Lieferung 57

Karl May

26. September 1885

Der verlorne Sohn
oder
Der Fürst des Elends.

Roman aus der Criminal-Geschichte.


// 1345 //

»Also spätestens morgen Nachmittag?«

»Die Sache ist interessant; man wird die Gefangenen also wohl bereits am Vormittage vornehmen. Und da es sich hier darum handelt, eine unschuldig Verurtheilte der Freiheit zurückzugeben, so möchte ich keine Zeit versäumen und am Besten noch heute Abend beginnen.«

»Hm! So ist zu erwarten, daß Sie schon heut von der Riesin hören, wo sich die Wartensleben befindet. Ich werde es Ihnen also lieber sagen, spreche aber vorher einen Wunsch aus, um dessen Erfüllung ich Sie ersuche.«

»Hoffentlich steht diese Erfüllung in meiner Macht!«

»Sie brauche nur zu wollen, so wird es geschehen.«

»Nun, so will ich.«

»Ich danke.«

»Also wo ist die Wartensleben?«

»Hier in der Residenz.«

»Vortrefflich; vortrefflich! Sie und die Riesin, alle Beide hier! Das ist eine willkommene Erleichterung. Wo wohnt oder wo logirt sie?«

»Im Hotel Kronprinz.«

»Sapperment! So fein! Wenn ich nicht irre, logirt die Leda in dem selben Hause.«

»Nicht nur in demselben Hause, sondern sogar in den selben Zimmern, Herr Staatsanwalt.«

»Was Sie sagen! Sollte die Wartensleben bei der Tänzerin in Diensten stehen?«

»Nein.«

»Wie kann sie dann bei ihr wohnen?«

»Sie wohnt in denselben Zimmern und doch nicht bei ihr.«

»Das verstehe ich nicht.«

»Kennen Sie die Verhältnisse der Leda?«

»Nein. Ich weiß nur, daß sie aus Paris kommt und sich in Begleitung ihrer Mutter befindet.«

»Fällt Ihnen dabei nichts auf?«

»Was sollte mir da auffallen?«

»Nun, die Leda ist mit ihrer Mutter, und auch die Wartensleben war mit ihrer Mutter.«

»Sapperment, Durchlaucht, wollen Sie etwa - - -«

Er sprach den Satz nicht aus. Der Fürst nickte ihm zu und meinte: »Bitte, weiter, weiter!«

»Wollen Sie etwa sagen, daß die Leda mit der Wartensleben identisch sei?«

»Das ist's, was ich meine.«

»Unmöglich!«

»Warum unmöglich?«

»Die Wartensleben könnte das nicht wagen.«

»Ich ersehe kein Wagniß.«

»Sie ist Mörderin!«


// 1346 //

»Sie glaubt sich sicher vor Entdeckung.«

»Es giebt hier Personen, welche sie kennen!«

»Was thut das? Hunderte von Künstlern und Künstlerinnen nehmen ein Pseudonym an und treten darin doch da auf, wo man ihren eigentlichen Namen kennt.«

»Aber eine Verbrecherin muß doch eine solche Oeffentlichkeit scheuen!«

»Die Leda ist frech und verwegen.«

»Aber diese Protektion!«

»Ist eine große, unverzeihliche Unvorsichtigkeit.«

»Die Blamage für die Verwaltung unseres Residenztheaters! Sie ist fürchterlich!«

»Aber sehr verdient. Ich werde Ihnen, Herr Staatsanwalt, morgen meine Gründe vortragen und ersuche Sie heute nur, die Arretur der Leda erst nach der Abendvorstellung vornehmen zu lassen.«

»Das ist höchst außergewöhnlich.«

»Meine Gründe werden genügen.«

»Jedenfalls. Ich bin ja übrigens angewiesen, Ihren Weisungen die möglichste Berücksichtigung entgegenzubringen. Die Wartensleben identisch mit der Tänzerin! Was sagen Sie dazu, meine Herren?«

Die Gefragten, nämlich der Gerichtsrath, der Obergensdarm und der Arzt, waren nicht weniger betroffen wie der Fragende selbst und gaben ihre Ueberraschung in der lebhaftesten Weise zu erkennen. - -

Unterdessen hatte die Riesin es sich mit ihrer Mutter im Gasthofe gemüthlich gemacht. Sie hatten gespeist und saßen, von ihren gegen die Leda gerichteten Absichten plaudernd, auf dem Sopha, als an die Thür geklopft wurde.

»Herein!« befahl Aurora.

Der Kellner trat ein.

»Was wünschen Sie?«

»Verzeihung! Es ist ein Mann unten, der Sie zu sprechen wünscht, meine Damen.«

»Uns?« fragte sie erstaunt.

»Ja.«

»Das muß ein Irrthum sein.«

»Wohl schwerlich. Er verlangt nach Ihnen.«

»Aber wir sind hier fremd, und ich wüßte keinen Menschen, welcher nach uns fragen oder verlangen könnte. Sie haben uns das Fremdenbuch noch nicht gebracht und auch nicht nach unserer Legitimation gefragt. Kennen Sie denn meinen Namen?«

»Habe noch nicht die Ehre.«

»Nun, wie können Sie dann wissen, daß der Mann, von welchem Sie sprechen, zu mir will?«

»O, er hat auch keinen Namen genannt.«

»Was denn?«

»Er hat Sie beschrieben, und Sie werden zugeben, daß da wohl kein Zweifel obwalten kann.«


// 1347 //

»Wie hat er denn gesagt?«

»Ich soll ihn bei der großen Dame anmelden, welche vor ungefähr zwei Stunden mit einer anderen Dame, die ihre Mutter zu sein scheint, angekommen, unten im Zimmer eingekehrt ist und sich dann ein Fremdenlogis hat geben lassen. Sodann beschrieb er Ihre Kleidung so genau, daß ich mich ganz unmöglich irren kann.«

»Wie heißt er?«

»Das weiß ich leider nicht.«

»Aber er muß sich doch genannt haben!«

»Das that er nicht. Er forderte mich auf, falls Sie nach dem Namen fragen sollten, nur zu sagen, daß er ein alter, guter Bekannter von Ihnen sei.«

»Hm! Wie sah er aus?«

Der Kellner zuckte die Achseln in ziemlich impertinenter Weise.

»Nobel nicht!« erklärte er.

»Wie alt ist er?«

»Er scheint in den mittleren Jahren zu stehen.«

»Unangenehm, sehr unangenehm! Was meinst Du, Mutter? Wollen wir ihn kommen lassen.«

»Ich habe keine Lust! Wer wird er sein, und was wird er wollen? Doch irgend eine Bettellei!«

Da warf der Kellner ein:

»Er sagte, die Angelegenheit sei äußerst wichtig.«

»Ja, für ihn jedenfalls!«

»Nein, sondern für Sie. Falle es Ihnen beliebte, ihn abzuweisen, würden Sie großen Schaden haben. Er sprach von einem Engagement oder Arrangement - ich weiß es nicht genau.«

»Ach so! Nun, ich will es versuchen, obgleich Sie sagen, daß er kein nobles Äußere habe. Ich bin nämlich Künstlerin, und als solche komme ich ja oft mit sogenannten Collegen in Berührung, welche doch nur zum Mob gehören und sich leider klettenhaft an Einen hängen. Sagen Sie ihm, daß er kommen soll!«

Er ging, und bald darauf ertönte ein schüchternes Klopfen.

»Herein!« rief die Riesin mit ihrer Stentorstimme.

Der Fürst trat ein, doch so gut verkleidet, daß sie unmöglich in ihm den Gast erkennen konnten, den sie vor zwei Stunden unten im Gastzimmer gesehen hatten.

Er trug sich künstlerhaft, aber sehr ärmlich, machte eine tiefe Verneigung und grüßte in unterthäniger Weise.

»Wer sind Sie?« fragte die Riesin.

»Ein College,« antwortete er.

»Kennen Sie mich denn?«

»Ja.«

»Und meinen Namen auch?«

»Ich habe die Ehre!«


// 1348 //

»Doch zusammen gearbeitet haben wir nicht?«

»Nein.«

»Wann und wo haben Sie mich gesehen?«

»Vor etwas über vier Jahren, hier in der Residenz.«

»Aber ich bin damals hier gar nicht aufgetreten!«

»Ich hatte das Vergnügen, Sie nur en passant zu sehen.«

»Wie können Sie es da wagen, dem Kellner zu sagen, daß Sie ein alter, guter Freund von mir seien.«

»Nun, alt bin ich, ein guter Kerl auch, und Collegen sollen stets Freunde sein. Also bin ich doch auf jeden Fall Ihr alter, guter Freund.«

»Sonderbarer Beweis! Es fragt sich, ob ich Lust habe, Sie so zu nennen. Was wollen Sie?«

Ich möchte Sie um eine Unterstützung bitten.

»Ich möchte Sie um eine Unterstützung bitten.«

»Dachte es mir, daß der Besuch auf eine Bettelei hinauslaufen werde.«

»Ich bin subsistenzlos, Fräulein Bormann.«

»Das geht mich nichts an! Es ist Abend. Geht man denn sogar des Abends betteln?«

»Man bettelt, wenn man sich in Noth befindet, und die Noth fragt nicht, ob es Morgens oder Abends ist.«

»Was arbeiten Sie eigentlich?«

»Ich bin Jongleur.«

»Sie haben nicht das Aussehen, als ob Sie sehr viel Geschick besäßen. Wie ist Ihr Name?«

»Zwiebel.«

»O weh! Zwiebel, Jongleur Zwiebel! Das ist rein lächerlich. Gehen Sie, gehen Sie! Ich mag nichts von Ihnen wissen.«

»Bitte, meine Damen, weisen Sie mich nicht zurück! Ich bin so ausgebrannt, daß ich nicht einen Kreuzer für Nachtlager und Abendbrod habe.«

Die Riesin stieß ein höhnisches Lachen aus und sagte:

»Gehen Sie hinunter in den Garten; da giebt es Logis für Sie. Stecken Sie den Kopf in's Mistbeet und recken Sie die Beine in die Luft. Dann sind Sie die richtige Zwiebel und können sich bei der jetzigen Jahreszeit als Rarität sehen lassen. Das bringt Geld ein.«

»Fräulein, Sie spotten!«

»Verlangen Sie mehr? Glauben Sie wirklich, daß ich Ihretwegen in die Tasche greife, Sie frecher Mensch?«

»Frech? Ich glaube, sehr höflich gewesen zu sein!«

»Nein, sondern frech! Nur durch diese Frechheit haben Sie es so weit gebracht, sich bei uns einzudrängen!«

»Sie sehen mich höchst erstaunt! Darf ich bitten, mir zu sagen, was von mir Ihnen frech erschienen ist?«

»Haben Sie uns nicht durch den Kellner sagen lassen, daß wir großen Schaden haben würden, falls es uns in den Sinn kommen würde, Sie nicht anzunehmen?«


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»Ja, das habe ich sagen lassen.«

»Nun, ist das nicht frech?«

»Ich bin wirklich ganz betroffen, die große Rücksicht, welche ich Ihnen entgegenbringe, eine Frechheit zu nennen. Ich glaubte, Ihnen einen Dienst zu erweisen.«

»Mit Ihrer Bettelei? Gehen Sie! Verlassen Sie uns! Ich mag nichts mehr hören!«

»Dann zwingen Sie mich, außerhalb eines ordentlichen Bettes zu schlafen.«

»Schlafen Sie, wo und wie Sie wollen!«

»Da ich kein Geld habe, muß ich heute wieder da schlafen, wo ich schlief, als ich Sie kennen lernte.«

Das war in so eigenthümlicher Art und Betonung gesagt, daß sie ganz unwillkürlich fragte:

»Nun, wo haben Sie damals geschlafen?«

»In einer Scheune.«

»Pah! Ihresgleichen mag oft in Scheunen, Heuhaufen und Getreideschobern schlafen.«

»Leider ja. Aber Scheune ist nicht Scheune, Fräulein. Es giebt Scheunen, die ein gespenstisches Ansehen haben, Scheunen, in denen man nicht schlafen kann. Scheunen, in denen es des Nachts umgeht.«

»Sie sind ein Verrückter! Warum höre ich Sie an! Packen Sie sich fort, Sie Vagabond!«

Er machte keine Miene, ihrem Befehle nachzukommen, sondern fuhr unbeirrt fort:

»In der Scheune von damals geht es auch um!«

»Donnerwetter! Von welcher Scheune schwatzen Sie mir denn solche Dummheiten vor?«

»Von der Scheune dort hinter dem Gottesacker.«

Sie stutzte. Sie wurde um einen Schatten bleicher.

»Was gehen mich Ihre Phantasieen an!«

»Es sind keine Phantasieen. Das Kind geht wirklich um.«

»Welches Kind?«

»Das unter der Scheune begraben wurde.«

»Mensch, ich verstehe Sie nicht!«

»Aber ich habe Sie damals verstanden.«

»Sie befinden sich im Delirium!«

»Ja, damals fieberte ich vor Aufregung, als ich das Gespräch belauschte, welches vor der Scheune geführt wurde.«

»Aber, sagen Sie, wovon Sie eigentlich faseln!«

»Von der Wartensleben und ihrem Kinde.«

»Was Sie da vorbringen, das sind mir böhmische Dörfer!«

»Wird die Gensd'armerie nicht vielleicht in diesen böhmischen Dörfern etwas Interessantes finden können?«


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»Ich möchte allerdings einen Gens'darm kommen lassen, um ihm zu sagen, Sie abzuführen!«

»Pah! Das werden Sie unterlassen!«

»Wer will es mir wehren?«

»Ich!«

»Wieso?«

»Nicht ich würde arretirt, sondern Sie wären die Arrestantin.«

»Mensch, was wagen Sie! Ich zermalme Sie!«

Sie trat auf ihn zu und ballte drohend die Fäuste. Da hielt ihre Mutter sie zurück und warnte:

»Nicht so unbesonnen, Aurora! Dieser Mann irrt sich in uns, das ist sehr gewiß; aber wir können ihn doch wenigstens anhören.«

»Meinetwegen! Also, Herr Zwiebel, Sie verkennen uns. Was für einen Bären wollen Sie uns denn da aufbinden?«

»Nun, Sie sind doch Fräulein Aurora Bormann?«

»Ja.«

»Diese Dame ist Ihre Mutter?«

»Ja.«

»Man nennt Sie die Riesin?«

»Ja.«

»Nun, dann irre ich mich auch nicht, denn diesen Namen: die Riesin Aurora Bormann, haben Sie damals der jungen Dame genannt, welche Wartensleben hieß.«

»Unsinn! Ihre Worte sind Hieroglyphen für mich!«

»So will ich Sie Ihnen erklären.«

»Ja, thun Sie das!«

»Ich war damals außer Arbeit und reiste mit einem Collegen, dem es ebenso ging wie mir. Wir hatten keinen Hunger, denn wir erhielten da, wo wir vorsprachen, immer zu essen, aber leider kein Geld. Als wir die Residenz erreichten, hatten wir zwar einen vollen Magen, aber leider leere Taschen.«

»Gerade wie jetzt!« höhnte die Riesin.

»Hm! Vielleicht auch nicht, Fräulein! Wir wußten nicht, wo schlafen, da wir das Lager nicht bezahlen konnten. Wir suchten nach einem Quartier bei Mutter Grün, und fanden bei dieser Gelegenheit die hinter dem Petrikirchhofe gelegenen Scheunen. Sie waren verschlossen, aber an der Wand der einen war ein Bret los. Wir schoben es zur Seite und zwängten uns durch die Oeffnung. Da gab es Stroh genug zu einem weichen, köstlichen Lager.«

»Suchen Sie sich heute ein eben solches!«

»Das habe ich vielleicht nicht nöthig, denn ich bin nicht so mittellos, wie Sie denken.«

»So haben Sie uns vorhin belogen?«

»Ich wollte sehen, ob Sie ein gutes Herz haben. Doch, jetzt weiter: Wir waren sehr ermüdet, und mein Kamerad schlief rasch ein und wachte erst früh wieder auf. Auch ich war eingeschlummert, wurde aber später durch


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menschliche Stimmen aufgeweckt. Ich lauschte. Draußen standen Sie mit Ihrer Mutter.«

»Ich? Wir beide?«

»Ja.«

»Da sind Sie freilich sehr im Irrthume!«

»O nein! Ich habe Sie mir sehr genau angesehen.«

»Es war doch des Abends, wie Sie sagen!«

»Aber doch hell genug, um Ihr Gesicht zu sehen. Und in Beziehung auf Ihre Figur kann man sich erst recht nicht irren.«

»Wie konnten Sie durch die Mauer sehen?«

»Mauer? Es war nur eine Bretterwand, und da gab es Ritzen und Astlöcher genug. Sie hatten die Wartensleben mit der Leiche erwischt und schlossen den bekannten Handel ab.«

»Handel?«

»Ja.«

»Welchen denn?«

»Tausend Gulden für Ihr Schweigen.«

»Sie sind aus Rollenburg entwichen!«

»Und Sie wird man hinbringen!«

»Was hindert mich doch nur, Sie hinauszuwerfen?«

»Die Furcht vor mir«

»Oho!«

»Sie hätten sofort die Polizei auf dem Halse. Ich habe damals das ganze Gespräch gehört und weiß also genau, woran ich bin.«

»Nun, wenn Sie das so genau wissen, so sagen Sie mir doch einmal, was wir gethan haben sollen. Es scheint sich, nach Ihren Worten zu schließen, um ein Kind zu handeln.«

»Thun Sie immerhin, als ob Sie nichts wüßten. Ich habe meine Beweise. Sie haben das Kind der Wartensleben verstecken und also den Kindesmord vertuschen helfen. Dafür sind Ihnen tausend Gulden bezahlt worden.«

»Und wenn das wahr wäre, was geht es Sie an?«

»Oho! Da geht jedem Menschen Etwas an.«

»Damals ging es Ihnen Etwas an. Sie hätten Anzeige machen sollen. Warum thaten Sie es nicht?«

»Anzeige? Unsinn! Das hätte mir nichts genützt. Ich wollte viel lieber theilen.«

»Was?«

»Die tausend Gulden.«

»Aha, siehe da!«

»Ja. Ich wäre sofort aus der Scheune zu Ihnen gekommen; aber da wäre mein Kamerad aufgewacht, und das mußte ich vermeiden. Ich ließ Sie also ruhig das Kind verstecken -«

»Wohin ist es denn gesteckt worden?«


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»Das konnte ich leider nicht sehen; aber unter der Scheune befindet es sich, so viel ist sicher.«

»Sie müssen damals einen bösen, schweren Traum gehabt haben, mein armer Herr Zwiebel!«

»Möglich! Jetzt aber bin ich aufgewacht und weiß, was ich zu thun habe. Sie entfernten sich. Am anderen Morgen trennte ich mich von meinem Gefährten, um freie Hand zu bekommen. Ich suchte zwei Tage lang nach der Riesin Aurora Bormann, fand sie aber nicht. Sie war dagewesen; wohin dann sie gegangen, das blieb mir verborgen.«

»Wie schade!« klagte die Riesin ironisch.

»Sodann suchte ich die Wartensleben. Als ich endlich das Haus fand, wo sie gewohnt hatte, war auch sie fort.«

»Sie armer Teufel! Das war wirklich Pech!«

»Aufgeschoben ist nicht aufgehoben! Ich habe immer gehofft, die Riesin oder die Wartensleben einmal zu treffen. Heute war mir das Glück günstig. Ich sah Sie.«

»Wo?«

»Sie beobachteten eine Dame, welche dann in das Hotel zum Kronprinz trat.«

Die Riesin erbleichte. Wenn er ihr weiter gefolgt war, so mußte er ja auch wissen, daß sie an die Scheune gegangen war. Und die Dame, welche er erwähnte, war ja die Wartensleben, welche er suchte!

»Ich weiß nichts davon.«

»Ihre Mutter erkundigte sich beim Portier nach dieser Dame. Dann gingen sie fort.«

»Wohin?«

»Das werden Sie wohl wissen!«

»Sie wohl nicht?«

»Sehr gut.«

»Nun, wohin gingen wir?«

»Nach den Scheunen, jedenfalls um ein Paternoster für die Seele des armen, ungetauft gestorbenen oder vielmehr ermordeten Kindes zu beten. Nicht?«

»Sie lügen!«

»Ah! Sie sind nicht bei den Scheunen gewesen?«

»Nein.«

»Dann darf ich meinen Augen nicht mehr glauben!«

»Wo sind denn Sie gewesen, daß Sie uns gesehen haben wollen?«

»Ich folgte Ihnen und blieb auf dem Kirchhofe, um Sie beobachten zu können. Als Sie dann zurückkehrten, mußte ich erfahren, wo sie wohnen, und ging hinter Ihnen bis zu diesem Gasthofe. Wollen Sie noch leugnen, daß Sie es gewesen sind?«

»Sie haben sich geirrt. Es sind zwei Andere gewesen.«

»O, Sie selbst glauben ja doch nicht, daß es im ganzen Lande noch ein einziges Frauenzimmer von ihrem Wuchse giebt!«


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»Sie sind wirklich irrsinnig! Aber, selbst wenn sie bei vollem Verstand wären, welchen Zweck verfolgen Sie denn, indem Sie uns aufsuchen?«

»Den, welchen ich bereits seit jener Nacht verfolge, und wegen dessen ich Sie immer gesucht habe: Theilen!«

»Was fällt Ihnen ein!«

»Sie haben tausend Gulden erhalten -«

»Lüge!«

»Geben Sie mir fünfhundert davon!«

»Nicht fünf Kreuzer! Uebrigens habe ich diese Geschichte nun satt! Sie erzählen uns da einen Roman, welcher uns gar nichts angeht. Ich fordere Sie jetzt allen Ernstes auf, nachzusehen, wo der Zimmermann das Loch gelassen hat!«

»Das werde ich thun, sobald wir einig geworden sind!«

»Das kann nicht geschehen!«

»Warum nicht?«

»Weil wir nicht Diejenigen sind, für welche Sie uns halten!«

»Sie mögen heute leugnen. Wenn ich meine Beweise bringe, werden Sie Farbe bekennen müssen.«

»Welche Beweise haben Sie?«

»Das Kind. Das Gerippe muß noch zu finden sein.«

»Meinetwegen!«

»Ich werde die Polizei auffordern, unter der Scheune nach der Leiche zu suchen.«

»Thun Sie das immerhin!«

»Und wenn man die Ueberreste findet - -?«

»So ist gegen uns gar nichts bewiesen! Es ist nur bewiesen, daß dort ein Kind versteckt wurde.«

»So habe ich einen zweiten Beweis!«

»Welchen?«

»Die Wartensleben.«

»Wo ist sie?«

»Ich weiß es nicht.«

»Ah, da steht es mit Ihrem Beweise höchst faul!«

»Ich werde Sie finden!«

»So suchen Sie!«

»Ja, das thue ich! Sie hatten ein so reges Interesse für die Dame, welche nach Hotel Kronprinz ging. Ich konnte dieselbe nicht am Gesicht sehen, werde mich aber erkundigen. Darauf können Sie sich verlassen!«

»Das ist sehr klug und weise von Ihnen gehandelt.«

»Vielleicht befindet sich die Wartensleben wieder hier. Ich würde sie sofort wieder erkennen.«

»So gebe ich Ihnen den Rath, von Haus zu Haus, von Etage zu Etage und von Zimmer zu Zimmer durch die Residenz zu gehen. Dann müssen Sie sie finden.«

»Das habe ich gar nicht nöthig. Es giebt ein besseres, weit einfacheres


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Mittel, sie zu finden, wenn sie überhaupt da ist. Und dieses Mittel ist trotz aller Einfachheit untrüglich.«

»Da bin ich wirklich begierig, es kennen zu lernen.«

»Dieses Mittel heißt - Theater.«

Die Riesin vermochte doch nicht, eine Bewegung des Schreckens zu unterdrücken. Doch gelang es ihr, in möglichst sorglosem Tone zu fragen:

»Sie halten das Theater für eine Mausefalle?«

»Dieses Mal ja. Ich habe gehört, daß morgen eine Amerikanerin mit der Leda um die Wette tanzt. Das ist eine Gelegenheit, die Keiner versäumt, der das Geld zu einem Billete besitzt. Die Wartensleben hat Ihnen tausend Gulden bezahlt; sie ist also nicht arm. Wohnt sie in der Residenz, so geht sie sicher in das Theater.«

»Wie wollten Sie sie unter so Vielen herausfinden?«

»Lassen Sie das meine Sorge sein! Es werden mir noch Andere helfen. Die Leute, bei denen sie gewohnt hat, kennen sie genau.«

»Nun, so wünsche ich Ihnen Glück. Bei mir aber haben Sie keins und werden auch nie welches haben.«

»Sie leugnen also wirklich?«

»Ja.«

»Das ist sehr unüberlegt von Ihnen.«

»Wieso?«

»Weil dann die Angelegenheit zur Anzeige kommt.«

»Das ist mir sehr gleichgiltig!«

»O, Sie werden auf alle Fälle, selbst wenn Sie unschuldig sind, auf meine Aussage hier in Untersuchungshaft genommen!«

»Die Hauptsache ist, daß man mir nichts beweisen kann, weil ich unschuldig bin. Man wird mich bald entlassen, Sie aber desto fester nehmen. Falsche Anschuldigungen werden hart bestraft. Ueberlegen Sie sich das.«

»Mein Entschluß ist gefaßt. Uebrigens würde es ja Ihr Schaden gar nicht sein, wenn Sie mir armen Teufel die fünfhundert Gulden gönnten. Sie könnten sich dieses Sümmchen von der Wartensleben zurückzahlen lassen.«

»Ich kann, mag und will nichts, gar nichts, weil ich das, wovon Sie sprachen, nicht gethan habe!«

»Sie sind wirklich höchst hartnäckig. Ich sehe es Ihrer Mutter an, daß diese gern vorsichtiger sein möchte als Sie; sie würde mit sich sprechen lassen. Ich will den ganz Schlechten nicht an Ihnen spielen, und darum gebe ich Ihnen eine Frist zum Ueberlegen.«

»Wirklich? Welche Güte, Gnade und Langmuth!«

»Ja, ich will Rücksicht nehmen.«

»Nun, wie lange geben Sie uns denn Zeit?«

»Bis morgen früh acht Uhr.«

»Blos!«

»Das ist genug, um die Chancen gegen einander abzuwiegen. Um acht Uhr komme ich wieder.«


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»Bleiben Sie getrost fort. Ich werde Sie nicht vorlassen.«

»So bin ich um viertel neun Uhr auf der Polizei.«

»Sehr eilig von Ihnen!«

»Um neun Uhr ist die Leiche gefunden!«

»Lassen Sie dem armen Wurm doch Ruhe!«

»Und eine Viertelstunde später sind Sie und Ihre Mutter arretirt.«

»Und eine Viertelstunde später bin ich entlassen, und Sie stecken im Loche!«

»Warten wir es ab! Uebrigens gebe ich keineswegs die Hoffnung auf, daß Sie sich bereits heute Abend besinnen. Besprechen Sie sich mit Ihrer Mutter, und wenn Sie mir etwas mitzutheilen haben, so schicken Sie nach der Centralherberge auf der Hauptstraße, wohin ich jetzt gleich gehe, um zu warten. Ich bin dort leicht zu finden, denn meinen Namen wissen Sie: Zwiebel!«

»Ich wundere mich wirklich über Ihre Ausdauer. Ich versichere nun zum zehnten und letzten Male, daß Sie sich in den Personen irren. Gehen Sie endlich, sonst klingele ich dem Hausknechte, damit er Sie per Extrazug zum Teufel bringen möge!«

»Ich wurde mich doch nur hinbringen lassen, um für Sie Quartier zu machen. Gute Nacht!«

»Vorwärts marsch!«

»Auf Wiedersehen, heut oder morgen!«

Damit ging er zur Thür hinaus.

Jetzt erst wollte die Alte dem Schrecke, der über sie gekommen war, Ausdruck geben. Sie schlug die Hände zusammen und sagte in ängstlichem Tone:

»Aber, Aurora, ich begreife nicht, wie Du -«

»Still!« wurde sie rasch unterbrochen. »Ich weiß, was ich thue. Rasch, laufe ihm nach!«

»Wozu?«

»Damit wir sehen, ob er wirklich nach der Hauptstraße geht. Du brauchst ihn nur durch zwei Gassen zu folgen; dann kehrst Du zurück!«

Die Alte eilte ihm nach.

Sobald der vermeintliche Zwiebel die Straße erreichte, raunte er einem an der Thür des Nachbarhauses stehenden Manne, der natürlich ein Polizist in Civil war, zu:

»Man wird mir folgen, um zu sehen, wohin ich mich wende. Um sie sicher zu machen, darf ich mich nicht umdrehen, Kommen Sie also gleich nach, und sagen Sie es mir, wenn die Verfolgung aufgegeben worden ist!«

Er schritt weiter. Kaum hatte er sich um einige Ellen entfernt, so erreichte die Alte die Gasse. Sie bemerkte ihn und folgte ihm, ohne aber gewahr zu werden, daß sie nun selbst beobachtet wurde.

An dem Ende der zweiten Gasse kehrte sie befriedigt um, weil Zwiebel wirklich die Richtung nach der Hauptstraße eingeschlagen hatte. Er hatte sich nicht umgesehen. Jetzt kam der Polizist herbei und meldete:


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»Sie ist wieder zurück!«

»Wie weit ging sie mit?«

»Bis an die letzte Ecke.«

»Schön! Kehren Sie an Ihren Posten zurück. Voraussichtlich werden sich die Zwei in Kurzem an die Scheunen begeben. Legen Sie ihnen nichts in den Weg. Sollten sie aber eine andere Richtung einschlagen, vielleicht gar in der Absicht, die Hauptstadt zu verlassen und die Flucht zu ergreifen, so strengen Sie Alles an, sie fest zu halten.«

»Auch Gewalt?«

»Ja, Arretur!«

Der Polizist kehrte nach dem Gasthofe um, und der Fürst eilte durch einige Seitengassen nach dem Kirchhofe und von da nach den Scheunen hin.

»Nun?« fragte die Riesin gespannt, als ihre Mutter wieder in die Stube trat.

»Er ging den rechten Weg.«

»Wirklich nach der Hauptstraße?«

»Ja.«

»Der Esel!«

»Esel nennst Du ihn?«

»Ja. Er will mir gefährlich werden und ist doch zu dumm, zu ahnen, wie ich mich dieser Gefahr in wenigen Augenblicken zu erwehren vermag.«

»Wie ich erschrocken bin! Ach, ich muß mich setzen!«

»Verdammt ist's, das ist wahr!«

»Ich dachte, der Schlag würde mich treffen.«

»Ich hatte auch alle Mühe, mich zu beherrschen, als er so schmauchend die Rede auf die Scheunen brachte.«

»Wer hätte das damals gedacht!«

»Daß in der Scheune zwei staken! Die muß der Teufel hingeführt haben!«

»Und daß dieser Mensch uns gehört hat!«

»Und jedes Wort verstanden! Von Dem aber, was wir dort eigentlich gewollt haben, scheint er nichts zu wissen. Das ist gut, sehr gut.«

»Er hat uns gesucht!«

»Ja, doch konnte er uns nicht finden, weil wir uns gleich am nächsten Tage fortmachten. Auch die Wartensleben ging mit Seesturm ab. Er hat wirklich Pech gehabt, uns aber doch nach vier Jahren erwischt.«

»Was werden wir thun?«

»Das fragst Du noch?«

»Natürlich! Du wirst es doch nicht zu einer Anzeige kommen lassen, Aurora!«

»O doch!«

»Dann sind wir verloren!«

»Unsinn!«


// 1357 //

»Er hatte ganz recht: Was wir ihm geben würden, müßte die Wartensleben ersetzen.«

»Ich danke! Ich mag von einer solchen Zwickmühle nichts wissen!«

»Zwickmühle?«

»Na, ja doch! Wie willst Du es anders nennen? Wir würden heut zahlen, damit er das Maul halte, und sobald das Geld zur Neige ging, würde er wieder kommen. Das ist doch Zwickmühle. Darum habe ich ihn gleich ein für alle Male abgewiesen.«

»Aber er macht sicher Anzeige. Er sah mir ganz so aus, als ob es ihm ernst sei.«

»Das glaube ich auch.«

»So werden wir arretirt!«

»Fällt keinem Menschen ein!«

»Man wird das Kind finden!«

»Nein.«

»Es ist ja noch dort!«

»Jetzt noch. Morgen früh aber wird es fort sein.«

»Ah, Du willst es fortschaffen?«

»Natürlich! Dann mag er Anzeige machen. Wenn die Polizei nichts findet, kann man uns nicht arretiren. Man wird den Kerl für schwachsinnig erklären.«

»Wann gehst Du nach den Scheunen?«

»Ich gehe nicht allein. Du gehst natürlich mit. Wir haben eigentlich Zeit bis morgen früh; aber besser ist doch besser. Er könnte auf andere Gedanken kommen.«

»Und schon heute Abend Anzeige machen.«

»Ja. Es ist also gerathen, das Kind möglichst bald zu entfernen.«

»Wohin schaffen wir es?«

»Am Leichtesten wäre es, es in's Wasser zu werfen.«

»Man könnte es da finden!«

»Es kann ja nicht fort- oder angeschwemmt werden! Es ist versteint und sinkt also sofort unter und bleibt auf dem Boden liegen.«

»So, also in's Wasser damit!«

»Halt! Warte nur! So schnell geht das nicht. Wir müssen auch überlegen, daß wir die Leiche gegen die Leda brauchen. Ohne das Kind können wir ihr nichts beweisen und ihr also auch kein Geld entlocken.«

»Das ist wahr.«

»Es wird also am Besten sein, wir verbergen es einstweilen an einem anderen Ort.«

»Aber wo?«

»Das ist schwierig. So schnell läßt es sich auch nicht bestimmen. Es genügt, wenn wir einen Ort haben, an welchem es einstweilen, also für ein paar Tage, sicher ist. Bis dahin fällt uns allemal etwas Besseres ein.«

»Ich weiß Etwas!«


// 1358 //

»Nun?«

»Wir stecken es in eine Gosse.«

»Die Gossen sind ja gar nicht zugänglich!«

»Hier in der Stadt, ja. Aber draußen im Freien sind sie offen. Wie oft giebt es unter den Chausseen Abzüge, durch welche das Wasser abläuft. So ein Abzug, so eine Gosse wäre für den Augenblick der bequemste Ort.«

»Das ist wahr. Aber es droht uns noch von einer ganz anderen Seite Gefahr. Du hast's ja gehört!«

»Das mit der Wartensleben?«

»Ja. Er sucht sie.«

»Und er wird sie finden!«

»Ganz sicher! Daß dieser Mensch uns hinter der Leda erwischen mußte!«

»Er wird in das Hotel gehen.«

»Vielleicht macht ihn dort der Name irre. Aber desto sicherer wird er sie im Theater sehen. Diesen Gedanken hat ihn ja der Satan eingegeben!«

»Wenn sich die Leda übertölpeln läßt!«

»Das ist es ja eben! Könnte ich ihrer sicher sein, so machte ich mir aus seiner Drohung nicht das Mindeste. Aber wenn er sie so überrascht wie uns, so ist es möglich, daß sie vor lauter Schreck Alles gesteht.«

»Dann sind wir verloren!«

»Trotzdem wir die Leiche verbergen!«

»Wir müssen sie benachrichtigen!«

»Unbedingt. Wir gehen, sobald wir die Leiche entfernt haben, sofort zu ihr, um sie zu warnen.«

»Sie wird bereits über uns erschrecken.«

»Das kümmert uns nichts. Uebrigens giebt uns die neue Gefahr, in welche uns dieser Zwiebel bringt, auch neuen Grund, Zahlung von ihr zu verlangen.«

»Wenn sie Geld hat!«

»Eine Tänzerin hat immer Geld. Nimm den Pelz! Komm, wir wollen gehen!«

»Löschen wir die Lichter aus?«

»Nein. Es ist doch möglich, daß er wiederkommt, um zu sehen, was wir machen. Brennen die Lichter, so wird er glauben, daß wir zu Hause sind.«

Sie gingen. Als sie den Flur erreichten, trat ihnen der Kellner entgegen. Allem Augenscheine nach hatte er sie erwartet, doch fiel es ihnen nicht ein, dies zu bemerken.

Er hielt das Fremdenbuch in der Hand und sagte:

»Entschuldigung, meine Damen! Soeben wollte ich zu Ihnen hinaufkommen.«

»Wir sollen uns eintragen?« fragte die Riesin.

»Ja.«

»Wir werden es nach unserer Rückkehr thun.«

»Wann kommen sie wieder?«


// 1359 //

»Vielleicht in zwei Stunden.«

»Dann thut es mir leid, Sie belästigen zu müssen. In einer Stunde kommt Visitation; da müssen die Fremden, welche bis dahin angekommen sind, bereits im Buche stehen.«

»So kommen Sie herein in das Gastzimmer. Hinauf gehen wir nicht erst.«

Sie setzte sich drinnen an einen Tisch und schrieb ein:

»Aurora Bormann, Künstlerin aus Rollenburg. Nebst Mutter; vorübergehend hier.«

Dann ging sie ihrer Mutter nach, welche bereits eine Strecke zurückgelegt hatte.

Die Beiden bemerkten nicht, daß ihnen einige Gestalten vorsichtig nachschlichen, dann aber in der Nähe des Kirchhofes stehen blieben. Die Polizisten hatten sich nun überzeugt, daß das Wild in das Garn laufen werde.

Mutter und Tochter blickten sich einige Male um, und als sie keine Seele bemerkten, schlugen sie den Weg nach den Scheunen ein. Sie sprachen kein Wort, bis sie dieselben erreicht hatten. Aber dort fragte die Alte:

»Wir gehen doch gleich an das Werk?«

»Nein.«

»Was denn?«

»Erst müssen wir uns überzeugen, ob wir allein sind. Wir gehen um die Scheunen herum, Du hier rechts und ich links. Dann treffen wir grad da, wohin wir wollen, wieder zusammen.«

Sie trennten sich, um zu recognosciren. Als sie sich wieder fanden, sagte die Mutter:

»Ich habe Niemand gesehen.«

»Ich auch nicht. Wir sind sicher.«

»Es ist aber doch ein eigenthümliches Gefühl, zu denken, daß man es mit einer Leiche zu thun hat.«

»Noch dazu mit der Leiche eines Ermordeten! Aber hin ist hin. Leiche bleibt Leiche, ob ermordet oder natürlich gestorben, das ist ganz egal. Ueberdies handelt es sich hier ja gar nicht um eine Leiche, sondern um einen Stein. Horch!«

Sie drehte sich halb ab und lauschte.

»Was ist's?« fragte ihre Mutter ängstlich.

»Ich glaubte, den Schnee knirschen gehört zu haben.«

»Es wird welcher vom Dache gefallen sein.«

»Möglich. Bei solchen Gängen ist man doch ein wenig schreckhaft, man mag sonst noch so muthig sein.«

»Fangen wir also an, damit es desto rascher wieder ein Ende hat!«

»Warte nur! Noch wissen wir nicht, wohin wir das Kind tragen.«

»Ich weiß einen solchen Abfluß, wie wir vorhin erwähnten.«

»Wo?«

»Gleich hinter dem Bellevue, wo der Wald beginnt.«


// 1360 //

»Ja, ich besinne mich. Es ist gar nicht so sehr weit dahin. Der Weg ist einsam. Es wird das der beste Ort sein. Wenn wir das Kind in die Gosse legen und einige Steine dazu, wird kein Mensch es finden.«

»Also heraus damit!«

Die Alte kniete nieder und begann die Erde zu entfernen. Die Riesin half ihr dabei.

»Scheint Dir die Erde nicht außerordentlich locker zu sein?« fragte dabei die Erstere.

»Ja. Es ist auch gar nicht anders möglich. Wir haben das Loch ja schon einmal aufgewühlt.«

»Aber ich glaube es viel fester zugestampft zu haben.«

»Das denkst Du nur. Sprich übrigens leiser. Im Winter ist die Luft kalt und bei Kälte geht der Schall viel weiter als sonst.«

»Wer soll uns hier hören? Etwa die Todten da drüben auf dem Kirchhofe?«

»Nein, sondern die Lebenden hier,« erklang es hart hinter ihnen.

Beide stießen einen lauten Schrei des Schreckes aus und fuhren empor. Hätte der Blitz neben sie eingeschlagen, so hätte der Schreck nicht größer sein können. Der Mann, welcher bei ihnen stand, lachte zufrieden vor sich hin und sagte:

»Das wahr eine Ueberraschung, nicht wahhr? Ich hoffe aber, daß es eine freudige ist!«

»Zwiebel!« stieß die Riesin hervor.

»Herr Zwiebel!« bebte die Mutter, welche sich von ihrem Schrecke nicht so schnell zu erholen vermochte.

»Ja, ich bin beides. Zwiebel und auch Herr Zwiebel, je nachdem man mehr oder weniger höflich gegen mich ist.«

»Ich denke -« stotterte die Alte.

»Was denken Sie?«

»Daß - daß - daß Sie sich in der Centralherberge befinden.«

»Da denken Sie falsch, wie bereits öfters am heutigen Abend, Frau Bormann.«

»Was wollen Sie hier?« fragte jetzt die Riesin.

»Und was wollen Sie?« antwortete er.

»Das geht Sie nichts an!«

»So haben auch Sie mich nicht zu fragen.«

»Packen Sie sich fort!«

»Sie werden mir schon zu bleiben erlauben, Fräulein. Ich interessire mich außerordentlich für die Minirarbeit, welche Sie da begonnen haben.«

»Sie haben sich um uns gar nicht zu bekümmern.«

»Das war auch meine Absicht nicht.«

»Warum kommen Sie hierher?«

»Ich war eher da als Sie. Warum laufen Sie mir nach?«


// 1361 //

»Waren Sie eher da, so können Sie auch eher gehen. Entfernen Sie sich augenblicklich!«

»Ich werde nicht gehen, ohne mit Ihnen fertig geworden zu sein. Sie werden nun zugeben, daß ihr Leugnen nichts als lächerlich gewesen ist.«

»Wir haben nicht geleugnet!«

»Nicht! Und wie sehr!«

»Wer leugnet, der sagt die Unwahrheit; wir aber sind wahr gewesen. Wir wissen von nichts.«

»Was suchen Sie dann hier?«

»Das Kind!«

Ihre Stimme hatte einen überlegenen, höhnischen Ton angenommen. Es war ihr ein Gedanke gekommen, von welchem sie Rettung erhoffte.

»Ah! Sie suchen das Kind,« sagte Zwiebel. »Und dennoch behaupten sie, von demselben nichts gewußt zu haben.«

»Wir wußten nichts, kein Wort!«

»Und doch wühlen Sie hier?«

»Haben Sie uns nicht selbst gesagt, wo es sich befindet? Wir sind gekommen, es zu suchen und dann Anzeige zu machen. Wissen Sie!«

Da lachte Zwiebel laut und herzlich auf. Er entgegnete:

»Die Angst hat Ihnen einen Gedanken eingegeben, welchen Sie für sehr geistreich halten; aber Sie irren sich abermals in mir. Ich habe zwar die Scheunen genannt, Ihnen aber nicht diejenige bezeichnet, um welche es sich handelt. Und noch viel weniger habe ich Ihnen den Ort genannt, an welchem sich die Leiche findet. Wie kommt es nun, daß Sie sofort die richtige Scheune finden und auch die betreffende Stelle sogleich in Angriff nehmen?«

»Zufall!«

»Pah! Das machen Sie weder mir noch einem Anderen weiß. Ich wußte, daß Sie hierhergehen würden, um das Kind zu entfernen, damit meine Anklage hinfällig werde. Darum habe ich Sie hier erwartet.«

»Warum bekümmern Sie sich so um mich? Haben Sie das Recht dazu?«

»Ah, Sie bekümmern sich wohl nicht um mich?«

»Fällt mir gar nicht ein!«

»Warum schicken Sie mir da Ihre Mutter zwei Gassen weit nach? Haben Sie dazu das Recht?«

»Sie sind mir verdächtig!«

»Und Sie mir. Wir stehen uns also gleich, und darum ist es am besten, Sie gehen auf den Handel ein, den ich Ihnen angeboten habe.«

»Ich kann nicht darauf eingehen. Ich weiß von nichts!«

»Und dennoch suchen und finden Sie das Kind!«

»In Folge Ihrer Beschreibung.«

»Lächerlich! Zwei Frauen laufen nicht des Nachts an einen einsamen, verrufenen Ort, weil Sie gehört haben, daß man dort eine Leiche versteckt habe?«


// 1362 //

»Ich bin Riesendame. Ich fürchte mich nicht.«

»Und sind doch vorhin so außerordentlich erschrocken! Geben Sie sich keine Mühe, mich zu täuschen! Ich weiß Alles.«

»Nichts, gar nichts wissen Sie!«

»Meinen Sie? Und dennoch habe ich Sie in der Hand, Sie und Ihre Mitschuldige, die eigentliche Mörderin!«

»Sie meinen die Wartensleben?«

»Ja.«

»Wie können Sie die in der Hand haben! Sie haben sie ja noch gar nicht gefunden!«

»Ich habe eher von ihr gewußt als Sie!«

»Lüge!«

»Pah! Sollte ich die Leda nicht kennen?«

»Himmeldonnerwetter!« knirschte sie.

»Sie sehen, daß ich fest im Sattel sitze. Machen Sie Ihren Frieden mit mir, sonst laufen Sie immer größere Gefahr.«

»Sie sind ein schlechter Kerl!«

»Wenn Sie es wünschen, werde ich es sein, wenigstens nach Ihren Begriffen. Ich habe mit der Leda noch nicht gesprochen, und sie weiß nicht, daß ich Mitwisser bin. Weigern Sie sich, auf meinen Vorschlag einzugehen, so hefte ich mich an Ihre Fersen, bis es mir gelingt, Polizei zu erlangen, um Sie arretiren zu lassen.«

»Das werden Sie bleiben lassen!«

»Sodann gehe ich sofort zur Leda,« fuhr er unbeirrt fort. »Diese ist nicht so verstockt und hartnervig wie Sie; von ihr wird sehr leicht ein Geständniß zu erlangen sein. Dann sind Sie verloren.«

»Aurora!« bat die Mutter voller Angst.

»Was?« herrschte die Tochter sie an.

»Gieb nach!«

»Ich habe kein Geld übrig!«

»Die Leda wird zahlen!«

»Dieser Zwiebel wird es ja augenblicklich verlangen!«

»Ereifern Sie sich nicht,« meinte Zwiebel. »Die Sache liegt so klar und gerecht wie möglich vor Augen. Sie wurden die Zeugin von der Leda und verlangten tausend Gulden -«

»Ich habe nichts bekommen. Sie hat Ihr Versprechen ja gar nicht gehalten!«

»Das machen Sie einem Anderen weiß, mir aber nicht! Also Sie haben als Zeugin der Leda tausend Gulden verlangt; darauf bin ich ebenso Zeuge der That geworden. Ich könnte dieselbe Summe verlangen. Aber ich habe nur die Hälfte gesagt. Und wenn Sie jetzt nicht bei Casse sind, so bin ich auch der Mann, der mit sich reden läßt! Sie thun wirklich klug, wenn Sie aufhören, mit mir Versteckens zu spielen.«

»Aurora!« erklang es abermals bittend.


// 1363 //

Die Riesin starrte eine ganze Weile vor sich nieder, dann fragte sie in grollendem Tone:

»Wie viel verlangen Sie?«

»Desto weniger, je offener Sie sind. Ich brauche das Geld sehr nothwendig, aber Vertrauen ist mir noch lieber. Wir haben gleiche Interessen, und die wahren wir jedenfalls am Besten, wenn wir wissen, wie wir mit einander stehen!«

»Aurora!«

Die Riesin machte eine ungeduldige Bewegung und sagte:

»Sei still, Mutter! Ich weiß schon selbst, was ich zu thun habe!«

»Leugnen Sie wenigstens nicht mehr,« meinte Zwiebel.

»Was wollen Sie dagegen machen, wenn ich nichts gestehe?«

»Ihr Leugnen wäre die größte Dummheit. Ich habe ja jedes Wort gehört, was Sie hier gesprochen haben. Wenn es sich nach Ihrem Leugnen verhielt, brauchten Sie nicht die Kindesleiche hinter das Bellevue zu schaffen, um sie dort zu verstecken.«

»Sie sind ein ganz miserabler Kerl!« raisonnirte sie. »Sogar das haben Sie erlauscht!«

»Also handeln Sie danach!«

»Gut! Ich frage abermals, wieviel Sie verlangen?«

»Sind Sie gut bei Casse?«

»Nein.«

»Ich bin mit Dem zufrieden, was Sie zufällig im Portemonnai bei sich tragen.«

»Wirklich?« fragte sie erfreut.

»Ja.«

»Dann werden Sie schweigen?«

»Ja.«

»Für immer?«

»Für immer!«

»Wollen Sie es mir heilig versprechen?«

»Ja. Also ich gebe Ihnen mein heiliges Wort, daß der Jongleur Zwiebel Sie nun und nimmer verrathen wird, wenn Sie ihm das Geld schenken, welches Sie gerade bei sich haben! Sind Sie zufrieden?«

»Ja. Aber wenn es nun zu wenig ist?«

»Ich brauche Geld und halte Wort!«

»Was werden sie thun, wenn Sie das Geld erhalten haben?«

»Zwiebel wird augenblicklich verschwinden,« lachte er, »und nie wieder in diese Gegend kommen!«

»Gut, so sollen Sie das Geld haben!«

Sie zog das Portemonnai hervor, schüttete den Inhalt desselben in ihre linke Hand und reichte ihm diese hin.

»Hier nehmen Sie!« sagte sie.

Er griff zu und zählte das Geld. Dies ging ganz gut, da der Schnee genugsam leuchtete.


// 1364 //

»Sapperlot!« meinte er, als er fertig war. »Vier Gulden einundzwanzig Kreuzer!«

»Nicht genug?«

»Wo denken Sie hin!«

»Sie haben aber Ihr Wort gegeben!«

»Ich Esel! Ich war überzeugt, daß eine Künstlerin viel mehr einstecken haben werde, wenigstens hundert Gulden!«

»Sie sehen, wie sehr Sie sich geirrt haben,« lachte sie.

»Oder haben Sie mich nur getäuscht!«

»Wieso?«

»Scherz beiseite! Haben Sie wirklich nicht mehr einstecken.«

»Keinen Kreuzer mehr.«

»Ueberzeugen Sie mich.«

»Womit?«

»Lassen Sie mich in Ihr Portemonnai sehen!«

»Hier, sehen Sie! Es hat drei Fächer, und alle drei sind leer. Glauben Sie es nun?«

»Zeigen Sie!«

Wie um deutlicher sehen zu wollen, nahm er es aus ihrer Hand und blickte hinein. Dann sagte er:

»Wirklich! Nichts weiter drin! Das konnte man schon am Portemonnai ahnen - alt und abgeschabt, kaum fünf Kreuzer werth. Fräulein Bormann, ich will Ihnen einen Vorschlag machen.«

»Welchen?«

»Einen Vorschlag, an dem Sie erkennen werden, wie gut ich es mit Ihnen meine, und daß ich ganz und gar nicht zu Ihrem Schaden sein will.«

»Nun, so schlagen Sie vor!«

»Diese vier Gulden einundzwanzig Kreuzer sind wie gar nichts für mich. Nehmen Sie sie wieder!«

Sie steckte unwillkürlich ihre Hand aus, und er legte ihr auch das Geld hinein.

»Ist das Ihr Ernst?« fragte sie.

»Ja.«

»Und Sie werden trotzdem Ihr Versprechen halten?«

»Ja. Vorausgesetzt, daß Sie mir eine kleine, ganz kleine Bitte erfüllen.«

»Welche ist es?«

»Sie sind ein verteufelt interessantes Frauenzimmer; ich habe eine bedeutende Theilnahme für Sie. Ich möchte ein kleines Erinnerungszeichen, ein Andenken an Sie haben.«

»Sind Sie etwa verliebt in mich?«

»Hm! Das wäre kein Wunder! Sie sind -!«

Er hielt inne. Sie fuhr lachend fort:

»Nicht wahr, ich bin eine saftige Pflaume?«

»Ja, freilich!«


// 1365 //

»Na, wenn Sie ein Stündchen oder zwei unter vier Augen bei mir sein wollen, so kommen Sie morgen Nachmittag zu uns. Ich lasse nicht gern Jemand an unglücklicher Liebe sterben.«

»Danke, danke, danke!«

»Nicht?« fragte sie, verwundert, ihre colossalen Reize von ihm verschmäht zu sehen.

»Nein, meine Beste.«

»Warum nicht?«

»Meine Liebe ist nämlich ganz und gar nicht genußsüchtig.«

»Wie denn?«

»Platonisch.«

Da schlug sie eine ziemlich laute, höhnische Lache auf und sagte, zu ihrer Mutter gewendet:

»Hast Du jemals so etwas gehört? Ich werde platonisch geliebt! Das ist gerade so, als ob man den Wiedehopf unter die Kolibris zählen wollte! Zwiebel, Sie sind verrückt! Greifen Sie doch zu!«

»Nein, ich danke. Mein Gemüth ist zart besaitet, und meine stille Neigung zu Ihnen macht keine großen Ansprüche. Ich wiederhole, daß ich Sie in aller Bescheidenheit um ein kleines, ganz kleines Andenken bitte!«

»Na, was wollen Sie denn?«

»Etwas, was wohl viele, viele hundert Male in Ihren warmen, zarten Lilienfingern gewesen ist.«

»Was wäre das?« erkundigte sie sich neugierig, indem sie das Geld noch immer in ihrer Hand hielt.

»Dieses Portemonnai.«

Da machte sie eine Bewegung des Schreckes.

»Wo denken Sie hin!« sagte sie. »Geben Sie es her!«

Sie streckte den Arm danach aus; er aber hielt die Hand mit dem Geldtäschchen hinter sich auf den Rücken.

»Es ist ja gar nichts werth!«

»Für mich sehr viel!«

»Und als Andenken für mich noch mehr!«

»Sie können es nicht erhalten!«

»Sie haben das Geld zurück; das Portemonnai aber werden sie mir wohl lassen!«

»Nein, nein, auf keinen Fall!«

Sie machte Miene, auf ihn einzudringen. Er sagte:

»Sie thun ja gerade so, als ob das Geldtäschchen einen ungeheuren Werth hätte!«

»Den hat es auch für mich!«

»Warum?«

»Es ist ein Andenken.«

»An Ihren Bruder, den Einbrecher?«

»Nein.«


// 1366 //

»Oder an den anderen Bruder, den Todtschläger?«

»Was gehen Sie meine Brüder an! Bekümmern Sie sich doch nur um sich selbst! Her mit dem Portemonnai!«

Jetzt packte sie seinen Arm; er wehrte ab und fuhr fort:

»Oder sollte doch noch etwas darin stecken?«

»Gar nichts! Sie haben sich doch überzeugt!«

»O, man versteckt zuweilen Cassenscheine zwischen die Seitenwände! Ich habe Ähnliches schon oft gehört.«

Sie fuhr vor ihm zurück und gebot dann im barschesten Tone:

»Faseln Sie nicht! Also her, augenblicklich!«

»Vielleicht sind die zwei Fünfhundertguldenscheine drin, die Sie erhalten haben, und die Petermann mit unterschlagen haben soll!«

»Herrgott!« entfuhr es der erschrockenen Alten.

»Ah! Habe ich es errathen? Siehe da!«

»Nichts, gar nichts haben Sie errathen! Verstanden! Geben Sie die Tasche her, oder es ergeht Ihnen schlecht!«

Sie steckte das Geld ein und trat mit geballten Fäusten auf ihn ein. Sie war fast um einen Kopf höher als er, und mit ihrer Schulterbreite konnte er sich gar nicht messen. Man sollte meinen, sie hätte ihn mit einem einzigen Hiebe ihrer Faust erschlagen können.

Er aber zeigte nicht die mindeste Unruhe, sondern er antwortete in aller Gemüthlichkeit:

»Meine beste Aurora, regen Sie sich doch nicht wegen einer solchen Lappalie auf!«

»Lappalie? Ein so theures Andenken!«

»Ja, das wird es freilich sein, ein außerordentlich theures Andenken an Sie, mein liebes Kind.«

»Liebes Kind? Bleiben Sie mir vom Leibe mit diesen dummen albernen Brocken! Her mit dem Täschchen!«

»Na, wenn Sie es nicht anders thun, so sollen Sie es haben, obgleich ich stolz auf ein solches Souvenir gewesen wäre. Aber es war ausgemacht, daß Alles mir gehöre, was sich darin befinde. Ich habe also das Recht, noch einmal ganz genau nachzusehen, ob es wirklich leer ist. Die eine Seitenwand ist viel dicker als die andere. Hand auf's Herz, Aurorchen, Sie haben da etwas hinein geklebt! Nicht?«

»Unsinn, tausendfacher Unsinn! Geben Sie es her, sonst nehme ich es mir! Und aber wie!«

Sie fuhr mit beiden Händen nach dem Portemonnai; er aber hatte es blitzschnell eingesteckt und entgegnete:

»Ich muß ganz entschieden verlangen, genau nachsehen zu dürfen!«

»Nichts dürfen Sie, gar nichts! Ich fordere mein Eigenthum!«

»Und ich das meinige!«

»Es ist leer!«

»Die zwei Fünfhundertguldennoten stecken drinnen!«


// 1367 //

»Lüge!«

»Es ist wahr!«

»Wie wollen sie das wissen?«

»Ich weiß es sehr genau. Sie haben nicht gewagt, diese Noten auszugeben. Jetzt wird man die Leda fragen, woher sie diese Art von Geld genommen hat, jedenfalls aus dem Cassenschranke des armen, unschuldigen Petermann!«

Da ließ die Riesin einen zischenden Laut hören, trat einen Schritt zurück und stieß hervor:

»Ah, Sie wissen Alles! Sie sind nicht, was Sie scheinen! Sie sind ein verkappter Polizeispion! Gut! Sie sollen von mir bedient werden! Ich kann nicht dulden, daß es einen Menschen giebt, der meine Geheimnisse kennt. Es ist mir gleich, ob ich nur der Hehler oder auch der Mörder einer Leiche bin. Sie haben sich an mich gewagt; gut, Sie sind ein todter Mann.«

Sie sprang auf ihn ein, um ihn bei der Gurgel zu fassen und zu erdrosseln, stieß jedoch in demselben Augenblicke einen lauten Schrei aus. Er hatte ihre beiden Hände an den Gelenken gepackt und hielt sie mit solcher Kraft fest, daß ihr der eiserne Druck seiner Finger den Schmerzensschrei erpreßt hatte.

»Armes Geschöpf!« sagte er. »Bildest Du Dir wirklich ein, den Jongleur Zwiebel erwürgen zu können? Und wenn der Angriff gelungen wäre, so hätte es Dir doch nur Schaden gebracht. Paß auf!«

Er stieß einen Pfiff aus und im Nu wurde es unter der weißen Decke, welche sie natürlich für Schnee gehalten hatte, lebendig. Mehr als ein Dutzend Männer umringten sie und ihre Mutter.

Da brüllte sie vor Grimm laut auf und suchte ihre Hände aus dem umklammernden Griffe des Fürsten zu reißen - vergebens.

»Spion! Schurke! Lügner! Schuft!« sprudelte sie.

»Handschellen her!« gab er zur Antwort.

Sie wurde auch von hinten ergriffen und festgehalten und dann in Fesseln gelegt. Auch ihre Mutter erhielt Handschellen. Auf einen zweiten, lauteren Pfiff kam eine Droschke herbei, welche drüben am Kirchhofe auf dieses Zeichen gewartet hatte. Die beiden Gefangenen wurden hineingezwungen, denn die Riesin weigerte sich, einzusteigen, und dann ohne alles Aufsehen nach dem Gefängnisse gebracht.

Die Herren zerstreuten sich. Als der Fürst von dem Gerichtsdirector Abschied nahm, sagte der Letztere:

»Unser heutiger Fang wird Aufsehen erregen, wenn er einmal bekannt wird.«

»Der morgende noch mehr. Ich werde Sie am Vormittage aufsuchen, um Ihnen meine Vorschläge zu machen. Wer hat zu bestimmen, welcher Beamte die Untersuchung zu führen hat?«

»Ich als Gerichtsdirector.«

»Darf ich es wagen, Ihnen einen Vorschlag zu machen?«


// 1368 //

»Bitte, befehlen Sie!«

»Besitzt der Herr Assessor von Schubert ihre Zufriedenheit?«

»Sogar meine Anerkennung und Sympathie. Dieser junge Beamte wird sich schnell emporarbeiten.«

»Möchten Sie diesen eclatanten Fall nicht ihm übergeben?«

»Das wäre allerdings eine bedeutende Auszeichnung, doch soll er sie haben, da Sie es wünschen. Aber darf ich vielleicht erfahren, warum Sie gerade den Assessor bevorzugt sehen wollen?«

»Ich möchte dies als Belohnung gelten lassen für die Art und Weise, in welcher er die Untersuchung gegen den unschuldigen Robert Bertram leitete.«

»Ich verstehe und billige diese Absicht ganz und gar. Also morgen habe ich die Ehre?«

»Am Vormittage. Gute Nacht!« -

Als Max Holm sich von den Anderen getrennt hatte, fühlte er eine innere Befriedigung wie noch selten in seinem Leben. Er hatte das Seinige gethan, Ellen Starton an ihren Feinden zu rächen, und er war überzeugt, daß sein Plan gelingen werde.

Alsdann dachte er an den armen Werner. Sein Herz drängte ihn, diesem mitzutheilen, daß er in kurzer Zeit seine Tochter als unschuldig verurtheilt wieder frei sehen werde. Er brauchte ihm ja weiter gar nichts zu verrathen.

Auf dem Wege zum Theaterdiener kam er an dem Café vorüber, in welchem er mit Werner und Monsieur Jean gesessen hatte. Das Liegen im kalten Schnee, nur mit einem Betttuche bedeckt, hatte ihm die Glieder erstarrt, darum beschloß er, erst ein Glas Grog zu sich zu nehmen.

Er verwunderte sich nicht wenig, bei seinem Eintritt Den am Tische sitzen zu sehen, zu dem er eben hatte gehen wollen - den Theaterdiener Werner.

»Guten Abend, Papa Werner,« grüßte er, bei ihm Platz nehmend. »Das ist ja ein blaues Wunder!«

»Beinahe, mein lieber Herr Holm! Ich bin seit langen Jahren nicht mehr kneipen gegangen, das heißt natürlich, auf eigene Rechnung. Heute nahm ich mir zum ersten Male vor, eine Tasse wirklichen chinesischen Thee zu trinken - zu zwanzig Kreuzer! Ah!«

Er setzte schnalzend die Tasse vom Munde.

»Verschwender!« scherzte Holm.

»Oho! Ich kann es mir bieten!«

»Wirklich? Hat das Glück vielleicht auch einmal den Weg zu Ihnen gefunden?«

»Wie man es nimmt!«

»Haben Sie vielleicht Zulage erhalten?«

»O weh! Ganz das Gegentheil: Hinausgeworfen hat man mich, mein bester, junger Freund.«

»Doch nicht!«


Ende der siebenundfünfzigsten Lieferung - Fortsetzung folgt.



Karl May: Der verlorne Sohn

Karl May – Forschung und Werk