Lieferung 56

Karl May

19. September 1885

Der verlorne Sohn
oder
Der Fürst des Elends.

Roman aus der Criminal-Geschichte.


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nebst Tinte und Feder bringen. Der Director begann zu schreiben und legte dann nach einer Weile Emilie folgende Zeilen vor:

»Ich bescheinige hierdurch mit meiner eigenhändigen Namensunterschrift, daß ich von Herrn C.F. Baumgarten, dem Director des Circus Réal, einen Vorschuß von 125 Gulden, sage hundertfünfundzwanzig Gulden, erhalten habe, welche Summe ich, falls ich aus seinem Dienst trete, ihm unverkürzt nach Art und Weise eines Wechsels auf Sicht zurückerstatten werde.«

Sie begann, diese Zeilen zu lesen. Er war schlau genug, den Beutel zu ziehen und das Geld aufzuzählen. Dies machte sie irre. Ihre Augen verfolgten mehr die Bewegungen seiner Hände als die Zeilen, welche sie durchlesen wollte.

»Nun, ist's so richtig?« fragte er.

Sie wollte es sich nicht merken lassen, daß sie mehr auf das Geld, als auf die sogenannte Quittung gesehen habe; darum antwortete sie:

»Ja, es ist gut.«

»Dann bitte, zu unterschreiben. Hier ist die Feder.«

"Bitte zu unterschreiben."

Sie setzte ihren Namen hin. Dann wendete sich der Director an ihren Vater:

»Diese Quittung ist aber noch nicht rechtsgültig. Was eine Frau unterschreibt, muß der Mann bestätigen. Ist's ein unverheirathetes Mädchen, so hat der Vater die Bestätigung zu vollziehen. Wenn Sie das Geld haben wollen, so müssen Sie mit unterschreiben.«

»Sehr gern,« meinte Werner.

»So setzen Sie hier unter den Namen Ihrer Tochter auch den Ihrigen, vorher aber die Worte: Mit meiner väterlichen Genehmigung und Haftung.«

Werner sah das Geld neben der Quittung liegen. Emilie schien die Letztere gelesen zu haben; er dachte gar nicht daran, dies auch zu thun. Er tauchte die Feder in die Tinte, schrieb die angegebenen Worte und setzte seinen Namen darunter.

Der Kunstreiter war mit Spannung seinen Bewegungen gefolgt. Jetzt holte er tief Athem und sagte:

»So, das Geschäft ist abgemacht. Ich habe die Quittung, und Sie stecken das Geld ein. Ich hoffe, daß wir mit einander zufrieden sein werden! Ich habe vor, mit dem Fünfuhrzuge nach Rollenburg zu fahren. Werden Sie bis dahin fertig sein können?«

»Gewiß,« antwortete Emilie.

»So erwarte ich Sie auf dem Bahnhofe. Jetzt aber muß ich aufbrechen, da ich noch einige Kleinigkeiten zu besorgen habe. Auf Wiedersehen!« -

Als Max Holm sich nach seiner Rückkehr vom Bellevue von dem Fürsten von Befour getrennt hatte, zog er es vor, noch nicht nach Hause zu gehen. Die Erinnerung an die Anwesenheit der Amerikanerin trieb ihm noch jetzt das Blut in die Wangen.

Er steckte sich kein bestimmtes Ziel, sondern er schlenderte ganz nach Zufall durch die beschneiten Straßen und gelangte so an den Schloßteich.


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Dort wollte er dem lustigen Treiben der Schlittschuhläufer zuschauen, ohne sich der Kälte des winterlichen Tages auszusetzen, und so trat er in die Restauration, in welcher vor noch nicht langer Zeit Bertram und Fels mit einander gesessen hatten.

Es gab da eine Reihe kleiner Zimmerchen, welche alle wohl durchheizt waren. Er nahm in einem derselben Platz und wurde bald von einem Kellner bemerkt, welcher ihm ein Glas Punsch bringen mußte.

Dann legte er sich in die Ecke seines Sitzes zurück und ließ den Blick durch das Fenster hinaus in die Ferne schweifen.

Nach einiger Zeit ließen sich von der anderen Seite her im Nebenzimmer Schritte hören.

»Allerliebste Cabinets,« sagte eine Frauenstimme.

»Und vortrefflich geheizt,« bemerkte eine zweite.

»Bleiben wir hier?«

»Ja, setzen wir uns. Gerade von hier aus ist die Aussicht reizend. Ist vielleicht Jemand nebenan?«

Es kam Jemand an die Portiere. Er hörte sagen:

»Niemand. Es ist leer.«

»Schön! Man sagt doch zuweilen Etwas, was nicht für Jedermannes Ohr ist. Gieb einmal dort die Zeitung her.«

Diejenige, welche in das Zimmer geblickt hatte, war nicht sorgfältig gewesen. Sie war nicht vollständig herein gekommen und hatte ihn nicht in seiner Ecke sitzen sehen. Er ging mit sich zu Rathe, ob er sich bemerkbar machen solle oder nicht, doch ehe er sich entschieden hatte, kam der Kellner, bei dem die beiden Damen Thee bestellten. Sie erhielten ihn, ohne daß sie Gelegenheit gefunden hätten, zu erfahren, daß das benachbarte Zimmer doch nicht leer sei. Dann entfernte sich der dienstbare Geist.

Max Holm hörte das Klirren der Theelöffel, das leise Schlürfen der Lippen und dann und wann ein leichtes Rascheln des Papieres, woraus er schloß, daß man mit der Zeitung beschäftigt sei.

Schon machte er sich Vorwürfe, nicht anständig zu handeln. Seine Gewissenhaftigkeit trieb ihn, durch irgend ein Zeichen seine Anwesenheit zu erkennen zu geben. Er holte auch bereits Athem, um sich in einem Räuspern bemerkbar zu machen. Dieses Räuspern aber verklang in einem lauten Rufe, welcher ganz in demselben Augenblicke im Nebenzimmer ertönte.

»Himmeldonnerwetter!«

Dieses Wort erklang denn doch als für einen Frauenmund zu kräftig. Holm horchte auf. Feine Damen konnten diese Beiden denn doch nicht sein.

»Was ist's« fragte die Andere.

»Siehst Du sie, Mutter?«

»Wen denn?«

»Das Frauenzimmer da rechts nicht weit von der Bude des Schlittschuhverleihers!«

»Welche denn? Es stehen Mehrere dort.«


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»Die mit dem großen, braunen Amazonenhut. Es steht noch eine Zweite dabei.«

»Ja, ich sehe sie. Sie sind erst jetzt gekommen. Was ist es mit den Beiden?«

»Wie? Das fragst Du mich?«

»Natürlich! Du thust ja ganz erschrocken!«

»Kennst Du sie denn nicht?«

»Nein.«

»So hast Du, weiß Gott, gar keine Augen im Kopfe!«

»Sie stehen mit dem Rücken nach uns zu. Man kann ihre Gesichter ja nicht sehen.«

»So warte, bis sich eine oder die andere einmal herumdreht!«

Holm blickte durch das Fenster. Er erkannte - die Leda. Nun fiel es ihm nicht ein, seine Anwesenheit zu verrathen.

»Da kann ich warten,« sagte Die, welche von der Anderen Mutter genannt worden war. »Wer ist sie denn, daß Du Dich durch ihren Anblick so aus dem Häuschen bringen läßt?«

»Ja, ich bin fast erschrocken, aber nur auf eine freudige Weise. Denke Dir, es ist die Editha von Wartensleben.«

»Was Du sagst!«

»Ja, ich habe sie sofort wiedererkannt.«

»Wirst Du Dich nicht irren?«

»Nein; eine Täuschung ist ganz unmöglich. Solche Gesichter merkt man sich genau.«

»Hm! Da dreht sie sich um!«

»Nun, kennst Du sie?«

»Ja. Bei Gott, sie ist es!«

»Nicht wahr? Wir müssen sofort hinaus.«

»Warum?«

»Wir müssen sehen, wo sie wohnt. Wenn wir hier sitzen bleiben, so kann sie uns entgehen.«

»Warte noch! Ich glaube, sie wird sich Schlittschuhe geben lassen. Ja, siehe!«

»Richtig! Sie will Schlittschuhe laufen.«

»Da haben wir noch Zeit. Es kann eine Stunde vergehen, ehe sie aufhört.«

»Aber wir müssen mit dem Fünfuhrzuge fort.«

»Müssen?«

»Ja. Der Director erwartet uns doch.«

»Pah! Ich fahre, wenn es mir beliebt.«

»Er wird zanken.«

»Das mag er. Die Riesin Aurora Bormann macht sich den Teufel daraus, ob Einer zankt oder nicht.«

Holm horchte auf. Die riesige Aurora, diese Worte hatte er doch ge-


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hört, als er die Leda in ihrem Hotel belauschte. Diese Aurora war der Leda an jener fraglichen Scheune begegnet, an welcher sie das Kind versteckt hatte. Holm begann zu ahnen, daß er von einem höchst glücklichen Impulse hierher geführt worden sei. Und Bormann hieß sie! Das war ja auch der Name jenes berüchtigten Verbrechers, von dem um die vergangene Weihnachtszeit alle Blätter geschrieben hatten!

»Ja, sie schnallt an!« hörte er weiter sagen. »Ein höchst glücklicher Umstand! Die wird bluten müssen!«

»Und wie! Sie wird erschrecken, wenn sie mich sieht. Aber was kann das helfen. Sie hat uns mit jenen tausend Gulden betrogen. Die Nummern der beiden Fünfhundertguldenscheine kamen dann im Blatte. Sie waren dem Herrn von Scharfenberg abhanden gekommen.«

»Sein Verwalter hatte sie gestohlen. Er hieß, glaube ich, Petermann, und kam auf das Zuchthaus.«

»Von diesem muß sie die Scheine haben. Warum hat sie sie uns angeheftet. Sie muß sie auswechseln; sie muß sie nehmen und uns andere tausend Gulden dafür geben. Anders kommt sie nicht weg.«

»Wenn sie Geld hat.«

»O, diese Editha ist nie ohne Geld. Sie sieht auch nicht so aus, als ob sie Mangel leide.«

»Hast Du denn die Scheine noch?«

»Das versteht sich.«

»Eigentlich eine große Unvorsichtigkeit.«

»Wieso?«

»Wie nun, wenn sie Jemand bei Dir fände?«

»Das ist unmöglich. Ich habe sie zwischen das Futter meines Portemonnaies geklebt.«

»Wir können das Geld gerade jetzt sehr nothwendig gebrauchen. Dieser Director Baumgarten fängt in neuerer Zeit an, zu knausern.«

»Undankbarer Mensch! So ist es aber! Ich bin gegen ihn die Liebenswürdigkeit selbst gewesen. Er versprach, mich zu heirathen. Da kam diese verdammte Tau-ma, die ihn ganz für sich einnahm. Ich habe sie glücklich so weit gebracht, daß sie ihm durchbrannte, aber er ist kalt geworden und scheint es zu bleiben. Erhalte ich die tausend Gulden, so lasse ich ihn im Stiche und privatisire.«

»Das wäre eine Dummheit!«

»Warum?«

»Beim Privatisiren wird das Geld alle.«

»Unsinn! Das Geld kommt im Gegentheile aus allen Richtungen herbeigeflogen.«

»Oho!«

»Du glaubst es nicht?«

»Nein.«

»So dauerst Du mich. Siehe mich einmal an.«


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»Na, was ersehe ich mir an Dir?«

»Diese Beine, diese Arme!«

Holm hörte, daß sie sich bei diesen Worten auf die genanten Körpertheile klatschte.

»Na, was ist's damit?«

»Diese Brust! Und häßlich bin ich nicht!«

»Was weiter?«

»Ich bin ein Bissen, für welchen Jeder gern seine zehn und zwanzig Gulden bezahlt!«

»Ach so! Auf diese Weise willst Du privatisiren!«

»Auf welche andere denn?«

»Hm! Mir kann es recht sein!«

Jetzt ging der Kellner durch die Zimmerreihe, um zu erfahren, ob Etwas gewünscht werde. Als er in das Nebenzimmer kam, sagte die Riesin:

»Kellner, wie lange sind Sie in der Residenz?«

»So lange ich lebe.«

»Ach so! Sie sind hier geboren?«

»Ja.«

»Also jedenfalls hier gut bekannt?«

»Ich denke es.«

»Kennen Sie vielleicht die Dame, welche da drüben Schlittschuhe läuft? Passen Sie auf! Jetzt kommt sie. Da, die mit dem Amazonenhut!«

»Ja, die kenne ich zufälliger Weise.«

»Wer ist sie?«

»Ich würde sie nicht kennen, aber sie war gestern hier und hat mir selbst gesagt, wer sie ist. Ich bediente sie nämlich. Es ist die Leda.«

»Leda? Kenne ich nicht.«

»Nicht? Die berühmte Tänzerin, welche morgen Abend in der 'Königin der Nacht' auftritt?«

»Weiß nichts davon.«

»Da sind Sie auf dem Gebiete der Kunst sehr fremd.«

»Möglich!« lachte sie, die sich ja wohl selbst auch zu den Künstlerinnen zählte. »Wissen Sie vielleicht, wo sie wohnt?«

»Nein. Davon hat sie nicht gesprochen.«

»Gut, danke! Ich will bezahlen.«

Als sie das gethan und der Kellner sich entfernt hatte, sagte ihre Mutter:

»Du bezahlst? Willst Du gehen?«

»Wir müssen uns bereit halten, damit sie uns nicht entgeht.«

»Vielleicht ist es doch umsonst.«

»Das ist unmöglich.«

»O, wenn sie so thut, als ob sie nichts weiß!«

»Oho! Wir haben ja Beweise!«

»Du meinst die Kindesleiche?«

»Ja.«


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»Sie kann ja auf den guten Gedanken gekommen sein, diese Leiche zu entfernen. Dann können wir ihr nichts beweisen.«

»Ich denke nicht, daß sie auf diesen Gedanken gekommen ist. Das wäre freilich dumm!«

»Am Besten ist es, uns zu überzeugen, ob das Kind noch unter der Scheune steckt.«

»Meinetwegen! Wir gehen ihr nach. Wissen wir, wo ihre Wohnung ist, so gehen wir nach der Scheune.«

»So meinst Du also wirklich, daß wir heute noch nicht nach Rollenburg fahren?«

»Wir bleiben hier.«

»Dann ist es doch am Besten, wir gehen jetzt. Wie leicht kann sie die Schlittschuhbahn auf der anderen Seite drüben verlassen. Dann ist sie verschwunden, ehe wir hier zur Thür hinaus sind.«

»Ihre Begleiterin wartet dort. Sie ist uns sicher. Auch müssen wir uns in Acht nehmen, daß wir nicht von ihr erkannt werden.«

»Deine Figur ist freilich augenfällig.«

»Nun, ich thue den Schleier herab und stelle mich an eine der alten Linden da drüben. Komm!«

Sie gingen, ohne in das andere Zimmer zu blicken.

»Sapperment, welche Neuigkeit!« dachte Holm. »Welch ein Glück, daß ich auf den Gedanken kam, hier einzukehren. Jetzt ist es mir fast leicht, zu beweisen, daß die Tochter meines alten, braven Werner unschuldig ist.«

Er erhob sich, um die beiden Damen zu beobachten. In diesem Augenblick kam - der Fürst von Befour des Weges daher und blieb erstaunt stehen, als er die Riesin erblickte. Sie hatte allerdings geradezu colossale Formen und war dabei von dem schönsten, reinsten Ebenmaße der riesigen Glieder.

Als der Fürst sich wieder abwendete, sah er Holm am Fenster stehen. Er nickte ihm lächelnd zu und kam herein.

»Auch Sie hier?« sagte er, sich niedersetzend. »Ich dachte nicht, daß wir uns so bald wiedersehen würden.«

»Ich ebenso wenig.«

»Nun, trinken wir einen Tokayer!«

»Ich weiß nicht, ob ich mich zur Verfügung stellen darf!«

»Warum nicht?«

»Ich darf jene beiden Damen nicht aus den Augen lassen.«

»Denen ich jetzt begegnete?«

»Ja.«

»Die Eine ist ein Monstrum. Ich erschrak förmlich, als ich sie erblickte.«

»Sie stammt aus einem Riesengeschlecht.«

»Ah, Sie kennen sie?«

»Sie heißt Bormann.«


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»Sapperment!« rief der Fürst. »Das ist mir höchst interessant! Ob sie vielleicht eine Schwester der beiden berüchtigten Bormänner ist?«

»Es scheint so. Sie heißt Aurora und ist jedenfalls in Beziehung auf ihren moralischen Werth den beiden Brüdern vollständig ebenbürtig.«

»Woher kennen Sie sie denn?«

»Ich sah sie soeben zum ersten Male.«

»Und beurtheilen sie bereits mit solcher Sicherheit?«

»Ich war so glücklich, sie zu belauschen. Die Andere ist ihre Mutter. Sie saßen mit einander da nebenan und hatten keine Ahnung, daß ich anwesend sei.«

»Das ist interessant!«

»Sogar im höchsten Grade. Ich habe Dinge erfahren, welche Licht auf zwei schwere Verbrechen werfen.«

»Was Sie sagen!«

»Ja. Die Tochter eines meiner Bekannten wurde wegen Kindesmord unschuldig verurtheilt. Jetzt kann ich beweisen, daß sie unschuldig ist.«

»Ich gratulire Ihnen.«

»Und denken Sie sich, wer die Mörderin ist?«

»Nun, wer?«

»Die Leda.«

»Alle guten Geister! Die Leda?«

»Ja.«

»Sie spinnen einen Roman!«

»Ganz und gar nicht! Und sodann ist ein gewisser Herr von Scharfenberg von seinem Verwalter oder Inspector bestohlen worden. Die Riesin hat tausend Gulden von dem betreffenden Gelde erhalten.«

»Sie sind des Teufels!« rief der Fürst, im höchsten Grade überrascht.

»Durchlaucht scheinen diesen Fall zu kennen?«

»Ja, sehr gut. Ich halte Den, welcher bestraft worden ist, für unschuldig.«

»Einen gewissen Petermann?«

»Ja. Sprachen diese Beiden von ihm?«

»Ja. Diese beiden Verbrechen scheinen im Zusammenhange zu stehen.«

»Wieso?«

»Nun, die Leda hat früher Editha von Wartensleben geheißen und -«

»Immer interessanter und spannender!« fiel der Fürst ein.

»Sie hat ein Kind gehabt und es ermordet. Sie hat es auf dem Friedhofe begraben wollen, des Nachts, und die Leiche mit einer anderen Kindesleiche vertauscht.«

»Weiter, weiter! Erzählen Sie ausführlicher.«

»Später, Durchlaucht. Ich muß auf die Riesin merken. Ich darf sie nicht aus den Augen lassen.«

»Ich passe schon auf. Erzählen Sie nur.«


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»Nun, ich sagte Ihnen heute, daß ich Waffen in der Hand, habe, die Gegner der Amerikanerin zu besiegen -«

»Das sagten Sie allerdings.«

»Ich dachte da nicht, daß sich diese Waffenrüstung so sehr bald vervollständigen würde. Hören Sie!«

Er erzählte von dem Theaterdiener Werner und davon, daß er die Leda belauscht hatte. Der Fürst hörte höchst aufmerksam zu und sagte, als Holm geendet hatte:

»Das ist allerdings geradezu niederschmetternd für diejenigen Herren, welche beabsichtigen, die Leda zu protegiren. Sie haben Recht, die Riesin darf nicht aus dem Auge gelassen werden. Sie verfolgt die Leda, und wir Beide verfolgen sie.«

»Wie? Durchlaucht wollen sich betheiligen?«

»Gewiß! Sie werden später hören, daß ich allen Grund habe, mich für diese Angelegenheit auf das Höchste zu interessiren. Also der Baron Franz von Helfenstein ist der Vater des Kindes jener Theaterdienerstochter gewesen?«

»Ja. Er hat ihr Gewalt angethan, nachdem er sie durch irgend ein narkotisches Mittel betäubt hatte.«

»Das zu hören, ist mir von großem Vortheile. Aber sehen Sie, da versteckt sich die Riesin hinter jenem Baum!«

»Sie hat bemerkt, daß die Leda aufbrechen will. Diese schnallt soeben ihre Schlittschuhe ab.«

»Ah, das ist sie! Nun, passen wir auf.«

Die Leda kam zu ihrer auf sie wartenden Mutter und entfernte sich mit ihr. Die Riesin folgte ihr in Begleitung ihrer Mutter, und in angemessener Entfernung hinter ihnen kamen dann der Fürst und Max Holm.

Die Tänzerin ging direct nach dem Hotel Kronprinz. Als sie dort eingetreten war, sagte die Riesin zu ihrer Mutter:

»Gehe zum Portier und frage, ob sie da logirt.«

»Warum willst Du Dich nicht selbst erkundigen?«

»Weil meine Person zu auffällig ist. Ich warte hier an diesem Schaufenster, indem ich so thue, als betrachte ich mir die ausgestellten Gegenstände.«

Die Mutter ging und kam bald zurück.

»Sie wohnt da,« berichtete sie. »Eine Treppe hoch!«

»Gut! Jetzt nun nach der Scheune!«

Sie gingen durch einige Straßen, bis sie an einen der Friedhöfe der Residenz gelangten. An der Mauer desselben entlang gehend, hatten sie nun die Stadt hinter sich und kamen an eine Stelle, wo mehrere Scheunen standen.

»Weißt Du noch, welche es war?« fragte die Mutter.

»Ja, die zweite da. Komm!«

Sie umgingen die erste der Scheunen und blickten sich dabei vorsichtig um, ob vielleicht Jemand vorhanden sei. Sie überzeugten sich, daß sich Niemand in der Nähe befand, und nun bückte die Riesin sich an der hinteren Seite der Scheune nieder.


// 1329 //

Da, wo das Gemäuer den Erdboden berührte, hatte der Baumeister offene Durchzüge gelassen, welche von einer Seite nach der anderen gingen und den Zweck hatten, der Luft den Zutritt zu gestatten und so das Ansammeln von Feuchtigkeit und das Gedeihen des Hausschwammes zu verhüten.

Diese Durchgänge waren vielleicht zehn Zoll in's Gevierte; da aber die Scheune alt war, so hatte sich Kalk und Mauerwerk losgebröckelt und die Oeffnungen fast vollständig verstopft.

An einer dieser Oeffnungen war es, wo die Riesin sich niederkauerte. Sie begann nun, den Schutt mit den Händen wegzuräumen. Ihre Mutter warnte:

»Nimm Dich in acht. Streue nicht zu viel umher, sonst könnte man bemerken, daß hier etwas geschehen ist.«

»Habe keine Sorge. Ich werde schon vorsichtig sein!«

Als die Oeffnung groß genug geworden war, langte sie mit dem Arme hinein.

»Nun, ist's noch da?« fragte ihre Mutter, weiche ihre Neugierde nicht zu beherrschen vermochte.

»Ja. Oder - hm, oder ist's nur ein Stein.«

»Das wäre dumm, sehr dumm!«

»Es ist hart, wirklich steinhart.«

»Ziehe es heraus!«

Die Riesin zog den Gegenstand heraus und konnte dann einen halblauten Ausruf nicht unterdrücken.

»Alle Teufel! Mutter, schau her!«

»Das Kind, wirklich das Kind!« sagte diese.

»Aber so wohl erhalten!«

»Nicht verfault.«

»Gerade so, als ob es erst jetzt gestorben sei, aber so hart wie Fels und Eisen.«

»Es ist versteinert. Es soll ja zuweilen vorkommen, daß Leichen zu Stein werden.«

»Ja. Es kommt darauf an, in welcher Erde so eine Leiche liegt. Na, jetzt wissen wir, woran wir sind!«

»Die Leda wird uns gegenüber nicht leugnen können. Thue es wieder hinein und mache dann das Loch zu!«

Und als die Tochter dieser Aufforderung nachkam, fuhr die Mutter fort:

»Aber dennoch ist es möglich, daß sie uns die Thür zeigt.«

»Das wird sie nicht wagen!«

»Was wollen wir dagegen machen?«

»Sie anzeigen.«

»So gerathen wir selbst in die Tinte. Wir sind Mitschuldige. Wir hätten Anzeige erstatten müssen.«

»Unsinn! Denkst Du etwa, ich würde persönlich nach der Polizei gehen?«


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»Du meinst einen Brief, aber nicht unterschreiben?«

»Ja.«

»Das würde nichts helfen. Man könnte der Leda doch nichts beweisen. Um sie zu überzeugen, ist unbedingt unser Zeugniß nöthig.«

»Dafür würde ich mich schön bedanken! Uebrigens zweifle ich gar nicht daran, daß es mir gelingen wird, die Leda so einzuschüchtern, daß sie tief in die Tasche greift. So, da bin ich fertig. Komm!«

»Wohin nun?«

»Zunächst müssen wir uns nach einem Gasthofe umsehen, wo wir für heute bleiben.«

Der Fürst und Max Holm waren ihnen bis an den Friedhof gefolgt. Dieser stand offen, und der Fürst schritt geraden Weges zum Eingange hinein.

»Hier hinein?« fragte Holm erstaunt.

»Ja.«

»Aber warum?«

»Um unbemerkt zu bleiben.«

»Aber wir verlieren sie aus den Augen.«

»Wohl kaum. Nach Ihrem Berichte ist die Leda des Nachts von hier weg nach der Scheune gegangen. Es läßt sich also vermuthen, daß diese Letztere nicht sehr weit entfernt von hier sein wird. Kommen Sie nur!«

Sie schritten über den ganzen Kirchhof hinweg bis zur entgegengesetzten Mauer. Dort angelangt, deutete der Fürst nach außen und sagte:

»Da, sehen Sie! Dort gehen sie, und dort sind auch die Scheunen.«

»Ja, wirklich! Aber welche wird es sein?«

»Das werden wir erfahren.«

»Wenn wir es aber nicht sehen? Da, jetzt verschwinden sie hinter der ersten Scheune.«

»Wir hätten ihnen auf keinen Fall soweit folgen können, daß es möglich gewesen wäre, sie ganz genau zu beobachten. Wir müssen vorsichtig sein. Es liegt ja Schnee, und wir werden die Spuren dieser beiden liebenswürdigen Damen sehr leicht finden.«

Hinter einem großen Lebensbaume versteckt, so daß sie von außen auf keinen Fall bemerkt werden konnten, warteten sie, bis endlich Mutter und Tochter wieder erschienen.

»Lassen wir sie vorüber?« fragte Holm.

»Das versteht sich. Sie sind entschlossen, nicht nach Rollenburg zu fahren. Sie wollen hier bleiben, um von der Leda Geld zu erpressen; ich vermuthe also, daß sie sich zunächst um ein Logis bekümmern werden.«

»Das läßt sich allerdings erwarten.«

»Mag das nun ein Privatlogis oder ein Fremdenzimmer im Gasthofe sein, wir müssen es auf jeden Fall kennen lernen. Kommen Sie; sie sind jetzt vorüber.«

Sie folgten den Frauen von Neuem, bis dieselben in einem Gasthofe dritten oder gar vierten Ranges verschwanden. Max Holm fragte:


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»Gehen wir auch hinein?«

»Beide nicht. Warten Sie, ich werde mich erkundigen.«

Als er in die räucherige Gaststube trat, saßen die beiden Gesuchten an einem Tische. Er nahm in einer dunklen Ecke Platz und ließ sich ein Glas Bier geben.

Die Riesin hatte sich Kaffee bestellt. Als der Wirth denselben brachte, fragte sie:

»Sie haben Fremdenzimmer?«

»Ja.«

»Können wir ein solches für heute und wohl auch noch für morgen bekommen?«

»Ja, gern!«

»So lassen Sie Feuer machen.«

»Es steht gerade jetzt ein warmes zur Verfügung.«

»Recht so. Wir gehen sogleich hinauf. Besorgen Sie uns auch die Speisenkarte!«

Sie tranken ihren Kaffee schnell aus und ließen sich dann nach oben führen. Jetzt bezahlte der Fürst sein Bier und zog seine Brieftasche hervor. Er schrieb einige Zeilen, welche seinem Diener Adolf galten, und steckte sie in ein Couvert, deren er stets welche bei sich führte.

Nun suchte er zunächst Max Holm auf und dann einen Dienstmann, welchem er die Zeilen zur Besorgung gab.

»Jetzt nun gehen wir nach der Scheune,« sagte er dann.

»Aber wenn uns nun einstweilen die Riesin entwischt?«

»Sie entkommt uns nicht; sie bleibt hier über Nacht. Uebrigens wird binnen jetzt und einer halben Stunde ein sicherer Mann hier sein, der sie nicht aus den Augen läßt.«

Als sie wieder an den Kirchhof gelangten, war es nicht schwer, die Fußspuren der beiden Frauenzimmer zu verfolgen. Sie führten nach der Scheune. Und obgleich die Sonne in der Nähe des Gemäuers den Schnee hinweggelockt hatte, deutete der Fürst doch mit großer Sicherheit nach der Stelle, an welcher die Riesin sich niedergekauert hatte.

»Hier sind sie gewesen,« sagte er. »Sehen Sie den Schutt. Sie haben die Spur doch nicht ganz verwischen können. Hier haben sie das Loch aufgescharrt gehabt. Sehen wir einmal nach, was da zu finden ist!«

Er öffnete von Neuem und hatte sehr bald das Kind hervorgezogen.

»Da ist es!« sagte er. »Und verkalkt, zu Stein geworden. Alles so deutlich, wie bei einer frischen Leiche. Ja, dieses arme kleine Wesen ist an Schwäche gestorben.«

»Es ist das Kind von Laura Werner. Aber wie kann das bewiesen werden?«

»Das lassen Sie meine Sorge sein! Es ist nicht so schwer, wie Sie vielleicht denken.«

»Nehmen wir es mit?«


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»Nein. Diese Leiche muß von der Polizei aufgehoben werden, und ich werde es so einzurichten suchen, daß man die Leda dabei ertappt.«

»Wie wollen Sie das anfangen?«

»Ich bringe sie auf den Gedanken, das Kind hier zu entfernen, um der Riesin den Beweis zu entziehen.«

»Dieser Gedanke ist ganz vortrefflich. Ich hoffe, daß sie auf denselben eingehen wird!«

»Ich bin davon überzeugt.«

»Was thun wir nun weiter?«

Während nun der Fürst das Kind wieder an Ort und Stelle brachte, antwortete er:

»War nicht, als Sie im Hotel Kronprinz die Leda belauschten, von einer rothen Gardinenschnur die Rede?«

»Ja. Die Mutter sagte zur Tochter, daß es eine große Unvorsichtigkeit gewesen sei, daß Stück Schnur abzureißen, um sich derselben zur Erdrosselung zu bedienen.«

»Schön. Ich habe den Faden in der Hand und werde ihm folgen, so weit es mir möglich ist. So, da sind wir fertig. Jetzt nun zur nächsten Droschkenstation.«

»Wohin fahren wir?«

»In das Bezirksgericht.«

Holm fragte nicht, was der Fürst dort beabsichtigte. Er war überzeugt, daß dieser gerade nur das Richtige thun werde. Im Bezirksgerichte angekommen, ließ der Fürst sich bei dem Director desselben melden und wurde sofort vorgelassen. Der Beamte empfing ihn mit ausgesuchter Höflichkeit und erkundigte sich nach der Ursache dieses für ihn so ehrenvollen Besuches. Der Fürst zog die schon so oft erwähnte Karte hervor, zeigte sie ihm und sagte:

»Ich bitte zunächst, von dieser Legitimation gefälligst Notiz zu nehmen, Herr Gerichtsrath.«

Der Angeredete nickte lächelnd und antwortete:

»Weiß es schon. Excellenz der Herr Minister haben die Güte gehabt, die Oberbeamten von dem Dasein dieser so außerordentlich seltenen Bevollmächtigung unter der Hand und im Vertrauen zu benachrichtigen.«

»So hoffe ich, daß der Bitte, welche ich Ihnen vorzutragen beabsichtige, keine Hindernisse in den Weg gelegt werden.«

»Ich stehe gern zur Verfügung.«

»Wie lange sind Sie schon im Amte, Herr Gerichtsrath?«

»In meiner gegenwärtigen Stellung bereits über fünf Jahre.«

»So werden Sie sich vielleicht noch des Falles 'Laura Werner' erinnern?«

»Laura Werner?« wiederholte der Beamte nachdenklich.

»Kindesmord.«

»Ah, ja, ich besinne mich. Das Mädchen war nicht geständig. Die Angeklagte wurde auf den Indicienbeweis hin zu acht Jahren Zuchthaus verurtheilt.«


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»Und ist dennoch unschuldig.«

»Was Sie sagen!« rief der Justizrath, sich entfärbend.

»Ich behaupte es!«

»Sie versetzen mich in das höchste Erstaunen. Ich selbst war es, der bei der Verhandlung den Vorsitz führte.«

»Und dennoch muß ich bei meiner Behauptung bleiben.«

»Auch der Richter kann irren. So außerordentlich peinlich es mir sein müßte, zu erfahren, daß unter meinem Präsidium ein so beklagenswerther Irrthum vorgekommen sei, so würde ich mich doch auch freuen, ihn wieder gut machen zu können.«

»Er ist nicht wieder gut zu machen. Vier Jahre Zuchthaus sind bereits vorüber. Welches Äquivalent giebt es für diese Zeit, für die Schande, die Sorge, den Gram? Wir haben, um nur von einer materiellen Genugthuung zu sprechen, leider die Sachsenbuße nicht mehr.«

»Sollte Ihre Behauptung sich beweisen lassen, Durchlaucht?«

»Ich hoffe, den Beweis führen zu können. Sind die Acten noch vorhanden?«

»Gewiß.«

»Würden Sie mir gestatten, für einen kurzen Augenblick Einsicht zu nehmen?«

»Sofort! Erlauben Sie, daß ich Sie nach dem Repositionssaale begleite!«

Er führte ihn nach dem ziemlich großen Raume, in welchem bis auf eine gewisse, gesetzlich vorgeschriebene Zeit hinaus die Actenvolumen aufbewahrt wurden, und suchte dann das betreffende Heft eigenhändig heraus.

»Hier ist es,« sagte er. »Darf ich fragen, wonach Durchlaucht suchen?«

»Das Kind war mit einem Ende rother Gardinenschnur erwürgt worden -«

»Ja, ja, ich entsinne mich. Dieses Corpus delicti ist noch vorhanden. Hier, sehen Sie!«

Er schlug die Stelle auf, in welcher die Schnur an ein Blatt Actendeckel geheftet war. Der Fürst betrachtete sie aufmerksam und fragte dann:

»Könnten Sie mir vielleicht eine Stunde ihrer allerdings kostbaren Zeit widmen?«

»Gewiß.«

»Ich brauche auch einen Obergensd'arm, einen Vertreter der Staatsanwaltschaft und den Gerichtsarzt. Sie würden die Güte haben, mich nach einem Hause der inneren Stadt zu begleiten, während die genannten Herren auf dem Petrikirchhofe auf uns zu warten hätten, aber, wie ich dringend ersuchen muß, in möglichst unauffälliger Weise.«

»Ich darf doch annehmen, daß genügender Grund zu einem solchen Arrangement vorhanden ist?«

»Gewiß. Ich habe nicht Zeit, mich in Weitläufigkeiten einzulassen, aber es wird Ihnen noch gegenwärtig sein, daß die angeklagte Werner behauptete, ihr Kind sei ein Knabe gewesen und an Entkräftung gestorben?«

»So war es allerdings.«


// 1334 //

»Die betreffende Leiche aber war ein kräftiges Mädchen, welches von der Werner nicht als ihr natürlich gestorbenes Kind anerkannt wurde.«

»Diese Aussage war zu fabelhaft.«

»Hat aber trotzdem auf Wahrheit beruht. Ich werde Ihnen das richtige Kind der Werner nachher zeigen.«

»Wie? Wie? Durchlaucht, man hat damals viel und ganz vergeblich nach demselben gesucht. Sie dürfen nicht denken, daß wir es an großer Sorgfalt fehlen ließen.«

»Ich bin überzeugt davon. Also bitte, die Herren sofort zu benachrichtigen. Aber heimlich, sehr heimlich! Und, nehmen Sie diese rothe Schnur zu sich. Wir werden sie brauchen, wenn meine Voraussetzungen richtig sind.«

Der Gerichtsrath traf die nöthigen Vorbereitungen und begab sich sodann mit dem Fürsten nach der Droschke, in welcher Holm wartete.

»Herr Doctor Max Holm,« stellte der Fürst vor, »den Sie noch kennen lernen werden und dessen Scharfsinn es zu verdanken sein wird, wenn es uns gelingt, eine Unschuldige zu rehabilitiren.«

Der Fürst dirigirte die Droschke nach dem alten Patrizierhause des Herrn von Scharfenberg. Der Hausmann Kreller sah drei Herren aussteigen und eilte sofort herbei, um nach ihrem Begehr zu fragen.

»Kommen Sie herein in die Stube!« gebot der Fürst.

Drinnen nun, von dem Droschkenkutscher ungehört, fragte er den Hausmann:

»Dieses Haus gehört dem Herrn Baron von Scharfenberg?«

»Ja, Herr.«

»Hier hat der Inspector desselben, ein gewisser Herr Petermann, gewohnt?«

»Ja.«

»Hatte dieser Herr nicht vor ungefähr etwas über vier Jahren eine Dame bei sich aufgenommen?«

»Fräulein von Wartensleben? Sie wohnte bei ihm.«

»Waren auch Sie damals anwesend?«

»Ich wohne seit langer, langer Zeit hier.«

»Sie haben also die Dame gekannt?«

»Ja.«

»Ich bin der Fürst von Befour, und dieser Herr ist Gerichtsrath und Director des Bezirksgerichtes. Sie haben also unsere Fragen -«

»Herrgott!« entfuhr es dem Hausmanne.

»Sie haben also unsere Fragen der Wahrheit gemäß zu beantworten,« fuhr der Fürst fort. »Hat die erwähnte Dame sich stets bei ungestörter Gesundheit befunden?«

Der Gefragte wurde verlegen, doch antwortete er:

»Ihr Wohlsein erlitt allerdings eine mehrtägige Unterbrechung, Durchlaucht!«

»Was war der Grund dieser Unterbrechung?«

»Die Geburt eines Kindes.«

»Wer war der Vater?«


// 1335 //

»Niemand weiß es.«

»Welchen Geschlechtes war das Kind?«

»Es war ein Mädchen.«

»Wurde diese Geburt angemeldet?«

»Ja; ich selbst mußte die Anmeldung übernehmen.«

»War das Kind kräftig oder nicht?«

»Es war ein ungewöhnlich kräftiges Mädchen.«

»Wie lange blieb es bei der Mutter?«

»So lange, bis diese plötzlich eines Morgens verschwunden war.«

»Wohin?«

»Niemand weiß es.«

»Wo wohnte dieses Fräulein von Wartensleben?«

»Sie hatte im Bereiche des Inspectors Petermann zwei kleine Zimmerchen angewiesen erhalten.«

»Diese Zimmer sind noch vorhanden?«

»Ja.«

»Aber vielleicht anders möblirt, anders eingerichtet?«

»Nein. Es ist Alles so geblieben. Nicht einmal die Decken, Teppiche oder Gardinen sind gewechselt worden.«

»Aus welchem Grunde?«

»Das weiß ich nicht. Der junge Herr hatte es so befohlen.«

»Haben Sie den Schlüssel zu diesen Zimmern?«

»Ja.«

»Führen Sie uns hinauf!«

Der Hausmann gehorchte diesem Befehle. Der Gerichtsrath befand sich in einer außerordentlichen Spannung. Was er jetzt bereits hier gehört hatte, ließ ihn vermuthen, daß der Fürst nach ganz genauen Informationen handele.

Die angedeutete Wohnung bestand aus einem zweifenstrigen Wohn- und einem einfenstrigen Schlafzimmer. Gleich direct beim Eintritte eilte der Fürst nach den beiden Fenstern, um die Rouleauxschnuren in Augenschein zu nehmen.

»Hier ist es nicht,« sagte er. »Oeffnen Sie die Schlafstube!«

Als dies geschehen war, trat er zum Fenster.

»Ah! Hier, Herr Gerichtsrath! Sehen Sie!«

Er zeigte auf die rothe, posamentirte Schnure, von welcher ein Stück fehlte, welches augenscheinlich abgerissen worden war.

»Durchlaucht,« meinte der Beamte ganz betreten. »Wie haben Sie hiervon wissen können?«

»Davon später. Bitte um das fragliche Schnurende. Es muß ganz augenscheinlich sein, daß es von hier abgerissen worden ist.«

»Hier. Vergleichen wir. Bei Gott, es stimmt! Sogar die Fasern passen zusammen und greifen in einander.«

»Das war es, wovon ich mich überzeugen wollte. Es genügt für jetzt.«

Und sich an den Hausmann wendend, fuhr er fort:

»Der Herr Gerichtsrath wird die Schlüssel dieser beiden Zimmer an sich


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nehmen. Sie haben keinen Menschen, selbst Ihrem Herrn nicht, zu sagen, daß wir hier gewesen sind. Eine Uebertretung dieses Gebotes würde von sehr ernsten Folgen für Sie sein. Verstanden?«

»Ich werde gehorchen, Durchlaucht. Aber meine Frau -«

»Ich habe sie nicht gesehen.«

»Sie ist ausgegangen.«

»So braucht auch sie nichts zu wissen. Haben Sie dieses Fräulein von Wartensleben vielleicht seit jener Zeit einmal wiedergesehen?«

»Nein.«

»Würden Sie diese Dame wieder erkennen?«

»Sofort! Ganz gewiß!«

»Gut! Also schweigen Sie! Wir gehen! Adieu!«

Der Gerichtsrath verschloß die Thüren und steckte die Schlüssel ein. Als sie wieder in der Droschke saßen, nannte der Fürst eine nahe am Petrikirchhofe gelegene Straße, in welcher sie ausstiegen, um dem Kutscher nicht merken zu lassen, welches ihr Ziel sei. Dann begaben sie sich zu Fuß nach dem Kirchhof. Der Gerichtsrath war unterwegs schweigsam gewesen. Jetzt sagte er:

»Durchlaucht, halten Sie diese Wartensleben für die Mutter jenes Kindes, welches uns als dasjenige der Laura Werner vorlag?«

»Ja. Die abgerissene Rouleauxschnure ist das erste Glied in dem Beweise, welchen ich erbringen werde. Da steht ein Herr, und dort auch einer.«

Sie waren in den Kirchhof getreten. In einer Ecke desselben stand ein Mann, am entgegengesetzten Ende ein zweiter und ein dritter kam soeben aus der Todtenhalle hervor.

»Der Staatsanwalt, der Obergensd'arm und der Gerichtsarzt,« sagte der Gerichtsdirector.

»Schön! Die Herren thun, als ob sie nicht zu einander gehörten. Das ist mir lieb. Bitte, unterrichten Sie sie unauffällig, nach und nach und möglichst heimlich, sich zu den Scheunen zu begeben, welche hinter dem Kirchhofe liegen. Ich werde Sie mit Herrn Doctor Holm dort erwarten.«

Er begab sich mit Holm nach dem angegebenen Orte. Die anderen kamen auf verschiedenen Umwegen, welche sie gemacht hatten, nach, und Alle waren überzeugt, von Niemand bemerkt worden zu sein.

»Meine Herren,« sagte der Fürst. »Es gilt, die Unschuld eines Mädchens nachzuweisen, welches als Kindesmörderin verurtheilt worden ist. Herr Gerichtsarzt, ist es möglich, nach vier Jahren an einer Kindesleiche nachzuweisen, daß sie einen natürlichen Tod erlitten hat?«

»Nein. Sie wird verwest sein.«

»Und in dem Falle, daß sie versteinert, verkalkt wäre?«

»Das ist ein außerordentlich seltener Fall. Es läßt sich da nicht eher Etwas sagen, als bis man die Leiche untersucht hat.«

»Nun, wollen sehen. Bitte, Herr Doctor, öffnen Sie!«

Diese Worte galten Holm. Sie befanden sich gerade an der Stelle, wo


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das Kind versteckt war. Holm kniete nieder, entfernte den Schutt und zog dann die Leiche hervor.

Die Herren waren, besonders der Gerichtsrath, äußerst bestürzt. Der Gerichtsarzt warf einen Blick auf die Leiche, befühlte sie mit der Hand und fragte dann:

»Durchlaucht, da fällt mir ein - ist das vielleicht das Kind der Werner, welches wir damals suchten?«

»Ja.«

»Ich besinne mich jenes Falles ganz genau. Ich hatte die Leiche zu untersuchen. Ein interessanter, hochinteressanter Fund, sowohl für den Arzt, als auch für den Richter. Wer aber hat dieses Kind hier versteckt?«

»Die Mutter des anderen Kindes, die eigentliche Mörderin, Herr Doctor.«

»So hätte die Werner also damals doch nicht gelogen?«

»Sie hat die Wahrheit gesagt. Sie ist unschuldig verurtheilt. Sie kann nur bestraft werden wegen unterlassener Personalbeurkundung, weil sie die Geburt und den Tod ihres Kindes aus Schamgefühl nicht meldete.«

Es war mittlerweile dunkel geworden. Man konnte nur noch nahe liegende Gegenstände gut erkennen.

»Was nun?« fragte der Obergensd'arm.

»Wir machen das Loch hier zu,« antwortete der Fürst. »Der Herr Gerichtsrath und der Herr Gerichtsarzt nehmen die Leiche mit sich; Sie aber, Herr Obergensd'arm, haben Sie die Güte, mich zur Vollziehung einer Arretur zu begleiten.«

»Welche mit diesem Leichenfunde in Beziehung steht?«

»Ja.«

»Etwa die Wartensleben?« fragte der Gerichtsrath.

»Nein, sondern zunächst zwei Mitschuldige von ihr. Ich muß Ihnen überlassen, was in Beziehung auf dies Leiche zunächst zu thun ist, habe aber Gründe, um möglichste Heimlichkeit zu bitten, weil mir dies die Habhaftwerdung der Mörderin erleichtert.«

»Ah! Sie wissen, wo die Wartensleben sich befindet?«

»Ich glaube, es zu wissen,« lautete die zurückhaltende Antwort, »möchte aber meiner Sache vorher noch sicherer werden, bevor ich Sie bitte, einen entscheidenden Schritt zu thun.«

Max Holm errieth den Fürsten und sagte zu den Anderen:

»Verzeihung, meine Herren, wenn ich bitte, mit Durchlaucht einige Worte unter vier Augen sprechen zu können. Es betrifft die Angelegenheit, in welcher wir uns hier befinden, und hat den Zweck, uns der Schuldigen so zu versichern, daß ein Leugnen ihrerseits nicht möglich ist.«

Der Fürst trat mit ihm zur Seite, und Holm sagte leise:

»Ich weiß nicht, ob ich Sie recht verstehe, gnädiger Herr. Sie wollen aus Rücksicht auf die Amerikanerin den entscheidenen Schritt gegen die Leda erst morgen thun?«

»Ja.«


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»Wann soll Sie arretirt werden?«

»Kurz vor der Vorstellung.«

»Schon?«

»Ja. Auf diese Weise ist sie verhindert, zu tanzen, und Miß Starton steht ohne Concurrenz da. Dann ist die Machination der sauberen Herren vom Residenztheater auf einmal zu nichte gemacht.«

»Und wie soll sie überführt werden?«

»Ich hoffe, zunächst durch die Aussage der Riesin, sodann durch den Beweis der Umstände und Indicien, und endlich will ich sie durch einen Brief oder irgend eine andere Weise verlocken, noch vor der Vorstellung hierher zu gehen, um das Kind zu beseitigen, wobei sie von giltigen Zeugen beobachtet wird. Sind Sie vielleicht anderer Meinung?«

»Ich möchte mir allerdings eine Bemerkung gestatten.«

»Bitte, sprechen Sie!«

»Ich hoffe, daß Sie mir verzeihen, wenn ich eine andere Ansicht hege, als die Ihrige ist.«

»Hier kann von einer Verzeihung gar nicht die Rede sein. Sie sind die Hauptperson in dieser Angelegenheit. Ihnen haben wir die trefflichen Fingerzeige zu verdanken, und wenn Ihre Ansicht eine bessere ist als die meinige, so versteht es sich ganz von selbst, daß sie berücksichtigt wird. Also sagen Sie getrost, was Sie denken!«

»Zunächst bin ich vollständig mit Ihnen einverstanden, daß der Streich, welchen wir gegen die Leda führen, auch ihre Bevorzuger treffen muß.«

»Schön! Weiter!«

»Diese Herren haben eine Zurechtweisung verdient, welche gar nicht kräftig genug sein kann. Welche Zurechtweisung aber erhalten sie, wenn die Leda keine Zeit findet, aufzutreten?«

»Sie haben die Blamage, daß ihr Protegée arretirt wird und gar nicht zum Auftreten kommt.«

»Diese Blamage haben sie unsererseits, aber nicht von seiten des Publikums.«

»Man veröffentlicht nachher, daß sie sich bereits vorher für die Mörderin entschieden hatten.«

»Vielleicht finden sie für uns noch nicht greifbare Unterlagen, diesen Beweis anzufechten. Ich meinerseits halte es für gerathener, sie vorerst nicht zu stören.«

»Sie wollen ihnen Zeit lassen, sich factisch für die Leda zu entscheiden?«

»Ja.«

»Sie wünschen also, daß die Tänzerin auftreten soll?«

»Ja. Bei diesem Auftreten haben wir ja Gelegenheit, die Intriguen und Machinationen, welche gegen die Amerikanerin gespielt werden, zu durchschauen. Dies wäre aber nicht der Fall, wenn die Leda gar nicht auftreten könnte.«

»Hm! Ich gebe zu, daß Sie nicht ganz unrecht haben.«


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»Diese Herren würden jubeln. Sie fühlten sich am Siege. Sie würden diesen Sieg in der Presse ausposaunen. Desto fühlbarer würde dann der Schlag sein, welchen wir gegen sie führen wollen.«

»Ich stimme Ihnen bei. Wann aber soll die Leda arretirt werden?«

»Gleich nach der Vorstellung.«

»Vom Theater weg?«

»Nein. Wir müssen es so einzurichten suchen, daß sie sofort nach Schluß der Vorstellung hierher geht, um die kleine Leiche zu beseitigen.«

»Dies würde keine Schwierigkeit bieten. Aber Sie vergessen das interessante Souper auf dem Bellevue.«

»Hm, ja, um das komme ich. Ich wollte den heimlichen Zuschauer oder vielmehr Zuhörer machen.«

»Nun, um diesen Genuß würden Sie ja auch kommen, wenn die Leda bereits vor der Vorstellung arretirt würde.«

»Das ist wahr. Und doch gönne ich diesem Herrn Léon Staudigel eine gehörige Beschämung!«

Der Fürst blickte einige Secunden lang nachdenklich zu Boden, dann lachte er leise vor sich hin und sagte:

»Da kommt mir ein Gedanke! Wir können ja diesem ehrenwerthen Herrn sein Souper lassen!«

»Mit der Leda? Diese also erst später arretiren?«

»Nein. Die Herren hier warten auf uns. Sprechen wir später über diesen Gegenstand. Es mag aber bei Ihrem Rathe bleiben, daß wir die Leda auftreten lassen.«

»Und jetzt wollen Sie die Riesin arretiren.«

»Ja.«

»Wie nun, wenn sie nicht gesteht?«

»Wir Beide haben sie ja hier beobachtet. Sie selbst haben sie und ihre Mutter und auch die Leda belauscht. Wir sind also Zeugen und uns wird man glauben.«

»Davon bin auch ich überzeugt, doch halte ich es für vortheilhafter, wenn wir sie in Flagranti ergreifen.«

»Wie soll das geschehen?«

»Wir locken sie noch einmal hierher, grad so, wie Sie es ja auch mit der Leda machen wollen. Sie müssen Grund bekommen, die Leiche zu entfernen, und dabei werden sie ergriffen, die Mutter sowohl, als auch die Tochter.«

»Hm! Sie haben auch hier wieder recht.«

»Wie aber bringen wir sie dazu, zum zweiten Male herzugehen?«

»Das ist nicht schwer. Das werde ich auf mich nehmen. Haben Sie noch eine Bemerkung?«

»Nein.«

»So werde ich jetzt diese Herren informiren.«

Er trat zu den Beamten zurück und sagte:

»Es ist wahr, meine Herren, Herr Doctor Holm hat mir jetzt einige


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Fingerzeige gegeben, welche so vortrefflich sind, daß ich entschlossen bin, sie zu berücksichtigen. Ich werde demnach den Plan, welchen ich verfolgen wollte, ändern und muß Ihnen einige Bemerkungen machen.«

Die Herren traten erwartungsvoll näher zusammen und der Fürst fuhr fort:

»Ich sagte bereits, daß Laura Werner damals die Wahrheit gesagt habe. Sie wurde Mutter und verheimlichte aus Angst und Scham die Geburt und den Tod des Kindes. Dabei wurde dieser Entschluß durch den schwächlichen Zustand des Kindes, welches auch bald an Schwachheit starb, begünstigt. Es handelte sich darum, die Leiche heimlich zu begraben. Dieselbe wurde von der jungen Mutter in eine Schachtel gelegt und des Nachts nach dem Kirchhofe getragen, wo an demselben Tage das Begräbniß eines Mannes stattgefunden hatte, dessen Grab am Abende noch nicht vollständig zugeschüttet war. In dieses Grab, in die noch lockere Erde desselben, wollte Laura Werner das Kind verbergen.«

»Das war allerdings ihre Aussage,« bestätigte der Gerichtsrath. »Aber sie sprach dann von dem Erscheinen eines zweiten weiblichen Wesens.«

»Und auch hier sagte sie nur die Wahrheit, obgleich man ihre Worte für eine lächerliche Ausrede hielt. Nämlich kurz vorher wurde an dem Orte, an welchem ich mit dem Herrn Gerichtsrath gewesen bin, auch ein Kind, ein Mädchen geboren. Die Mutter erwürgte es mit einer rothen Rouleauxschnure und trug es in Gesellschaft mit ihrer eigenen Mutter nach dem Kirchhofe. Die Alte blieb draußen an der Mauer; die Tochter aber stieg über dieselbe weg. Sie hatte die Absicht, den Leichnam des ermordeten Kindes ganz in demselben Grabe zu verscharren, an welchem in demselben Augenblicke grad die Werner thätig war. Die Mörderin näherte sich dem Grabe. Es war die Wartensleben, welche bereits vorhin erwähnt wurde. Sie erschrak, als sie ein zweites Frauenzimmer bemerkte, welches im Begriffe stand, auch ein Kind heimlich zu begraben. Sie hatte starke Nerven; sie erholte sich schnell von dem gehabten Schreck und faßte den Entschluß, sich diese Begegnung zum Nutzen zu lenken.«

Die anderen Herren hörten mit größter Aufmerksamkeit zu. Der Bericht wurde ja immer interessanter. Der Fürst fuhr fort:

»Die Wartensleben dachte daran, daß der Mensch die Fäden, an welchen die Zukunft hängt, nicht in der Hand habe. Sie wußte, daß sehr oft ein geringfügiger, unvorhergesehener oder nicht beachteter Umstand zur Entdeckung eines Verbrechens führt. Dies konnte ja auch bei ihr der Fall sein und dem konnte sie jetzt vorbeugen. Sie näherte sich also, nachdem sie die Kindesleiche einstweilen fortgelegt hatte, um sie nicht bemerken zu lassen, der fremden Person und redete dieselbe an.«

»Wie muß die Werner erschrocken sein!« meinte der Arzt.

»Natürlich auf das Höchste! In ihrem Schrecke ließ sie sich von der Wartensleben leicht ihren Namen, ihre Wohnung und alle anderen Umstände entlocken und entfloh dann, nachdem sie inständigst um Verschwiegenheit gebeten hatte. Die Wartensleben versprach, zu schweigen, dachte aber nicht daran, dieses Versprechen zu halten. Sie nahm, nachdem die Werner sich entfernt


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hatte, das Kind derselben aus der Schachtel und vertauschte es mit ihrem eigenen. Sogar die Kleider wurden gewechselt. Dann vergrub sie ihr Kind in dem Sarge der Werner und entfernte sich mit dem Kinde der Letzteren.«

»Um dasselbe hier unter der Scheune zu verbergen?« fragte der Staatsanwalt.

»Ja, wie Sie bemerkt haben.«

»Welch eine Raffinirtheit! Und die Mutter der Wartensleben war Gehilfin dabei?«

»Natürlich. Nun befand sich aber in Folge eines noch unaufgeklärten Umstandes, über welchen wir uns aber bald Klarheit verschaffen werden, eine Person bei der Scheune, welche die beiden Frauen beobachtete.«

»Ein Mann?«

»Nein, sondern ein Frauenzimmer. Ich nehme an, daß Ihnen Allen der Riese Bormann bekannt ist?«

»Natürlich! Mehr sogar, als ihm lieb sein kann.«

»Kennen Sie seine Familienverhältnisse?«

»Ja,« antwortete der Staatsanwalt. »Es ist ja die Aufgabe des Richters, sich über die Privatverhältnisse eines jeden Angeklagten möglichst genau zu informiren.«

»So wissen Sie auch, welche Verwandte der Riese hat?«

»Ja. Er hat Weib und ein Kind.«

»Und weiter!«

»Einen Bruder, welcher sich als Akrobat sehen läßt und kürzlich einer fahrlässigen Tödtung und vorher Mißhandlungen wegen flüchtig geworden ist. Es ist noch nicht gelungen, ihn zu ergreifen.«

»Lebt die Mutter dieser beiden Brüder?«

»Ja.«

»Wo?«

»Das ist mir nicht gegenwärtig. Sie zieht mit einer Tochter herum, welche in Beziehung auf ihren Körperbau den beiden Brüdern vollständig ebenbürtig ist und in Folge dessen sich als Kraftturnerin und Riesendame sehen läßt.«

»Kennen Sie vielleicht ihren Namen?«

»Aurora.«

»Das stimmt. Nun, meine Herren, eben diese Aurora, diese Kraftturnerin und Riesendame war es, welche sich an jenem Abende aus irgendeinem Grunde bei dieser Scheune versteckt hatte.«

»Wetter noch einmal!« entfuhr es dem Obergensd'arm. »Das wird hochinteressant!«

»Für die Wartensleben war es aber nichts weniger als interessant, bei ihrer verbrecherischen Arbeit überrascht zu werden.«

»Was? Die Wartensleben wurde von diesen beiden Frauenzimmern, Mutter und Tochter, gestört?«

»Ja.«

»Ohne dann Anzeige zu machen?«


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»Sie hat ihr Schweigen verkauft.«

»Ah! Wie hoch?«

»Tausend Gulden.«

»Besaß die Wartensleben so viel Geld?«

»Sie scheint sogar fünftausend Gulden besessen zu haben. Nämlich um dieselbe Zeit waren dem Herrn von Scharfenberg fünftausend Gulden veruntreut worden - -«

»Ich erinnere mich,« sagte der Obergensd'arm. »Ich selbst war es, der den Thäter zu arretiren hatte, einen gewissen Petermann, der Inspector des Herrn von Scharfenberg gewesen war.«

»Kennen Sie sein Schicksal?«

»Ja. Er war geständig und wurde verurtheilt. Kürzlich ist er begnadigt worden und ist nach der Residenz zurückgekehrt, wie ich gehört habe.«

»Wissen Sie, wo er wohnt und was er treibt?«

»Nein. Ich habe mit dem Einwohneramte nichts zu thun.«

»Er wohnt bei mir. Ich habe ihn als Sekretär engagirt.«

»Ah!« erklang es vor Ueberraschung.

»Ja. Ich habe das gethan, weil ich überzeugt bin, daß dieser Mann unschuldig ist.«

»Unmöglich! Er hat gestanden.«

»Aus eigenthümlichen Gründen. Ihnen will ich eine Andeutung nicht vorenthalten. Nämlich die erwähnte Wartensleben war die Geliebte, die Aushälterin des jungen Herrn von Scharfenberg.«

»Sapristi! Jetzt beginnt es zu tagen!« sagte der Staatsanwalt.

»Sie hielt ihre Niederkunft in der Wohnung Petermanns, der sie heimlich zu beherbergen und zu verpflegen hatte. Plötzlich war sie verschwunden.«

»Mit dem Kinde natürlich.«

»Ja.«

»Und wohl auch mit jenen fünftausend Gulden?«

»Wahrscheinlich.«

»Wahrscheinlich, sagen Sie?«

»Weil ich es nicht beweisen kann, obgleich ich es fest behaupten möchte.«

»Ich rieth darauf, weil Sie sagten, daß Petermann unschuldig sei.«

»Ich bin davon überzeugt.«

»Hat er sich Ihnen entdeckt?«

»Nein. Er schweigt über jene Zeiten. Ich aber habe es mir zur Aufgabe gemacht, trotz dieser Zurückhaltung seine Unschuld zu beweisen. Wie gesagt, ich bin überzeugt, daß die Wartensleben das Geld gestohlen hat, welches in seiner Kasse fehlte.«

»Warum hat er das nicht gesagt?«

»Um seinen jungen Herren, den Lieutenant von Scharfenberg zu schonen. Dessen Vater durfte ja von dem Verhältnisse seines Sohnes zu der Wartensleben nichts wissen.«

»Das wäre allerdings ein ganz eclatanter Beweis von Treue und Auf-


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opferung eines Angestellten. Aber wenn Petermann in seinem Schweigen beharrt, wird sich doch nichts thun lassen!«

»Ich gebe die Hoffnung keineswegs auf.«

»Haben Sie Gründe dazu?«

»Ja. Nämlich die tausend Gulden, welche die Riesin als Preis ihrer Verschwiegenheit forderte, wurden ihr in zwei Fünfhundertguldennoten ausgezahlt, deren Nummern mit bei der Veröffentlichung betreffs jener Unterschlagung angegeben waren. Die Riesin las diese Angabe und hat sich seither gescheut, die beiden Noten auszugeben.«

»Sie hat sie noch?«

»Ja.«

»Ah, wenn man wüßte, wo sich diese Aurora befindet.«

»Sie ist hier in der Residenz.«

»Wirklich, wirklich?«

»Ich habe sie heimlich bis in den Gasthof begleitet. Wir werden sie sammt ihrer Mutter arretiren.«

Der Obergensd'arm war ganz begeistert. Er rieb sich die Hände und sagte:

»Das ist wirklich ein glanzvoller, ein ausgezeichneter Criminalfall! Wenn man doch die beiden Scheine finden könnte! Sie werden aber gut versteckt sein!«

»Das sind sie allerdings,« meinte der Fürst.

»Ah! So sagen Sie, Durchlaucht!«

»Wie sie hören!«

»Sie wissen genau, daß sie gut versteckt sind?«

»Sehr genau.«

»So müssen Sie das Versteck kennen?«

»Das ist allerdings der Fall. Die Riesin hat das Geld nämlich zwischen die Seitenwand ihres Portemonnaies eingeklebt.«

»Wie können Sie das wissen?«

»Davon später! Es gilt jetzt, uns ihrer Person und auch derjenigen ihrer Mutter zu versichern.«

»Das muß mit Vorsicht geschehen. Sie ist stark; sie wird sich jedenfalls zur Wehr setzen.«

»Und doch möchte ich gern alles Aufsehen vermeiden.«

»Wo logirt sie?«

»Im Gasthof zum braunen Rosse.«

»Schön! Ich werde sofort die nöthigen Vorkehrungen treffen, sie dingfest zu machen!«

»Bitte, Herr Obergensd'arm, lassen Sie mir noch Zeit!« meinte der Fürst lächelnd. »Ich komme hiermit zu dem Vorschlage, welchen mir Herr Doctor Holm soeben gemacht hat. Es steht nämlich zu erwarten, daß die Riesin, wenn wir sie im Gasthofe arretiren, Alles leugnen werde.«

»Das wird sie sicher thun.«

»Darum räth uns Herr Holm, sie hier an der Scheune auf frischer That zu ergreifen.«


// 1344 //

»Wie wollen wir das anfangen?«

»Ich bitte, dies mir zu überlassen. Geben Sie mir eine halbe Stunde Zeit, meine Herren, so garantire ich, daß die Riesin mit ihrer Mutter hier erscheinen wird, um das Kind zu entfernen.«

»Wenn das gewiß wäre!«

»Ich garantire!«

»Das ist genug!«

»So ersuche ich Sie, Herr Obergensd'arm, bis dahin den Gasthof heimlich bewachen zu lassen. Sollte die Riesin ausgehen, so hat einer Ihrer Leute ihr zu folgen. Herr Staatsanwalt, wollen Sie bei der Ergreifung der beiden Frauen hier mit zugegen sein?«

»Natürlich!«

»Wir müssen ihnen Zeit geben, das Loch zu öffnen; denn nur wenn sie das thun, sind sie wirklich überführt. Dabei müssen sie beobachtet werden. Das aber ist schwer, da es auf dieser Seite keine Deckung für uns giebt.«

»Wir haben nur ein einziges Mittel, ohne bemerkt zu werden, so nahe zu kommen, daß wir sie genau beobachten können.«

»Das wäre?«

»Rathen Sie, Herr Obergensd'arm!«

»Ich weiß wirklich nicht, wie wir uns bei diesem Schnee so weit heranzuschleichen vermögen.«

»Nun, der Schnee sieht weiß aus und Betttücher haben ja dieselbe Farbe.«

»So meinen Sie, wir sollen uns unter Betttücher verbergen?«

»Ja. Ich mache diesen Vorschlag.«

»Er ist allerdings der beste. Ich bin doch neugierig, was die beiden Frauenzimmer thun werden, wenn wir so ganz plötzlich bei ihnen stehen. Sie werden fürchterlich erschrecken.«

»Ob die Riesin erschrecken wird, das ist noch zu bezweifeln. Auf eine Gegenwehr müssen wir uns auf jeden Fall gefaßt machen. Also, treffen Sie Ihre Vorbereitungen, Herr Obergensd'arm! Von jetzt an in einer halben Stunde, bin ich bei der Riesin, und es läßt sich annehmen, daß sie dann nicht zögern wird, hierher zu kommen.«

Er wollte sich abwenden, wurde aber von dem Staatsanwalte verhindert.

»Bitte, Durchlaucht,« sagte dieser. »Ich errathe, daß Sie die Wartensleben kennen und nur aus gewissen Gründen zögern, uns das zu sagen.«

Der Fürst nickte nachdenklich mit dem Kopfe und antwortete:

»Ja, Ihre Vermuthung ist richtig.«

»Und ist uns keine Erkundigung erlaubt?«

»Ich wollte eigentlich noch schweigen. Wenn wird die Riesin, wenn sie sich in unserer Gewalt befindet, ihr erstes Verhör bestehen?«

»Das Gesetz bestimmt, daß das erste Verhör vor Ablauf der ersten vierundzwanzig Stunden, von der Zeit der Arretur an gerechnet, vorgenommen werden muß.«


Ende der sechsundfünfzigsten Lieferung - Fortsetzung folgt.



Karl May: Der verlorne Sohn

Karl May – Forschung und Werk