Lieferung 20

Karl May

11. Dezember 1886

Der Weg zum Glück.

Vom Verfasser des »Waldröschen«, »Verlorner Sohn«, »Deutsche Helden« etc.


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Jetzt aber, beim letzten Accord, reckte sich die schmächtige und doch so kraftvolle Gestalt empor und der Bogen flog in einem brillanten, chromatischen Läufer über die Saiten bis hinauf zum höchst möglichen Flageolettone. Und dann, ja dann begann er seine Melodie zu variiren, in einer Weise, welche den Capellmeister vom Stuhle emporriß.

»Fex!« rief er.

Der Spieler schien es gar nicht zu hören.

»Fex! Um Gotteswillen, ist das wahr? Bist Du es denn wirklich? Das ist Zauberei!«

Der Fex aber verzog keine Miene, sondern er spielte weiter, so daß dem Capellmeister vor lauter Verwunderung die Haare zu Berge steigen wollten, wohl eine ganze Viertelstunde lang, meisterhaft, wahrhaft meisterhaft, ja virtuos. Sodann riß er plötzlich mit einer rapid niederstürzenden Cadenz ab, legte die Geige hin und sagte lächelnd:

»So, da! So kratzt der Fex die Vigolinen. Behüt Dich Gott, Herr Capellmeistern!«

Und schnell war er zur Thür hinaus. Der Capellmeister riß natürlich die Thür wieder auf und schrie:

»Fex! Halt! Halt!«

Keine Antwort.

»Fex! So warte doch!«

Stille bliebs. Nicht einmal die Schritte des barfüßigen Künstlers waren zu hören. Der Dirigent der Theatercapelle sprang eiligst ans Fenster, riß es auf und schaute hinab. Eben kam der Fliehende unten zur Hausthür heraus.

»Fex, so warte doch nur!«

Der Gerufene sah zum Fenster empor und fragte:

»Was hast nun noch?«

»Willst Du bei mir eintreten?«

»In Deine Stuben? Da war ich doch jetzt schon!«

»Nein, in meine Capelle.«

»Ich hab auch eine!«

»Als erster Geiger!«

»Da hast Du schon einen!«

»Ich jag ihn fort!«

»Das sollt mir leid thun!«

»Freie Station -«

»Die Station hab ich stets frei, wann ich zum Bahnhof geh und schau sie mir an. Weißt!«

»Und tausend Mark Gehalt!«

»Das glaub ich nicht.«

»Verteufelt! Da rennt der Kerl doch fort! Fex!«

Der Gerufene schritt weiter, ohne sich umzudrehen.

»Fex - lieber Fex - Herr - Herr Fex!«


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Nicht einmal auf diesen höflichen Titel, den man ihm noch niemals gegeben hatte, hörte er.

Da bog der Capellmeister seinen Leib so weit wie möglich zum Fenster hinaus und schrie mit einer Stimme, die nur für den bereits weit entfernten Fex bestimmt war, aber auch von allen Anderen weithin gehört wurde:

»Fex, Fex! Ich geb fünfzehnhundert Mark!«

Aber husch war der so sehnsüchtig Begehrte hinter der nächsten Ecke verschwunden.

Der Capellmeister zog seinen Körper langsam wieder in die Stube zurück, machte das Fenster zu, fuhr sich mit den Händen in das Haar und sagte:

»Mir ists grad noch so, als ob ich träume! Dieser verachtete Kerl ist wahrhaftig bereits ein Virtuos! Wo hat ers her! Wer ist sein Meister, sein Lehrer! Keiner und Niemand! Das ist eine Gottesgabe ohne Gleichen. Aber ich habe ihn entdeckt und ich angle ihn für mich. Ich werd fürchterliche Furore mit ihm machen und - mir ein wahres Heidengeld mit ihm verdienen!«

Also das war heute vor und nach der Probe geschehen. Natürlich fiel es dem Fex nicht ein, sich das verheißene Billet vom Capellmeister zu holen. Es ärgerte ihn zwar nicht, aber er hatte doch den Blick, welchen derselbe auf die nackten Füße geworfen hatte, gesehen und dann die Bemerkung hören müssen, daß das Billet für einen Platz sei, an welchem er nicht bemerkt werden könne. Diese Worte und diesen Blick hätte der Mann lieber weglassen können.

Nun erhielt der Fex von der Leni das Kärtchen, welches ihn berechtigte, sich hinter die Bühne zu verfügen. Gerade als er den engen Gang hinabschritt, trat die Genannte mit ihrem Sepp durch eine Tapetenthür heraus. Sie hatten unbemerkt ihre Orchesterloge verlassen. Als sie den Fex bemerkten, sagte die Leni:

»Da bist ja! Das trifft sich gut. Komm! Ich will Dir Deinen Platz gleich zeigen. Da hasts so bequem, wiests nur zu haben wünschen kannst.«

Sie nahm ihn bei der Hand und brachte ihn bis dahin, wo hinter den linksseitigen Coulissen ein Sopha stand, bestimmt, bei vorkommendem Bedürfnisse auf die Scene gestellt zu werden.

»Hier,« sagte die Leni, »hast ein feins Plüschcanapee; das ist Deine Theaterlogen. Die wird Dir kein Mensch streitig machen. Und da hast auch ein Programmen, daßt nicht irre wirst und eine Symphonieen für einen Walzern hältst, oder gar eine Bratwursten für eine Piccoloflöten.«

Sie gab ihm den Zettel.

Es war eben der Augenblick, an welchem der Italiener seinen Vortrag beendet hatte und die Gardine niederging. Da kam der Director mit dem Altmeister Liszt von der anderen Seite auf die Scene und stellte die beiden Herren einander vor. Die Worte, mit denen sie sich begrüßten, bestanden in den bei solchen Gelegenheiten gebräuchlichen Redensarten und Höflichkeiten. Sodann hörte man Liszt fragen:

»Und wo haben Sie das neue Lumen, die Mureni?«


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»Noch sehe ich sie nicht. Ich hörte, daß sie sich in ihrer Orchesterloge befinde.«

»Rechtfertigt diese Dame denn das Arrangement, welches man ihretwegen getroffen hat?«

Diese Worte hießen, ins Aufrichtige übersetzt:

»Ist diese Sennerin denn wirklich ein solches Licht, daß sie an einem Concerte mitwirken darf, in welchem ich mich hören lasse?«

Und der berühmte Meister hatte ja ein unbestreitbares Recht zu dieser Frage. Der Director antwortete:

»Ganz gewiß, wie ich zu meiner Genugthuung sagen darf.«

»So bin ich wirklich wißbegierig auf sie.«

»Wann das so ist, so könnens mich halt anschaun!«

Diese Worte erklangen hinter ihm, denn die Leni war hinter der sie verbergenden Coulisse hervorgetreten. Liszt drehte sich um. Sein tiefer, forschender Blick ruhte eine ganze Weile auf ihr. Dann machte er eine höfliche Verbeugung und sagte:

»Wenn Ihre Stimme das hält, was Ihr Gesicht und Ihr Auge versprechen, so werden Sie Ihren Weg machen. Wir sehen uns ja wohl heute Abend wieder. Jetzt bitte, weiter, Herr Director!«

Dieser führte ihn hinaus auf den Gang, welcher um die Logenreihen des ersten Platzes führte.

»Bin ich angemeldet?« fragte Liszt.

»Ja, bitte!«

Der Director öffnete die Thür und Liszt trat ein. Er befand sich in der Loge des Königs. Wagner erhob sich sofort, und als der König, den Kopf leicht wendend, den Eintretenden gewahrte, begrüßte er ihn mit einem freundlichen Verneigen des Kopfes und winkte ihn mit der Hand an seine rechte Seite.

Aller Augen waren natürlich an diesem Augenblicke auf diese Loge gerichtet. Eine solche Gruppe war eine Seltenheit: Wagner links, Liszt rechts, und zwischen diesen beiden Koryphäen ein König, ein Beschützer und Gönner der Künstler, wie kein Zweiter.

Der Fex hatte von seinem verborgenen und unbeachteten Platze aus Liszt mit leuchtenden Augen beobachtet. Erst als dieser verschwunden war, warf er einen Blick auf das Programm. Fast erschrak er, als er an vorletzter Stelle las:

»Die alte Bettlerin. Gedichtet und componirt vom >Fex<, gesungen von Signora Mureni.«

Das Wort Fex war fett gedruckt. Die Buchstaben begannen vor seinen Augen zu schwimmen. Er spürte die Wirkung jenes süßen Rausches, den ein Jeder fühlt, der seinen Namen zum ersten Male gedruckt liest, und mußte sich alle Mühe geben, das Klopfen seines Herzens zu beherrschen.

Jetzt wurden die Vorbereitungen zur Nummer Vier getroffen, während vom Orchester die Gavotte vorgetragen wurde. Die Scene wurde in eine


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Alpenlandschaft verändert und stellte eine steile Alpenwiese vor, auf welcher eine Sennhütte stand. Die Thür derselben war offen. Neben derselben stand eine Bank, über welcher ein Vogelkäfig hing. Durch die geöffnete Thür erblickte man den von der Decke herabhängenden Kessel.

»Jetzt nun komm herbei,« sagte die Leni zum Sepp, indem sie ihn bei der Hand ergriff. »Da, setz Dich auf die Bank! Und wie ist Dirs denn so um den Magen herum? Hast vielleicht eine Angst?«

»Angst?« lachte er. »Vor wen?«

»Vor den vielen Herrschaften da draußen.«

»Weißt, diese Herrschafterln gehn mich halt gar nix an. Ich sing mit Dir, wie ich so oft mit Dir sungen hab und weilts so gar expreß wollt hast.«

»Ja, ich hab meine künstlerische Laufbahn anfangen wollen an Deiner Seiten, mit Deiner Zithern, mit Deiner alten, trauten Stimmen und mit unserm Lieblingslied. Obs Denen da draußen gefallt, das ist mir für dieses Mal gleichgiltig.«

»Ja, Du bist und bleibst mein bravs Lehnerl!«

Er drückte ihr mit väterlicher Zärtlichkeit die Hand und setzte sich auf die Bank. Ein Theaterdiener brachte den alten Hut, den Bergstock und die Zither herbei. Die Letztere nahm der Alte auf die Kniee, den Stock aber, auf den er den Hut stülpte, lehnte er unter den Käfig an die Wand. Als nun die Leni an den einen Thürpfosten trat, bildeten sie ganz genau dieselbe Gruppe wie im vorigen September droben auf der Alm, wo sie auch mit einander sangen, ehe der König bei Leni erschien.*)

Jetzt waren die letzten Töne der Gavotte verklungen und der Regisseur erschien. Er warf einen prüfenden Blick auf die Scene, erklärte sich zufriedengestellt und sagte, aber unter einem leichten Achselzucken:

»Sie haben es partout so gewollt, Signora. Wir haben Ihren Wunsch als Befehl genommen und tragen also keine Verantwortung, wenn Ihr Debut einen ganz andern Erfolg findet, als Sie erwarten.«

»Den Erfolg weiß ich sehr genau,« antwortete die Leni. »Die Herrschaften erwarten natürlich eine brillante Kunstleistung. Statt dieser hören sie ein einfaches Alpenlied, gesungen von einem alten Kerl und einer dummen Dirn. Erst wird man erschrecken, dann sich wundern, nachhero gar sich ärgern und endlich schweigen oder gar zischen, anstatt uns Beifall zu klatschen.«

»Nun, ein Zischen hören wir heute bei einem so distinguirten Auditorium wohl nicht.«

»So desto besser! Also hast keine Angst, Sepp?«

»Fallt mir nicht ein. Was steht denn jetzt auf dem Programmen, Leni?«

»Auf der Alm, da giebts ka Sünd, Volkslied, vorgetragen von Signora Mureni und Joseph Brendel.«

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*) Siehe das Bild zum ersten Hefte dieses Romanes.  


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»Sappernlot! Das klingt nobel. Auf so einem Programmen bin ich schon gar der Sepp nicht mehr. Na, ich bin begierig, was noch aus mir werden mag!«

Jetzt wurde das Glockenzeichen gegeben und die Gardine stieg empor. Natürlich waren Aller Augen nach der Scene gerichtet. Da das Orchester nicht zu begleiten hatte, so hatten auch die Mitglieder der Capelle genug Zeit, sich die neu aufgetauchte Künstlerin zu betrachten.

Welch eine Enttäuschung! Das war ja der alte Mensch, welcher da unten in der Orchesterloge gesessen und die unanständige, gemeine Nase hinauf nach dem ersten Rang gezogen hatte! Und das Mädchen neben ihm? Das soll die Mureni sein? O weh!

Es ging jenes leise Geräusch durch den Raum, welches dem geübten Künstler schon im Voraus sagt, daß er zu kämpfen haben werde und sich ja auf keinen Beifall spitzen möge.

Aber nun erklangen die Töne der Zither durch den Raum, bei dessen Weite und Höhe sie auf den entfernten Plätzen an Stärke außerordentlich verlieren mußten.

»Also, nicht zu stark vorerst, Sepp!« flüsterte Leni.

Und dann, als das Vorspiel beendet war, begann sie mit dem Pathen:

»Von der Alm, da ragt ein Haus
Niedlich übers Thal hinaus;
Drinnen wohnt mit frohem Sinn
Eine schöne Sennerin.
Senn'rin singt so manches Lied,
Das durch Thal und Nebel zieht.
Horch, es klingt durch Luft und Wind:
Auf der Alm, da giebts ka Sünd!

Leni hatte gesungen ganz wie früher. Ihrer Stimme war nicht ein Spur der Schulung anzuhören, welche sie seit jener Zeit genossen hatte. Und auch den Jodler »Hol di ei i di«, welcher auf die letzte Zeile folgte, sang sie ganz in derselben einfachen Weise wie vormals.

Als derselbe verklungen war und der Sepp das Vorspiel für die zweite Strophe begann, flüsterte er:

»Jetzt schau mal hinaus zu denen Herrschafterln, was sie halt für Gesichtern schneiden!«

»Sehr schlimme!«

»Du singst aberst auch schlimm!«

»Dann wirds besser.«

Jetzt war das Vorspiel zu Ende und es folgte die Fortsetzung:

»Als ich jüngst auf schroffem Pfad
Ihrem Paradies genaht,
Trat sie flink zu mir heraus,
Bot zur Herberg mir ihr Haus,


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Fragt nicht lang: Was thust allhier?
Sondern setzte sich zu mir,
Sang ein Lied, so weich, so lind:
Auf der Alm, da giebts ka Sünd!
Hol di ei i di!
«

Für den Unbetheiligten wäre es wirklich ein Genuß gewesen, den Ausdruck dieser weit über tausend Gesichter zu beobachten. Jedes war anders, aber auf allen zeigte sich die eine Miene der größten, allergrößten Enttäuschung. Man wandte die Köpfe hin und her, blickte sich groß an, versteckte die Nase hinter Fächer oder Taschentuch - und wohl nur die Anwesenheit des Königs hielt Viele ab, der Indignation einen lauten Ausdruck zu geben.

Und nun kam die dritte Strophe:

»Und als ich dann von ihr schied,
Klang von fern mir noch ihr Lied,
Und zugleich mit Schmerz und Lust
Trug ichs fort in meiner Brust,
Und seitdem, wo ich auch bin,
Schwebt mir vor die Sennerin,
Hör sie rufen: Komm geschwind,
Auf der Alm, da giebts ka Sünd!
Hol di ei i di!«

Der erfahrene Theaterdirector hatte natürlich geahnt, welchen Mißerfolg dieser Vortrag haben werde, und da ihm am Meisten vor dem Unwillen des Königs bangte, so war er nach dessen Loge gegangen und da eingetreten, um in respectvoller Entfernung einen etwaigen Wink zu erwarten.

Er hatte sich nicht getäuscht. Als der letzte Ton verklungen war, verbeugten sich die Leni und der Sepp und traten ab. Keine Spur von Beifall - aber auch nicht das leiseste Geräusch, welches als Entrüstungsausdruck zu deuten gewesen wäre. Eine schwere, bleierne Laut- und Geräuschlosigkeit lag auf dem Hause. Man hätte eine Stecknadel fallen hören können.

Da sah man, daß der König den Kopf wendete und den Director herbei winkte. Er sprach nicht laut, nur mit ziemlich gedämpfter Stimme, als ob Niemand es hören solle, aber bei der beängstigenden Stille klangen die Worte doch mehr oder weniger deutlich, je nach der verschiedenen Entfernung in die Ohren aller Anwesenden.

»Was war das? Warum dieses Lied!«

»Majestät, sie hat es nicht anders haben wollen.«

»Warum?«

»Joseph Brendel ist ihr Pathe, der einzige Mensch, den sie im Leben gehabt hat.«

»Ach so!«

»Und da hat sie den ersten Schritt mit ihm, dem lieben, alten Almler, thun wollen, an seiner treuen Seite und mit grad dem Liede, welches sie so oft mit ihm gesungen hat.«


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Auch die Stimme der Directors drang bis in die entfernteste Ecke. Da nickte der König:

»Das ist brav! Das ist Gemüth! Das verdient unsern Beifall!«

Er klatschte, obgleich der Vorhang bereits gefallen war. Und nun konnte man sehen, was der Beifall und das Beispiel eines Königs vermag.

»Brav - Gemüth - Beifall - alter Pathe - hat nur ihn gehabt im Leben -« so flüsterte es von Platz zu Platz, und alle Hände, keine einzige ausgenommen, begannen zu arbeiten, als ob die Mara, die Sonntag oder die Schröder-Devrient eine ihrer Bravour-Leistungen losgelassen gehabt hätten.

Der König hatte seine Hände höchsten drei- oder viermal sich berühren lassen, dann blickte er mit lächelnder Miene nach rechts und links. Ein leises, freundliches Neigen seines Kopfes und die Kräfte verdoppelten sich.

Da ging die Gardine wieder empor und der »alte Aelpler« brachte die Sennerin hereingeführt. Er verbeugte sich so gut, wie er es mit seinem steifen Rücken fertig brachte, und sie mit ihm. Sein Gesicht strahlte vor Entzücken. Er schwenkte mit der einen Hand den Hut und figurirte mit der andern in der Luft herum, als ob er Schwalben fangen wollte. Das Klatschen wollte kein Ende nehmen. Da trat er ein Stück weiter vor und gab mit der Hand ein Zeichen, daß man still sein solle. Und als da schnell Ruhe eintrat, sagte er laut, daß es bis in die entfernteste Ecke schallte:

»Schauts, Leuteln, ich hab halt gar nicht glaubt, daßt Ihr so brave und liebe Herrschafterln seid. Wir habens schlecht macht, das weiß ich gar wohl, aberst die Leni, das sakrische Malefizdirndl, die hats grad so gewollt. Ihr sollt halt nicht sogleich wissen, wie sies eigentlich kann. Jetzt abern wolln wir den dritten Vers nochmal singen, ohne Zithern und ohne Alls. Da mag sie nun mal den Deuxi loslassen, und ich werd den Baß dazu orgeln, daß Ihr Eure Freuden dran haben sollt!«

Er nickte dem Publikum brüderlich zu, als ob er sich in einer Schänke bei Seinesgleichen befinde, und trat zurück. Seine Rede machte einen gewaltigen Eindruck. Man erkannte, daß es hier nichts Gemachtes, Unwahres, Falsches gab, daß man es mit einem ehrlichen, wenn auch nicht blank polirten Biedermann zu thun hatte, und das regte an.

»Bravo, Wurzelsepp!« erklang eine Stimme.

Wessen Stimme das eigentlich war, das konnte Niemand sagen, außer wohl die nächsten Nachbarn, aber der kräftig klingende, viel bekannte Name war nicht umsonst ausgesprochen worden. Ein einstimmiges Lachen folgte; dieses wurde mehr- und endlich gar vielstimmig. »Bravo! Bravo!« erklang es von allen Seiten und wollte kein Ende nehmen, bis der Sepp abermals ein Zeichen gab und laut rief:

»Wollt Ihr endlich nun mal Ruhen geben, Ihr Himmelsakra! Man kann doch seine eigne Red nimmer hören! Wann sollen wir denn anfangen zu beginnen, wann das so fortgeht!«

Und dabei sah man es dem Alten ganz deutlich an, daß es ihm mit diesem heiligen Zorn vollständig Ernst sei. Das erhöhte natürlich die


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Teilnahme für diesen urwüchsigen Character, und der Beifall erhob sich von Neuem.

Da warf er zornig seinen alten Hut auf den Boden, setzte sich auf die Bank, legte die Beine über einander und drehte sich vom Publikum ab, als hätte er sagen wollen:

»Da, macht meinswegen fort! Ich kanns abwarten!«

Dadurch wurde die Stimme des Publikums eine noch viel animirtere und der Regisseur flüsterte dem Director, welcher inzwischen wieder hinter der Scene erschienen war, froh zu:

»Wer hätte das gedacht! Wir können wieder Athem holen!«

»Ja, so ein Debut ist einzig, ist noch nie dagewesen. Diese Mureni ist genial. Sie hat mit ihrem alten Pathen einen Griff gethan, der ganz unvergleichlich und unbezahlbar ist. Ihr Weg ist gemacht. Sie hat an das Herz, an das Gemüth des Publikums appellirt und ihre Rechnung gefunden.«

Endlich legte sich der Beifall, und nun ergriff die Leni ihren Sepp bei der Hand und zog ihn auf.

»Schön!« sagte er. »Aberst nun mal laut!«

Und nun begannen sie den dritten Vers abermals: >Und als ich dann von ihr schied.<

Gleich bei den ersten Tönen ging eine auf den Gesichtern bemerkbare Ueberraschung durch den Zuhörerkreis. Leni sang das Lied aus A-dur. Sie setzte mit dem e wie mit Orgelton ein und das tiefe cis klang voll, stark und sonor, wie es nur von einem ausgesprochenen Mezzo-Sopran hervorgebracht werden kann. Ihre Stimme hatte ein ganz eigenartiges, männliches Timbre, und doch, als die Melodie dann emporstieg, klang es, wie wenn ein Organist die Vox humana mit der Flauto amabile und dem Posaunenbasse registrirt. Das hatte Niemand erwartet. Diese Stimme füllte den weiten Raum, das Wort »füllte« als Kunstausdruck, als Terminus technicus gebraucht. Ein Jeder begann zu ahnen, was diese Stimme vermochte, wenn die Sängerin wirklich wollte.

Und der alte Sepp ließ seinen Baß so ungenirt hören, wie oftmals in der Kirche, wenn seine Nachbarn aus der Melodie geriethen und er sie wieder in die richtigen Töne hineinposaunte.

Und zuletzt der Jodler. Da stieg die Stimme der Sängerin, die man vorher für einen Mezzo-Sopran halten mußte, mächtig voll und jubilirend, mit einer Leichtigkeit bis in das dreigestrichene cis hinauf, daß man hörte, sie könne auch noch mehrere Töne weiter empor.

Es war nur ein leichtes Volkslied mit fließendem Jodler, aber als der Letztere geendet hatte, hatte jeder Zuhörer die feste Ueberzeugung, eine solche Stimme noch nie gehört zu haben.

Der Beifall brach von Neuem los, und zwar brausend, wie ein wirklicher Sturm. Wieder und immer wieder mußten Beide erscheinen, mußte der alte, glückliche Sepp die Leni aus der Coulisse hervorziehen. Er weinte vor Freude, und als zwischen dem Applaudiren eine kleine Pause eintrat, wie es zuweilen


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vorzukommen pflegt, da faßte er seine Pathe bei den Hüften, hob sie trotz seines Alters hoch empor und rief schluchzend:

»Leni, Du bist halt meine einzige Freud und mein Glück! Das weiß der liebe Gott!«

Natürlich brach der Sturm von Neuem los; doch wurde der Vorhang nicht wieder emporgenommen.

Hinter demselben trat der Director auf die Sängerin zu, reichte ihr die Hand und rief, ganz entzückt über einen so ungeahnten Erfolg:

»Signora, meine herzlichsten Glückwünsche! Es ist gar nicht möglich, daß einer Ihrer noch folgenden Vorträge einen ähnlichen Beifall haben kann!«

»Meinen Sie?« lächelte sie ihn zuversichtlich an.

»Ja. Ich kann Ihnen jetzt mein Wort geben, daß Ihre Zukunft gesichert ist, wenn Sie nun noch zeigen, daß Sie auch in höherer Weise Gutes leisten.«

Auch der Italiener kam, Concertmeister Antonio Rialti, um sie zu beglückwünschen. Sie nahm seine Gratulation höflich aber kühl auf und ließ ihn dann stehen, um hin zu dem Sopha zu gehen.

»Nun, mein lieber Fex, was sagst dazu?« fragte sie ihn.

»Daß ich Dirs gönn, von Herzen gönn!« antwortete er einfach; aber die Thränen, welche in seinen treuen Augen standen, waren der beste Beweis, wie aufrichtig und herzlich er es meinte.

Und noch Einer nahm an dieser Freude theil - der Krikelanton. Freilich wußte er nicht, ob er sich nicht lieber darüber ärgern solle. Je freundlicher die Leni vom Publikum aufgenommen wurde, desto schwerer war sie ja von der Bühne wegzubringen.

»Nun, Anton, wie gefällt sie Dir?« fragte der Professor Weinhold.

»Gut und schlecht.«

»Das ist Wahnsinn! Ich sage Dir, daß ich Kenner bin; aber eine Stimme wie diese, ist mir noch niemals vorgekommen.«

»Besser wärs, sie hätt gar keine!«

»Du bist ein Barbar!«

»Meinswegen! Aber dann wär sie auf der Alm blieben und ich hätt sie jetzt als meine Frau.«

»Aber der Kunst wäre eine ihrer größten Priesterinnen verloren gegangen!«

»Was geht mich die Kunst an!«

»Leider hast Du gar kein Verständniß für sie!«

»Ich wüßt auch gar nimmer, was ich damit thun sollt.«

»Und ebenso wie mir diese Stimme imponirt, entzückt mich das gute Gemüth dieses Mädchens. Welch ein Gedanke, an diesem Orte und vor einem solchen Publikum mit dem Sepp und mit diesem Liede hinzutreten! Und doch hat sie es gewagt!«

»Ja, brav ist das gewesen, das geb ich schon zu; aberst noch braver hätt ichs genannt, wanns niemals vor ein Publikum treten wär. Freun thut


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michs nur, daß sie ihr Gewanderl anhat und nicht so eins, was oben kurz ist und dafür unten viel zu lang!«

Der Professor konnte sich die größte Mühe geben, ihn zu einer anderen Ansicht zu bringen - vergebens. In seinem riesigen Egoismus erkannte er nun einmal nicht, welch ein ungeheures Opfer er von der Geliebten verlangte und selbst jetzt noch forderte.

Die nächste Nummer war wieder ein Orchesterwerk, und dann trat der Italiener nochmals auf.

Er hatte vier Nummern übernommen, die jetzige war seine zweite. Er gab sie wie die erste, mit erstaunlicher Technik, aber ohne Seele und Leben. Dennoch war der Beifall, welchen er jetzt fand, für ihn befriedigender als vorhin, und das hatte er der Leni und dem Sepp zu verdanken, welche Beide das Auditorium in eine nachsichtigere, freundlichere Stimmung versetzt hatten.

Als er abgetreten war, kam der alte Sepp zu ihm gegangen.

»Nun, wie stehts? Willst noch?« fragte er.

»Ich wollen ßehr, ßehr!« antwortete Rialti.

»So ists jetzt Zeit.«

»Ssein fertik allen Vorbereitunken?«

»Alles.«

»Auck die Leiter?«

»Natürlich.«

»Und wo ßein Leni, Signora Mureni?«

»Die ist eben jetzt nach der Garderobe gegangen, sich umzuziehen. Also mußt jetzt eilen.«

»Ssein auck das Fenßter das rickticke?«

»Ja, ja! Hab keine Sorge, und komm nur mit!«

Er gab dem Fex einen Wink und zog den Concertmeister mit sich fort, nach einer hinteren Thür, welche angebracht war, um Pferde oder Wagen hinter die Scene zu bringen. Dort wurde dann, wenn das Letztere der Fall war, eine breite, starke Holzbrücke vom Garten herauf angelegt. Seit längerer Zeit war das nicht vorgekommen, und so war diese Brücke einstweilen entfernt worden. Da es dort keine eigentliche Passage gab, war die Thür für gewöhnlich verriegelt.

Sie lag in einer dunklen, unerleuchteten Stelle. Der schlaue Sepp hatte seinen Landsmann und guten Bekannten, den Hausmann des Theaters, dazu gebracht, ihm den Schlüssel zu dieser Thür zu geben. In der Nähe derselben hatte der Hausmann eine Leiter lang an der Mauer hingelegt. Diese wurde heut nicht, sonst aber sehr oft gebraucht, um schnell und ohne zu stören hinauf zum Schnürboden zu gelangen.

»Hier ists,« sagte der Sepp, auf die Thür deutend.

»Hab Du den Schlüssel?«

»Ich hab ihn. Und hier liegt die Leiter. Aber Du mußt mit helfen.«

»Aber wenn man uns ßehen!«

»Kein Mensch kommt hierher.«


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Er schloß auf, und sodann ließen die Beiden die Leiter von der Thür hinab in den Garten. Der Sepp mußte von oben halten, und der Italiener stieg zuerst auf der Leiter hinab.

Der Sepp hustete laut, und sofort kam der Fex herbei, welcher hinter der nächsten Ecke bereits darauf gewartet hatte.

»Also laß Dich ja nicht sehen,« flüsterte ihm der Alte zu. »Und nachhero wartst hier, bis ich wiederkomm. Ich wills doch auch anschaun, wannt zum ersten Mal ein Conzertl giebst.«

Jetzt stieg auch er hinab. Er nahm den Concertmeister beim Arm, zog ihn fort und sagte:

»Komm! Wir müssen um die Ecke dort. Aber Du mußt ganz still und heimlich sein, ja nicht nießen oder husten, weil so ein sakrischer Hustrich oder Nießrich gleich Alles verrathen kann.«

»Ich ßein kanz ßtill, ßehr, ßehr ßtill!«

Sie bogen um die angegebene Ecke. Dort stand in der Nähe eines matt erleuchteten Fensters ein Baum. Sepp deutete hinauf zum Fenster und sagte:

»Das ists, was Du suchst.«

»Die Karderobe?«

»Ja, die Gardroben.«

»Wo Leni ßein drin?«

»Ja.«

»Ssie ßein ßicker drin? Ssicker und kewiß?«

»Ganz sicher. Steig nur nun hinauf!«

»Du auk mit ßteichen?«

»Ja.«

»Aber ich nicht kann kletter!«

»Ach so! Da muß ich die Leiter holen.«

Er hätte sie gleich mitnehmen können, hatte sie aber natürlich einstweilen anlehnen lassen, damit inzwischen der Fex auch herabsteigen könne. Als er zu ihm zurückkehrte, lachte er:

»Der Hallodri geht wirklich in die Falle!«

»Sollt man ihm so eine Dummheiten zutraun!«

»Warum nicht! So ein alter Kerl, wann er in ein hübsch Dirndl verschossen ist, der ist zu noch ganz andern Dingen fähig.«

»Eigentlich dauert er mich!«

»Was denkst! Er will meine Leni belauschen, wann sie sich aus- und anzieht. Das ist eine Sünd und Schand und muß bestraft werden.«

»Aber wann sie uns derwischen!«

»Das ist nicht möglich. Nur der Hausmann weiß es, und der verräth mich nimmer; er käm ja gleich selber in Strafen, daß er mir diesen Gefalln that. Also komm noch bis an die Eck. Und wann wir oben sind, nimmst die Leitern weg.«

Er nahm die Leiter und trug sie fort. Bei dem Baum angekommen, lehnte er sie an.


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»So steig voran!« gebot er dem Concertmeister.

»Du halten feßt, ßehr feßt!«

»Ja freilich.«

»Damit ich nicht ßtürzen vom Baum.«

»Steig nur. Ich kraxel gleich hinter Dir her!«

Der Baum war eine Linde, welche erst in ganz beträchtlicher Höhe die Aeste spaltete. Der Italiener war sein Lebelang noch auf keinen Baum gekommen. Er stieg empor, als ob es gälte, dann auf dem hohen Thurmseile zu tanzen, so zaghaft und angstvoll. Droben angekommen, krallte er sich voller Angst an den Stamm an, mit den Beinen auf dem untersten Ast fußend.

Der Sepp stellte sich auf die andere Seite des Stammes. Nun kam der Fex herbeigeschlichen, nahm die Leiter leise weg und trug sie fort.

»Mich mit feßthalten!« bat der Italiener. »Ich ßittern, ßehr ßittern, ßehr!«

»Ach was! Wer wird zittern! Jetzt giebts Anderes zu thun. Da schau ins Fenster hinein; da wird die Leni jetzt - - Sapperloten! Was für ein Fenstern ist das eigentlich?«

»Vergogna! Oimé - pfui! O weh!« antwortete der betrogene Italiener.

»Na, das ist auch eine Affenschand! Jetzt nun hat mir dera Hausmann das falsche Fenstern beschrieben. Dort das zweit ists richtige.«

Das Fenster, in welches sie blicken konnten, gehörte nämlich zu einem jener heimlichen Gemächer, welche zwar in jedem Hause sehr nothwendig sind, ihm aber keineswegs zur öffentlichen Zierde gereichen und darum meist an einen Punkt angebracht werden, wo sie am Wenigsten in die Augen fallen. Noch dazu war es mit weiß gefirnißten Scheiben versehen, so daß man nicht einmal hineinblicken konnte, ein Umstand, den der gute Signor Antonio Rialti von unten gar nicht bemerkt hatte. Er sagte jetzt:

»Schnell hin! Das ßweite es ßein.«

»Ja. Steigen wir rasch wieder hinab.«

»Vorwärts! Ich haben nicht viel von Zeit.«

»Ich auch nicht. Was! Tausendelement!«

Er sagte das im Tone der größten Ueberraschung. Dies fiel dem Italiener auf, welcher fragte:

»Was ßein? Warum Du fluchen?«

»Die Leiter ist weg.«

»Das ßein unmöcklick!«

»Da schau her!«

Aber der Kleine wagte es nicht, sich nieder zu beugen, weil er Angst hatte, in diesem Falle das Gleichgewicht zu verlieren und vom Baume zu stürzen.

»Ssie ßein wircklick weg?« fragte er.

»Ja.«

»Aber wohin ßie ßein?«

»Das weiß der Teuxel!«


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»Ssie umßtürzen!«

»Bewahre! Das hätten wir ja gehört.«

»Waß ßonsten?«

»Es muß Jemand heimlich hier gewesen sein.«

»E egli possibile! Ssein es möklick!«

»Ich habe keinen Schritt gehört. Aber diese Schauspielern sind Hallunken. Nun müssen wir hinabklettern. Komm, Bruderherz! Versuch es mit!«

»Kletter! Nein, nein! Ich brecken die Hals!«

»Das geht nicht so rasch.«

»O, ich brecken nicht bloßen die Hals, ßondern auck nock daßu die Kenick!«

»Ich halt Dich mit; ich helf Dir. Komm!«

Er faßte ihn an; aber der Kleine wurde da vor Angst viel lauter als bei der gebotenen Vorsicht jetzt rathsam war.

»Nein, nein!« quikte er. »Ich bleiben! Du allein hinuntergehen und Leiter holen!«

»Sapristi! Hinuntergehen?«

»Ja, ßehr, ßehr!«

»Nun, da versuchs doch mal, und geh so ßßehr hinunter. Glaubst etwan, man spaziert so hübsch leicht den Baum hinauf und hinab wie draußen auf denen Promenadern? Hier muß man klettern gelernt haben.«

»Alßo Du hinabklettern!«

»Hm! Ich mit meinen alten Gliedmaßen.«

»Es kehen schon!«

»Ja, es geht schon! Du hast Angst, aber ich kann den Hals brechen. Danke schön, sehr schön!«

»Nur hinab Du, und Leiter holen! Ich haben keinen Sseit mehr; ich müssen fort; ich müssen ßpielen!«

»Ja freilich, bist bald wiedern an der Reihen!«

»Alßo schnell, schnell! Ssehr, ßehr!«

»Na, ich werde Dir den Gefallen thun! Ich will es wenigstens mal versuchen. Stürze ich hinab, so kannst kommen und mich aufheben.«

Er war ein ausgezeichneter Kletterer, selbst noch jetzt in seinen alten Tagen. Er kam ohne alle Anstrengung und Beschwerde hinab.

»So! Da bin ich im Parterr!« sagte er.

»Du ßehen die Leitern?«

»Nein.«

»Ssie holen! Rasch, schnell!«

»Ja, wohin hat sie denn der Urian gesteckt?«

»Du ßuchen, ßehr ßuchen, ßehr!«

»Na, meinswegen.«

»Aber komm kleik wieder!«

»Sobald ich sie hab, ja.«

»Ich bereits ßittern. Ich stürzen!«


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»Wann Du jetzt schon zitterst, so wirds bald noch schlimmer. Setz Dich lieber nieder auf den Ast. Da ists gemüthlich, und da kannsts aushalten, bis die Gans geschlachtet wird.«

»Sso lange nicht, nein, nicht ßo lange!«

»Gut, so schlachten wir sie eher. Also jetzt will ich nach dera Leitern suchen gehn. Verhalt dich nur fein ruhig, sonst blamirst Dich in alle Ewigkeit!«

Er ging, natürlich dahin, wo der Fex die Leiter wieder angelegt hatte und auf ihn wartete.

»Ist er noch oben?« fragte dieser.

»Ja. Wo soll er sonst sein?«

»Herabklettert.«

»Der und klettern! Der bleibt oben, bis man ihn vom Baume abschöpft wie eine Milchhauten. Jetzt aber mach, daß wir in unsere Ordnung kommen!«

Sie stiegen die Leiter empor und zur Thür hinein, zogen die Leiter hinauf und legten sie wieder an ihren Platz. Nachdem der Sepp dann die Thür verschlossen hatte, begaben Beide sich wieder nach vorn. Es gelang ihnen, das Sopha unbemerkt zu erreichen, auf welches sie Beide sich niedersetzten.

Das Alles war ziemlich schnell geschehen, so daß während dieser Zeit nur eine Nummer gegeben worden war. Die nächste hatte Leni zu singen. Eben kam sie aus der Garderobe. Als der Sepp sie bemerkte, fuhr er vom Sopha auf.

»Verdimmi, verdammi!« sagte er. »Jetzund möcht ich grad so fluchen wie's damals dera Nachtwächtern droben bei uns in der Moden gehabt hat. Wer ist das? Ists die Leni oder nicht? Ich werd ganz irr!«

Und er hatte Recht. Man konnte wohl glauben, daß man sich täusche, daß es eine Andere sei. Sie war jetzt in großer Toilette. Sie trug ein rosaseiden Kleid mit schwerer Schleppe; grüne Weinlaubguirlanden hoben sich prächtig von dem zartduftigen Stoffe ab. Die Taille war ausgeschnitten und der Schnitt mit eben demselben Laub garnirt; dazu eine blinkende, volle Traube am Achselschluß und Weinbeeren und Schneeglocken im Haar - eine seltsame Zusammenstellung, welche aber äußerst effectvoll wirkte.

Sonst war kein Schmuck an ihr zu sehen. Aber sie selbst war, das sah man nun jetzt erst, von einer so eigenartigen, bezaubernden Schönheit, daß dieselbe durch ein Schmuckstück nur beeinträchtigt worden wäre. Diese volle, runde und doch dabei nicht gar üppige Schönheit mußte wirken; das war vorauszusehen.

Der Director mochte denselben Gedanken haben, denn er verbeugte sich tief vor ihr und sagte:

»Was soll ich sagen, Signora! Habe ich Sie vorhin beglückwünscht, so darf ich es doch jetzt nicht abermals, und doch ist jetzt Ihre bloße Erscheinung so entzückend wie vorhin Ihr Lied. Gestatten Sie mir, Ihnen ein Bouquet zu überreichen.«


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Er hatte es bereits durch einen Wink an den Diener herbei befohlen und hielt es ihr hin.

»Danke! Nicht unverdient!« wehrte sie ab, freundlich aber ernst.

Der Sepp strahlte förmlich vor Glück. Hatte er sich sein Lehnerl als Sängerin schön gedacht, so gar sehr schön aber doch nicht.

»Das Hallodridirndl wachst mir im Handumdrehn gleich über den Kopf hinweg!« meinte er zum Fex. »Was meinst? Der, wer die mal zur Frauen bekommt! Der macht ein Glück!«

Als nächste Nummer stand im Programm:

»Ich sah Dich nur ein einzig Mal. Lied von Eduard Kauffer. Componirt von Gumbert.«

Die Glocke erscholl; der Vorhang stieg empor. Leni rauschte hinaus. Ihre Haltung war diejenige einer Dame, welche gar keine andere Toilette gewohnt gewesen ist. Die schwere Schleppe genirte sie nicht im Mindesten.

Es ging wie ein lautes Wehen durch den Raum.

Ein lang gezogenes »Ah!« wurde hörbar, leise, leise zwar, aber es kam doch von Aller Lippen. Nur von da links herüber ließ sich etwas wie »Verteux - -« vernehmen. Es kam aus dem Munde des Krikelanton. Er sah die Geliebte so, wie er sie nicht sehen wollte - ausgeschnitten und mit bis oben herauf entblößten Armen. Der Wiener Professor hatte alle Mühe anzuwenden, ihn ruhig zu erhalten.

Da begann die Kapelle die Einleitung, getragen und zart, nach und nach anschwellend, bis die Sängerin dann voll und kräftig einsetzte:

»Ich sah Dich nur ein einzig Mal,
   Da war's um mich geschehen:
Ich fühlte Deines Auges Strahl
   Durch meine Seele gehen.
Ich fühlte Deiner Stimme Laut
   Mich wunderbar durchdringen;
Dein Blick so süß, Dein Wort so traut,
   Erweckten neu mein Singen.«

Es war, als ob sie nicht mit dem Munde singe, sondern als ob diese süßen, herzinnigen, verlockenden Zaubertöne aus ihrer tiefsten Seele emporklängen. Man hörte, wie bereits vorhin, daß diese Stimme aller Register, der zartesten und auch der stärksten fähig sei, aber Das, was man jetzt hörte, war weder zart noch stark, oder vielmehr, man hörte gar nicht auf die verschiedenen Stärkegrade. Das Forte und Piano, das An- und Abschwellen, es konnte ja gar keine Beachtung finden vor dem himmlischen Wohllaute dieser Töne. Es war Liebe, Liebe, Liebe und abermals nichts als Liebe, was man hörte, nicht in Worten, denn die verschwanden, sondern in Tönen. Es war als ob eine hingebende Seele sich auflöse und nun dahinschwinde in Klängen, welche man wohl hören, nicht aber begreifen konnte. Wenn man sagt, daß an dem Augenblicke, an welchem Jüngling und Jungfrau einander ihre Liebe gestehen, Beide in ganz andern Stimmen und Tönen reden als sonst, so war hier ein Augen-


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blick, an welchem die Liebe sich selbst das Lieben gestand und nun aus schönem Munde hinausfluthete in den lichtstrahlenden Raum und in alle Herzen hinein.

»Mit dem Gebet: >O wärst Du mein,
   Mir, wie ich Dir, ergeben!<
Senkt ich in Deines Auges Schein
   Mein ganzes Sein und Leben.
Ich lauschte Deines Wortes Klang,
   Und die mich floh'n, die Lieder,
Sie kehrten, wie mit holdem Sang
   Im Lenz die Lerchen, wieder.«

So sang sie weiter. Dieses mächtig bittende, gewaltig flehende »O wärst Du mein!« mußte man hören. Und doch war es kein Fortissimo, nicht einmal ein Forte, wie sie es sang. Das Mächtige, das Gewaltige lag nicht in der Fülle, welche sie ihrer Stimme ertheilte, sondern in der wundersamen Eindringlichkeit, in dem mild Sieghaften, mit welchem sie diese Bitte, dieses Gebet hauchte. Der sinnberückende Aufschlag ihrer Augen, die liebeverlangende Gesticulation ihrer herrlichen Arme, das sehnsuchtsvolle Wogen ihres vollen Busens, das Alles sang, sprach, bat und flehte mit. Sie war nicht nur Sängerin, sondern auch Mimin oder Mimikerin, nach der kurzen Zeit weniger Monate von einer Vollendung, welche Andere in ihrem ganzen Leben nicht erreichen. Und das war dasselbe Mädchen, welches noch vor wenigen Stunden da unten am Wasser im Gebet gekniet hatte, so rein und züchtig, so demüthig und ergeben. Ja, sie war rein und unberührt wie selten Eine, und was sie sang und wie sie sang und spielte, das that sie unbewußt und unberechnet; das war die echte, wahre Kunst, welche nur das Schöne und das Wahre will, und darum schön, rein und wahr bleibt immer und allezeit.

Und nun die dritte, letzte Strophe:

»Dein Blick so süß, Dein Wort so traut,
   Erweckten neu mein Singen ...
Ich fühlte Deiner Stimme Laut
   Mich wunderbar durchdringen.
Ich fühlte Deines Auges Strahl
   Durch meine Seele gehen;
Ich sah Dich nur ein einzig Mal,
   Da wars um mich geschehen.«

Dies, eine Wiederholung des Vorhergehenden, war trotzdem keine Wiederholung; es war neu, noch nicht gehört, ein Unbekanntes, Ungeahntes und Unbegreifliches. Und das letzte »Da wars um mich geschehen«, klang so vergehend, so unsäglich klagend und dabei doch wie ein tief unterdrücktes Jubeln - eine Liebe, die zur Entsagung verurtheilt ist und doch und dennoch und trotzdem das größte Glück ist auf der weiten Erdenrunde.

Sie verbeugte sich nicht. Die Gewalt der Gefühle schienen ihren Gesang zum Hinsterben gezwungen zu haben; sie blieb mit leise gesenktem Haupte stehen, die Hand am Herzen, wie einen Richterspruch erwartend, der über ihr Glück,


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über ihr Leben zu entscheiden habe, und so - so ließ sie den brausenden Applaus über sich ergehen und nur langsam und mählich und mählig hob sie den Kopf und nach und nach leuchteten ihre Augen heller auf und rötheten sich ihre frischen, vom Puder noch nie berührten Wangen. Es war ein Bild, wie es raffinirter von der größten Künstlerin nicht gegeben werden kann, und doch war es nicht Raffinerie, sondern die reine Wahrheit - - hatten ihre Töne etwa nur Dem gegolten, welcher da drüben saß auf der linken Seite des ersten Ranges und sie mit glühendem Blicke verschlang, die Zähne auf einander knirschend und Wuth, unendliche Wuth im Herzen? In seiner Seele lebte jetzt nur die eine, einzige Ueberzeugung: Sie ist schön, unendlich schön, wie ich es nie gedacht und geträumt habe, aber sie ist verloren, für mich und auch überhaupt - sie zeigt ihren Busen und ihre Arme. Hol sie der Teuxel!

Er war der Einzige, der so finstere Gedanken hegte, denn die anderen Alle ohne Ausnahme fühlten sich hingerissen von der Macht und Gewalt eines solchen Vortrages. Ihr Applaus belebte sich immer von Neuem, bis der Vorhang sich doch nicht mehr erheben wollte.

Die Beglückwünschungen begannen von Neuem. Sie aber machte sich schleunigst los, um ihren Sepp aufzusuchen. Er empfing sie mit der Klage:

»Lehnerl, ich weiß halt nimmer, was ich von Dir denken soll. Du wirst mir zu gewaltig. Ich kann nun kaum mehr emporschaun bis zu Dir.«

»So will ich mich niederbücken zu Dir.«

Sie faßte ihn, der auf dem Sopha saß, bei seinem grimmigen Schnurrbarte, zauste ihn bei demselben und fuhr, herzlich lachend, fort:

»Weißt, über Dich kann ich ja gar nicht hinauswachsen. Du bist ja der Path, dem ich Gehorsam zu leisten hab!«

»Ja, das, wanns so ist, so ists mein einziger Trost.«

Jetzt sollte ein Vortrag des Italieners kommen. Der Tisch wurde wieder herbei getragen und die Violine darauf gelegt. Die Mitglieder der Capelle, welche ihn zu begleiten hatten, nahmen die betreffenden Noten vor.

»Pas de hache von Paganini, vorgetragen von Herrn Concertmeister Antonio Rialti.«

Ein Pas de hache ist ein wilder Tanz. Auf diese Nummer war man außerordentlich gespannt, da ihr Vortrag eine seltene Beherrschung des Instrumentes erfordert.

Jetzt hörte man hinter der Scene eine ungewöhnliche Bewegung.

»Sucht ihn, schnell!« ertönte die unterdrückte Stimme des Directors.

»Du,« meinte der Sepp zum Fex, »jetzt kommst nun an die Reihe. Oder hast Angst und Lampenfiebern und willst lieber verzichten?«

»Angst! Woher sollt sie kommen?«

»Siehst aber nicht gut aus.«

»Wie denn?«

»Als hättst Sorg um was.«

»Die hab ich auch.«

»Um was?«


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»Um den Concertmeistern. Wann er vom Baum fallt!«

»Der hängt gut da droben.«

»Oder wanns herauskommt, was wir than haben!«

»So werd ich mich zu vertheidigen wissen. Du aberst kommst ja gar nicht in Betracht dabei.«

»Ein Unrecht aber ists doch!«

»Ists etwan ein Recht, daß er meiner Leni nachtrachtet! Himmel! Der, wann er jetzund die Leni sehen hätt, er wär vor Lieb verruckt worden!«

Nach und nach verstärkte sich die erwähnte Unruhe. Es wurde überall gesucht, im Foyer und an allen anderen Orten, wo man den Italiener vermuthen konnte - vergebens. Er war nicht zu finden. Und doch war die Zeit bereits verstrichen und man konnte weder länger warten, noch eine Aenderung im Programm eintreten lassen. In seiner Verlegenheit gab der Director selbst das Glockenzeichen und trat, als der Vorhang aufgezogen war, hervor. Leider aber hatte er in seiner großen Verlegenheit ganz vergessen, dem Capellmeister Nachricht von seinem Vorhaben zu geben. Dieser Letztere glaubte, als das Zeichen ertönte, Rialti werde auf der Scene stehen, und gab mit dem Tactstocke das Zeichen, die Einleitung zu beginnen. Das Orchester fiel in dem Augenblicke ein, an welchem sich der Vorhang erhob.

Jetzt hätte man den Director sehen sollen! In Allerhöchster Gegenwart so ein Affront! Es war zum Rasendwerden! Er winkte auf offener Scene und gesticulirte mit solchem Nachdrucke, bis der Dirigent das Zeichen zum Aufhören gab.

Jetzt, als die Instrumente verstummt waren, erklärte der Bühnenleiter, daß Signor Rialti leider plötzlich unwohl geworden sei und nicht spielen könne. Es sei jedoch zu hoffen, daß er sich bei seiner nächsten Nummer wieder erholt haben werde.

Da geschah Etwas, was Keiner ahnen konnte. Der Fex trat vor, zum Director hin, und sagte mit lauter, überall vernehmlicher Stimme:

»Wanns weitern nix ist, daß der Signor krank worden ist, so kann schon geholfen werden. Wann er das Dingerl nicht spielen kann, so werd ichs halt geigen. Die Herrschaften dürfen doch nicht etwan drumkommen. Also bitt gar schön um die Erlaubnissen dazu, Herr Directorn!«

Der Genannte stand ganz starr, wie zur Bildsäule geworden. Er konnte kein einziges Wort hervorbringen. Der Fex aber benutzte das, nahm schnell die Violine aus dem Kasten, den Bogen dazu und winkte ins Orchester hinab:

»Herr Capellmeistern, bitt, anfangen wieder!«

Das gab dem Director die Sprache zurück.

»Halt!« rief er. »Wahnsinniger! Fort von hier!«

Er faßte ihn am Arme und wollte ihm die Geige nehmen. Der Fex aber meinte, ihn ganz lieb und vertrauensvoll anlächelnd:

»So! Wann ich Dich aus dera Verlegenheiten reißen will, so wirfst mich zum Dank zur Thüren naus? Ich glaub nicht, daß die Herrschaften das dulden werden. Meinst nicht auch?«


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Alle disponibeln Theaterdiener erschienen auf der Bühne, um den Fex von derselben fortzubringen.

»Hört,« sagte er in strengem Tone, »greift mich nicht an. Es könnt sehr fehl schlagen.«

Da erschallte von der Parquetloge herauf die angstvolle Stimme der Paula.

»Fex, lieber Fex, mach keinen Scandal! Geh doch hinab von der Bühne.«

»Hast auch Angsten um mich? Das hast aber nun gar nimmer nöthig. Es steht schon ein Stucken vom Fex auf dem Programmen. Das ist doch der Beweis, daß ich kein Verruckter bin. Und wann der Herrn Directorn ein Einsehen hat, so will ich - na, Kerl, geh fort, sonst werf ich Dich ganz da hinauf, wo die für fünfzig Pfennge gewöhnlich sitzen. Verstehst!«

Er schob den Diener, welcher ihn fassen wollte, von sich, sprang auf die Seite, setzte schnell die Geige an und - ja, da fuhren Alle von ihm zurück. Das war ein Läufer, hinauf und hinab, ein rasendes Wogen von Accorden und Tönen, ein Haschen und Jagen, eine schreckliche, halsbrecherische Aufeinanderfolge drei- und vierstimmiger Accorde, und das mit einer Leichtigkeit, wie Wasser aus dem Brunnen läuft.

»Aufpassen!« rief er laut. »Nach acht Tacten, dann beginnt das Stuck. Zwei - vier - sechs - acht - Schrumm, einfallen! So ists recht!«

War es, weil der Capellmeister heute bereits eine so außerordentliche Probe von der Fertigkeit des Fex gehört und nun Vertrauen zu ihm hatte, oder waren es die wilden Töne, welche er gegeigt, mit denen er fast zwingend in das Stück übergeleitet hatte, kurz und gut, der Dirigent hatte das Zeichen gegeben und das Orchester war eingefallen.

Wer Beine hatte im Zuschauerraume, der war aufgestanden - Alle also. Der Director, der Regisseur, die Diener, Alle, Alle blieben, wie festgewurzelt, auch stehen. Welch ein Ereigniß!

Da stand der barfuße Kerl, im schlechten Wamms, mit nackter Brust und spielte seinen Pas de hache herab mit einer Accuratesse und Flüssigkeit, wie ein guter Oberbayer seine Maß Bier hinunterlaufen läßt, ohne daß ihm ein Tropfen davon am Schnurrbart hängen bleibt! Und welch ein schwieriges Stück war es, dieser wilde Tanz! Ein Hexensabbath aller möglichen Schwierigkeiten. Hätte der Italiener das Stück so gespielt?

Ein wild gebrochener Accord wurde bis in die höchste Höhe hinauf- und dann bis in die Tiefe wieder hinabgerollt - das war das Ende. Mit einem Lächeln, welches seine prachtvollen Zähne zeigte, blickte der Fex hinaus in den gefüllten Raum, nickte, als ob er sagen wollte: »Seht, so kann ich es!« machte dann eine Verbeugung und trat zwischen die Coulissen zurück.

Da gab der König das Zeichen zum Applaus und von ganzem Herzen gern stimmten Alle ein. Der Fex mußte drei - vier - fünfmal noch vortreten.

Als nun der Vorhang fiel, erhob sich ein lautes Summen im Zuhörer-


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raum. Ein Jeder wollte wissen, wer dieser unbegreifliche Mensch sei. In Zeit von zwei Minuten war die Wißbegierde gestillt. Es sprach sich außerordentlich schnell herum.

Der Director wußte nicht, ob er den Fex ausschelten oder sich bei ihm bedanken sollte. Er sollte bald aus dieser Verlegenheit gerissen werden, denn der Logenschließer kam mit dem Befehle, daß der Director mit dem Fex augenblicklich in der königlichen Loge zu erscheinen hatten.

Was dort verhandelt wurde, hörte Niemand, obgleich alle Ohren gespannt lauschten. Man sprach nur leise. Das Gesicht des Fex war hochroth gefärbt, und seine Augen strahlten vor Entzücken. Man sah, daß der König ihm zuletzt die Hand auf den Kopf legte und gnädig zunickte.

Als er zurückkehrte, kam er natürlich sofort zum Sepp geeilt.

»Du,« sagte er, »wann der Rialti nicht wiedern gesund wird, soll ich auch die andern Stucken spielen.«

»So hat der König nicht erfahren, daß er nicht krank ist, sondern gar verschwunden?«

»Nein, der Directorn hat sich wohl nicht getraut, es ihm zu sagen.«

»Und was hat der König sonst noch gemeint?«

»Viel, sehr viel. Ich werd Dirs später sagen. Jetzt aberst ist mirs Herzen so voll, daß ich gar keine Worten nicht finden kann. Der Directorn soll nur sogleich ein Paar Schuhen besorgen, damit ich nicht wieder barbs geigen thu. Ist das nicht lustig?«

Daß die Herrschaften meinten, ihre Billets nicht zu theuer bezahlt zu haben, versteht sich ganz von selbst. Erst die neue, brillante Sängerin, und nun ein Lumpazi, in welchem ein Geigenvirtuos entdeckt wird, das kommt nicht alle Tage vor. Doppelt gespannt war man nun auf die folgenden Nummern.

Nachdem abermals ein kurzes Orchesterstück vorüber war, kam:

»Die Gewitternacht, von R. W., gesungen von Signora Mureni.«

Leise ging die Frage rundum: Wer ist dieser R. W., dieser Pseudonym? Etwa Richard Wagner? Aller Blicke richteten sich auf ihn, doch war in seinem unbewegten Gesicht weder ein Ja, noch ein Nein zu lesen.

Als der Vorhang aufrollte, stellte die Scene einen freien Platz im Walde vor. Der Mond war im Niedergehen und stand im Begriff, zwischen sich aufbäumenden Wolken zu verschwinden.

Leise, fast flüsternd begann das Orchester die Introduction. Da trat die Leni auf die Scene. Sie war vollständig in Schwarz gekleidet, lang und wallend, ohne Schmuck und ohne Blume. Das einzig Weiße, was man an ihr bemerkte, war das Gesicht und waren die Hände. Sie begann.

Es klangen die Töne wie Windesrauschen. Sie sang von Müdigkeit und Ruhesehnsucht, so süß, so klagend. Sie wollte schlafen, vergessen die Sorgen des Tages und des Lebens; aber immer lauter wurde das Rauschen, es wetterleuchtete und in der Ferne grollte ein leiser Donner.

Er kam näher und näher. Der Mond war verschwunden; der Himmel


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war gewitterschwarz, Blitze zuckten und der Regen begann herabzuströmen. Im Schutze eines Baumes stehend, gab sie den Tönen der Natur beredte Worte:

   »Nun zucken Blitze durch die Nacht,
Die Erde bebt, die Fluren weinen,
   Und wilde Geister sind erwacht,
Die Alles zu vernichten scheinen -«

Die anwesenden Kenner hörten und fühlten es leicht heraus, daß dieses Stück gerade nur für diese Sängerin componirt sei, und so befestigte sich bald die Ueberzeugung, daß es Richard Wagnern zum Componisten habe. Der Dichter war unbekannt. Wagners Dichtkunst aber war es nicht.

Diese nächtig mächtig prächtige Composition gab Leni vollauf Gelegenheit, zu zeigen, daß sie nicht nur eine Stimme und eine Seele besitze, sondern auch die gehörige Technik des Gesanges. Sie hatte ja noch zu üben und zu lernen, aber was sie bot, das war fertig und vollendet. Diese Gewitternacht bot der musikalischen Schönheiten außerordentlich viele, und die Sängerin verstand es, dieselben zur Geltung zu bringen. Wie mächtig gellte ihr Weheruf durch das Haus, als die Blitze den Baum umzuckten, und wie ergreifend zitterte ihre Stimme durch den Raum, als sie knieend um den Schutz Gottes bat! Und sie fand denselben. Das Gewitter entfernte sich; die Nacht war mit ihm vergangen und der Morgen tagte. Die Sonne ging auf und alles Schreckliche nahm in ihrem Lichte eine andere Gestalt und Farbe an.

»Nun wieder strahlt das Licht der Sonnen
   Warm lächelnd nieder auf die Flur.
Es athmet Glück und athmet Wonnen
   Noch unter Thränen die Natur.
So ists, wenn Stürme Dich umtoben,
   Wenn Dich umgeben Nacht und Graun:
Es bricht ein goldner Strahl von oben
   Und bringt Dir neues Gottvertraun.«

So endete diese Nummer. Sie war von langer Dauer gewesen und die Leni hatte gezeigt, daß sie nicht nur Sängerin, sondern auch Schauspielerin sei. Sie wurde abermals mehrfach hervorgerufen und der Director bot ihr abermals das Riesenbouquet, welches sie jetzt auch annahm.

Sie trug es dann dem Sepp hin.

»Hier, Sepp, hast die ersten Rosen, die ich mir ersungen hab!«

»Wer wird die letzten bekommen!«

»Ich nicht. Dann leb ich schon lang nimmer mehr. Du wirst sie schon selber bekommen, Lehnerl; aber so eine davon kannst mir nachhero auf mein Grab legen, so zum Andenken an diese Stund, in welcher Du mir die ersten schenkt hast.«

Er beugte sein altes, ehrliches Gesicht auf die Blumen nieder; er wollte seine Rührung verbergen.


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Jetzt sollte der Fex wieder auftreten, da der Concertmeister sich noch immer nicht gefunden hatte.

»Am Waldesrand, Nocturno von Valery,« so stand im Programm zu lesen.

Der Fex war in die Garderobe beschieden worden, und als er aus derselben zurückkehrte, bot er einen ganz anderen Anblick dar. Man hatte ihm einen hübschen Gebirgsanzug gegeben, wie sie ja in jeder Theatergarderobe vorhanden sind, und nun sah er blitzblank und nett aus wie irgend Einer.

»Sepp, wie gefall ich Dir?« fragte er, sich lächelnd vor ihn hinstellend.

»Gar nicht.«

»Was? Warum?«

»Schaust mir viel zu vornehm aus.«

»Dürftst mich aber am Tag nicht anschaun. Dieses Zeug ist nur für den Abend und für die Lampen gemacht.«

»Die Künstlern vielleicht auch. Wann ich jetzt Dich und die Leni anschau, so möcht mir fast angst und bange werden. Ich möcht denken, daß ich Euch nimmer mehr lang haben werd. Ihr werdet berühmte Leutln und ich bleib der dumme Sepp.«

»Dumm? Na, wer Dich für dumm kauft, der kann geschoren werden. Verstanden? Hasts ja bewiesen, Alter!«

»Laß gut sein! Hast mehr zu thun. Kannst denn Dein jetzig Stuck auch gut auswendig?«

»Es wird gehen.«

»So paß auf. Es klingerlt.«

Als sich der Vorhang erhob, trat der Fex hervor. Er wurde mit Applaus empfangen und verneigte sich mit einer Eleganz, die man ihm wohl nicht zugemuthet hätte. Er ließ die Begleitung bis zu seinem Einsatz kommen und begann dann mit der bekannten Melodie:

»Ich stand auf Bergeshalde,
Als Sonn hinunterging,
Und sah, wie überm Walde
Des Abends Goldnetz hing.«

Das war eine lieblich-innige Weise, und er trug sie einfach, mild und getragen vor, mit lieblicher Innigkeit. Sie wurde variirt, doch ohne die Absicht, dem Vortragenden Gelegenheit zu allerhand Kunst- und Bravourstücken zu geben; dann hörte man fernes Glockengeläute, wie das Einläuten eines hohen kirchlichen Feiertages, eine nicht leichte Aufgabe, welche aber der Fex mit Leichtigkeit löste - ein einsames Ave-Maria-Glöcklein ertönte; Heerden kehrten heim, die Schellen an ihren Riemen erklangen und dort am Waldesrande begann eine Nachtigall zu schlagen. Ein Rothkehlchen, zeitig eingeschlafen, träumte von der Allerliebsten und flüsterte leise leise Weisen; der Bach murmelte durch die Sträucher, drüben auf der Straße marschirten junge Burschen und sangen


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ein munteres Wanderlied. Dann wurde es dunkler und dunkler, der Mond ging auf - guter Mond, Du gehst so stille, hinter Abendwolken hin, und endlich tritt die stille Nacht herein. Der Müde geht zur Ruhe und die Welt liegt unter Gottes Schutz: Nun ruhen alle Wälder!

Den letzteren Choral hatte er vierstimmig zu geigen. Er that es mit wirklicher Virtuosität.

Diese Nummer war, ganz entgegengesetzt der wilden vorigen, ganz geeignet, ihm Gelegenheit zu geben, die Tiefe seines Gefühles zu erschließen und sein Verständniß für das Lyrische zu zeigen. Er endete unter ebenso lebhaftem Applaus wie vorhin. -

Indessen hatte sich eine Scene hinter der Scene abgespielt.

Man kann sich denken, in welcher Lage sich der Concertmeister während der ganzen Zeit befunden hatte. Er wußte ganz genau, daß die Reihe bereits wieder an ihm sei, und - er saß auf dem Baume. Was sollte er thun! Der Sepp kehrte nicht zurück. War ihm Etwas passirt? Je länger, desto größer wurde die Angst des Italieners. Es war ganz unmöglich, auf dem Baume zu bleiben.

Sollte er laut werden? Hilfe herbei rufen? Auf keinen Fall! Er hätte sich dadurch ganz unsterblich blamirt. Er beschloß also, sein Leben zu wagen und herabzuklettern.

Zitternd umfaßte er mit den Armen den Stamm und ließ erst das eine und nachher das andere Bein vom Aste weg. Beide dann auch um den Stamm legend, wie er es wohl bei kletternden Knaben gesehen hatte, begann er die für ihn so gefährliche Fahrt.

Er bekam eine Angst, wie noch nie in seinem ganzen Leben. Seine Reise ging gerade so weit, daß er den niedrigsten Ast mit beiden Händen gefaßt und den Stamm mit beiden Beinen umschlungen hielt.

Tiefer herab? O weh! Wenn er den Ast fahren ließ, traute er es sich nicht zu, sich mit den Armen am Stamme erhalten zu können. Wieder hinauf? Auch um keinen Preis. So blieb er also kleben, wie der Laubfrosch an der Leiter seines Wasserglases. Aber der gute Mann bedachte nicht, daß er dabei seine Kräfte ganz unnütz verschwendete. Er blickte angstvoll empor, wo er nicht hin konnte, und hinab, wo er sich nicht hin getraute. Er zitterte am ganzen Körper.

Da hörte er Schritte, drüben im Nachbargarten. Es kam Einer, der vielleicht dachte, er könne vom Zaune aus Etwas vom Concert hören.

»Holla! Wer ist da oben auf dem Baume?« rief es da drüben.

Er hütete sich natürlich, einen Laut hören zu lassen.

»Antwort!«

Gleiches Schweigen.

»Denkst wohl, ich sehe Dich nicht! Du hängst mir grad maulrecht gegen das Fensterlicht. Also gieb Antwort, wer Du bist, sonst -«

Er vollendete seine Drohung nicht, aber der Herr Concertmeister zog es auch jetzt noch vor, sein Heil im Schweigen zu suchen.


// 480 //

»Nun gut, so hetz ich den Hund hinüber! Phylax, Phylax! Wo bist Du denn?«

Ein fernes Bellen antwortete.

Jetzt war es um die Besinnung des Italieners geschehen. Er mußte hinab, mochte er unten ankommen so oder anders, mit ganzem oder mit zerbrochenem Halse. Er nahm also eine Hand nach der anderen vom Aste weg und legte sie um den Stamm. So hing er oben, mit allen Vieren den Stamm fest umklammernd. Fest? Ja, freilich, aber nur für einen Augenblick, denn seine Kraft ließ nach. Zwar hütete er sich sehr, loszulassen, aber festhalten konnte er nicht mehr, und so rutschte oder vielmehr fuhr er, gewichtig wie ein Dampfhammer, herab und schlug unten auf dem Boden auf, natürlich mit demjenigen Körpertheile, welcher bei ihm am wenigsten spitz war. So kam es, daß er kein Loch in den Boden schlug; aber fest saß er doch, denn er hatte mit solcher Gewalt unten aufgetroffen, daß ihm Hören und Sehen vergangen war. Er sagte sich, daß er jetzt unbedingt ohnmächtig und vollständig bewußtlos sei.

»Phylax!« rief der Kerl da drüben.

Da war es freilich mit der Ohnmacht vorüber. Rialti sprang auf und eilte davon, erst nach rechts und dann nach links. Dort war ein Gebäude und hier auch wieder eins. Hinter ihm stand der Kerl am Zaune, und da vorn, ja da war eine Mauer. Sie war nicht sehr hoch, und ein Weinspalier war an ihr errichtet. Er rüttelte an den Latten desselben. Sie waren fest, wenigstens fest genug für seine hagere, kleine, leichte Gestalt. Er »kraxelte« sich, wie der Sepp gesagt haben würde, mühsam an denselben empor. Aber oben angekommen, bemerkte er zu seinem Schrecke, daß da noch eiserne Spitzen angebracht waren, um das Uebersteigen Unberufener zu erschweren. Wie nun da hinüberkommen?

Draußen ging die Straße vorüber. Er paßte einen Moment ab, an welchem es gerade keinen Passanten gab, und turnte sich auf die Mauer. Vorsichtig über die Spitzen steigend, setzte er sich auf der jenseitigen Kante fest und blickte hinab auf die Straße, um mit dem Auge abzumessen, ob er den Sprung auch riskiren könne.

Da hörte er jemand kommen. Sollte er sich hier erblicken lassen? Um keinen Preis! Er sprang hinab - oder vielmehr nicht, denn er kam gar nicht hinab. Er hatte nicht an die Schöße seines Frackes gedacht. Während er mit der Hose auf der Mauerkante gesessen hatte, waren diese »Schwalbenschwänze« zurückgeblieben. Sie lagen hinter ihm auf den Eisenspitzen und hingen Jenseits noch ein Stück hinab. Jetzt nun, als er den Sprung that, spießten sich die Schöße an den Eisenspitzen fest, und er hing zwei Ellen hoch über der Erde an der Mauer, mit dem Rücken leider gegen dieselbe, so daß er sich gar nicht behelfen und sich aus seiner fatalen Situation befreien konnte.

Mittlerweile war der Mann, dessen Schritte er gehört hatte, herbei gekommen. Dieser Mann war einer der Polizisten, welche nach dem Theater gesandt worden waren, um dort die Ordnung mit zu überwachen. Er hatte bis


Ende der zwanzigsten Lieferung - Fortsetzung folgt.



Karl May: Der Weg zum Glück

Karl May – Forschung und Werk