Lieferung 40

Karl May

30. April 1887

Der Weg zum Glück.

Vom Verfasser des »Waldröschen«, »Verlorner Sohn«, »Deutsche Helden« etc.


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Auch ihre Augen leuchteten in edlem Zorne.

»Was würden Sie thun?«

»Ich würde ihn fordern und dann niederschießen.«

»An meiner Stelle? Wenn Sie, wie ich, sein Sohn wären?« fragte Max.

»Sein Sohn! O Gott, ja, da wären Sie ja ein Vatermörder! Nein, nein, das ist unmöglich! Aber sollte er denn seine Strafe nicht finden?«

»Freilich soll er sie finden,« erklang es hinter ihnen. »Dafür werden Zwei sorgen, die ihn nicht entkommen lassen, nämlich dera Herrgott und dera Wurzelsepp.«

Als sie sich nach der Thür umdrehten, stand der alte Sepp unter derselben. Er hatte angeklopft, ohne von ihnen gehört zu werden, und war sodann eingetreten. Er zog seinen Hut und schwenkte ihn vor Milda tief auf den Boden herab.

»Grüß Gott und guten Abend auch, gnädige Madmoisellen Baronessen! Verzeihens, daß ich stört hab! Ich hab schon fein richtig aniklopft, aberst es hats halt gar Niemand hören wollt. Darum bin ich halt hereinistiegen, und wann ich Sie verschrocken hab; so ists doch nicht bös meint gewest.«

Sie fühlte sich allerdings einigermaßen befremdet, diesen so ärmlich gekleideten Menschen hier im Hause der Bürgermeisterin zu sehen. Zwar hatte diese ihr bereits am Morgen erklärt, daß sie nach Hohenwald gerufen worden sei, und jedenfalls war dieser Mann der Bote gewesen. Warum aber befand er sich nun am Abend noch bei ihr?

Sie hatte zu wenig Weltgewandtheit, als daß sie sich hätte verstellen können. Darum las er ihr ihre Gedanken vom Gesichte ab. Er nickte ihr freundlich zu, blinzelte sie in seiner eigenartigen Weise vertraulich an und fragte:

»Nicht wahr, Sie wissen halt gar nicht, wie so ein alter Schlingerlschlangerl es wagen kann, sich hier schauen zu lassen? Na, wanns denen Sepp erst mal kennen lernt haben, so werdens ihm auch so ein klein Wengerl gut sein wie die andern Leutln, denn brav sinds halt von Herzensgrund; das schaut man Ihnen ganz gut an, und ein brav Gemüth braucht sich vor dem Sepp nicht zu fürchten.«

Als er ihr nun nochmals mit seiner urwüchsigen und gewinnenden Freundlichkeit zunickte, fühlte sie sich doch für diesen originellen Kauz gefangen genommen und antwortete:

»Nun, Furcht hab ich nicht grad vor Ihnen. Ich dachte nur eben an die ungewöhnliche Art und Weise, in welcher Sie heut am frühen Morgen Ihre Erkundigungen nach meinem - - -«

»Pst! Still!« unterbrach er sie warnend. »Wissens, das ist halt ein groß Geheimnissen, und da seins so gut und thuns mir denen Gefallen, Niemand nix davon zu verzählen!«

»Aber hoffentlich erfahre ich noch, warum Sie mich so angelegentlich nach dem - - -«

»Pst, pst! Nennens jetzt keinen Namen! Natürlich werdens Alles der-


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fahren, und zwar wohl noch viel ehern, als Sies denken. Dera Sepp hat bei Allem, was er thut, seinen guten Grund. Aberst die Andre, die heut mit bei Ihnen war, die schickens halt ja recht bald nach Haus. Die ist Ihnen gar nix nutz. Die hat ein Aug so kalt wie Eis und doch so heiß wie ein glühend Eisen. An Der kann man sich derfrieren odern auch verbrennen, ganz wie sie es anfangt, denn ein Herzen und Gemüthen hats ja nicht. Das wollt ich Ihnen noch sagen, und nun bitt schön, nix für ungut!«

»Ja, bitte, nehmen Sie ihm seine Aufrichtigkeit nicht übel,« bat auch die Bürgermeisterin. »Er ist die bravste und treuste Seele, die ich kenne. Er heißt eigentlich Josef Brendel, und weil er ein Wurzelsucher ist, so wird er gewöhnlich kurzweg der Wurzelsepp genannt. Er wandert allüberall umher und ist daher im ganzen Land bekannt. Ihm allein habe ich es zu verdanken, daß ich meinen guten Max hier endlich gefunden habe.«

»Ihm? Diesem braven Manne?« fragte Milda. »Nun, Wurzelsepp, damit haben Sie sich meine Theilnahme und Freundschaft gewonnen. Hier nehmen Sie meine Hand. Wenn Sie einmal einen Wunsch haben, welchen ich Ihnen erfüllen kann, so kommen Sie zu mir. Ich werde Ihnen denselben gern erfüllen.«

Er ergriff mit seinen groben, braunen Fingern ihr kleines, weißes Händchen, zog dasselbe an seinen Schnurrbart, drückte einen leisen, vorsichtigen Kuß darauf und antwortete:

»Ja, einen Wunschen, den hab ich allbereits schon jetzunder auf dem Herzen.«

»So? Wie lautet er?«

»Wanns mirs nicht übel nehmen, werd ich ihn sagen.«

»Nun, ich nehme es Ihnen nicht übel.«

»Dann schön! Ich hab halt einen gar braven Bekannten, dem ich ein so Liebs und herzigs Weiberl wünsch. Thuns mir doch den Gefallen und habens ihn ein klein Wengerl lieb, wann ich Ihnen denselbigen mal bringen thu. Er ist eine so gar sehr gute lind auch treue Haut!«

Eine solche Bitte hatte sie nun freilich nicht erwartet. Aus einem solchen Munde und in dieser treuherzigen Weise vorgebracht, konnte dieselbe aber ganz und gar nicht beleidigen. Darum antwortete Milda, allerdings unter einem leichten Erröthen:

»Hat er Ihnen denn den Auftrag dazu gegeben?«

»O nein. Er kennt Sie doch halt gar nicht.«

»Warum aber empfehlen Sie ihn mir da?«

»Weils Beide so gar prächtig zusammenpassen.«

»Ach so? Wer ist er denn?«

»O weh! Das wollens nun schon gleich wissen? Da werd ich gleich morgen zu ihm laufen und ihn fragen, wer er ist. Ich hab mir schon bereits fast meinen ganzen Kopf ausnander dacht, um zu derfahren, zu welcher Sorten er eigentlich gehört, habs aberst niemals derfahren konnt. Jetzt aber werd ich ihm recht tapfern aufs Kamisolen rucken, und da wird er mir seinen ganzen


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Lebenslaufen und Steckbriefen verzählen müssen. Dann sollens halt die Auskunften derfahren, die ich erhalten werd.«

»Und einen so Unbekannten schlagen Sie mir vor? Ist das nicht ein klein Wenig unvorsichtig gehandelt?«

»Nein, denn wann mir auch das Andre unbekannt ist, so kenn ich doch seinen Charaktern, und ich kann Ihnen eine Garantieen bieten, mit ders halt sehr zufrieden sein können.«

»So? Welche Garantie wäre das?«

»Mich selberst. Da schauns mich nur mal an! Bin ich nicht ein Kerlen, auf den man sich verlassen kann?«

Er stellte sich in possierlich militärische Positur vor sie hin. Das machte bei seinem äußern Habitus den Eindruck, daß sie Alle lachen mußten.

»Ja, eine solche lebendige Garantie würde ich schon annehmen,« antwortete Milda, »wenn ich sie stets in den Händen hätte.«

»Das habens doch!«

»O nein. Ich habe ja gehört, daß Sie stets im Lande herumziehen.«

»Das hat aufihalten. Von heut an bleib ich für stets und allezeit hier in Steinegg, denn ich bin hier ein Beamtern worden. Das müssens mir ja gleich an meiner Haltung anschaun. Die ist eine sehr gewichtige worden. Nicht?«

»Welche wichtige Stelle werden Sie denn bekleiden?«

»Ich bin Parkaufseher worden auf dem Schloß droben.«

»Bei meinem Vater?« fragte sie erstaunt.

»Ja freilich. Ich war droben bei ihm und komm so eben von ihm herab.«

»So waren Sie wohl Derjenige, welcher während des Essens angemeldet wurde?«

»Ja, das bin ich gewest.«

»Und Sie haben als hilfsbedürftiger Mann um diese Anstellung gebeten?«

»Hilfsbedürftig?« lachte er. »Dera Wurzelsepp bedarf keiner Unterstützung. Der kann sich bereits zu einer jeden Zeit schon selbern helfen. Nein. Dera Herr Baronen hat mir den Dienst freiwillig angeboten.«

»So, so! Nun, so werden wir uns also öfters sehen, und ich freue mich, daß Ihnen für Ihre alten Tage eine Stellung geboten ist, welche Sie der Nahrungssorgen enthebt.«

Er nickte ironisch lächelnd mit dem Kopfe.

»Ja, schön ists schon, wann man sich nicht um sein Brod zu sorgen braucht. In dera Beziehungen ist der Sepp überhaupten ein kluger Kerlen. Er läßt halt immer andre Leut für ihn sorgen. Da schauns zum Beispielen heut Abend, da ist dera Tisch hier bei dera Frau Bürgermeistrin für mich deckt. Darum wollen wir auch nicht lang warten und liebern richtig zugreifen.«

Er setzte sich an den Tisch. Die Andern folgten ihm. Mutter und


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Sohn fühlten keinen Hunger. Sie hatten zu sehr mit ihren Herzensgefühlen zu thun, als daß sie zu sehr an den Magen hätten denken können. Milda wurde zwar auch eingeladen, dankte aber, da sie bereits soupirt hatte.

So war der Sepp der Einzige, welcher zugriff, und er that das in einer Weise, welche der freundlichen Wirthin alle Ehre machte. Er betheiligte sich nicht an dem Gespräche, welches sich natürlich um das endliche Zusammenfinden der so lange Zeit von einander Getrennten drehte. Nun, als er endlich fertig war und die Rede wieder auf jenen geheimnißvollen Curt von Walther kam und Milda ganz der Ansicht war, daß aus allen Kräften nach demselben geforscht werden müsse, nahm er wieder das Wort:

»Wissens, meine Herrschafteln, da gebens sich halt nur keine Mühe. Sie werden ihn doch nicht finden.«

»Wenn alle Nachforschungen vergeblich sind, so muß man irgend einen geübten Geheimpolizisten engagiren,« erklärte Milda.

»Ja, das denk ich halt schon auch. Das ist der richtige Weg zum Ziele. Und grad ich kenn so einen geheimen Polizeiern, der denen Kerlen ganz sichern finden wird.«

»So? Wo ist der Mann?«

»Hier in Steinegg.«

»Hier?« fragte die Bürgermeisterin. »Da kenne ich keinen. Unsere Polizeibeamten sind zwar recht würdige und diensteifrige Leute, aber das Geschick eines guten Detective besitzt keiner von ihnen. Uebrigens sind sie ja für hier verpflichtet und also an den Ort gebunden. Sie können nicht fort.«

»O, Der, den ich meint hab, der kann fort.«

»Nun, wer wäre das?«

»Dera Wurzelsepp.«

»Ah, also Du wieder!«

»Ja. Ich mach eine Wetten, daß ich denen Urian herbeischaff, sobald Sie nur wollen.«

»Schneiden Sie nicht auf, Sepp!« warnte Max.

»Aufischneiden? Fallt mir nicht ein! Ich weiß schon, was ich sag.«

»So? Wirklich? Wenn ich nun aber auf die angebotene Wette eingehe?

»So soll michs sehr gefreun.«

»Ich würde sie gewinnen.«

»Nein, sondern ich thät das Geldl einistecken. Und weil ich immerst ein paar Markerln brauchen thu, so hätt ichs freilich gern, daß dera Herrn Lehrern mit wetten thät. Aberst ich denk mir halt, daß er sichs nicht trauen wird!«

Dabei blinzelte er listig den ihm gegenübersitzenden Lehrer an. Dieser hielt die Sache natürlich für einen Scherz und zögerte nicht, auf denselben einzugehen:

»Ich getrau es mir schon. Wie hoch wollen wir denn wetten, Sepp?«

»So hoch als Sie halt wollen.«

»Höre, kannst Du denn auch das Geld setzen?«


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»So viel wie ein Schulmeistern einistecken hat, so viel hat dera Sepp allemal auch im Sack.«

»Reicher Kerl! Sagen wir also zehn Mark. Ich will Sie nicht unglücklich machen. Sie sind es doch jedenfalls, der verlieren muß.«

»Meinens? Nun, ich will auf die zehn Markerln einigehen, denn wann ich mehr setzen thät, so sollts mich dauern, wann Sie das schöne Geldl verlieren thäten. Denn das sag ich Ihnen: Die Wetten gilt bei mir, und wann ich einmal gewinn, so steck ich auch das Geldl ein, und wanns mein allerbestern Freunden zahlen müßt.«

»So bin ich auch. Also die zehn Mark bekämen Sie auf keinen Fall zurück.«

»Schön! Also herausi mit dem Beutel!«

Er zog seinen alten Beutel und nahm ein Goldstück von zwanzig Mark heraus, steckte aber dagegen die zehn Mark ein, welche Walther auf den Tisch legte.

»So, das ist zusammen zwanzig Markerln. Nun kann es losgehen.«

»Ja, mein lieber Sepp,« lachte der Lehrer. »Also Du hast Dich anheischig gemacht, den Gesuchten herbeizuschaffen, sobald wir nur wollen?«

»Ja, und ich bleib dabei.«

»So verlange ich, daß Du ihn noch heut Abend hier herein in die Stube citirst.«

Sepp stellte sich erschrocken.

»Donnerwettern! Das wär freilich schlimm!«

»Ja, daran hast Du nicht gedacht. Du hast jedenfalls gemeint, daß ich Dir eine Frist von einigen Wochen gebe.«

»Freilich! Aber wissens, Herr Lehrern, einmal sagens Du und einmal Sie zu mir. Da wird man ganz irr im Kopf. Wanns mir Alle zusammen einen Gefallen thun wollen, so nennens mich nur Du. Das ist mir das Liebst, und ich werd trotzdem Sie sagen, außer wann ich mich mal versprech, was bei mir freilich zuweilen passiren thut. Und was nun die Wetten betrifft, so mag sie immer gelten.«

»Nein, das hieße den Scherz zu weit treiben. Du mußt doch verlieren.«

»Ich? Na, wanns das denken, so tret ich erst recht nicht zurück. Ich will meine zehn Markerln gewinnen und werd also den Herrn Walthern noch heut herbeischaffen.«

Er sagte das in einem so zuversichtlichen Tone, daß die Andern nicht wußten, ob er Ernst oder Spaß mache. Er lachte ihnen ins Gesicht und meinte:

»Ja, ja, da schauens mich an und wissens halt nicht, woraus mit mir sind. O, dera Sepp ist ein so gar Schlauer! Hat er der Frau Bürgermeistrin den Sohn bracht, so wird er ihr auch wohl noch seinen Vatern bringen können. Laßt mir nur noch ein Wenig Zeiten. Nachhero werd ich da meinen Zauberstab nehmen« - - er deutete nach seinem Alpenstock - »und mit


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demselbigen auf den Tisch schlagen. Und sobald ich das thu, wird dera Mann hier vor Ihnen stehen.«

Diese Wendung hatte zur Folge, daß seine Worte nun ohne allen Zweifel für scherzhaft galten. Es wurde nicht weiter davon gesprochen, und auch er selbst war still; doch lauschte er aufmerksam, ob sich nicht die Schritte eines Nahenden hören lassen möchten.

Später wurde die Bürgermeisterin für kurze Zeit von dem Dienstmädchen nach der Küche gerufen, und grad da klopfte es an die Thür.

Sofort griff der Sepp nach seinem Stocke, schlug damit auf den Tisch und sagte:

»Jetzund kommt er. Hereini!«

Die Thür öffnete sich, und der Baron trat ein.

Aller Augen waren natürlich nach der Thür gerichtet gewesen, natürlich in der Gewißheit, daß es sich nur um einen Scherz handle. Als Milda ihren Vater erblickte, stand sie überrascht vom Stuhle auf.

»Du, Vater! Du?«

»Ja, mein Kind,« antwortete er. »Ich war mit meiner Beschäftigung zu Ende, und da mir einfiel, daß Du so ganz allein gegangen warst, so glaubte ich, Dir einen Gefallen zu thun, wenn ich käme, um Dich abzuholen.«

»Das ist ja sehr schön!« meinte sie erfreut. »An solche Aufmerksamkeiten ist man hier gar nicht gewöhnt. Wenn Du aber erlaubst, verweilen wir noch eine Viertelstunde hier. Ich muß Dir doch die Frau Bürgermeisterin vorstellen.«

»Wo ist sie?«

»In der Küche. Doch wird sie nicht lange auf sich warten lassen. Erlaube mir zunächst, Dir Herrn Lehrer Walther vorzustellen, und hier ist noch Einer, welcher behauptet, bei Dir gewesen zu sein. Du mußt ihn also bereits kennen.«

Walther hatte sich beim Eintritt des Barons natürlich erhoben. Als sein Name genannt wurde, verbeugte er sich respectvoll.

Der Blick des Barons ruhte eigenthümlich forschend auf ihm und wendete sich dann finster nach dem Sepp.

»Du hier? Ich denke, Du willst nach dem Gasthofe!«

»Ich wollte schon erst; aberst die Frau Bürgermeistrin ist eine gute Bekannte von mir, und da hat sie mich beten, bei ihr zu bleiben.«

»So!« erklang es gedehnt und ärgerlich. »Hm!«

Milda kannte ihren Vater. Er hatte sich noch nicht gesetzt, und so befürchtete sie, daß des Sepp Anwesenheit ihn veranlassen werde, augenblicklich wieder fort zu gehen. Darum lenkte sie seine Aufmerksamkeit auf den Lehrer:

»Herr Walther ist heut auch Gast der Frau Bürgermeistrin, lieber Vater. Wir haben uns sehr gut unterhalten. Willst Du nicht für einige Augenblicke Platz nehmen?«

»Wenn Herr Walther gestattet, ja.«


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Er sagte das in sehr reservirtem Tone und verneigte sich dabei mit nicht ganz zu verbergender Ironie. Walther erwiderte seinerseits die Verbeugung, und da der Eine hüben und der Andre drüben am Tische stand, so kamen dadurch ihre Köpfe einander nahe. Milda stieß einen leisen Schrei aus. Ihr Auge war auf die beiden Physiognomien gefallen.

»Was hast Du?« fragte ihr Vater. »Welch eine - - -!«

»Aehnlichkeit!« hatte sie sagen wollen, hielt aber das Wort zurück und richtete den Blick auf den Wurzelsepp, welcher noch seitwärts stand, den Alpenstock in den Händen. Sie war leichenblaß geworden.

»Nun?« wiederholte ihr Vater.

»Nichts,« antwortete sie. »Ich stieß mich an den Tisch.«

Er setzte sich nieder, winkte Walthern, dasselbe zu thun, und sagte in jenem protectionellen Tone, in welchem Hochstehende mit Untergeordneten zu sprechen pflegen:

»Meine Tochter sagt mir, daß Sie Lehrer sind. Darf ich fragen, wo Sie amtiren?«

»Drüben in Hohenwald, Herr Baron.«

Auch Walther fixirte sein Gegenüber. Das Gesicht desselben machte einen ganz eigenartigen, unbeschreiblichen Eindruck auf ihn. Es war ihm, als ob dieser Mann ihm bereits einmal irgend ein Unglück, ein Unheil gebracht haben müsse.

»In Hohenwald!« erklang es im Tone des Erstaunens. »Ich denke, Sie sind in Re - - -«

Er hielt inne und richtete den Blick forschend nach dem Sepp hinüber. Er hatte sich zu einer Unvorsichtigkeit hinreißen lassen. Er durfte ja nicht wissen lassen, daß er bereits mit Jemand über den Lehrer gesprochen habe. Dieser fragte:

»Bitte, was wollten der Herr Baron sagen?«

»Nichts, mein Bester. Es war ein Irrthum. Ich glaubte, Ihnen kürzlich zufälliger Weise begegnet zu sein, in Linz an der Donau. Aber ich bemerke, daß ich mich irre. Der Herr war hochblond, und Sie sind ja brunett.«

Milda hatte sich noch nicht wieder gesetzt und auch ihre Gesichtsfarbe noch nicht wieder erhalten. Ihr Auge war starr und angstvoll auf das Gesicht ihres Vaters gerichtet. Sie wich von ihm zurück, langsam, Zoll um Zoll, als ob eine fürchterliche, entsetzliche Ahnung in ihr empordämmere.

»Menschen sehen sich ähnlich,« bemerkte der Lehrer. »Auch ich habe bereits die Erfahrung gemacht, daß Personen, welche nach Namen, Geburtsort und Verhältnissen nicht verschiedener sein konnten, persönlich sich sehr ähnlich waren.«

»Ja,« stieß Milda hervor. »Ich mache soeben ganz dieselbe Erfahrung.«

Sie sagte das in einem Tone, welcher ihrem Vater auffiel. Er warf einen befremdeten Blick auf sie und fragte:

»Jetzt? Wieso?«


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»Herr Walther besitzt eine ganz außerordentliche Aehnlichkeit mit Dir.«

»So? Jedenfalls eben auch nur ein Spiel des launigen Zufalles.«

»Grad so, als ob Du sein Vater seist.«

»Das wollen wir bleiben lassen!«

Er sagte das in fast zornigem Tone. Walthern fiel das auf. Er sah den Sprecher an und blickte dann in Mildas Gesicht. Erst jetzt bemerkte er, daß dasselbe leichenblaß war. Er erkannte ebenso den entsetzten, angstvollen Ausdruck ihres Auges. Und als er nun den Blick auf den alten Sepp richtete, sah er, daß dieser den Baron auf eine Weise fixirte, in welcher Haß, Verachtung und Triumph zu gleicher Zeit lagen. Nun kam auch ihm ein Gedanke, unter welchem er fast sichtlich zusammen schreckte. Er griff langsam, fast zitternd nach dem Tische, auf welchem das Zwanzigmarkstück noch lag, hob dasselbe empor und fragte:

»Sepp, ist die Wette etwa schon gewonnen?«

»Jawohl!« nickte der Alte.

Milda schlug die Hände vor das Gesicht und sank mit einem Wehelaute auf den Stuhl.

»Ist keine Täuschung vorhanden?« erkundigte sich Walther mit bebender Stimme.

»Nein. Das Geldl ist mein.«

Das Verhalten der Drei mußte dem Baron auffallen.

»Was ists?« fragte er. »Warum erschrickst Du denn, Milda?«

Sie antwortete nicht und hielt ihr Gesicht verhüllt.

»Nun, darf ich es erfahren?« wiederholte er in strengem Tone.

Es war ihm keinesweges sehr wohl zu Muthe. Anstatt seiner Tochter antwortete der Lehrer:

»Gestatten Sie, Herr Baron, daß ich Ihnen Auskunft ertheile, und zwar in Form einer Frage.«

Als vorhin das Essen begonnen hatte, hatte die Bürgermeisterin jenen verhängnißvollen Brief hinüber auf ein Nebentischchen gelegt. Walther stand auf, holte ihn herbei, legte ihn vor dem Baron hin und fragte:

»Ist Ihnen vielleicht diese Handschrift bekannt?«

Der Gefragte warf einen ganz flüchtigen Blick auf die Zeilen und antwortete stolz:

»Nein. Es scheint auf dieses Papier geregnet zu haben.«

»Ja, und zwar tausende, millionen von Thränen. Bitte, gnädiger Herr, betrachten Sie sich die Worte gütigst einmal genauer!«

Der Baron erhob den Kopf mit einem plötzlichen, schnellen Rucke, so wie man es zu machen pflegt, wenn man etwas Unerwartetes zu hören bekommt.

»Warum?« fragte er.

»Ich glaube, diese Zeilen werden Ihr größtes Interesse erregen.«

»Pah! Welche fremde Correspondenz könnte den Baron von Alberg interessiren!«

Er schob mit stolzer Bewegung den Brief von sich ab.


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Da nahm Milda ihre Hände vom Gesicht fort, stand auf und sagte, allerdings mit tonloser Stimme:

»Ich ersuche Dich dennoch, zu versuchen, ob Du diese Zeilen zu lesen vermagst.«

»Du auch! Beim Teufel! Was machst Du für ein Gesicht? Wie kommst Du mir vor?«

Er sprang auch auf.

»Ich muß darauf bestehen, daß Du diesen Brief liesest!«

»Das klingt ja gar wie ein Befehl!«

»Nein; ich befehle Dir nichts. Aber diese Zeilen werden Dich vielleicht sehr, sehr interessiren.«

»So!« Er blickte von einem Gesicht nach dem anderen. »Ich weiß gar nicht, was das zu bedeuten haben soll! Welche Mienen macht man da! Warum will man mich bewegen, einen fremden Brief zu lesen?«

»Er betrifft Deine Person!«

»Die meinige? Ah! Das wäre ja ein eigenthümlicher Zufall! Jedenfalls ein Geschäftsbrief. Laß also einmal sehen!«

Er griff wieder nach dem Papiere und versuchte, die verwischten Zeilen zu enträthseln. Walthers und Milda's Augen hingen unverwandt an seinem Gesichte. Der Sepp hustete leise wie Einer, der da zu verstehen geben will, daß jetzt der entscheidende Augenblick gekommen sei.

Es machte dem Baron sichtlich Mühe, die Wörter zu entziffern. Bei einigen wenigen gelang es ihm. Der Zusammenhang that das seinige. Der Leser ließ die Hand mit dem Papiere sinken und starrte dann erst seine Tochter, dann Walthern an. Er machte ein Gesicht wie Einer, der eine Ohrfeige erhalten hat und doch nicht weiß, von wem.

»Nun, kennst Du diese Handschrift?« fragte seine Tochter. Er nahm sich zusammen.

»Nein,« antwortete er kopfschüttelnd.

»Ich dächte aber doch, Du müßtest sie genau kennen, genauer, als ein jeder Andere.«

»Warum denn?«

»Weil Du es sein sollst, der diesen Brief geschrieben hat.«

Er machte eine sehr gut gelungene Geberde des Erstaunens.

»Ich? Diesen Brief? Wann denn?«

»Vor ungefähr etwas über zwanzig Jahren.«

»Wer sagt das?«

»Dein Gewissen wird es Dir sagen.«

Da warf er den Brief aus der Hand, machte eine gebieterische Armbewegung und sagte:

»Ich scheine mich hier in einem Hause zu befinden, in welchem geistig Gestörte unter einer schlechten ärztlichen Controle gehalten werden. Du wirst es augenblicklich mit mir verlassen. Komm!«


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»Nicht eher, als bis sich dieses Räthsel gelöst hat. Bitte, Vater, sage mir, ob Du der Verfasser dieses Briefes bist!«

»Ich sage Dir allen Ernstes, daß ich diese Handschrift nicht kenne, ebenso wenig wie den Inhalt, und verlange, daß Du mich sofort begleitest.«

»Ist Dir auch der Name Curt von Walther nicht bekannt?«

»Habe ihn noch nie gehört!«

»Und hast Du nie die Bekanntschaft einer jungen Dame gemacht, welche Bertha Hiller hieß?«

»Habe nicht die Ehre gehabt. Aber wozu diese so räthselhaften Fragen?«

»Herr Walther hier, ist der Sohn eines Mannes, welcher sich Curt von Walther genannt hat, um ein braves, junges Mädchen zu betrügen. Er hat eigentlich ganz anders geheißen.«

Der Baron hatte sich jetzt vollständig wieder gefaßt. Er sagte, höhnisch lächelnd:

»Das ist ja ein recht interessantes Geschichtchen. Nur begreife ich nicht, weshalb es gerade mir erzählt wird.«

»Weil Du jener Curt von Walther gewesen sein sollst.«

»Ich? Welch eine Verrücktheit! Wer hat sich denn diesen Unsinn ausgedacht?«

»Einer, der glaubt, es ganz gewiß zu wissen. Also, Vater, sei aufrichtig! Befreie mich von dieser entsetzlichen Seelenangst. Sage mir auf Gott und Dein Gewissen, ob Du wirklich jener junge Mann nicht gewesen bist!«

»Nein, ich war es nicht! Ich habe gar nicht nöthig, mich ausfragen zu lassen. Wie kommt ein Baron von Alberg dazu, mit einer solchen Schmutzigkeit in Verbindung gebracht zu werden! Ich bereue nun allerdings meine Aufmerksamkeit, Dich von hier abholen zu wollen, und fordere Dich allen Ernstes auf, mir augenblicklich zu folgen.«

Er griff nach seinem Hute und fuhr erschrocken zusammen, denn der Sepp hatte mit dem Alpenstocke auf den Tisch geschlagen. Der Alte zeigte nach der Thüre, welche in die Küche führte und durch welche soeben die Bürgermeisterin hereintrat.

»Da kommt halt noch Eine, die ein Wörtle mit drein reden möcht. Laufens also jetzt noch nicht so gar schnell und eilig fort!«

»Was giebts?« fragte die Bürgermeisterin, indem sie näher trat. »Ah, ein Herr!«

»Mein Vater,« erklärte Milda. »Er kam, um mich abzuholen und Sie kennen zu lernen.«

»Eine werthgeschätzte Ehre für mich! Ich heiße Sie von Herzen willkommen, Herr Baron!«

Dieser hatte halb abgewendet dagestanden. Jetzt war er gezwungen, sich umzudrehen. Ihr Auge fiel auf sein von der Lampe hell beschienenes Gesicht. Sie trat zurück und wankte.

»Was - was - - was sehe ich!«


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Sie mußte sich an dem Nebentisch anhalten, und der Sepp trat schnell herbei, um sie zu stützen.

»Nun, Vater!« sagte Milda. »Kennst Du diese Dame?«

»Curt! Curt von Walther!« rief die Bürgermeisterin im Tone des Entsetzens.

»Also doch!« hauchte Milda. »Also Sie erkennen ihn, Frau Holberg?«

»Ja, augenblicklich!« antwortete die Gefragte. »Da ist ja die Narbe. Und dieses Gesicht würde ich noch nach tausend Jahren wiedererkennen, und wenn es noch so sehr gealtert haben sollte!«

»Vater, Du hörst es! Sprich!«

Er hatte keine Ahnung gehabt, daß seine einstige Geliebte und die Bürgermeisterin identisch seien. Darum war er bei ihrem Anblicke geradezu erschrocken oder vielmehr consternirt. Er sah ein, daß er aller seiner Selbstbeherrschung bedürfe, um sich sowohl zu verstellen als auch herauszulügen. An dieser unglückseligen Ueberraschung war nur allein der Wurzelsepp schuld. Er warf demselben einen wüthenden Blick zu, fuhr sich dann mit den Händen nach dem Schnurrbart, drehte die Spitzen desselben in legerer Weise und antwortete:

»Vorerst wollte es mir scheinen, als ob ich mich ärgern müsse. Jetzt aber erkenne ich mit aller Klarheit und Deutlichkeit, daß ich es mit dupirten oder mystificirten Leuten zu thun habe. Ich will mich also in die gegebenen Umstände fügen und meine Antwort nicht verweigern. Frau Bürgermeisterin, Sie irren sich in mir!«

Sie schüttelte den Kopf.

»O nein! Von einem Irrthum kann hier keine Rede sein. Eher könnte ich mich in mir selber täuschen, als in Ihnen. Sie sind Curt von Walther.«

»Aber ich versichere Ihnen, daß ich diesen Namen noch niemals gehört habe!«

»Vater,« fragte Milda, »kannst Du darauf Dein Ehrenwort geben?«

»Ohne Bedenken! Es waltet hier jedenfalls eine jener Aehnlichkeiten ob, von denen wir vorhin sprachen.«

»Bitte, nehmen Sie Ihr Ehrenwort zurück!« rief die Bürgermeisterin, indem sie die Arme gegen ihn ausstreckte. »Haben Sie einst mich verrathen und verlassen, so handeln Sie wenigstens in Gegenwart Ihrer Tochter nicht ehrlos! Ich will gleich sterben, wenn Sie nicht jener Curt von Walther sind! Die Narbe ist ein sicheres Kennzeichen. Aber sie ist gar nicht nöthig. Ich kenne jeden Ihrer Züge, und außerdem müssen Sie am Mittelfinger der linken Hand auf dem ersten Gliede ein kleines, rothes Mal besitzen.«

»Das hat er; das hat er!« rief Milda. »Vater, ich bitte Dich um Gotteswillen, gieb der Wahrheit die Ehre! Bedenke, was auf dem Spiele steht!«

Er ließ seinen stolz höhnischen Blick langsam von Gesicht zu Gesicht schweifen und antwortete:

»Pah, ich bin der Betreffende nicht. Aber selbst wenn ich er wäre, was sollte da jetzt auf dem Spiele stehen?«

»Ich! Ich selbst!« antwortete sie.


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»Du? Sprich deutlicher!«

»Du würdest mich, Deine Tochter verlieren!«

Er lachte kurz und heiser auf. Sich nach allen Seiten umblickend, antwortete er:

»Ich suche eben nur nach den Coulissen, denn jedenfalls befinde ich mich auf irgend einer Bühne, wo man im Begriff steht, ein verrücktes Hirngespinnst in Scene zu setzen. Ich und Dich verlieren! Pah!«

»Gewiß, gewiß!« rief sie.

»Und abermals Pah! Ich bin Dein Vater. Vergiß dies nicht. Jetzt folgst Du mir endlich. Ich warte keinen Augenblick länger.«

Er drehte sich nach der Thüre um. Er konnte nicht hinaus. Walther hatte sich mit einigen raschen Schritten vor dieselbe gestellt.

»Fort, junger Mann! Ich will gehen!«

»Bitte, bleiben Sie noch!« antwortete der Lehrer. »Wir sind noch nicht fertig!«

»Hoffentlich habe ich zu bestimmen, ob ich fertig bin oder nicht!« drohte der Baron.

»Nein,« antwortete Walther ernst. »Ich habe bisher geschwiegen; nun aber bin allein ich es, welcher hier zu bestimmen hat.«

»Oho! Wenn Sie nicht Raum geben, brauche ich Gewalt.«

»Das können Sie versuchen! Ich habe mit Ihnen zu sprechen, und Sie werden mir gehorchen und hier bleiben, so lange es mir gefällt!«

Er sagte das ohne alle Aufregung, in größter Ruhe. Der Baron maß ihn mit verachtungsvollem Blicke und antwortete:

»Schulmeister, Du bist wahnsinnig. Zurück!«

Er gab ihm einen Stoß; dieser hatte aber gerade denselben Erfolg, als ob er gegen eine eherne Statue gerichtet gewesen sei: Walther wankte um kein Haar breit. Aber nun ergriff er den Baron hüben und drüben bei den Armen, preßte ihm dieselben an den Leib, hob ihn empor, trug ihn über die Stube hinüber und setzte ihn dort in der Ecke auf einen Stuhl nieder. Er hatte dabei eine solche Körperkraft entwickelt, daß der Baron kein Glied zu rühren vermocht hatte, sondern jetzt laut aufstöhnte.

»So!« sagte der junge Mann. »Hier bleiben Sie sitzen. Ich bin noch jung, aber ich verstehe keinen Spaß, besonders wenn ich es mit Schurken zu thun habe.«

»Mensch!« rief der Baron. »Was wagen Sie! Sie haben sich an mir vergriffen!«

»Sie zwingen mich dazu.«

»Sie nennen mich einen Schurken!«

»Wohl mit Recht. Uebrigens, falls ich mich irre, so bin ich bereit, Ihnen alle Satisfaction zu geben, welche Sie sich nur wünschen können.«

»Ich versichere Sie aber, daß Sie sich irren!«

»Beweisen Sie das!«


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»Das ist ja ganz die verkehrte Welt! Habe ich denn zu beweisen, daß ich unschuldig bin? Oder haben Sie mich meiner Schuld zu überführen?

»Wohl, das können wir!«

»Da bin ich doch neugierig, wie Sie dies anfangen werden!«

Er hatte nämlich noch keine Ahnung davon, daß der Sepp ihn verrathen werde. Er glaubte bis jetzt, daß dieser unvorsichtig oder wenigstens nicht unterrichtet genug gewesen sei. Er hatte ihm fünfhundert Mark bezahlt und ihn als Parkhüter angestellt. Darum erschien es ihm als ganz sicher, daß der Alte schweigen werde.

Wenn dies der Fall war, welche Beweise konnte man dann gegen ihn vorbringen? Die Aehnlichkeit? Die Narbe? Das Mal? Pah! Das konnte Alles Zufall sein! Auf keinen Fall aber sollte es ihm einfallen, ein Geständniß auszusprechen. Nur der Sepp mußte schweigen!

»Sie werden es sogleich sehen!« erklärte der Lehrer. »Sepp, willst Du die Wahrheit sagen?«

»Natürlich werd ich keine Lügen machen,« erklärte der Alte. »Wer ist dieser Herr?«

»Der? Na, das wißt Ihr ja Alle auch! Er ist dera Herr Baronen von Alberg.«

»Das hatte ich nicht gemeint. Ich meinte, ob dieser Herr früher einmal einen anderen Namen getragen hat als jetzt.«

»Ob er ihn grade tragen hat, auf denen Armen oder auch im Rucksack, das weiß ich nicht; aberst Herr Curt von Walther hat er sich mal nannt.«

»Schuft!« rief der Baron.

»Du!« antwortete der Alte. »Sag kein solch Wort zu mir! Du weißts, wie's droben dem Hausverwalter ergangen ist. Wannst mich nochmals schimpfen thust, so kann auch hier ein Spiegeln zerbrochen werden, denn ich nehm Dich sofort beim Schlaffitchen und werf Dich hinein.«

Dennoch erklärte der Baron:

»Er lügt! Woher will er es wissen?«

Da trat der alte Sepp vor ihn, legte ihm die Hand schwer auf die Achsel und sagte:

»So! Woher ichs wissen soll? Hasts mir nicht etwan selber sagt?«

»Nein.«

»Hast nicht in dera Schankwirthschaften in Hohenwald mir fünfhundert Markerln versprochen, damit ich Dir sagen soll, wo die Bertha Hillern wohnt und ihr Sohn, der Max Walthern?«

»Nein.«

»Hast mir denn nicht dafür die Anstellung geben als Parkaufsehern?«

»Nein.«

»Und hast mich wohl auch nicht nach Regensburg schicken wollt, damit ich nach denen Verwandten des Lehrers Walther suchen soll?

»Abermals nein! Du bist ein Lügner!«

»So! Da hast die Quittung für dies Wörtle, Du Hallodri, Du!«


// 950 //

Er gab dem Baron eine gewaltige Ohrfeige. Niemand hinderte ihn daran.

Der Baron wollte aufspringen, wurde aber von dem Alten fest niedergehalten. Dieser sagte:

»Weißt, Du bist ein Kerlen, der kein Gewissen hat, keine Ehren und kein Gefühl. Mit Dir muß man ganz anderst reden. Ich weiß ganz genau den Ton, den man bei Dir anschlagen muß. Das werd ich jetzunder thun. Paß auf, wie ich es machen werd! Hier, mit meiner Linken halt ich Dich beim Schlippserl am Hals, und mit dera Rechten hol ich aus. Ich werd Dich fragen, und sobaldst eine Lügen sagst, bekommst eine Ohrfeigen. Nachhero werden wir sehr bald die Wahrheit derfahren. Odern hat Jemand was dagegen?«

Er blickte sich nach den Andern um. Niemand antwortete. Selbst Milda hatte kein Wort, um für ihren Vater zu bitten. Sie hatte niemals die richtige kindliche Liebe für ihn gefühlt. Heute hatte er erklärt, daß er sie nur als sein Werkzeug gebrauchen wolle; das hatte den Riß noch tiefer gemacht, und nun die Entdeckung seiner an der Bürgermeisterin begangenen Schändlichkeit hatte den letzten Rest ihrer Zuneigung getödtet. Sie fühlte einen förmlichen Abscheu vor ihm. Wenn er seine That eingestanden hätte, hätte sie ihm verziehen. Sein höhnisches Leugnen aber empörte sie, und jetzt hatte sie die Empfindung als wenn die Ohrfeigen, welche ihm angedroht wurden, das einzige Mittel seien, ihn zum Geständniß zu bringen.

»Also,« begann der Alte. »Sag, bist dera Curt von Walther gewest?«

Der Gefragte antwortete nicht. Er versuchte, sich von der Eisenfaust des Wurzelsepp zu befreien, mußte aber diesen Versuch sofort aufgeben, denn der Alte drehte ihm das »Schlippserl« so zusammen, daß er fast keinen Athem bekam.

»Nun, gieb Antwort! Ich hab keine Zeit.«

Die Situation war eine verteufelte. Der Baron erkannte, daß es am Besten sei, sich zu ergeben. Er sagte sich, daß er ja keinerlei Verpflichtungen auf sich zu nehmen brauche. Darum antwortete er jetzt:

»Laß mich los, Mensch! Ich will Euch den Gefallen thun und die mir zugedachte Rolle mit Euch spielen.«

»So? Willst? Nun, das ist das Allerbeste, wast thun kannst. So will ich Dir Luft lassen. Aber nun sag auch, obst dera Kerlen gewest bist!«

Er nahm die Faust von dem Baron. Dieser erhob sich vom Stuhle, holte tief Athem und antwortete:

»Ich sehe keinen Grund ein, es zu leugnen: Ich habe einmal den betreffenden Namen getragen. Es handelte sich um ein hübsches Mädchen. Welchem jungen Manne überkommt dabei nicht eine romantische Idee!«

Da stand Milda von ihrem Stuhle auf. War sie vorher bleich gewesen, so war ihr Aussehen jetzt ein geisterhaftes zu nennen.

»Du gestehst also ein,« fragte sie, »daß Bertha Hiller Deine Verlobte war?«

»Ja.«


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»Und daß Max Walther Dein Sohn ist?«

»Nein.«

»So widersprichst Du Dir selbst. Wenn sie die Mutter ist, so muß er Dein Sohn sein.«

»Das sagst Du, weil Du die Welt nicht kennst,« lachte er höhnisch. »Wer kann mir beweisen, daß er wirklich mein Sohn ist? Wenn meine Verlobte ein Kind bekommt, wer kann behaupten, daß ich der Vater sein muß?«

Der Eindruck, welchen diese Worte machten, war ein ungeheurer. Die Bürgermeisterin stieß einen Schrei aus und glitt zu Boden.

»Mutter, meine Mutter!« rief Max und sprang zu ihr hin. Der Sepp griff nach seinem Stocke und rief:

»Soll ich den Hallunken derschlagen, den elendigen?«

»Still!« gebot Milda, welche mit beiden Händen nach ihrem Herzen gegriffen hatte, als ob sie dort die Empfindung eines Schmerzes habe. Und nahe zu ihrem Vater herantretend, fragte sie:

»Du willst ihn nicht als Deinen Sohn anerkennen?«

»Ah!« lachte er.

»Wünschest Du es vielleicht?«

»Ja, um meinet-, Deinet- und seinetwillen.«

»So! Mir aber kann es nicht einfallen. Ein Bastard in meiner Familie - -«

»Schweig!« donnerte sie ihm entgegen, so laut und streng ihre sanfte Stimme es zuließ. »Also, willst Du ihm Deinen Namen verweigern?«

»Ja.«

»Dieser Entschluß steht unerschütterlich fest?«

»Unerschütterlich.«

Da trat sie von ihm zurück, zeigte nach der Thüre und erklärte:

»So sind wir fertig mit einander. Herr Baron von Alberg, ich bin Ihre Tochter nicht. Max Walther ist mein Bruder. Wir müssen denselben Namen tragen. Darf er den meinigen nicht tragen, so nehm ich den seinigen an. Ich werde die dazu nöthigen Schritte bereits morgen thun. Sie können gehen, Herr Baron! Wir haben nichts mehr mit einander zu schaffen!«

Sie stand da wie eine Rachegöttin. Ihre Augen flammten; ihre Wangen hatten sich wieder geröthet, und zwischen ihren halb geöffneten Lippen schimmerten die kleinen Zähnchen weiß und glänzend hervor.

Das hatte er nicht erwartet. Er stand einige Augenblicke stumm. Dann aber schlug er eine laute Lache auf und fragte:

»Gehört das auch mit zu Deiner Rolle?«

»Ja. Und ich werde diese Rolle energisch bis zu Ende spielen.«

»Wenn ich es erlaube!«

»Ich gehorche nur meinem Gewissen!

»Und mir jedenfalls nicht weniger. Das muß ich mir sehr erbitten! Du kannst wohl auf die höchst alberne Idee kommen, auf mich und meinen Namen zu verzichten. Nun aber fragt es sich, was ich für eine Ansicht habe.


// 952 //

Bekanntlich hat der Vater gewisse Rechte, und diese werde ich natürlich in Ausführung bringen. Nimm Deinen Hut und komm.«

Sie wendete sich ab und antwortete:

»Sie werden allein gehen müssen.«

»Ich befehle es Dir!«

»Sie haben mir nichts mehr zu befehlen.«

»Mädchen, soll ich Gewalt brauchen!« rief er in höchstem Zorne.

»Dagegen würde ich Beschützer finden.«

»Soll ich Dich verstoßen, soll ich - -«

»Das ists ja, was ich wünsche,« fiel sie ein.

»Und Dich enterben?«

Sie hatte sich so gestellt, daß sie ihn nicht mehr sah; bei seiner letzten Frage aber drehte sie sich rasch zu ihm um:

»Enterben? Davon kann nicht die Rede sein. Sie, Herr Baron, haben keinen Gulden Vermögen besessen. Was wir besitzen, ist von meiner Mutter, einer Baronesse von Sendingen, eingebracht worden. Das Alles fällt mir am Tage meiner Mündigwerdung zu, und Sie sind bis dahin nur der Nutznießer. Von dem Tage meiner Mündigkeit an, besitzen Sie keinen Deut mehr und sind allein auf meinen guten Willen angewiesen. Wenn ich mich jetzt von Ihnen lossage, so dürfen Sie ja nicht glauben, daß ich auch auf mein Eigenthum verzichte. Während ich mich bisher nicht im Geringsten um dasselbe bekümmert habe, werde ich ihm von heut an meine vollste Aufmerksamkeit widmen. Ich trenne mich zwar von Ihnen, nicht aber von meinem Besitze. Ich werde auch fernerhin hier auf Schloß Steinegg wohnen und bereits morgen einen erfahrenen Rechtsanwalt kommen lassen, welcher darüber zu wachen hat, daß der ehrlose Baron von Alberg mich nicht um einen Gulden meines Vermögens bringe. Das sei Ihnen noch gesagt, und nun können Sie gehen!«

Sie stand so stolz und hoch aufgerichtet vor ihm, daß er vor ihr zurücktrat. Er starrte sie an. Es war ihm, als ob er träume.

»Was - fällt - - Dir ein!« stieß er hervor. »Ich glaube, Du bist nicht bei Sinnen! Wann hättest Du jemals gewagt, in diesem Tone mit mir zu sprechen!«

»Ja,« antwortete sie, »ich bin ein mildes, furchtsames Geschöpf gewesen. Das Leben hatte mich langsam gereift. Was ich aber heut Abend erfahren und gefühlt habe, das hat aus dem nachgebenden, unselbstständigen Wesen plötzlich ein selbstbewußtes, willensstarkes Weib gemacht. Du hast mich erzogen, um mit meiner Person einen teuflischen Schacher zu treiben. Du hattest heut sogar die Stirn, mir dies zu sagen. Das hätte ich Dir noch vergeben können. Daß Du aber Deinen eigenen Sohn, Dein eigenes Fleisch und Blut verleugnest, daß Du kein Wort, kein einziges Wort hast, um Dir Verzeihung von einem Wesen zu erbitten, welches auf Deine Schuld hin so entsetzlich leiden mußte, daß Du im Gegentheile nur Hohn für Beide hast und die Ohrfeige eines alten Wurzelhändlers ruhig einsteckst, Du, der Baron - - ah,


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mir graut! Mir wird schlimm! Gehen Sie, gehen Sie, Baron! Und wenn noch ein Rest von Ehrgefühl in Ihrem Innern verborgen sein sollte, so zeigen Sie dies dadurch, daß Sie morgen früh Schloß Steinegg verlassen. Ich kann und mag nicht mit Ihnen unter einem Dache wohnen.«

Da legte er die Arme über der Brust zusammen, zuckte die Achseln und sagte:

»Phantasien eines unreifen Kindes! Für Alles, was Du soeben gethan hast, wirst Du Deine Strafe erhalten, welche ich Dir unnachsichtlich dictiren werde. Jetzt nun sage ich kein Wort mehr. Du wirst mit mir nach Hause gehen. Weigerst Du Dich, so gebrauche ich mein Recht.«

»Ihr Recht?« nahm da Max Walther das Wort. »Hören Sie, Herr Baron, ehe Sie das thun, habe auch ich ein Wort mit Ihnen zu sprechen. Zunächst möchte ich mich gegen die Ansicht verwahren, daß ich mich sehne, Ihren Namen zu tragen. Er ist der Name eines Schurken, und ich hätte ihn nicht angenommen, selbst wenn Sie bereit gewesen wären, ihn mit Millionen auf mich zu übertragen. Mein Name ist Walther. Ich habe ihn mit Ehren getragen und werde dieses auch ferner thun. Was ich von Ihnen denke, wissen Sie. Ich habe mich nach meiner Mutter gesehnt, nach Ihnen niemals. Das ist das Eine, was ich Ihnen sagen will. Das Andere aber ist eine Warnung. Fräulein Milda hat erklärt, daß sie nichts mehr von Ihnen wissen will, und Sie werden sich nach dieser Erklärung richten. Sie haben keine Rechte mehr auf Ihre Tochter - - -«

»Oho! Wer behauptet das?«

»Ich!«

»Das ist auch was Rechtes!«

»Es ist ein ehrlicher Mensch, wenn auch nur ein armer Dorfschulmeister. Nicht der Vater allein steht über dem Kinde. Es giebt eine Behörde, welche darüber zu wachen hat, daß der Vater nicht nur seine Rechte genießt, sondern auch seine Pflichten erfüllt. An diese Behörde wird sich Fräulein Milda wenden. Mit Ihnen also hat sie nichts mehr zu thun!«

»Wie klug Sie sprechen! Bis jetzt hat sich meine Tochter noch nicht an diese Behörde gewendet, und ich hab also Gewalt über sie. Diese Gewalt werde ich auf alle Fälle in Anwendung bringen. Wenn sie nicht jetzt sofort mit mir geht, werde ich sie durch die Dienerschaft holen lassen!«

»Das können Sie versuchen. Wir werden es in aller Ruhe abwarten.«

»Ich werde es nicht nur versuchen, sondern in Wirklichkeit thun!«

»In Gottes Namen! Jetzt aber machen Sie sich von dannen! Sie sind wirklich ein Mensch, vor dem es Einen grauen kann. Wenn es Viele Ihres Gleichens auf Erden geben sollte, so möchte man es sehr bedauern, ein Bewohner unsers Planeten geworden zu sein.«

Er wendete sich ab. Jetzt stellte sich noch der alte Sepp zwischen den Baron und die Thür:

»Ein kleines Bisserl könnens noch warten, eh's fortgehen, Herr Baronen.


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Ich wollts halt nur noch fragen, ob ich Sie nun auch noch morgen am ganzen Vormittag antreffen werde?«

»Mach Dich auf die Seite! Mit Dir hab ich gar nichts zu sprechen!«

»Aberst ich mit Dir! Also soll ich den Dienst noch antreten oder nicht?«

»Wenn Du Dich erblicken lässest, so lasse ich Dich mit Hunden fort hetzen!«

»So also nicht! Aber Sie haben mich engagirt mit fünfhundert Mark. Das macht für dera Monat einundvierzig Mark sechsundsechzig Pfennige. Zwanzig habens mir bereits geben. Wann ich also nicht antreten soll, so bekomm ich den ersten Monat bezahlt, hab ich also noch einundzwanzig Mark und sechsundsechzig zu fordern!«

»Mensch, Du schnappst über!«

»Wanns das nochmal sagen, so schnapp ich nicht über, sondern ich schnapp zu. Was nachhero von Ihnen noch übrig bleiben wird, das ist höchstens noch der Henkerl vom Rock und ein Fetzen von denen Hosentragern! Wollens zahlen oder nicht? Ich werd Sie verklagen, denn ich bin in meinem Recht!«

»Hier, armseliger Verräther! Da bin ich Dich los!«

Er zog das Portemonnaie, griff hinein und warf ihm das Geld hin in die Stube.

»Schön!« lachte der Sepp. »Wannst wiedern so einen Parkwächtern brauchst, so komm nur zu dem Sepp: der macht da gar so gern mit! Nun aberst sind auch wir Beid fertig, und wannst nicht gleich verschwindest, so blas ich Dich hinausi! Da ist die Thüren, ergebenster Herr Baronen!«

Er machte die Thür so weit wie möglich auf. Der Baron wendete sich in die Stube zurück, drohte mit der Faust und rief:

»Wir sind noch nicht mit einander fertig. Was an diesem Abende hier geschehen ist, das muß ausgeglichen werden. Wir sehen uns wieder!«

Er ging fort.

Der Sepp machte die Thür wieder zu, bückte sich und las das Geld zusammen.

»Fünfundzwanzig Mark! Das ist nobel!« lachte er. »Und da die zwanzig auf dem Tisch. Wie steht es, Herr Lehrern? Wer hat gewonnen?«

»Du natürlich!«

»Und wem gehört da das Geldl?«

»Ebenso Dir!«

»Das denk ich auch. Nun aberst meinens halt nicht etwan, daß ichs nicht einistecken thu. So ein armern Schelmen, wie dera Wurzelseppen ist, der ist froh, wann er mal auf eine so leichte Art und Weisen zu einem Goldfüchserl kommen thut!«

»Ich mag es auch gar nicht wieder haben. Nimm es in Gottes Namen.«

»Na freilich ja. Sie haben eine reiche Muttern und eine noch reichere Schwestern. Von denen könnens sich das Geldl wiedergeben lassen.«

Er zog den Beutel und steckte das Geld sehr sorgfältig und mit einem Schmunzeln hinein, welches gar nicht wohlgefälliger sein konnte.


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Dann setzte er sich an den Tisch. Es war noch gar nicht abgetragen worden. Darum lagen noch die Reste des Abendmahles da.

»Jetzt hab ich mich mit dem Baronen so gar sehr gewaltig übernommen, daß ich bereits schon wiedern Hunger hab. Ich werd mir noch eine Hälft von denen marinerirten Heringen nehmen und ein paar backene Pflaumerln dazu. Das ist süß und salzig und stellt denen Magen wiedern her, wann man sich geärgert hat.«

Er begann zu essen und hatte für die Andern weder Augen noch Ohren. Sie nahmen es ihm auch gar nicht übel. Er war ein guter Esser, keineswegs aber ein Vielfraß. Daß er jetzt wieder zu speisen begann, hatte seinen Grund nicht in einem neu erwachten Hunger, sondern in einer sehr guten Absicht. Der Alte war nämlich weit über seine Bildung hinaus zartfühlend und rücksichtsvoll. Er wußte, daß es jetzt Gefühlsergüsse geben werde, und er wollte sich eine Beschäftigung machen, bei welcher er so thun könne, als ob er gar nichts davon bemerke. Dazu paßte aber das Essen am Allerbesten, und darum beschäftigte er sich mit seinem halben Heringe und den Backpflaumen so angelegentlich, als ob Leben und Seligkeit davon abhingen.

Die Andern beobachteten zunächst ein minutenlanges Stillschweigen. Die Bürgermeisterin saß angegriffen im Sopha und hielt das Gesicht in die Hände. Walther schritt langsam auf und ab, und Milda hatte sich in die andere Ecke des Sophas niedergelassen und das Köpfchen in die Hand gestemmt. Endlich brach die Bürgermeisterin das Schweigen:

»Max, das war er!«

Sie holte dabei tief, tief Athem, als ob sie ihre Seele erleichtern müsse.

»Das war er!« wiederholte er seufzend. »Ein Vater, welcher anstatt Reuethränen nur die schändlichsten Verleumdungen hat. Sepp, wie hast Du denn ein solches Arrangement mit ihm treffen können?«

»Das kann ich spätern auch derzählen. Jetzundern hab ich einen zu großen Hungern.«

»Hast Du denn gewußt, daß er hierher kommen werde?«

»Ja freilich!«

»So konntest Du Deine Wette allerdings sehr leicht riskiren.«

»Thun Ihnen die zehn Markerln weh?«

»O nein. Sie sind das Allerwenigste, was ich dabei verloren habe. Am Meisten hat Diejenige verloren, mit welcher Du gar nicht gewettet hast.«

Er trat zu der Baronesse. Ihre Augen waren trocken und heiß, und ihr Busen ging langsam aber tief. Es war ein warmer, milder, liebeleuchtender Blick, welchen er in ihr bleiches Angesicht warf. Sie hob die Augen zu ihm auf. Ihr Blick belebte sich an dem seinigen. Das Herz wollte ihm überfließen, und doch wußte er nicht, was er sagen und wie er sie anreden solle.

»Baronesse!« erklang es halblaut und ungewiß. Da stahl sich ein leises Lächeln auf ihr Gesicht.

»Baronesse? Hast Du kein anderes Wort für mich, mein guter Max?«


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Da kniete er vor ihr nieder, nahm ihre Hände in die seinigen, blickte mit glückstrahlenden Augen zu ihr empor und flüsterte:

»Milda! Schwester!«

»Mein Bruder! Mein armer, guter Bruder!«

Sie bog sich herab, schlang die Arme um seinen Hals und küßte ihn auf die Stirn.

»Wie viel hast Du heut verloren!« klagte er.

»Nicht mehr als Du, nicht mehr!«

»Und doch so entsetzlich viel - den Vater!«

»Der mir nie ein wahrer Vater gewesen ist!«

»Dir durfte er doch einer sein!«

»Er durfte aber that es nicht. Es war mir bis heut so Manches unklar. Ich lebte still und ohne Aufmerksamkeit hin. Heut bin ich so plötzlich erleuchtet worden und nun sehe ich hell. Ich glaube, meine liebe, liebe Mutter, welche ganz plötzlich starb, ist auch nicht glücklich gewesen. Doch weg mit solchen Gedanken. Habe ich viel verloren, so habe ich auch viel, ja mehr noch gefunden, einen - - Bruder, Gott, einen Bruder!«

Sie sprach das Wort erst leise, dann aber stärker wie ein Jubel aus.

»Und ich fand eine Mutter und eine Schwester! An einem einzigen Tage! Ist das nicht des Glückes gar zu viel?«

»Nein. Der Mensch kann nie zu sehr glücklich sein, und Euch Beiden ist dieses Glück ja recht gern zu gönnen. Aber sag, mein lieber Max, willst Du wirklich auf den Namen, welcher Dir gehört, verzichten?«

»Unbedingt!«

»Dann verzichte ich auch!«

»Bei Dir ist dies nicht gut möglich. Ich habe einen andern, Du aber nicht. Und hast Du wirklich die Absicht, Dich von Deinem - - Vater völlig loszusagen?

»Ja. Ich kann es nicht beschreiben, was ich gegen ihn empfinde. Mein Entschluß mag ganz gegen die menschliche oder weibliche Natur sein, und doch ist er nicht natürlich, sondern sehr tief in meiner Empfindung begründet. Es ist nicht Haß, was ich gegen den bisherigen Vater fühle.«

»Aber Verachtung?«

»Auch nicht, sondern etwas noch Schlimmeres.«

»Was könnte noch schlimmer sein als Verachtung, liebe Schwester?«

»Ekel!«

»Ja, ja, das ist das aller negativste Gefühl, dessen der Mensch fähig ist. Herrgott! Eine Tochter, welcher vor dem Vater ekelt! Es ist entsetzlich! Er wird alle Mittel in Bewegung setzen, um zu verhindern, daß Du Dein Vorhaben ausführst.«

»Es wird ihm nichts nützen. Ich fühle, daß ich stark genug bin, es mit ihm aufzunehmen. Und selbst wenn ich nicht stark genug wäre, so hätte ich doch einen starken Helfer, auf welchen ich mich verlassen kann.

»Wer ist das?«


// 957 //

»Du bist es. Der Bruder wird doch seiner Schwester beistehen, Max!«

»Mit allen Kräften!«

»So komm, und setze Dich her zu uns! Wir wollen überlegen, welche Schritte ich zu thun habe.«

Er mußte zwischen Mutter und Schwester Platz nehmen, und nun entwickelte sich eine jener Scenen, für deren wahrheitstreue Schilderung der Pinsel keine Farben und die Feder keine Wörter hat. Jedes suchte die Andern in Liebeserweisungen zu überbieten.

Die Zeit verging. Sepp saß noch immer am Tische. Der halbe >marinerirte< Hering war längst mit den Backpflaumen verschwunden, und Anderes war gefolgt. Er hatte gegessen und gekaut und geschluckt, bis gar nichts mehr vorhanden war. Dann aber gab es auch keine weitere Beschäftigung und keinen Vorwand mehr, die Anderen nicht zu beachten. Er schaute nach der Uhr.

»Himmelsakra!« entfuhr es ihm. »Was giebts, Sepp?« fragte Max.

»Es ist schon weit über Mitternachten.«

»Unmöglich!« meinte Milda, indem sie sich vom Sopha erhob.

»Da muß ich heim!«

»Ja, Schwesterherz, kannst Du denn heim?«

»Warum nicht? Die Dienerschaft darf nicht schlafen gehen, bevor ich komme.«

»Das glaube ich gar wohl. Aber hast Du Dich nicht vor Deinem Va - - vor dem Baron zu fürchten?«

»Nein. Früher hätte ich mich gefürchtet. Heut bin ich eine ganz Andere geworden. Es wird ganz gewiß noch eine Scene geben, denn er wird auf mich warten; aber ich habe keine Bangigkeit.«

»Das brauchens auch nicht,« erklärte der Sepp. »Ich werd Sie heimführen und mich unten aufstellen. Wann er Ihnen was thun will, so brauchens nur das Fenstern aufi zu machen und mich zu rufen. Dann komm ich hinaufrannt und hau ihn durch.«

Das klang so zuversichtlich, daß Max laut auflachend fragte:

»Wie willst Du denn hinaufkommen, wenn des Nachts zugeschlossen ist?«

»Na, da wirft mir die gnädigen Baronessen halt das Hausschlüsserl herab.«

»Ja, ein solcher Herrensitz hat ein >Hausschlüsserl<. O, Sepp, Sepp! Aber meinst Du denn wirklich, daß ich es Dir überlasse, meine Schwester zu begleiten?«

»Sie wollens wohl auch noch mit?«

»Natürlich!«

»Na, so laufen wir Beid hintern ihr her!«

»Nein, nicht doch. Bleib Du nur in Gottes Namen hier! Es wird wohl zureichen, wenn ich bei ihr bin.«

»Na, meinswegen. Ich hab heut Abend so gar sehr viel gessen, daß


// 958 //

ich so wie so nicht gut mehr laufen kann. Am Besten ists, ich streck mich ins Bett und überleg, warum der Hering solchen Dursten macht.«

Die Bürgermeisterin verstand den Wink. Darum sagte sie:

»Ich werde Dir noch eine Flasche Bier aus dem Keller holen lassen. Nicht, lieber Sepp?«

»Lieber Sepp! Herrjesses, da könnt man vor Freuden gleich zwei Flaschen trinken anstatt nur einer. So eine Liebschaften widerfährt Unsereinen nicht alle Tagen! Und damit ichs auch sichern bekomm, werd ich liebern gleich selbern in denen Kellern hinabi steigen.«

Er ging hinaus und kam dann mit dem Bier grad recht zurück, um sich von Milda verabschieden zu können.

Arm in Arm gingen die Beiden, sie und Max, dem Schlosse zu. Sie sprachen nicht; aber das gute Mädchen schmiegte sich innig an seine Seite. Es war ihr wirklich in seiner Nähe ein Gefühl von Sicherheit überkommen, wie sie es bisher gar nicht gekannt hatte. Und er fühlte ein Glück und eine Seligkeit im Innern, als ob er das Anrecht einer Himmelsseligkeit erhalten habe.

Erst als sie so weit empor gekommen waren, daß sie die noch erleuchteten Fenster des stattlichen Bauwerkes erglänzen sahen, wechselten sie einige Worte.

»Vielleicht vermuthet der Sepp nicht ganz mit Unrecht, daß Dir Unangenehmes vom Baron droht,« meinte Max. »In welcher Weise könnte ich Dich da unterstützen?«

In keiner. Herein kannst Du ja nicht.«

»So möcht es mir bange um Dich werden.«

»O, hab keine Sorge! Ich bin stark!«

»So halte Dich wacker, meine liebe, liebe Schwester! Und wann sehen wir uns wieder?«

»Morgen früh, bevor Du zurückkehrst nach Hohenwald. Du kommst zu mir, und ich begleite Euch ein Stück.«

»Was wird der Baron sagen, wenn er mich im Schloß erblickt!«

»Er wird sich in meinen Willen fügen müssen. Jetzt gute Nacht, lieber Max!«

»Schlaf recht, recht wohl, meine Milda!«

Sie umarmten sich und gaben sich den ersten Kuß auf den Mund. Beide errötheten, blickten einander an und ließen dann ein leises, verlegenes Lachen hören.

»Warum lachst Du, Max?« fragte sie.

»Hm! Warum Du?«

»Antworte zuerst!«

»Dieser Kuß! So ein Schwesterkuß ist doch auch ein eigen Ding. Es war fast, als ob ich eine Geliebte geküßt hätte.«

»Ah! Weißt Du, wie das ist?«

»Ich kann es mir vielleicht denken.«

»So! Weißt Du, mir kannst Du es anvertrauen, und eine Schwester hat doch wohl auch das Recht, darnach zu fragen - - liebst Du, Max?«

Es dauerte doch eine Weile, ehe er antwortete.


// 959 //

»Nein.«

»Das ist schade!«

»Warum?«

»Ich hätte so gern die Vertraute gemacht. Es muß einzig sein, die Beschützerin, der Engel zweier Liebenden zu sein. Weißt Du, Max, wenn einmal Deine Stunde schlägt, so mußt Du es mir sofort mittheilen, und dann halten wir es möglichst lang geheim!«

»Ganz recht! Das heißt nämlich, wir plaudern es möglichst bald aus!«

»Nein, nein! Ich will ja die Vertraute sein. So lange Du im Hohenwald noch bist, werde ich sehr oft hinüberkommen.«

»Du wirst mich damit sehr beglücken. Aber nun erlaube mir auch, Deine Frage an Dich selbst zu richten, beste Milda.«

»Wegen - wegen - - der Liebe?«

»Ja; oder hat der Bruder nicht dasselbe Recht wie die Schwester?«

»Nicht ganz, weil eine Schwester viel besser zum Schutzengel taugt als ein Bruder. Aber ich kann Dich beruhigen. Ich habe da noch keines Schutzes bedurft, und vielleicht grad darum machte mich Dein Kuß fast verlegen. Du bist der erste Fremde, der meinen Mund berührt.«

»Fremde? Ah!«

»Verzeih! Wir waren uns allerdings bisher fremd. Und nun müssen wir aber scheiden. Dort erscheint der Hausmeister unter dem Portale. Er wird sich über mein so langes Ausbleiben wundern.«

»Das glaube ich. Und wir - wollen wir uns auch noch einmal wundern, Milda?«

»Worüber?«

»Ueber einen Geschwisterkuß!«

»Bist Du ein so sehr zärtlicher Bruder?«

»Ja, weil ich eine gar so liebe Schwester habe.«

»Dann hier!«

Sie bot ihm die Lippen abermals zum Kusse dar; dann trennten sie sich. Als Milda in das Portal trat, wagte der Hausmeister die Bemerkung:

»Der gnädige Herr Baron sind schon längst wieder zurückgekehrt.«

»Warte mit solchen Mittheilungen, bis ich Dich frage!«

Das klang so energisch und zurückweisend, wie er es von dieser zarten, freundlichen Natur noch nie gehört hatte. Er fuhr förmlich vor Schreck zurück.

»Na,« brummte er. »Ein schöner Tag! Ohrfeigen von einem Landstreicher! Den zerbrochenen Spiegel bezahlen, wie vorhin der Baron sagte! Und nun auch noch von der Baronesse angeschnauzt! Den Tag muß ich roth, grün und blau im Kalender anstreichen!«

Droben am Corridoreingange saß ein wartender Diener. Er erhob sich respectvoll und meldete:

»Der Herr Baron wünscht das gnädige Fräulein jetzt noch auf seinem Zimmer zu sprechen.«

Er griff schon nach der dorthin führenden Thür, um sie zu öffnen.


// 960 //

»Ich bin heut nicht mehr zu sprechen!« antwortete sie kurz und hart.

Sofort sprang er nach der andern Thür, welche zu ihren Gemächern führte. Als sie dort eingetreten war, ging er, den Bescheid der Baronesse seinem Herrn zu melden. Dieser ließ sichs nicht merken, daß er darüber erzürnt war, fluchte aber desto kräftiger in sich hinein.

Jetzt wurde unten das Hauptportal verschlossen, und die Lichter verlöschten in den Corridoren. Bald schien Alles zur Ruhe gegangen zu sein - schien aber nur. Ein Schatten huschte leise und vorsichtig aus dem rechten Flügel nach dem linken hinüber. Und das hatte folgenden Grund:

Anton und Asta hatten sich sehr gut unterhalten. Ihnen war es recht lieb, daß Niemand sich um sie bekümmerte und daß sowohl der Baron als auch Milda sich entfernt hatten. Später fiel es ihnen aber doch auf, daß sie so allein gelassen wurden, und auf eine in dieser Beziehung an den Diener gerichtete Frage erfuhren sie, daß sowohl der Baron als auch dessen Tochter nach der Stadt gegangen seien.

»So sind wir also allein, ganz allein,« sagte Anton.

»Nur auf uns angewiesen. Das ist Ihnen natürlich höchst unlieb!«

»Woraus schließen Sie das?«

»Ich vermuthe es nur.«

»Aber ohne allen Grund. Ich bin so gern mit Ihnen allein, gnädiges Fräulein.«

»Ganz wie es im Liede heißt,« lächelte sie verführerisch: »Ich bin so gern, so gern allein. Ist es Ihnen bekannt?«

»Sehr wohl. Es ist eins der ersten Lieder, welche der Professor mich singen lehrte, so einfach und so herzinnig.«

»Ich habe diese Melodie wirklich lieb, und den Text ebenso. Ach, wenn Sie es doch einmal singen wollten!«

»Singen, wenn ich mich mit Ihnen allein befinde?«

»Warum da nicht?«

»Wie kann ich singen, wenn alle Gedanken nur bei Ihnen sind!«

»Schmeichler!« sagte sie, ihm mit der Hand einen leichten Schlag versetzend. Dabei aber blieb ihre Hand sehr wohl berechnet auf der seinigen liegen. »Eben deshalb sollen Sie dieses Lied singen - nur für mich allein, leise und innig, dabei nur an mich denken. Wollen Sie? Ich werde Sie begleiten.«

Sie näherte ihr Gesicht dem seinigen und brannte ihren Blick in seine Augen.

»Nur mit Widerstreben,« antwortete er.

»Sie sind es aber uns Beiden schuldig. Denken Sie, daß es auffallen muß, wenn wir uns so lange Zeit still und beschäftigungslos bei einander befinden. Wenn wir singen, kann man aber nichts vermuthen.«

»Was soll man vermuthen?« fragte er leise und vertraulich.

»Soll ich Ihnen das wirklich sagen?«

»Ich bitte sehr darum!«


Ende der vierzigsten Lieferung - Fortsetzung folgt.



Karl May: Der Weg zum Glück

Karl May – Forschung und Werk