um zu sehen, wo er wohnt.«

»Ganz, wie Du willst. Er wohnt da, wo Du mich eintreten siehst, vier Treppen hoch im Hinterhause. Ich bin neugierig, ob Du das Mädchen wegangelst.«

Er ging, und sein Bruder folgte ihm von Weitem.

Gegenüber dem betreffenden Hause lag auf der anderen Seite der Straße ein kleiner Materialwaarenladen von der Art, welche man gewöhnlich mit dem Namen Büdchen bezeichnet. Dieser Laden war mit einem Bier- und Schnapsausschank verbunden.

Hier trat, nachdem sein Bruder drüben im Eingange verschwunden war, der Kunstreiter ein. Er kaufte sich zum Scheine einige Cigarren und bemerkte dabei eine Nebenstube, in welcher einige Tische und Stühle standen.

»Ist das etwa ein Gastzimmer?« fragte er.

»Ja,« lautete die Antwort. »Ich habe zwar keine eigentliche Restauration, aber für Diejenigen, welche ein Bier oder einen Schnaps trinken wollen, muß doch ein Tisch und ein Stuhl dastehen.«

»So geben Sie mir auch ein Glas Bier!«

Er setzte sich in die Nebenstube, und zwar so, daß er die Thüre des gegenüberliegenden Hauses im Auge hatte.

Sein Bruder stieg indessen da drüben die vier Treppen empor, klopfte an und öffnete die Thür. Der Blick, den er in das Zimmer und auf die Bewohner desselben warf, sagte ihm, daß es soeben eine Scene gegeben habe. Emilie stand weinend vor ihrem Vater, welcher sich auch in tiefer Rührung zu befinden schien und beim Anblicke seines Vorgesetzten einen Ruf des Schreckes ausstieß:

»Mein Gott! Der Herr Intendant!«

»Ja, ich bin es,« sagte dieser, indem er hereinkam und die Thür hinter sich zuzog.

Werner beeilte sich, einen Stuhl anzubieten. Der Intendant aber wehrte ab und fragte in strengem Tone:

»Ihre Tochter hat Ihnen wohl bereits erzählt, was vorhin geschehen ist?«

»Ja.«

»Nun, was sagen Sie dazu?«

»Ich bedaure recht sehr, daß Emilie einen so großen Widerwillen gegen diese Rolle hat!«


// 1313 //

»Und ich bedauere noch mehr, daß Sie Ihre Kinder nicht besser erzogen haben!«

»Herr Intendant!«

»Ja, ja! Es ist ein schlimmes Zeichen, wenn ein Vater sich nicht Gehorsam zu verschaffen vermag. Sie bringen mich da in eine große Verlegenheit. Woher soll ich denn nun eine Sultanin nehmen?«

Es war ein schlimmes Zeichen für Werner, daß er sich mit »Sie« angeredet hörte. Dennoch nahm er sich den Muth zu der Bemerkung:

»Vielleicht giebt es Leute, welche Emilie nicht tadeln würden. Und ich hoffe, daß die Rolle doch noch zu besetzen ist.«

»Aber wie! Es fehlt ja an einer geeigneten Persönlichkeit. Aber - hm! - was haben sie hier für eine Luft! Das ist ein fürchterlicher, ein penetranter Geruch! Wer ist die verhüllte Person dort?«

Erst jetzt dachte Werner an die Gefahr, in welcher er schwebte. Er antwortete verlegen:

»Es ist meine Frau, sie leidet an Ohrenzwang.«

»Sie lügen! Ihre Frau hat den Krebs!«

Werner erschrak so, daß er zu antworten vergaß.

»Nun, habe ich Recht?« fragte der Intendant.

»Ja,« stöhnte der Theaterdiener.

»Sie geben also zu, mich belogen zu haben! Warum haben sie mich über diese Krankheit nicht benachrichtigt?«

»Ich glaubte nicht, Sie belästigen zu dürfen.«

»Belästigen? Von einer Belästigung kann nicht die Rede sein. Man kann nur von einer Verpflichtung sprechen. Es war Ihre Pflicht, mir zu melden, daß sich der Krebs in Ihrer Familie befindet. Wie alt ist die Krankheit?«

»Einige Jahre.«

»Und eine so lange Zeit haben Sie mich und Andere der fürchterlichen Gefahr der Ansteckung ausgesetzt! Welche Nachlässigkeit! Welch eine unverzeihliche Gewissenlosigkeit!«

»Herr Intendant!« bat Werner.

»Was noch!«

»Ich hatte Angst um meine Stelle!«

»Das glaube ich wohl. Ich bin auch ein Mensch; ich hätte zwar meine Pflicht thun müssen, aber ich hätte auch Ihre Armuth berücksichtigt. Jetzt nun haben Sie sich freilich eine solche Berücksichtigung verscherzt. Ich muß Sie entlassen.«

»Herrgott!«

»Ja, und zwar augenblicklich!«

»Das werden Sie nicht thun, gnädiger Herr!«

»Warum nicht, he?«

»Sehen Sie diese Familie! Ich wäre verloren!«


// 1314 //

»Daran sind Sie nur selbst schuld. Sie müssen doch einsehen, daß ich Sie nicht in Berührung mit meinem Personale kommen lassen darf!«

Werner blickte starr vor sich nieder. Er biß sich in die Lippe, um die Thränen zu besiegen. Dann bat er:

»Behalten Sie mich wenigstens so lange, bis ich eine andere Anstellung gefunden habe!«

Der Intendant lachte laut und höhnisch auf und antwortete:

»Da müßte ich Sie für immer behalten. Kein Mensch wird den Mann einer krebskranken Frau engagiren. Nein, nein! Sie haben fünf Gulden für diese Woche pränumerando erhalten. Sie sind entlassen und haben nichts mehr zu fordern!«

Da raffte sich Werner zu der Bemerkung auf:

»Herr Intendant, wir haben Kündigung!«

»Unter gewöhnlichen Verhältnissen, ja; in diesem Falle aber nicht.«

»Kein Mensch kann für Krankheit!«

»Richtig! Aber Sie haben diese Krankheit verheimlicht. Ich bleibe bei meiner Entscheidung und verbiete Ihnen, mir oder irgend einem meiner Untergebenen nahe zu kommen! Wer nicht hören will, der muß fühlen! Adieu!«

Er schritt stolz erhobenen Hauptes zur Thür hinaus.

Als er fort war, gab es eine Scene, welche unmöglich beschrieben werden kann, und es dauerte lange Zeit, ehe sich die Aufregung legte und die Thränen zu fließen aufhörten. Werner saß am Tische und hatte den Kopf in die Hand gestemmt. Es summte ihn um die Ohren. Er sann und sann, um auf einen rettenden Gedanken zu kommen, doch vergeblich.

Da trat Emilie zu ihm hin und fragte:

»Vater, denkst Du nicht, daß ein gutes Wort noch helfen würde?«

»Bei dem Intendanten?«

»Ja. Vielleicht hat er Mitleid.«

»Der und Mitleid! Nein. Er würde mich ganz einfach hinauswerfen lassen!«

»Wir dürfen trotzdem den Muth nicht sinken lassen. Vielleicht findest Du eine andere Anstellung.«

»Bei wem?«

»O, es giebt doch der Anstellungen so verschiedene.«

»Wer aber nimmt einen Mann, dessen Kräfte bereits von Anderen ausgebeutet worden sind?«

»Nun, so sind wir gezwungen, nach Arbeit zu suchen, anstatt nach einer Anstellung.«

»Was soll ich arbeiten?«

»Was sich Dir bietet. Wenn Du doch einmal in die Blätter sehen wolltest! Vielleicht steht etwas darin.«

»Möglich! Aber die Hilfe, welche mir nöthig ist, finde ich doch nicht.


// 1315 //

Steuern, Miethzins - Gott, ich habe so sehr viel zu bezahlen. Selbst wenn ich Arbeit finde, werde ich nicht sofort etwas verdienen.«

»Gott wird helfen, lieber Vater! Verzage nur nicht! Willst Du nicht in die Blätter sehen?«

Er nickte trüb vor sich hin.

»Du hast Recht. Thränen helfen nichts. Ich werde gehen, um nachzusehen.«

»Da drüben im Büdchen wird das Residenzblatt gelesen. Da kannst Du hineinsehen, ohne daß Du eine große Zeche zu machen brauchst.«

»Gut ich gehe!«

Er hatte keine Hoffnung, etwas Passendes zu finden. Dennoch folgte er dem Rathe seiner Tochter.

Der Kunstreiter saß noch drüben. Er hatte seinen Bruder gehen sehen, und war doch noch geblieben, um sich zu überlegen, wie er wohl am besten und unauffälligsten an Werner kommen könne. Da sah er ihn quer über die Straße herüberkommen. Er hörte ihn eintreten und grüßen. Der Wirth antwortete:

»Guten Tag, Herr Nachbar! Womit kann ich dienen?«

»Darf ich nicht einmal in das Blatt sehen?«

»Ja. Warten Sie ein Weilchen. Da drinnen sitzt ein Herr, welcher noch liest. Wenn er fertig ist, hole ich es heraus. Sie sehen ja recht verstimmt aus?«

»Ich habe auch alle Ursache dazu.«

»Es ist Ihnen doch nichts Böses widerfahren?«

»O doch! Ich habe meine Stelle verloren.«

»Nicht möglich!«

»Warum nicht? In dieser Welt ist Alles möglich. Nun will ich in das Blatt sehen, ob ich nicht vielleicht etwas Passendes finde. Aber wenn ich warten soll, so falle ich Ihnen hier beschwerlich. Ich will lieber auch hineingehen. Viel verzehren kann ich allerdings nicht. Geben Sie mir einen Schnitt Einfaches!«

Er kam herein, grüßte und setzte sich dann an den anderen Tisch, um zu warten.

Der Kunstreiter that so, als ob er in die Lectüre des Blattes vertieft sei, und schob erst nach einer Weile das Letztere von sich fort. Da bat Werner sich die Zeitung aus und begann zu suchen. Als er fertig war, konnte man ihm ansehen, daß er nichts gefunden habe.

Jetzt hielt der Kunstreiter es für an der Zeit, das Wort zu ergreifen, um Werner festzuhalten.

»Sie lasen gewiß den interessanten Aufsatz über die Tänzerinnen?« fragte er. »Alle Welt interessirt sich dafür.«

»Nein,« antwortete Werner. »Für mich hatte nur der Inseratentheil Interesse, obgleich ich den Fall mit den Tänzerinnen sehr gut kenne.«

»Ah, Sie kennen ihn? Wieso?«


// 1316 //

»Ich bin Theaterdiener, oder vielmehr, ich war es.«

»Theaterdiener? Etwa im Residenztheater?«

»Ja.«

»Das ist mir höchst interessant. Welche von den Beiden wird wohl siegen?«

»Jedenfalls die Leda.«

»Warum?«

»Sie besitzt Protection.«

»Ich wollte, ich könnte dieser interessanten Vorstellung beiwohnen; leider aber muß ich abreisen. Ich bin nämlich hier fremd. Fast beneide ich Sie.«

»O, dazu ist keine Veranlassung vorhanden!«

»Sie haben ja als Theaterdiener unmittelbar mit den beiden Damen zu thun.«

»Nun nicht mehr. Ich bin nicht Diener, sondern ich war es, wie ich bereits sagte.«

»Ah, Sie haben sich verabschiedet?«

»Nein, ich bin verabschiedet worden.«

»Wann?«

»Heute, vorhin.«

»Das wäre ja sonderbar. Es ist ja heute kein Monatswechsel.«

»Man hat mich ganz plötzlich fortgejagt,« meinte Werner in seinem bittersten Tone.

»Sie Ärmster! Welchen Fehler haben Sie denn begangen?«

»Gar keinen. Ich habe eine kranke Frau. Sie leidet an einem Uebel, welches man für ansteckend hält. Das ist die Ursache, daß man mich dem Hunger in die Arme wirft.«

»Dem Hunger? Wirklich?«

»Ja, ich bin arm.«

»Dann bedaure ich Sie. Ich interessire mich für solche Fälle. Ich bin nämlich Circusbesitzer, habe es also auch mit Künstlern zu thun. Man weiß da, was es heißt, Einen so plötzlich an die Luft zu setzen. Na, vielleicht finden Sie eine Anstellung.«

»Das wird Zeit haben! Hier in der Residenz giebt es ja Hunderte, welche sich täglich auf die Annoncen stürzen, um eine Stelle zu erlangen.«

»Hm! So groß scheint der Andrang doch nicht zu sein.«

»O doch!«

»Ich bezweifle es, und ich habe allen Grund dazu. Ich habe nämlich auch annoncirt, und kein Mensch ist gekommen, um sich zu bewerben.«

»Es handelte sich um eine Anstellung?«

»Ja.«

»Dann ist es zu verwundern, daß sich Niemand gemeldet hat. Es ist allerdings nicht Jedermanns Sache, mit einem Circus ein Nomadenleben zu führen!«


// 1317 //

»O, das ist das Wenigste! Wenn nur die Anstellung an sich eine sichere und feste ist.«

»Ja, aber wer Familie hat, muß doch auf so etwas verzichten, wenn er sich nicht von den Seinen trennen will.«

»Ein Familienvater hätte sich gar nicht melden können. Die Stelle, welche ich zu besetzen habe, ist für eine Dame.«

»Ach so!«

»Vielleicht können Sie mir einen guten Rath geben.«

»Ich kenne keine Kunstreiterin!«

»Um eine solche handelt es sich ja gar nicht. Ich suche nämlich ein braves, ordentliches Mädchen, welchem ich die Casse übergeben kann.«

»Eine Cassirerin?«

»Ja. Ich habe Cassirer gehabt, aber stets ein Haar darin gefunden. Ein Mädchen ist sorgfältiger, pünktlicher und - - der Versuchung weniger ausgesetzt. Ich würde mich sehr freuen, wenn ich eine brave Person fände.«

»Hm, das ist schwer?«

»Schwer. Wieso?«

»Sie verlangen natürlich Caution?«

»Eigentlich, ja. Aber wenn ich merke, daß ich Vertrauen haben kann, so sehe ich von der Caution ab.«

»Welches Gehalt zahlen sie?«

»Fünfhundert Gulden und Alles frei.«

Werner fuhr von seinem Sitze in die Höhe.

»Fünfhundert Gulden -!?« wiederholte er.

»Ja.«

»Und Alles frei?«

»Ja.«

»Für ein Mädchen?«

»Wie ich bereits sagte! Ist es zu wenig?«

»O nein, sondern ganz das Gegentheil. Welche Kenntnisse oder Fertigkeiten verlangen Sie?«

»Gar keine. Nur ehrlich soll die Person sein.«

»Und es hat sich Niemand gemeldet?«

»Kein Mensch.«

»Bei einem solchen Gehalte? Wunderbar!«

»Das Gehalt war nicht angegeben.«

Werner war wie electrisirt. Es war zwar keine Stelle für ihn; aber er dachte an Emilie. Wie lange mußte diese jetzt stricken, um einige Gulden zu verdienen! Und fünfhundert Gulden und freie Station! Dieser Circusdirector hatte übrigens um einen Rath gefragt.

»Wann müßte die Betreffende antreten?« erkundigte sich Werner.

»Möglichst sofort.«

»Wollen sie hier Vorstellungen geben?«


// 1318 //

»Nein. Ich reise nach Rollenburg. Ich werde wohl dort wieder annonciren müssen.«

»Das ist vielleicht nicht nöthig.«

»Wieso?«

»Ich wüßte ein gutes, braves Mädchen.«

»Hier in der Residenz, die auch sofort antreten könnte?«

»Ja.«

»Wer ist sie?«

»O, ich bin mehr als reichlich mit Kindern gesegnet. Bitte, lassen Sie sich erzählen!«

Er klärte den Circusdirector über seine Verhältnisse auf. Dieser hörte aufmerksam zu und erkundigte sich dann:

»Aber, wird Ihre Tochter auch Lust haben?«

»Jedenfalls, jedenfalls!«

»Sie sagten vorhin selbst, daß es nicht Jedermanns Sache sei, so ein Nomadenleben zu führen.«

»Ich dachte dabei an einen Familienvater.«

»Aber denken Sie an den Ruf, in welchem wir Circusleute stehen! Man hält uns für nicht so gut, wie andere Leute. Wird sich Ihre Tochter nicht daran stoßen?«

»Sie hat keine Vorurtheile. Uebrigens wird sie ja nicht als Künstlerin engagirt.«

»Das ist richtig! Darf ich sie einmal sehen?«

»Gewiß! Wollen Sie mit mir kommen?«

»Hm! Nicht so eilig! Ist es nicht vielleicht besser, sie erst zu fragen und vorzubereiten?«

»Sie mögen Recht haben. Ich will gehen und mit ihr sprechen. Soll ich sie dann hierher bringen?«

»Ganz wie Sie wollen.«

»Nun, ich möchte Ihnen doch nicht zumuthen, diese vier Treppen zu steigen und - Sie wissen, daß da, wo es Kranke giebt, nicht Alles so recht ist, wie es sein sollte!«

»Ich verstehe. Bringen Sie das Mädchen also hierher!«

Werner entfernte sich. Er fühlte sich leicht und froh, fast so froh, als ob er selbst eine Anstellung erhalten hätte. Die Seinen sahen es ihm an, daß er sich in einer sehr guten Stimmung befand.

»Du hast etwas gefunden?« fragte Emilie.

»Ja, eine Cassirerstelle an einem Circus.«

»O weh!«

»Was jammerst Du?«

»Weil Du eine solche Stelle nicht annehmen kannst.«

»Warum nicht?«

»Willst Du fort von uns?«


// 1319 //

»Nein, ich muß bleiben. Aber, wenn ich nun Dich an meiner Stelle schicken könnte?«

»Mich? Du scheinst wirklich bei sehr guter Laune zu sein.«

»Das bin ich auch. Höre einmal! Die Stelle bringt fünfhundert Gulden und Alles, Alles frei.«

»Das ist viel, sehr viel.«

»Wenn Du an meiner Stelle so viel verdienen könntest, würdest Du mitmachen?«

»Sofort! Obgleich das Wort Circus einen schlechten Klang hat. Ich würde Euch das ganze Gehalt lassen.«

»Also wirklich, Du hast Lust?«

»Ja, aber was nützt uns das? Es wird keinem Menschen einfallen, mich als Cassirerin zu engagiren!«

»O doch, o doch! Wenn Du willst, so ist die Stelle Dein!«

Jetzt war die Reihe an ihr, sich zu verwundern.

»Aber, Vater!« sagte sie. »Wie kommst Du mir vor!«

»So höre mich einmal an!«

Er erzählte von seinem Zusammentreffen mit dem Circusdirector und sagte am Schlusse:

»Du meintest vorhin, daß Gott helfen werde, und er hat uns geholfen. Es regnet zwar nicht augenblicklich Geld auf uns herab; aber vielleicht bekommst Du eine Gehaltsrate pränumerando, und das ist schon etwas. Indessen finde auch ich wohl Arbeit. Also, willst Du?«

Sie hatte ganz Recht: Das Wort Circus hat einen üblen Beigeschmack; aber hier handelte es sich um die Nothlage der Ihrigen, und so antwortete sie:

»Ja, wenn es Dir recht ist, Vater.«

»Willst Du mit hinübergehen?«

»Ich gehe mit.«

»Aber, überlege es Dir ja richtig!«

»Cassirerin eines Circus zu sein, ist nicht so schlimm, wie sich als Lieblingsultanin angaffen zu lassen. Komm, wir wollen gehen!«

Dem Director hüpfte das Herz vor Freuden, als er den Vater mit der Tochter über die Straße herüberkommen sah. Er begrüßte Emilie mit würdevollem Ernste und sagte:

»Der Zufall führte mich mit Ihrem Vater zusammen. Was Sie von ihm gehört haben, wird Ihnen überraschend gewesen sein. Hätten Sie Lust, die Stellung anzutreten?«

»Ich wünsche sehr, Ihnen zu conveniren.«

»Haben sie schon in irgend welchem Dienst gestanden?«

»Nein.«

»Giebt es außer Ihrer Familie noch etwas, wodurch Sie sich hier zurückgehalten fühlen könnten?«

»Nein.«

»Haben Sie vielleicht - eine Bekanntschaft?«


// 1320 //

»Nein.«

»Ich meine nämlich - einen Geliebten.«

»Ich bin frei,« antwortete sie erröthend.

»Und könnten Sie bereits heute mit nach Rollenburg?«

»Wenn es nöthig ist, ja. Was ich heute nicht mitnehmen kann, wird mir nachgeschickt werden.«

»Schön! Sie gefallen mir. Sie scheinen die Eigenschaften, welche ich bei einer Cassirerin suche, zu besitzen. Wollen wir eine Probe mit einander machen?«

»Ich bitte Sie, es mit mir zu versuchen!«

»Gut, schlagen Sie ein! Topp?«

»Topp!«

»Schön so! Ich glaube, daß es nicht nothwendig ist, einen Contract anzufertigen. Wir können ja Vertrauen zu einander haben. Nicht?«

»Ich hoffe es.«

»Wie nun aber steht es mit Ihrem Gehalt? Wie wünschen Sie dasselbe ausgezahlt zu erhalten, prä- oder postnumerando?«

»Das Erstere wäre mir freilich viel lieber. Vater wird Ihnen mitgetheilt haben, in welcher Lage wir uns gegenwärtig befinden.«

»Das hat er gethan. Er ist ein braver Mann, der sein Unglück nicht verschuldet hat. Ich möchte ihm gern seine Lage erleichtern. Hm! Wenn ich wüßte, daß es Ihnen bei mir gefiele, und daß Sie bei mir bleiben, so wäre ich erbötig, ihm den Betrag eines Vierteljahrgehaltes in die Hände zu geben.«

Werner's Augen leuchteten auf.

»Das wären hundertfünfundzwanzig Gulden?« fragte er.

»Ja.«

»Die würde ich heute erhalten?«

»Jetzt, sofort! Freilich müßte ich wissen, ob das Fräulein auch wirklich bei mir bleibt.«

»Was sagst Du dazu, Emilie?«

»Ich bleibe jedenfalls. Mit dieser Summe ist Dir auf einmal geholfen, und so versteht es sich ganz von selbst, daß ich meine Stelle auf keinen Fall eher aufgebe, als bis ich mit meinem Principale quitt geworden bin.«

»Schön, Fräulein,« sagte der Director. »Ich will Ihnen sehr gern diesen Vorschuß geben. Aber Ordnung muß sein, und man muß sich auf alle Fälle vorsehen. Es ist trotzdem eine Möglichkeit, daß Sie nicht bei mir zu bleiben wünschen. Dann würden wir diesen Gehaltsvorschuß als ein einfaches Darlehen betrachten, welches Sie mir zu erstatten hätten?«

»Ja, Herr Director.«

»Werden Sie mir also Quittung geben, daß Sie diese Summe erhalten haben?«

»Natürlich!«

»Nun, so wollen wir das Geschäft abschließen.«

Der Wirth des Büdchens verkaufte auch Papier. Er mußte einen Bogen,


Ende der fünfundfünfzigsten Lieferung - Fortsetzung folgt.



Karl May: Der verlorne Sohn

Karl May – Forschung und Werk