Lieferung 28 | Karl May |
2. Juni 1883 |
Waldröschen
oder
Die Rächerjagd rund um die Erde.
Großer Enthüllungsroman
über die
Geheimnisse der menschlichen Gesellschaft
von
Capitain Ramon Diaz de la Escosura.
// 649 //
»Pah, das ist zu wenig! Ich frage jetzt nicht, wer diese beiden Personen sind. Später, wenn ich bemerke, daß sie den höheren Ständen angehören, könnte ich wohl einen sehr hohen Preis verlangen!«
»Was fordern Sie?«
»Fünfzehnhundert Franks wenigstens.«
»Das wären dreitausend Franks für Beide, die ich gebe; nun sind wir einverstanden?«
»Noch nicht.«
»Was giebt es noch?«
»Ein jeder Geschäftsmann hat das Risiko zu berechnen. Ich riskire Leben und Freiheit, das kann ich nicht umsonst thun.«
»Alle Teufel, Sie sind ein guter Rechner.«
»Das muß ich. Wie nun, wenn man mich in Mainz fängt und köpft? Ich muß in diesem Falle für die Meinen sorgen.«
»Ich sehe, daß Sie sehr sorgfältig verfahren und hoffe, daß Sie in meiner Angelegenheit ebenso handeln. Darum will ich auf Ihre sonst ungewöhnliche Forderung eingehen. Wie viel verlangen Sie für Ihr sogenanntes Risiko?«
»Tausend Franks.«
»Verdammt, das ist viel!«
»Sie werden mir erlauben, anzunehmen, daß mein Leben mir tausend Franks werth ist, das Glück der Meinen gar nicht mit gerechnet.«
»Gut. Die Summe beträgt also fünftausend Franks.«
»Ja, dreitausend vorher zu bezahlen, weil ich sie brauche.«
Der Graf lachte cynisch.
»Das ist allerdings ein sehr triftiger Grund. Aber wenn ich sie nun verweigere?«
»So reisen Sie allein nach Mainz. Was ich sage, das gilt. Sie werden mich in dieser Beziehung noch kennen lernen.«
»Gut, so will ich mich einverstanden erklären. Aber ich hoffe auch, daß Sie Ihre Pflicht erfüllen!«
Der Graf bemerkte das zweideutige Lächeln nicht, mit welchem Gerard antwortete:
»Keine Sorge, Monsieur, ich werde meiner Pflicht sicherlich richtig nachkommen.«
»So ist dies abgemacht. Wir werden abreisen, sobald ich die Brieftasche wieder in den Händen habe. Wann gehen Sie wieder hin zu dem Manne?«
»Vielleicht am Abend; eher würde es auffällig sein, auch fürchte ich, daß er dann eine größere Entschädigung verlangen würde, da er meinen müßte, das Portefeuille sei von höchstem Werthe.«
»Gut. So können Sie mir jetzt helfen. Ich habe Ursache, dieses Hotel zu verlassen. Der Wirth soll denken, daß ich nach der Bahn von Orleans fahre, ich will aber in der Nähe des Nordbahnhofes wohnen. Wissen Sie dort ein gutes Hotel?«
»Das Hotel de l'Empereur auf der Rue de St. Quentin, in der Nähe des Bahnhofes.«
// 650 //
»So senden Sie mir den Kellner mit der Rechnung herauf, und holen Sie mir eine Droschke.«
Der Schmied erhob sich von seinem Sitze und ging. Draußen blieb er einen Augenblick stehen und reckte die riesigen Glieder drohend empor.
»Schuft!« murmelte er drohend. »Warte, ich werde Dir das Handwerk legen! Zunächst aber muß ich wissen, wem sein Mordanschlag gilt.«
Er stieg die Treppe hinab und traf unten auf den Hausknecht.
»Ah, Freund, eine Frage,« sagte er.
Er griff dabei in die Tasche und reichte ihm ein Frankenstück hin.
»Danke! Was?«
»Hat kürzlich ein Deutscher hier gewohnt?«
»Ja, und zwar der Herr Doctor Sternau; ich glaube, es war ein Deutscher aus Mainz.«
»Hatte er Damen mit?«
»Eine Spanierin. Außerdem war ein Diener und eine Dienerin bei ihm.«
»Danke! Schicken Sie den Kellner hinauf zum Marches d'Acrozza. Er will die Rechnung haben.«
Der Schmied ging, um eine Droschke zu holen. Er ging sehr langsam, denn die Auskunft, welche er erhalten hatte, gab ihm viel zu denken.
»Ein Doktor, ein Arzt ist es,« brummte er leise vor sich hin »Und die Dame ist eine Spanierin. Alle Wetter, was hat mir denn Annette gesagt, als ich sie gestern bei dem Professor besuchte? Ein deutscher Arzt war es, der sie gerettet hat, und eine kranke spanische Dame ist bei ihm gewesen. Das hat sie von Marion, dem Stubenmädchen erfahren. Himmel, wenn er es wäre, dem ich an das Leben soll!«
Er machte eine Geste in der Luft, als ob er Jemand erwürgen wolle, und brummte dann weiter:
»Das muß ich zu erfahren suchen. Aber wenn diese Dame eine Spanierin ist, so ist dieser unechte Marchese d'Acrozza jedenfalls auch ein Spanier, und sein Taschenbuch ist in spanischer Sprache geschrieben. Sein richtiger Name steht darin. Er heißt Alfonzo de Rodriganda y Sevilla, und dies ist nicht italienisch, sondern spanisch; wenigstens liegt Sevilla in Spanien. Na, warte Bursche! Eine Droschke hole ich Dir, aber zum Teufel sollst Du fahren, wenn der Sternau, dem ich an das Leben soll, derselbe Arzt ist, der meine Schwester Annette aus den Fluthen der Seine gezogen hat.«
Er erreichte den Halteplatz der Fiaker und nahm einen mit zum Hotel. Dort wurden die Effecten des Marchese aufgeladen. Dieser stieg ein, der Schmied hinten auf, und nun ging es scheinbar dem Bahnhof von Orleans und Lyon zu. Bei der Brücke Notre Dame angekommen aber, gebot der Marchese, in die lange Straße Martin einzulenken und nach dem Bahnhof du Nord zu fahren.
So gelangten sie an das Hotel de l'Empereur auf der Straße St. Quentin, wo sie abstiegen und Alfonzo sich einige Zimmer anweisen ließ.
»Jetzt weißt Du genau, wo Du mich zu finden hast?« sagte er zu Gerard.
»Gewiß, Monsieur.«
»Ich werde nicht ausgehen. Sobald Du das Portefeuille hast, kommst Du.«
»Ich gehe heute Abend hin.«
»Vergiß nicht, daß ich mitten in der Nacht für Dich zu sprechen bin, Gerard!«
// 651 //
Der Schmied ging. Als er aus Sicht des Hotels war, nahm er eine Droschke und ließ sich nach der Rue des Lavande Nummer Vier fahren, wo der Professor wohnte. Der Zutritt zu seiner Schwester stand ihm offen, und als er sich mit seiner Erkundigung an sie wandte, erfuhr er, daß ihr Retter allerdings jener Doktor Sternau gewesen sei, der eine spanische Dame bei sich gehabt hatte.
Er sagte von dem Grunde seiner Erkundigung nichts und ging zunächst nach Hause, um seinen Vater aufzusuchen, den er ganz ohne Mittel wußte. Er hatte sich vorgenommen, während seiner Abwesenheit in Deutschland in der Weise für den Vater zu sorgen, daß dieser keine Noth litt, ohne aber seiner Trunksucht fröhnen zu können.
Er traf ihn, auf einer alten Matratze liegend, doch in vollständig nüchternem Zustande, da er keine Mittel gehabt hatte, sich Branntwein zu kaufen und sein Kredit so erschöpft war, daß ihm kein Budiker mehr borgte.
»Kommst Du endlich,« grollte der Alte. »Man könnte sterben und verderben.«
»Wie ich sehe, lebst Du noch,« antwortete der Sohn.
»Aber wie! Hast Du Geld?«
»Hm! Wenig.«
Der Alte sprang von seinem Lager auf.
»Gieb her!« sagte er, die vor Begierde zitternde Hand ausstreckend.
Gerard griff in die Tasche und gab ihm einen Franks.
»Eins!« sagte der Vater mit heiserem Lachen. »Zwei -!«
Dabei streckte er die Hand abermals aus.
»Aus Zwei wird nichts,« antwortete der Sohn, »weil ich nicht mehr geben kann, als ich selbst habe. Das Andere brauche ich für mich.«
»Hallunke!«
Bei diesem Worte faßte der Vater den Sohn beim Arme und schüttelte ihn.
»Du schimpfest mich?« fragte dieser. »Mit welchem Rechte?«
»Du belügst mich, nachdem Du behauptest, Du habest nichts weiter, und bist doch reich.«
»Reich? Wo soll bei mir der Reichthum herkommen?«
»Pah! Von der Garotte natürlich.«
»Das Geschäft geht schlecht.«
»Nein, es geht gut; ich weiß es ganz genau. Du hast einen reichen Italiener garottirt.«
»Ah,« sagte Gerard überrascht. »Wer sagte das?«
»Papa Terbillon, der bei mir war.«
»Welche Seltenheit.«
»Ja, eine Seltenheit; es konnte sich also nicht um eine Kleinigkeit handeln. Er suchte Dich eben dieses Italieners wegen. Er hat Dir dieses Mannes wegen zehn Franks gegeben.«
»Das ist wahr.«
»Du stehst also in seinem Dienste.«
»So lange es mir gefällt.«
»Aber Du hast den Italiener garottirt in der Rue de la Poterie.«
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»Donnerwetter!« sagte Gerard überrascht. »Wer sagte das? Wer will das wissen?«
»Papa Terbillon. Er weiß es ganz genau.«
»Pah! Es ist eine Lüge.«
»Nein, Spitzbube. Der alte Terbillon geht ganz sicher. Er hat es selbst beobachtet. Er war im Theater und in der Weinstube, der Italiener auch und Du ebenso.«
»Das mag sein; er wird sich verkleidet gehabt haben. Aber das beweist noch gar nichts.«
»Der Beweis ist dennoch da, denn Papa Terbillon ist Euch gefolgt und hat gesehen, daß Du den Italiener in der Straße de la Poterie niedergeschlagen hast.«
»So hat er falsch gesehen.«
»Lüge nicht! Er hat gute Augen und wird Dich in das Verderben bringen.«
»Das wollen wir abwarten.«
»Er hat mir anbefohlen, daß Du sofort zu ihm kommen sollst.«
»Ich werde zu ihm gehen, sobald es mir beliebt. Uebrigens habe ich jetzt keine Zeit dazu; ich muß nach Italien verreisen, wohin ich als Diener eben dieses Mannes gehe, den ich garottiren sollte.«
»Alle Teufel!«
»Das beweist doch zur Genüge, daß ich ihn nicht garottirt habe. - Ich werde Papa Terbillon seine zehn Franken zurückerstatten, dann kann er mir nicht sagen, daß ich ihn betrogen habe.«
»Gieb sie mir; ich werde sie ihm bringen.«
»Hopp, Alter, das werde ich bleiben lassen, weil Du das Geld für Dich verwenden würdest.«
»Donner und Wetter! Hältst Du mich für einen Spitzbuben?«
»Ja, ganz gewiß,« lachte Gerard. »Ich habe Erfahrung genug, um zu wissen, was Du bist.«
»Hallunke!« rief der Alte. »Und das will mein eigener Sohn sein; aber wie kommt denn der Kavalier gerade auf Dich?«
»Ich habe mich gemeldet.«
»Bist Du des Teufels! Jetzt bist Du Dein eigener Herr, dann aber ein Diener, ein Sklave.«
»Ich will aufhören, ein Verbrecher zu sein.«
»Ah! Und was wird aus mir? Erst hast Du mir Annette genommen, und nun gehst Du selbst fort. Wovon soll ich leben?«
»Arbeite!«
»Bist Du verrückt?«
»Nein. Hast Du früher nicht auch gearbeitet?«
»Das war anders; da lebte Deine Mutter noch; da war ich jung und kräftig und - und - -«
Er stockte.
»Und hattest Dich dem Branntwein noch nicht ergeben,« fügte Gerard hinzu.
»Hm, Du magst Recht haben,« sagte der Alte. »Aber man glaubt gar nicht, wie gut ein Schluck dem alten Körper thut.«
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»Das ist Täuschung.«
»Was weißt Du! Du bist jung!«
»Eine Suppe, ein Glas Bier thut ganz dasselbe. Ich werde es Dir beweisen, Vater.«
»Ah, wie?«
»Vielleicht bin ich gar nicht sehr lange fort von hier, und ich will dafür sorgen, daß Du während meiner Abwesenheit nicht zu hungern und zu dürsten brauchst.«
»Also hast Du Geld?« fragte der Alte rasch.
»Dazu, ja; aber zum Vertrinken nicht.«
»So gieb her, Junge!«
Er streckte abermals die Hand aus. Gerard schüttelte den Kopf.
»Nein, so nicht,« sagte er. »Du würdest Alles vertrinken.«
»Ich sage Dir, daß ich sparsam sein werde!« betheuerte der Alte.
»Ich glaube es nicht.«
»Ja, wie willst Du denn für mich sorgen, wenn Du mir nichts giebst?«
»Du kennst die Restauration der alten Mutter Merveille. Ich werde zu ihr gehen und für Dich abonniren. Du sollst täglich dort Dein Frühstück, Mittags- und Abendbrod haben, das ich Dir im Voraus bezahle.«
»Welch' eine Schlechtigkeit! Dieser Mensch hat Geld und vertraut es seinem Vater nicht an! Ich mag nicht zur Mutter Merveille!«
»Pah! Ueberdies werde ich Mutter Merveille noch fünfzig Franken für Dich geben.«
»Ah, endlich! Wann kann ich sie mir holen?«
»Täglich.«
»Gut! So hole ich sie mir gleich morgen.«
»Nur nicht hitzig, Alter! Ich habe gesagt, nämlich täglich einen Franken. Auf diese Weise hast Du täglich ein Taschengeld; gebe ich Dir die Summe sofort, so ist sie in einigen Tagen durch die Gurgel gerollt.«
»Ich verspreche Dir, sparsam zu sein!«
»Ich glaube es nicht.«
»Donnerwetter! Soll ich Dich massacriren? Welch' ein Gedanke, fünfzig Franken zu besitzen und nicht anrühren zu dürfen!«
»Dieser Gedanke ist ganz heilsam. Ueberdies werde ich die Wohnungsmiethe bezahlen, die während meiner Abwesenheit fällig werden wird.«
»So gieb mir das Geld; ich will es sofort zum Wirth tragen.«
Er streckte zum dritten Male die Hand aus. Gerard lachte und sagte:
»Daraus wird nichts; ich werde selbst zu ihm gehen.«
»Du bist ein Teufel!« zürnte der Alte.
»Und Du ein Engel, der nicht mit Geld umzugehen versteht. Also Du wirst täglich Deine Mahlzeiten und einen Franken haben; das genügt. Bist Du klug, so suchst Du Dir Etwas dazu zu verdienen; dann stehst Du Dich wie ein Kavalier. Adieu!«
»Du willst schon fort? So gieb nur wenigstens noch fünf Franken!«
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»Keinen einzigen! Und merke Dir: komme ich zurück und Du hast gut Haus gehalten, so mache ich Dir eine große Freude. Ich werde Dir dann Etwas schenken, und zwar eine Schwiegertochter.«
»Eine Schwie - - -« rief der Alte ganz erstaunt. »Wie kommst Du auf diesen Witz?«
Der Alte lachte, und frug dann weiter:
»Kerl, so bist Du verliebt?«
»Sehr!«
»So ist es aus mit Dir, und das ganze Geschäft geht kaput!«
»Welches Geschäft meinst Du? Etwa die Garotte? Dieses Geschäft soll allerdings kaput gehen. Ich will ein ehrlicher Arbeiter werden, Vater.«
»Unsinn! Das bringt kein Garotteur fertig.«
»Ich werde Dir das Gegentheil beweisen.«
»Man wird es Dir schwer werden lassen. Die Polizei kennt Dich zu sehr.«
»Ich werde nicht in Paris bleiben, ich gehe vielmehr in die Provinz. Wohin, das weiß ich noch nicht.«
»Und wer ist Dein Mädchen, he?«
»Eine Arbeiterin; doch sie hat Geld; ich glaube viertausend Franken.«
»Donnerwetter, das ist Etwas!«
»Für den Anfang,« lächelte Gerard.
Er sagte die Unwahrheit, um den Vater für sein Mädchen gut zu stimmen. Er war entschlossen, sein Geld für das Ihrige auszugeben.
»Und wo wohnt sie?« fragte der Alte.
»Das erfährst Du später.«
»Ah, Du denkst, ich besuche sie und pumpe sie an?«
»Ja.«
»Alle Wetter, Du bist verdammt vorsichtig! Aber was wird mit mir, wenn Ihr fortzieht?«
»Du gehst mit.«
»Hei! Wird sie mich mitnehmen?«
»Ja, obgleich sie weiß, daß Du den Branntwein liebst und Garotteur bist.«
»Und will es versuchen mit mir!«
»Ja.«
»Kerl, Du bist dieses Mädchens gar nicht werth! Sie muß Dich sehr lieb haben, Gerard; darum heirathe sie. Sie muß überdies gut und brav sein.«
»Ich hoffe es.«
»Gut, so will ich mir Mühe geben, ich will einmal sehen, ob ich mit dem Branntwein fertig werde.«
»Versuche es, und Du wirst sehen, daß es gelingt. Siehe, ich selbst gewinne es ja über mir!«
»Das ist etwas Anderes; Du bist jung. Wohin gehest Du jetzt?«
»Zum Wirth und zur Mutter Merveille.«
»Darf ich gleich mit?«
»Hm, ja; es ist besser, Du hörst, was ich mit ihr bespreche. Komm'!«
Sie gingen zum Besitzer des Hauses, um die Miethe zu bezahlen, und suchten
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dann die Restauration der Mutter Merveille auf, wo Gerard den Vater als Tischgast anmeldete und den Betrag zweier Monate sofort pränumerando entrichtete.
Am späten Abend suchte dann Gerard einen jener alten, kleinen, aber wohl renommirten Gasthöfe auf, in denen man gut, wenn auch einfach und billig wohnt, und ließ sich ein Zimmer geben. In demselben saß er die ganze Nacht und schrieb das Notizbuch des Grafen ab. Außerdem copirte er noch eine einzelne Seite desselben.
Mit dieser begab er sich am Morgen zu einem Buchhändler, um zu fragen, welche Sprache dies sei. Er erfuhr, daß es spanisch sei, und wußte also nun, was er zu thun hatte.
Er ging nach der Rue de St. Quentin, um den Grafen aufzusuchen. Er fand diesen, mit großer Ungeduld seiner wartend.
»Nun, wie steht es?« wurde er gefragt.
»Leidlich, vielleicht auch gut,« antwortete er.
»Was soll dies heißen?«
»Es soll heißen, daß ich das Buch gesehen habe, aber nicht weiß, ob Sie es bekommen werden, weil Ihnen der Preis zu hoch sein wird; er verlangt tausend Franks, und sagte, daß er keinen Sous herablassen würde.«
»Dieser Schuft! Warum verlangt er eine solche Summe? Das Buch hat ja keinen Werth für ihn!«
»Er sagte, es habe desto mehr Werth für die Polizei.«
Der Graf verfärbte sich.
»Warum?« fragte er.
»Er hat mir gar nichts Ausführliches darüber mittheilen wollen.«
»So handelt es sich vielleicht um eine andere Brieftasche. Die meinige hat wohl Werth für mich, aber nicht das mindeste Interesse für die Polizei.«
»Das kommt wohl auf eine Probe an. Er hat eine Seite des Notizbuches abgeschrieben und mir die Abschrift mitgegeben.«
»Ah! Zeige her!«
Gerard nahm das Blatt heraus und zeigte es dem Grafen. Dieser las es und sagte dann:
»Es stimmt; es ist mein Portefeuille. Hast Du diese Zeilen gelesen?«
»Nein; ich verstehe nicht spanisch.«
»Donnerwetter, aber Du weißt, daß es spanisch ist!«
»Er sagte es mir, da er spanisch versteht.«
»Wirklich?« fragte der Graf erbleichend.
»Ja; er hat in Spanien als Kaufmann conditionirt.«
»Alle Teufel! Das ist verdammt unangenehm!«
Er zerknitterte das Papier in der geballten Faust und trat an das Fenster. Seine Mienen bewegten sich in der Reihenfolge der Gedanken und Gefühle, welche über sein Gesicht gingen.
»Wie heißt er?« fragte er, sich endlich wieder umdrehend.
»Das kann ich nicht sagen, denn ein Kamerad verräth den andern nicht.«
»Dummheit! Wenn er Dir nun im Wege wäre?«
»Gute Kameraden sind sich nie im Wege.«
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»Oder einem Anderen?« fragte der Graf mit eigenthümlicher Betonung.
Gerard verstand ihn sofort, that aber so, als ob er ihn nicht begriffen habe.
»Das geht mich nichts an,« sagte er.
»Aber, wenn er nun mir im Wege wäre, und Du tausend Franks erhieltest, wenn -«
Erst jetzt warf Gerard ihm einen verständnißvollen Blick zu und fragte:
»Dieser Mann, der Ihr Taschenbuch in der Hand hat, ist Ihnen im Wege?«
»Ja, und zwar dieses Taschenbuches wegen.«
»So enthält es Dinge, welche Ihnen schaden können, und mein Kamerad hat Recht gehabt, als er von der Polizei sprach -«
»Hm, ja, vielleicht. Ich denke, daß ich Dir mein Vertrauen schenken darf!«
»Ganz gewiß, Monsieur. Mein Kamerad hat Ihr Taschenbuch durchgelesen.«
»Ich kann es mir denken. Also Dir hat er nur ein Weniges gesagt? Sei aufrichtig!«
»Er sagte, wenn das Buch Ihnen gehöre, so könnten Sie unmöglich der Marchese d'Acrozza sein.«
»Wer sonst?«
»Das sagte er nicht.«
»Ah,« meinte der Graf mit einem Athemzuge der Erleichterung, »er ist verschwiegen gewesen.«
»Ferner sagte er, daß Sie aus Spanien kommen.«
»Sagte er weiter gar nichts?«
»Kein Wort.«
»Und tausend Franks will er dafür? - Das stellt mich aber nicht sicher. Jetzt zahle ich die Summe, und später plaudert er dennoch.«
»Er wird mir Verschwiegenheit geloben müssen!«
»Das ist noch keine Bürgschaft. Kann ich ihn einmal sehen?
»Nein; er hat es verboten.«
»Dann kenne ich nur ein Mittel, mir Sicherheit zu verschaffen, und dies ist sein Tod.«
»Alle Teufel! Er wird keine Lust haben, Ihnen zu Liebe zu sterben!«
»Ich glaube es. Aber Du wirst Lust haben, Dir tausend Franks zu verdienen.«
»Das ist wahr. Es fragt sich, wofür ich diese Summe erhalten soll.«
»Nun, für sein Leben.«
»Ah, Sie scherzen, Monsieur!« lachte der Schmied.
»Es ist mein ganzer Ernst.«
»Das glaube ich nicht, weil Sie mir, wenn es Ihr Ernst wäre, etwas mehr bieten würden, als tausend Franks.«
»Schlingel!«
»Rechnen Sie nach, Monsieur! Tausend Franks geben Sie diesem Manne für seinen Raub, mir aber wollen Sie dieselbe Summe für diesen Raub und für sein Leben geben. Das ist sehr unverhältnißmäßig.«
»Nun gut, wie viel verlangst Du?«
»Es ist ein Kamerad von mir; unter zweitausend thue ich es nicht.«
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»Mensch, Du wirst ja ein reicher Mann durch mich; fünfzehnhundert gebe ich Dir.«
»Zweitausend, anders nicht. Sonst sprechen wir gar nicht mehr davon.«
»Gut, ich will nachgeben. Wann kann es geschehen?«
»Sobald es paßt.«
»Es muß sofort geschehen. Ich muß sonst gewärtig sein, er mißbraucht meine Notizen.«
»So will ich sehen, ob ich ihn treffe.«
Er wandte sich zum Gehen, aber der Graf rief ihn zurück.
»Halt!« sagte er. »Welche Sicherheit bringst Du mir, daß Du ihn getödtet hast?«
»Ihr Portefeuille.«
»Das ist keine Bürgschaft, daß er getödtet ist.«
»Doch jedenfalls, Monsieur. Oder glauben Sie, daß er mir das Buch freiwillig giebt?«
»Ja, ich glaube es. Ihr seid Kameraden. Ihr theilt die zweitausend Franks.«
»Ah, Ihr Vertrauen zu mir ist kein sehr großes!«
»Das kannst Du nicht übel nehmen.«
»So dürfen auch Sie es nicht übel nehmen, wenn mein Vertrauen zu Ihnen schwindet.«
»Was soll das heißen?«
»Wer garantirt mir meine zweitausend Franks, wenn ich meinen Auftrag ausführe?«
»Mein Wort!«
»Und wenn ich diesem Worte nicht glaube?«
»Mensch, ich bin ein Edelmann.«
»Ah, schön,« sagte Gerard mit versteckter Ironie. »Und von mir verlangen Sie Garantie?«
»Ja, ein Glied seines Leibes.«
»Alle Teufel! Welches Glied?«
»Den Kopf.«
»Das geht nicht, Monsieur. Es ist mir zu auffällig, den Kopf eines Gemordeten zu transportiren.«
»Gut, so bringe die rechte Hand.«
Der Schmied sann nach.
»Hm,« sagte er endlich, »das würde weniger auffällig sein. Eine Hand läßt sich eher verstecken als ein Kopf. Also wenn ich diese Hand bringe und Ihr Portefeuille, so erhalte ich zweitausend Franks?«
»Sofort!«
»Gut, ich will mich auf Ihr Edelmannswort verlassen. Wo finde ich Sie, wenn Sie nicht hier sind, Monsieur?«
»Ich gehe gar nicht aus.«
»Dann adieu, Monsieur le Marchese.«
Gerard ließ den Grafen in banger Erwartung zurück und schritt der Cité zu.
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Sein Gesicht hatte einen außerordentlich pfiffigen Ausdruck, als er vor sich hinmurmelte:
»Ein Kunststück, ein wahres Kunststück: ich soll Einen umbringen, der gar nicht lebt, den es gar nicht giebt. Wie fange ich das an? Pah, für zweitausend Franks wird es fertig gebracht!«
Indem er die lange Rue du Faubourg St. Denis hinab ging, griff er in die Tasche und zog sein Messer heraus. Er öffnete es und probirte die Schärfe an dem Nagel seines Fingers.
»Es geht,« dachte er. »Die Schärfe ist gut; sie geht durch die Flechsen und Sehnen wie durch Butter, und der Rücken ist stark; die Klinge wird also nicht abbrechen.«
Er steckte das Messer wieder ein und wanderte nach der Morgue.
Die Morgue ist ein Haus, in welchem die Leichen von Verunglückten oder Selbstmördern aufbewahrt bleiben, um rekognoszirt zu werden. Dieses Haus ist Jedermann geöffnet.
Als Gerard den Thürschließer stehen sah, sagte er:
»Ist heute ein Mädchen eingeliefert worden, Monsieur?«
»Ein Mädchen? Wie alt?«
»Sechzehn Jahre, die Haare sind blond, und die Gestalt ist voll und lang.«
»Das dürfte stimmen. Suchen Sie ein solches Mädchen?«
»Leider. Es ist eine Cousine seit gestern verschwunden.«
»So gehen Sie hinein. Es ist gerade jetzt kein Mensch zugegen, und ich warte auf Jemand. Nehmen Sie sich die Tücher gefälligst selbst hinweg!«
Das war dem Schmied sehr lieb. Er betrat den schauerlichen Raum, in welchem sechzehn Leichen lagen, mit weißen Tüchern bedeckt. Er lüftete diese Tücher und erblickte bald einen Mann, der seinem Zwecke geeignet war. Im Nu hatte er sein Messer gezogen, und ebenso schnell löste er an der Leiche die rechte Hand vom Arme. Rasch steckte er Hand und Messer in die Tasche und zog den Aermel des Todten weiter herab, damit man die Amputation so spät wie möglich bemerke; dann verließ er die Morgue.
Hierauf trieb er sich einige Stunden lang in der Stadt herum und kehrte dann zu dem Grafen zurück. Dieser hatte ihn kommen sehen und kam ihm bis zur Zimmerthür entgegen.
»Nun?« fragte er.
»Schlecht!« antwortete Gerard. »Es war gefährlich, weil ich beinahe erwischt worden wäre; der Kerl schrie wie ein Spatz und wehrte sich wie ein Bär.«
»So verstehst Du Dein Handwerk nicht.«
»Pah! Ich hatte es mit einem Garotteur zu thun.«
»Du hast die Hand?«
Der Gauner zog sie hervor und zeigte sie dem Grafen, derselbe betrachtete sie ganz ohne Grauen und sagte:
»Das ist ein starker Kerl gewesen! Aber ich sehe nicht die mindeste Blutspur!«
»Das fehlte auch noch! Sollte ich mich verrathen?«
»Du hast die Hand wohl abgewaschen?«
»Ja, im Waschtische.«
// 659 //
»Gescheidt! Aber mein Portefeuille?«
»Wo haben Sie die zweitausend Franks?«
Der Bandit zog das Portefeuille hervor und hielt es dem Grafen entgegen; dieser wollte zugreifen, aber der Schmied zog die Hand schnell zurück.
»Sachte, Monsieur,« sagte er. »Ist es ihre Brieftasche?«
»Ja.«
»So erbitte ich mir das Geld.«
»Aber ich muß doch sehen, ob Alles vorhanden ist.«
»Das heißt, wenn Etwas fehlt, erhalte ich mein Geld nicht?«
»Allerdings.«
»Das wurde nicht ausgemacht, Monsieur!«
»Das versteht sich ja ganz von selbst!«
»Aber ich kann ja nicht dafür, wenn Etwas fehlen sollte.«
»Ist die Brieftasche nicht vollständig, so hat sie keinen Werth für mich.«
»Das hätten Sie eher sagen sollen, Monsieur, so lebte mein Kamerad noch.«
»Meinetwegen! Also her damit.«
Gerard steckte das Portefeuille behutsam wieder ein.
»Sie erhalten es nicht, Monsieur,« sagte er sehr bestimmt. »Ich sehe, Sie halten nicht Wort, obgleich Sie ein Edelmann sind, obgleich ich, der Garotteur, Wort gehalten habe.«
Alfonzo wollte aufbrausen, hielt aber an sich.
»Ich hoffe nicht, daß Du mich moralisiren willst,« sagte er.
»Nein,« antwortete der Schmied kalt; »aber ebenso hoffe ich nicht, daß Sie glauben, ich werde mit nach Deutschland gehen.«
»Alle Teufel, Du opponirst!«
»Ja. Ich hantiere nur mit Leuten, auf die ich mich verlassen kann. Adieu!«
Er wandte sich um, als ob er gehen wolle, da aber faßte ihn Alfonzo beim Arme und hielt ihn fest.
»Halt, bleib!« sagte er.
»Nein, ich gehe, Monsieur!«
»Ich gebe Dir die zweitausend Franks und zugleich das übrige ausbedungene Geld.«
»Gut, so bleibe ich.«
»Also her das Portefeuille.«
»Vorher das Geld.«
Alfonzo zog die Stirn in Falten, aber er erkannte sich als den Schwächeren. Er öffnete den Koffer, entnahm demselben das Geld und zählte es dem Schmied auf den Tisch. Als dieser nachgezählt hatte, sagte er:
»Es stimmt, Monsieur; hier ist das Buch!«
Er gab das Portefeuille hin, welches der Graf sofort genau durchsuchte.
»Stimmt es?« fragte Gerard.
»Ja,« lautete die Antwort.
»So sind wir quitt.«
Er strich die Stumme ein, sehr zufrieden mit sich, daß er einen so feinen Spitzbuben übertölpelt hatte.
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»Was geschieht mit der Hand?« fragte der Graf.
»Ich werfe sie in die Seine.«
»Gut. Bist Du zur Abreise fertig?«
»Nein. Ich habe Abschied zu nehmen von meiner Braut.«
»Dazu wirst Du nicht lange Zeit brauchen. Was hast Du noch zu thun?«
»Ich muß einen Manufakturisten und einen Schneider aufsuchen, und zwar der Livree wegen.«
»Alle Wetter ja, das ist wahr. Kann man in Paris fertige Livree's bekommen?«
»In Phantasie, ja; nach Vorschrift natürlich nicht.«
»So suche Dir eine in Phantasie aus.«
»Und wer bezahlt sie?«
»Du,« sagte Alfonzo lachend.
»Ah, ich hätte nicht gedacht, daß ein Marchese d'Acrozza so ein Geizhals sein könnte!«
»Gut, so nimm sie auf meine Kasse. Was wird sie kosten?«
»Vierhundert Franken, da sie anständig sein muß.«
»Schelm!«
»Pah! Da muß ich mir Wäsche und Fußzeug aus meiner eigenen Tasche dazu kaufen.»
»Hier hast Du sie!«
Gerard steckte die vierhundert Franken schmunzelnd ein und fragte dann:
»Wie lange geben Sie mir Urlaub?«
»Wie lange brauchst Du?«
»Drei Stunden, wenn ich Droschke nehme.«
»So gebe ich Dir vier Stunden.«
»Ich danke. Adieu!«
Er steckte die Hand ein und ging. Unten stieg er in einen Fiacker und fuhr direkt nach dem Magdalenenstifte, in welchem sich Mignon befand. Er ließ sich zunächst der Oberin melden und wurde sogleich vorgelassen. Sie erkannte ihn sofort und empfing ihn mit den freundlichen Worten:
»Siehe da, Monsieur Mason, dem wir den neuen Zögling verdanken!«
»Ja, Madame,« sagte er. »Verzeihen Sie die Störung!«
»Ich stehe Ihnen zu Diensten. Was bringen Sie?«
»Eine Bitte, Madame. - Ich habe Ihnen bereits gesagt, daß Mignon meine kleine Frau werden soll; wie urtheilen Sie über sie?«
»Oh, bis jetzt bin ich mit ihr zufrieden, obgleich ich gestehen muß, daß uns sehr oft der Schmerz bereitet wird, uns in unseren Hoffnungen und in unserem Vertrauen getäuscht zu sehen.«
»Ich bin gewiß, daß Sie sich in ihr nicht täuschen werden!«
»Ich wünsche dies von Herzen. Sie kommt mir vor, als ob sie sich wirklich nach einem ordentlichen Leben sehne. Haben Sie aber daran gedacht, was es heißt, ein Weib zu besitzen, welches eine solche Vergangenheit hat?«
»Ich habe mir es sehr reiflich überlegt.«
»Und lieben Sie Mignon genug, um sie später achten zu können?«
»Gewiß, Madame. Auch ich habe meine Fehler.«
// 660 //
»Und haben Sie auch daran gedacht, daß Sie Beide arm in's Leben treten werden?«
Er lächelte fröhlich und sagte:
»O, arm sind wir nicht, Madame; dieses Punktes wegen komme ich zu Ihnen. Ich habe nämlich einen kleinen Gewinn gemacht. Ich hatte ein Loos in der Dombaulotterie von Besancon, und habe gewonnen, welcher Gewinn für meine Verhältnisse reicht. Ich habe Ihnen auch gesagt, daß ich Paris verlassen will, und dieser Punkt macht mir Sorgen, des Geldes wegen.«
»Thun Sie es zu einem Bankier.«
»Dazu habe ich keine Lust.«
»So geben Sie es einem Verwandten in Aufbewahrung.«
»Ich habe keinen; und mein Vater ist nicht zuverlässig, - denn er trinkt zuweilen; deshalb komme ich zu Ihnen.«
»Zu mir - - -?«
»Allerdings. Ich dachte, daß Sie vielleicht die Güte haben würden, mir das Geld aufzubewahren, bis ich wiederkomme.«
Ihr Gesicht wurde noch freundlicher als vorher, und sie sagte:
»Haben Sie denn so viel Vertrauen zu mir?«
»Gewiß! Ich habe Ihnen ja meine Braut anvertraut, welche mir lieber ist, als dieses Geld.«
»Nun, wir wollen sehen. Wie hoch ist die Summe?«
Er griff in die Tasche, trat an den Tisch und zählte ihr das Geld vor. Je weiter er zählte, desto erstaunter wurde ihr Gesicht.
»Aber, Monsieur Mason, das ist ja ein Reichthum!« rief sie.
»Ja,« lachte er; »das wird beinahe langen, um mir eine kleine Schmiede zu kaufen.«
»Und diese große Summe soll ich Ihnen aufheben?«
»Gewiß, wenn Sie wollen!«
»Ich will. Ich werde sie Ihnen so anlegen, daß sie Zinsen bringt.«
»Das werden Sie thun, wie es Ihnen gefällig ist.«
»Und vor allen Dingen werde ich Ihnen einen Depositenschein einhändigen.«
»Ist dies unbedingt nöthig? Ich weiß ja, daß Sie mich nicht schädigen werden.«
»Ja, es ist geschäftlich unbedingt nothwendig.«
»So thun Sie es. Dann habe ich noch eine Bitte. - Mignon soll von diesem Gelde nichts wissen, um sie bei unserer Hochzeit damit überraschen zu können.«
»Ich bin einverstanden, Monsieur.«
»Aber Sie wissen, daß auf Reisen manches Unvorhergesehene geschehen kann - - - auch mir kann so Etwas passiren. Sollte ich in drei Monaten noch nicht zurückgekehrt sein, so geben Sie das Geld meiner Braut, und zwar unter der Bedingung, daß sie meinen Vater pflegt.«
»Sie setzen ein großes Vertrauen auf sie, Monsieur.«
»Ich kann es; ich weiß das genau.«
»Gut, so werde ich diesen Punkt auf dem Depositenschein mit bemerken.«
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Sie stellte den Schein aus, den Gerard an sich nahm und strich dann das Geld zur Aufbewahrung ein. Nachdem er Mignon gesehen und von ihr Abschied genommen hatte, ging er zunächst nach der Seine, wo er die Hand unbemerkt in das Wasser warf. Hierauf kaufte er sich eine Livree nebst Wäsche und andere Requisiten und war, ehe die vier Stunden verstrichen waren, wieder bei Alfonzo.
Dieser hatte sehr bald eingepackt. Sie fuhren nach dem Bahnhofe und dampften innerhalb kurzer Zeit von Paris ab. Der Zug, in welchem sie sich befanden, nahm für Doktor Sternau und Rosa von Rodriganda eine große Gefahr mit nach Deutschland.
Es war noch im Winter, aber es gab ein sehr mildes Wetter. Zur Mittagszeit konnte man glauben, sich mitten im Mai zu befinden, und die Abende glichen jenen elegischen Oktoberabenden, welche fast noch schöner sind, als die Abende des Frühlings.
Daher war es kein Wunder, daß auf allen Höhen und Gebirgen der Schnee verschwand; er verwandelte sich in Wasser, welches alle Ströme, Flüsse, Seen und Bäche füllte. Der warme Sonnenstrahl leckte die Feuchtigkeit wieder empor, und so entstanden feuchte Niederschläge, welche in Form von anhaltendem Regen wieder zur Erde fielen.
Dadurch wuchsen die Fluthen und alle Zeitungen berichteten von Ueberschwemmungen, die in ungeahnter Rapidität zu einer Höhe wuchsen, welche man seit Menschengedenken noch nicht beobachtet hatte. Ganze Thäler wurden überschwemmt, ganze Ortschaften fortgerissen. Der Verkehr stockte, denn die Fluth überragte die Straßen und riß die Bahndämme ein.
Auch die sonst so ruhige Nahe, welche bei Bingen in die linke Seite des Rheines mündet, brachte eine Wassermasse, für welche ihr Bett lange, lange nicht tief und breit genug war. Die Fluthen glichen den Wogen eines großen Stromes. Sie hatten die Straße überstiegen und leckten gierig an dem Damme der Bahn, welche Bingerbrück über Neunkirchen, Saarbrücken, Forbach, Metz und Pagny mit Paris verbindet.
Die Bahnbeamten hatten Befehl erhalten, ganz außerordentlich aufmerksam zu sein, und ein jeder Bahnwärter mußte seine Strecke zwischen den einzelnen Zügen ganz genau untersuchen.
Zwischen Bingerbrück und Langenlonsheim stand ein Bahnhäuschen, dessen Inhaber heute Besuch hatte. Der Forstgehilfe Ludewig aus Rheinswalden war ein Vetter des Bahnwärters, hatte gestern einen kleinen Sprößling desselben aus der Taufe gehoben und befand sich auch heute noch hier, um seinen Urlaub tüchtig auszunützen.
Er saß mit der Familie am Tische. Man hatte das Abendbrod gegessen; es hatte neun Uhr geschlagen, und in nicht ganz einer halben Stunde mußte der Eilzug vorüberkommen, welcher um fünf Uhr von Metz abgeht.
»Sieht es bei Euch in Rheinswalden auch so traurig aus?« fragte der Wärter.
»Nein, Gevatter,« antwortete Ludewig. »Wir liegen dahier nicht so nahe am Rhein, daß uns das Wasser packen könnte.«
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Man sieht, daß der gute Ludewig sein liebes »Dahier« auch in der Fremde nicht vergaß.
»Und es geht bei Euch Alles gut?« fragte der Wärter weiter.
»Es geht uns Allen wohl. Der Herr Oberförster flucht immer noch wie vorher, und die gute Frau Sternau ist mit Fräulein Helene lieb und gut wie immer; auch ist der Steuermann Helmers noch da, und sein Junge - - - der Tausendsapperment! aus dem wird einmal 'was Tüchtiges werden; er ist aber auch in tüchtigen Händen.«
»Du bist noch immer sein Lehrmeister?«
»Versteht sich!« meinte der Forstgehilfe mit Selbstgefühl.
»Und die Gäste?«
»Du, da wird's dahier wohl bald Hochzeit geben. Ich gönne das unserm guten Herrn Sternau recht von Herzen.«
»Donnerwetter, macht der da eine Parthie!«
»Ja, sie ist eine Gräfin dahier.«
»Und noch dazu eine spanische! Sagtest Du nicht früher einmal, daß es ihr im Kopfe gerappelt hätte?«
»Gerappelt? Dummes Zeug! Unter Rappeln verstehe ich verrückt sein. Das ist sie aber gar nicht gewesen.«
»Aber es hieß doch überall, daß sie geisteskrank wäre?«
»Gevatter, Du bist ein Schafskopf dahier! Ja, ein Schafskopf! Unsere gute, liebe Gräfin verrückt zu heißen! Da hört doch Alles und Verschiedenes auf dahier! Spanisch ist sie gewesen, reineweg spanisch, aber doch nicht verrückt! Sie haben ihr Etwas eingegeben, daß sie wahnsinnig ward. Und was ist das gewesen, he, Gevatter?«
»Ja, das weiß doch ich nicht!« antwortete der Bahnwärter ganz verblüfft.
»Na, was denn weiter als eine spanische Fliege dahier!«
»Eine spa - a - - oh!« sagte der Wärter, indem er vor Verwunderung den Mund sperrangelweit öffnete.
»Ja, eine spanische Fliege.«
»Wird man denn da wahnsinnig?«
»Versteht sich. Hast Du denn schon einmal eine solche spanische Fliege gesehen?«
»Das ist ein Pflaster.«
»Dummheit, Gevatter! Eine spanische Fliege ist eine Fliege, aus der erst das Pflaster gemacht wird dahier. Eine spanische Fliege ist nicht etwa wie eine deutsche Fliege. Sie hat Flügel gerade so groß wie die Flügel einer Gans.«
»Sapperment, muß die aber summsen!«
»Ja. Sechs Beine hat sie, so groß wie Storchbeine.«
»Himmelelement!«
»Ja; ich als Jäger muß das wissen.«
»Hast Du schon 'mal eine geschossen?«
»Nein, aber beinahe. Ihr Kopf ist halb wie ein Pferde- und halb wie ein Krötenkopf, und einen Leib hat sie dahier, gerade wie eine große Stachelsau.«
»Himmelelement!«
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»Ja. Der Schwanz klappert wie bei einer Klapperschlange, und ernähren thut sie sich nur von Leichen und Weintrauben.«
»Darum ist sie so giftig!«
»Ja, Leichen und Weintrauben zusammen, das giebt das schrecklichste Gift dahier. Ein einziger Tropfen Blut von so einer Fliege, in eine Netzkanne voll Wasser gethan, Leinewand hinein und wieder ausgequetscht, das giebt unser spanisches Fliegenpflaster.«
»Darum zieht das Zeug so!«
»Ja. Ist's da ein Wunder, wenn man confus wird, wenn man so eine ganze spanische Fliege einnehmen muß?«
»Eine ganze - mit den Flügeln und den Beinen, sowie mit dem Kopf und dem Schwanz?«
»Ja.«
»Donnerwetter, da dauert mich Eure Gräfin!«
»Natürlich! Sie hätte auch sterben müssen dahier, wenn unser Doktor Sternau nicht gewesen wäre. Der hat sich das mit der spanischen Fliege natürlich gleich gedacht.«
»Wie hat er sie denn 'raus gebracht?«
»Das weiß ich nicht dahier.«
»Ich denke, Du warst mit dabei!«
»In der Krankenstube nicht.«
»Und die Fliege, hast Du sie denn nachher gesehen?«
»Nein. Ich glaube, sie haben sie in Spiritus gesetzt dahier, aber sie zeigen sie keinem Menschen. Es soll kein schöner Anblick sein.«
»Hm!« sagte der Bahnwärter kopfschüttelnd, »was doch in der Welt Alles vorkommt. Unsereiner ist doch noch recht dumm!«
»Richtig!«
»Ich hatte mir eine spanische Fliege ganz anders vorgestellt.«
»So geht es, wenn man kein Jäger ist!«
»Ja, Ihr seht mehr als andere Leute und habt viel Bücher. Bei uns giebt es blos das Gesangbuch und die Instruktion.«
»Eure Instruktion mag der Teufel holen!«
»Hm, sag das nicht so laut! Recht hast Du. Sieh', in zwei Minuten kommt der Eilzug. Ich muß hinaus. Gehst Du mit?«
»Ja.«
Es hatte bereits das Zeichen gegeben, daß der Zug in Langenlonsheim abgegangen sei. Der Bahnwärter nahm seine Laterne und ging mit dem Gaste hinaus, wo die Frau des Wärters stand, welche das Signal besorgt hatte.
In kurzer Zeit hörte man das donnernde Rollen des Zuges; darauf sah man die beiden Lichter der Locomotive, und nun brauste der Zug vorüber, wobei der Wärter das Zeichen gab, daß Alles in Ordnung sei.
»Der wahre Teufel, so eine Locomotive!« sagte Ludewig.
»Schon mehr feuerspeiender Drache,« fügte der Wärter hinzu. »Ich möchte wissen, was vor hundert Jahren die Leute gedacht hätten, wenn so ein Ding vorübergesaust wäre!«
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»Sie wären vor Schreck rein übergeschnappt.«
»Gerade wie von der spanischen Fliege! Aber jetzt muß ich meine Strecke revidiren. Weiter unten steht das Wasser am Damme.«
»Ich gehe mit.«
Sie schritten mit einander in die Dunkelheit hinein. Die Bahnstrecke, auf welcher sie sich befanden, wurde nur von dem Lichte der kleinen Laterne erleuchtet, welche der Wärter bei sich trug. Von der Seite her hörte man das Rauschen der Fluth, und aus der Nähe erklang das bedenkliche Gurgeln und Gluchzen des Wassers, welches den Damm bedrohte.
Der Wärter ging sehr vorsichtig und sorgfältig zu Werke. Nach einer halben Viertelstunde hatte er diesen Theil seiner Strecke absolvirt, und da nahte auch das Licht seines Nachbarkollegen, welcher ihm entgegenkam.
»Guten Abend!« grüßte derselbe, als er herangekommen war.
»Guten Abend!« dankten die Beiden.
»Ah, der Herr Pathe noch mit da?«
Da er auf dem gestrigen Tauffeste mit gewesen war, so kannte er den Forstgehilfen.
»Ja,« antwortete dieser. »Hören Sie die Fluth? Hier scheint es gefährlicher zu werden, als droben bei meinem Gevatter.«
»Allerdings; aber ich habe noch keine Angst. Das Wasser steht zwar am Damm, aber die Strecke ist gut gebaut, und so lange drüben am Flusse der Damm noch hält, so lange sind wir auch hier sicher.«
Sie trennten sich und schritten nun rasch wieder zurück, denn es ertönte das Signal, daß der dem Eilzuge in einer Viertelstunde folgende Personenzug in Langenlonsheim abgehe. Sie kamen gerade zur rechten Zeit an das Häuschen, um den Zug kommen zu sehen. Er kam ganz mit derselben Geschwindigkeit wie vorhin der Eilzug.
Sie standen an der Bahn, und der Wärter gab ganz wie vorher das Zeichen, daß Alles in Ordnung sei. Noch war der Zug im Vorüberbrausen, als sich von fernher ein Geräusch vernehmen ließ, welches selbst das Rollen des Zuges übertönte. Es war ein eigenthümliches Geräusch, fast ein Brüllen zu nennen, unter dem die Erde bebte, und dieses Beben unterschied sich ganz genau von dem Zittern, welches durch den Zug veranlaßt wurde.
»Herrgott, was ist das?« fragte der Wärter.
»Ein Erdbeben,« antwortete Ludewig.
»Nein, nein, das ist kein Erdbeben; der Damm, der Damm ist geborsten, ganz gewiß!«
»So ist der Zug verloren!«
»Vielleicht noch nicht, wenn er glücklich vor der Fluth vorüberkommt. Frau, Laternen her! Fort, fort! Wir müssen sehen, wie es steht!«
So rief der brave Mann. Die Frau kam mit einer zweiten Laterne herbei, und eben setzten sie sich in Bewegung, als von weit unten herauf ein Krach erscholl, als sei die Erde geborsten und habe Alles, Alles in ihren dunklen Schlund hinabgerissen.
»Das ist's! Das war's!« rief der Wärter, indem er mit doppelter Schnelligkeit vorwärts strebte.
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»Der Zug verunglückt?« fragte der Forstgehilfe.
»Ja, ganz gewiß.«
»So macht um Gotteswillen rasch!«
»Frau, renne zurück und hole Leinwand und was sonst zum Verbinden nöthig ist!«
Sie gehorchte in fliegender Eile der Aufforderung, während die beiden Männer mit den Laternen weiter rannten.
Sie waren eine Wegsstrecke von wohl einer Viertelstunde vorwärts gekommen und befanden sich längst auf dem Gebiete des Nachbars des Bahnwärters, als sie entsetzt halten blieben. Vor ihnen hörten sie ein wirres Schreien und Rufen, während ein dumpfes Tosen und Donnern zu ihnen drang, welches nur von dem Wasser herrühren konnte, welches das Ufer und dann den Bahndamm durchbrochen hatte.
»Weiter, weiter!« rief der Wärter.
Da, da endlich standen sie an der Stelle.
Der Bahndamm war wirklich durchbrochen. Die Lokomotive war in den Riß hinabgestürzt und hatte sich jenseits desselben tief in die Erde hineingewühlt. Die vordersten Wagen waren ihr gefolgt, die hinteren aber hatten nicht mit hinabgekonnt. Im fürchterlichen Zusammenprall waren sie theils zertrümmert, theils umgeworfen worden, und nur die allerletzten standen noch aufrecht auf den Schienen.
Der Zug war ein gemischter, und es war ein Glück, daß sich die Güterwagen vorne, die Personenwagen aber hinten befunden hatten.
Die Passagiere, welche in den unversehrten Waggons gesessen hatten, waren ausgestiegen, um den Stand der Dinge zu untersuchen. Sie hatten die Wagenlampen genommen und leuchteten über die Unglücksstätte hin. Jetzt kam der Wärter mit dem Jägerburschen dazu; auch der andere Wärter war bereits da.
»Ist es schlimm?« fragte der Erstere.
»Sehr. Drei Personenwagen zertrümmert, zwei umgeworfen und zwei nebst dem Postwagen unversehrt,« antwortete der Letztere. »Das Andere liegt Alles im Wasser.«
Man suchte zunächst an Menschenleben zu retten, was zu retten war; aber das war nicht viel. Diejenigen, welche in den zertrümmerten Wagen gesessen hatten, waren zermalmt worden; der Maschinist, der Heizer, die Bremser, sie waren todt. Alle, welche sich in den umgestürzten Waggons befunden hatten, waren mehr oder weniger, meist aber schauderhaft verletzt. Man suchte, ihre Körper in das Freie zu bringen. Zu Dem, was im Wasser lag, konnte man gar nicht kommen, da die Fluth zu tief und reißend war, als daß Menschenkräfte hier etwas vermocht hätten.
Da kam die Frau des Wärters und brachte Verbandzeug.
»Spring zurück, und gieb das Zeichen, damit Hilfe kommt!« gebot ihr Mann.
Auch der jenseitige Bahnwärter kam jetzt. Das Unglück war hart an seiner Grenze geschehen; er hatte sofort gewußt, woran er war, und seinerseits bereits das Signal nach Bingerbrück gegeben.
Es wurde jetzt nicht gefragt, wer Schuld sei; an diese Frage zu denken, hatte jetzt kein Mensch die Zeit; man bemühte sich nur, zu retten und zu bergen, was möglich war.
// 667 //
Ein junger Mann in der Livree eines Bedienten machte sich an einem der umgestürzten Waggons zu schaffen.
»Hier ist es, mein Herr,« sagte er zu einem der unverletzten Passagiere, der mit ihm ein und dasselbe Coupee inne gehabt hatte und ihm nun behilflich war.
»Ist es das richtige Coupee?« fragte dieser.
»Ja.«
»Das Fenster ist zertrümmert. Oeffnen wir die Thür.«
Sie thaten es, und es erscholl ihnen ein erschütterndes Aechzen und Stöhnen entgegen. Der Bahnwärter trat mit seiner Laterne heran und leuchtete hinein.
»Drei Passagiere!« sagte er.
»Alle todt!« rief der Diener.
»Nein. Sie hören ja das Aechzen.«
»Ich denke, es kommt aus dem Nachbarcoupee. Da liegt mein Herr; heraus mit ihm!«
Er faßte eine der drei Personen behutsam an und hob sie heraus. Als er sie lang gestreckt auf die Erde legte, sah man, daß der Verletzte sehr fein gekleidet war; aus diesem Umstande und dem weiteren, daß er einen Diener hatte und in einem Coupee erster Classe fuhr, konnte man schließen, daß er ein Herr von Distinction sei.
»Und hier ist auch sein Koffer,« sagte der Diener, indem er ein kleines, feines Handköfferchen zum Vorschein brachte.
»Nun auch die beiden Anderen heraus!« sagte der Wärter.
Ludewig war hinzugetreten und half. Es stellte sich heraus, daß der Eine von ihnen todt und der Andere innerlich schwer verletzt war. Der Herr des Dieners befand sich in einer tiefen Ohnmacht, aus welcher er erst erwachte, als der Diener ihm die Glieder bewegte, um zu sehen, ob er verletzt sei. Er schlug die Augen auf und stieß einen Ruf des Schmerzes aus.
»Oh!« sagte er. »Hier nicht!«
»Der Arm ist gebrochen,« sagte der Diener.
Er probirte weiter, und es fand sich, daß sonst nichts verletzt sei.
Mittlerweile war von den Nachbarstationen Hilfe angelangt. Auch einige Aerzte waren gekommen. Als einer derselben den fremden Herrn untersuchte, erklärte er, daß der Arm zweimal gebrochen sei.
»Wer ist dieser Herr?« fragte er.
Der Fremde war während der Untersuchung in eine neue Ohnmacht gefallen. Der Diener antwortete:
»Marchese d'Acrozza, ein Italiener.«
»Wünschen Sie, daß ich für ihn sorge?«
»Ich bitte darum!«
»Sie sind sein Diener?«
»Ja.«
»Sehen Sie jene Lichter da drüben?«
Er deutete in das Dunkel des Abends hinein; man erblickte aus weiter Ferne den Schein einiger Lichter.
»Ja,« antwortete der Diener.
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»Das ist das Dorf Genheim. Ich kenne den Lehrer dort. Er wird den Herrn Marchese recht gern aufnehmen.«
»Wer soll ihn benachrichtigen?«
»Sie.«
»Ich weiß keinen Weg und bin dem Herrn vielleicht sehr nöthig.«
»Ihr Herr braucht Sie jetzt nicht, und wir Anderen sind hier nöthiger als Sie. Getrauen Sie sich, durch das Wasser zu kommen?«
»Weiter unten, ja.«
»So gehen Sie. Sie brauchen nur die Lichter fest im Auge zu behalten.«
Gerard Mason, denn dieser war der Diener, glitt von der Böschung des Bahndammes hinab und schritt dann vorsichtig an dem sich hier weit ausbreitenden Wasser hin. Er kam nur langsam vorwärts, und daher war er hoch erfreut, als er Stimmen hörte, welche sich ihm näherten. Er rief.
»Hollah!« antwortete es ihm entgegen. »Wer ruft?«
»Ein Fremder. Kommen Sie näher!«
In kurzer Zeit standen mehrere Männer vor Gerard, welche Decken und Tragbahren trugen.
»Wir hörten ein Krachen und Prasseln,« sagte ihr Anführer. »Der Zug ist verunglückt, wie wir vermutheten. Wir sind sofort aufgebrochen, und hinter uns kommen noch Andere; sie sind aus Genheim.«
»Ah, das ist gut; dahin wollte ich.«
»Zu wem?,«
»Zum Lehrer.«
»Das paßt; der bin ich.«
»Ah, das trifft sich glücklich! Einer der Aerzte, welche sich an der Unglücksstätte befinden, sendet mich zu Ihnen. Mein Herr, der Marchese d'Acrozza gehört zu den Verunglückten; er hat einen Doppelbruch am Arme, und der Arzt meinte, daß Sie vielleicht die Güte haben würden, ihn bei sich aufzunehmen.«
»Das versteht sich ganz von selbst. Aber ein Marchese -?«
»Das ist er.«
»Wird er mit einem armen Dorflehrer fürlieb nehmen?«
»O, gewiß.«
»Und Sie werden auch bei ihm sein?«
»Ich wünsche es.«
»Nun, so wollen wir sehen, ob sich Platz schaffen läßt. Kehren Sie also wieder mit um!«
Der Lehrer schien ein sehr resoluter Mann zu sein. Er schritt voran und trat, als sie an der Unglücksstätte ankamen, sofort zu dem Arzte, den er sogleich bemerkt hatte.
»Da bin ich, Herr Doctor,« sagte er.
»Ah, so rasch!«
»Ich traf den Diener unterwegs.«
»Gut, kommen Sie, mir zu helfen!«
»Die Brüche einrichten?«
»Nein, nur einen Nothverband anlegen. So bald ich hier entbehrt werden
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kann, komme ich zu Ihnen nach Genheim, wo das Andere dann besser geschehen kann.«
»Er ist nicht weiter verwundet?«
»Vielleicht noch eine Contusion, die ich in der Eile nicht bemerkte.«
»So ist ja keine Gefahr.«
Als sie zu Alfonzo traten, lag dieser wieder in einer Ohnmacht. Der Arzt schüttelte den Kopf und sagte:
»Hm, ich scheine mich doch geirrt zu haben.«
»Wieso?« fragte der Lehrer.
»Er fällt aus einer Ohnmacht in die andere; es scheint also doch wohl eine innerliche Verletzung vorzuliegen. Kommen Sie!«
Die beiden Männer legten den Arm in Verband, wobei Alfonzo erwachte und Zeichen seines Schmerzes gab.
»Wo fühlen Sie?« fragte der Arzt.
»Im Arm, sowie auch im Kopf Schmerz, mehr ein schreckliches Drücken und Zusammenpressen.«
»Hm! Es müssen während der Nacht fleißig Umschläge gemacht werden; kalt natürlich.«
»Wollen Sie sich mir anvertrauen, Herr Marchese?« fragte der Lehrer.
»Wer sind Sie?«
»Ich bin der Lehrer aus Genheim.«
»Werde ich dort einen Arzt haben?«
»Ja, diesen Herrn hier.«
»So nehmen Sie mich mit; ich werde es Ihnen lohnen.«
Natürlich war diese Unterhaltung von Seiten Alfonzo's nicht in deutscher Sprache geführt worden, sondern Gerard Mason machte den Dolmetscher.
Der Verletzte wurde mittelst Decken auf eine der Bahren gebettet. Gerard legte das Köfferchen hinzu, griff mit einem der Bauern zu, und so setzten sie sich, von dem Lehrer angeführt, in Bewegung.
Unterwegs begegneten ihnen noch einige Trupps von Hilfsbereiten, welche zur Unglücksstätte eilten. An ihnen vorüber erreichten sie das Dorf und bald auch das Schulhaus.
Dieses war ein nicht sehr geräumiges, aber, wie es schien, freundliches Gebäude. Eine Frau trat ihnen, mit der Lampe in der Hand, unter der Thür entgegen.
»Mein Gott, was bringt Ihr da?« fragte sie besorgt.
»Einen Verunglückten, Mutter,« antwortete der Lehrer.
»So ist also wirklich der Zug verunglückt?«
»Ja. Mach schnell das Besuchsstübchen bereit!«
»O, das ist ja stets in Ordnung. Kommt schnell herein!«
Als die Bahre im Flur niedergesetzt wurde, leuchtete sie Alfonzo in das Gesicht.
»Er liegt in Ohnmacht,« sagte sie. »Das arme, junge Blut. Weißt Du, was er ist?«
»Ein Herr von Adel.«
»O weh! Ach ja!« rief sie, denn jetzt erst achtete sie auf die Livree Gerards.
»Er ist ein Marchese d'Acrozza, ein Italiener.«
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»Aber, Mann, wird er mit uns fürlieb nehmen?«
»Wir müssen es versuchen.«
»So kommt! Könnt Ihr die Treppe empor?«
»Ich denke es.«
Es ging langsam und schwierig, aber dennoch gelang es, mit der breiten Bahre die verhältnißmäßig schmale Treppe zu passiren. Die brave Lehrerin öffnete eine Thür, und nun traten sie in das kleine, aber sehr freundlich eingerichtete Besuchsstübchen, in welchem der Kranke, nachdem ihn die Männer vorsichtig seiner Kleider entledigt hatten, auf das Bett gelegt wurde. Den Aermel des Rockes hatte ihm bereits der Arzt aufgeschnitten.
Nachdem für Alles gesorgt worden war, entfernten sie sich, und nur Gerard blieb bei ihm zurück. Dieser betrachtete sich, während sein Herr noch in Ohnmacht lag, das Stübchen. Es enthielt außer dem Bette einen Tisch, eine Kommode, einige Stühle, einen Waschtisch, einen Spiegel und zwei Bilder.
Nach einiger Zeit machte der Graf eine Bewegung, und in Folge dessen stellte Gerard die Lampe so, daß ihr Schein den Patienten nicht in das Gesicht treffen konnte. Dadurch fiel dieser Schein nun direkt auf die Bilder, so daß Gerard sie deutlich erkennen konnte.
»Alle Teufel!« sagte er leise, sich erhebend und hinzutretend. »Wer ist denn das?«
Das eine Bild stellte einen jungen Mann, und das andere ein junges Mädchen vor. Der Erstere war in spanische Tracht gekleidet, und die Letztere trug die Fetzen einer Zigeunerin. Obgleich es nur Kreidezeichnungen waren, erkannte man sehr deutlich, daß die Zigeunerin eine große Schönheit sei.
»Wer ist denn das?« wiederholte Gerard verwundert. »Das ist doch mein Herr!«
In diesem Augenblicke bewegte Alfonzo sich abermals, und Gerard eilte zu ihm hin. Der Kranke hatte die Augen geöffnet und blickte sich im Raume um.
»Wo bin ich?« fragte er, sich besinnend.
»Beim Lehrer,« antwortete Gerard.
»Bei welchem Lehrer?«
»Sie wissen das nicht?«
»Nein.«
»O, dann sind Sie auch im Kopfe verletzt. Sie haben ja mit dem Lehrer gesprochen!«
»Ich? Wo?« fragte Alfonzo verwundert.
»An der Bahn.«
»An der Bahn? Ach so! Es kam ein Mann und wollte mich zu sich nehmen. Ich besinne mich. In welchem Orte sind wir?«
»In einem Dorfe, welches Genheim heißt. Der Lehrer hat Ihnen sein bestes Zimmer angewiesen.«
»Wo bin ich verletzt? Ah, im Arme!«
Er hatte den Arm bewegen wollen und fühlte dabei den Schmerz in demselben.
»Ja, Monsieur. Sie haben ihn zweimal gebrochen.«
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»Donnerwetter! Was wird da aus unserer Reise!«
»Sie wird auf einige Zeit unterbrochen werden.«
»Das ist verdammt unangenehm! Aber ein Armbruch genirt ja nicht im Gehen. Wenn er eingerichtet ist, werden wir die Reise fortsetzen.«
»Dazu müßten wir die Erlaubniß des Arztes haben.«
»Ich frage den Teufel nach seiner Erlaubniß. Wann wird er zu mir kommen?«
»Sobald er von der Unglücksstätte fort kann.«
»So werde ich gleich nach dem Verbande abreisen.«
Gerard lächelte.
»Sie sind ja nicht nur am Arme verletzt!« sagte er. »Am Kopfe ebenfalls.«
»Dummheit! Ich fühle nur ein wüstes Pressen.«
»Aber Sie gerathen doch aus einer Ohnmacht in die andere!«
»Wirklich?«
»Ja. Ich denke, wir werden auf einige Zeit hier verweilen müssen.«
»Sind mein Köfferchen und die übrigen Effekten gerettet?«
»Das muß sich erst finden. Sie befanden sich im Gepäckwagen.«
»Wie heißt der Lehrer, bei dem ich mich befinde?«
»Ich weiß es nicht. Soll ich fragen?«
»Nein.«
Er drehte sich ab, und dabei fiel sein Blick auf die beiden Bilder. Seine Augen vergrößerten sich und seine Lippen bebten.
»Mein Gott, was ist das!« sagte er.
»Kennen Sie die Bilder, gnädiger Herr?« fragte der Diener.
»Kennen? Oh, ich kenne sie!«
»Wer ist es?«
Unter anderen Verhältnissen wäre es sicher nicht geschehen, jetzt aber gab der Graf doch eine Antwort. Er war jedenfalls am Kopfe verletzt.
»Das ist mein Vater.«
»Ihr Vater? Ah, darum sieht das Bild Ihnen so ähnlich!«
»Und Zarba.«
»Zarba? Wer ist das?«
»Eine Zigeunerin. Spring' rasch hinunter, und frag', wie der Lehrer heißt! «
»Das wird auffallen, Monsieur! Es ist besser, wir warten. Die Lehrerin hat versprochen, bald wieder zu kommen.«
Der Kranke nickte und schloß die Augen. Nach einiger Zeit öffnete er sie wieder, fuhr sich mit der Hand an den schmerzenden Kopf und fragte:
»Gerard, hast Du diese Bilder bereits gesehen?«
Der Gefragte stutzte. War sein Herr denn irre?
»Ja,« antwortete er.
»Hast Du mich vielleicht gefragt, wen sie vorstellen?«
»Nein,« sagte Gerard, um ihn auf die Probe zu stellen.
»Wirklich nicht?«
»Nein.«
»Mir war es gerade so, als ob ich mit Dir darüber gesprochen hätte!«
»Ich weiß nichts davon.«
// 672 //
»So bekümmere Dich nicht darum. Du brauchst nicht zu wissen, wer sie sind.«
Er schloß die Augen wieder, aber über sein Gesicht zuckte und zitterte es, als ob er mit wirren Gedanken ringe. Da trat die Lehrerin vorsichtig herein.
»Ist er noch nicht wieder erwacht?« fragte sie leise.
»O doch,« antwortete Gerard ebenso leise. Aber der Kranke hatte das Flüstern doch vernommen.
»Wer ist da, Gerard?« fragte er, ohne die Augen zu öffnen.
»Ich bin es, die Wirthin,« antwortete die Lehrerin französisch. Da öffnete der Kranke die Augen, blickte sie lange forschend an und sagte dann:
»Sie sprechen französisch?«
»Ja, mein Herr.«
»Wo haben Sie es gelernt?«
»Im Institut. Ich war Erzieherin.«
»Ah, das ist gut! So können wir mit einander sprechen.«
Er schloß die Augen wieder, und es verging fast eine Viertelstunde, ehe er sie wieder öffnete; dann aber schien er die Gegenwart des Dieners ganz vergessen zu haben; er richtete den Blick auf die Bilder und fragte: »Wer ist dieses Mädchen, Madame?«
»Eine Zigeunerin,« antwortete sie. »Wohl ein Phantasiebild?«
»Nein, ein Portrait.«
»Ah, sie ist eine Schönheit! Wo lebt sie?«
»Sie lebte in Spanien, in Saragossa; sie hieß Zarba.«
»Zarba! Lebt sie noch?«
»Vielleicht.«
»Und wer ist der Herr neben ihr?«
»Ein Spanier.«
»Ja, er trägt spanische Tracht. Auch ein Portrait?«
»Ja. Es war ein gewisser Gasparino Cortejo.«
»Ah! Was war er?«
»Er war Haushofmeister bei dem Herzoge von Olsunna.«
»Sie sind eine Deutsche?«
»Ja.«
»Wie kommen Sie zu diesen Portraits?«
»Wir haben sie von einer entfernten Verwandten meines Mannes.«
»Wie heißen Sie?«
»Mein Mann heißt Wilhelmi.«
»Ah! Und wie heißt jene Verwandte?«
»Sie ist eine geborene Wilhelmi, jetzt aber eine verwittwete Sternau.«
Alfonzo schwieg eine Weile; er hatte viel zu denken, aber sein Kopf war zu schwach dazu. Endlich aber sagte er, langsam und jedes einzelne Wort sich überlegend:
»Wo ist diese Sternau zu den Bildern gekommen?«
»In Spanien. Sie war Gouvernante dort.«
Ende der achtundzwanzigsten Lieferung - Fortsetzung folgt.