Ralf
Harder |
Der
Untergang des Dampfers Schiller |
»Der Dampfer kämpfte mit aller Kraft gegen die wild aufgeregten Wogen an, welche in rasender Schnelle ihm entgegen schossen. Der Mann an der Glocke gab sich alle Mühe, mit seinem Blicke die Regenmasse zu durchdringen, welche ihm, von dem orkanartigen Sturme entgegengeschleudert wurde. Da – er horchte auf; es war ihm, als ob er vor sich ein Krachen und Stöhnen, ein eigenartiges Rauschen und Prasseln vernommen habe, welches nicht mit dem Heulen des Sturmes und dem Brausen der Wogen identificirt werden konnte. Schnell drehte er sich zurück und hielt die Hände an den Mund, um ein Warnungsruf erschallen zu lassen – zu spät, […]«[1]
Diesem Zitat aus Mays ›Liebe des Ulanen‹ hätte auch ein authentisches Schiffsunglück zugrunde liegen können. Beispielsweise ist der Untergang des Dampfers Schiller ein solches Ereignis, eine Katastrophe, die im Jahre 1875 Presseschlagzeilen machte. Aus heutiger Sicht eine fast banale Begebenheit, dennoch starben etwa 312 Menschen. Doch was hat dieses Unglück mit Karl May zu tun? Mehr als man zunächst glauben mag:
»Ich sass damals am Fenster und schrieb. Da standen
draussen auf dem Markte zwei Männer, die mich anschauten. Ich kannte sie
nicht. Es war H. G. Münchmeyer und sein Bruder Fritz. Sie hatten von mir
gelesen und gehört und waren nur gekommen, mich persönlich zu sehen,
hundert Kilometer weit, von Dresden her. Sie kamen herein in die Wohnung
und brachten ihr Anliegen vor.«[2]
»[Es] handle […] sich um ein Wochenblatt, welches er unter dem Titel ›Der
Beobachter an der Elbe‹ herausgebe. Gründer und Redakteur dieses Blattes
sei ein aus Berlin stammender Schriftsteller namens Otto Freytag, ein sehr
geschickter, tatkräftiger, aber in geschäftlicher Beziehung höchst
gefährlicher Mensch. Dieser habe sich mit ihm überworfen, sei plötzlich
aus der Redaktion gelaufen, habe alle Manuskripte mitgenommen und wolle
nun ein ganz ähnliches Blatt wie den ›Beobachter an der Elbe‹ herausgeben,
um ihn tot zu machen. ›Wenn ich nicht sofort einen anderen Redakteur
bekomme, der diesem Menschen über ist und es mit ihm aufzunehmen versteht,
bin ich verloren!‹ schloß Münchmeyer seinen Bericht.«[3]
Diese Darstellung findet der Karl-May-Forscher und Bibliograf Hainer Plaul »zumindest stark übertrieben. Eine solche Zeichnung erlaubte es ihm jedoch, sich als Retter in der Not aufzuwerfen; […]«[4]
Dass sich Mays Angaben noch heute überprüfen lassen,
verdanken wir der Zeitschrift ›Neue Sonntags-Post. Blätter zur
Unterhaltung am häuslichen Herde. Verlag von S. Weineck in Dresden.‹ –
Redacteur: Otto Freitag in Dresden.
Dieses Blatt startete mit großer Wahrscheinlichkeit in der vorletzten
Märzwoche 1875. Diese Datierung wird durch die Rubrik Plaudereien am Kamin
ermöglicht, die sich stets am Ende einer Ausgabe befand. Otto Freitag
thematisierte in seinen Redaktionsnotizen u. a. aktuelle Ereignisse:
»Ueber den Untergang des Dampfers ›Schiller‹
enthalten [sic!] die englischen Zeitungen eine große Anzahl von Berichten.
[…].«
Diese Notiz erschien in Nummer 10 der ›Sonntags-Post‹ auf Seite 160. Das
genaue Datum des Untergangs wird in diesem Artikel nicht genannt, ließ
sich aber leicht ermitteln –: der Dampfer sank am 7. Mai 1875. Die
›Dresdener Nachrichten‹ berichteten darüber am 13. Mai 1875. Wenn man die
Zeit diverser Redaktions- und Druckarbeiten berücksichtigt, erschien die
Nummer 10 der ›Sonntags-Post‹ anderthalb Wochen später. Zunächst wurde das
Blatt einmal, später zeitweise zweimal wöchentlich ausgegeben, weil Otto
Freitag – er wird bis zum Schluss des Jahrgangs als Redakteur genannt –
offensichtlich für den Start des 2. Jahrgangs den Januar 1876 anstrebte.
In der Nummer 43, S. 688, wurde aus Graz »die Vollstreckung eines Todesurtheils« geschildert; auch hier leider ohne Datumsangabe. Ich danke Robert Ciza, Wien, der den 16. November 1875 als den Tag der Hinrichtung ermittelte.[5]
Würde man jetzt eine Nummer pro Woche zurückrechnen, wäre bereits über den Untergang des Dampfers Schiller berichtet worden, bevor das Unglück geschah. Dies ist natürlich ausgeschlossen. Deshalb erschien ab etwa Oktober 1875 die ›Neue Sonntags-Post‹ vorübergehend zweimal wöchentlich.
Kommen wir auf Mays Äußerungen über Otto Freitag zurück:
»Dieser […] sei plötzlich aus der Redaktion
gelaufen, habe alle Manuskripte mitgenommen […]«[6]
Karl May übernahm die Redaktion am 8. März 1875.[7] Da bereits im selben Monat die ›Neue
Sonntags-Post‹ startete, war in der Tat Eile geboten. Auch, dass Freitag
alle Manuskripte mitgenommen habe, wie Münchmeyer mutmaßte, ist
wahrscheinlich. Mary Dobson und Friedrich Axmann[8], Autoren aus Münchmeyers ›Beobachter
an der Elbe‹, publizierten bereits in der ersten Nummer der
›Sonntags-Post‹, – ein Blatt, das soeben erst gegründet worden war. Robert
Ciza ermittelte, dass der Verleger der ›Sonntags-Post‹, Constantin
Weineck, mit Otto Freitag ähnliche Erfahrungen gemacht haben dürfte wie
Münchmeyer: »In einem Ehrenbeleidigungsprozess, den Freitag gegen Weineck
anstrengte, war unter anderem Gegenstand dessen Behauptung, Freitag ›habe
so viele Schulden, wie Haare auf dem Kopfe und habe ihm, W., Manuskripte
gestohlen [!] und um 14,000 M. betrogen.‹ (Dresdner Nachrichten. 1877, Nr.
356 (22.12), S. 2).«[9]
Karl Mays spätere Aussage über Otto Freitags plötzliches Verlassen der ›Beobachter‹-Redaktion nebst mitgenommener Manuskripte, weshalb Heinrich und Fritz Münchmeyer bei ihm Hilfe gesucht hätten, ist somit glaubwürdig:
»Sie hatten von mir gelesen und gehört und waren nur gekommen, mich persönlich zu sehen, hundert Kilometer weit, von Dresden her.«[10]
»Sie hatten von mir gelesen« – hierbei dürfte es sich um ›Die Rose von Ernstthal‹ handeln. Am 18. August 1874 war die Eintragung der ›Deutschen Novellen-Flora‹ in das Register ›Anzeige, die Zeitschriften betreffend‹ beim Gerichtsamt Neusalza kurz nach Erscheinen der ersten Ausgabe erfolgt.[11] Den Behörden angekündigt waren 20 Lieferungen (= 10 Hefte) jährlich, was exakt den 20 Wochen bis zum Jahresende 1874 entspricht. Es kann deshalb als sicher gelten, dass die ›Deutsche Novellen-Flora‹ am Samstag (dieser Wochentag war damals allgemein üblich[12]), dem 15. August 1874, startete.
Jede Lieferung erschien in zwei Bogen zu je 8 Seiten, also insgesamt nur 16 Seiten mit Texten verschiedener Autoren, deren Erzählungen durch das obligate ›Fortsetzung folgt‹ unterbrochen waren. Diese Art der Veröffentlichung verlangte ein regelmäßiges, ›wöchentliches‹ Erscheinen, wenn man keinen Abonnentensprung (damaliger Fachbegriff für das Einbüßen von Abonnenten) riskieren wollte. Folglich erschien ›Die Rose von Ernstthal‹ (Lieferung 11–14) im Oktober und November 1874 und nicht, wie Hainer Plaul vermutet, im April und Mai 1875.[13] Für seine Datierung war das ›Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel› ausschlaggebend. Im Frühjahr 1875 waren dort 10 Hefte der ›Novellen Flora‹ gelistet, die er irrtümlich als Einzellieferungen interpretiert. Nach seiner Datierung erschien etwa alle 2,5 Wochen eine Lieferung, um auf Ende April bis Ende Mai 1875 zu gelangen. Die Lieferungen mit der ›Rose von Ernstthal‹ wären dann aber annähernd wöchentlich erschienen. Eine derartige Form des Erscheinens ist aus den oben genannten Gründen unrealistisch. – Auch das Unterhaltungsblatt ›Frohe Stunden‹ (Verlag Bruno Radelli, Dresden) erschien mit diversen May-Erzählungen ein halbes Jahr eher als bei Plaul angegeben; dies belegen eindeutig zeitgenössische Berichterstattungen (Eröffnung der Semperoper etc.) in dem von May redaktionell 1877/78 betreuten Unterhaltungsblatt.[14]
»Alles in allem ist […] davon auszugehen, daß es sich bei der Anzeige im Neuigkeiten-Verzeichnis immer um das späteste Erscheinungsdatum handelt.«[15]
Diese Feststellung Plauls trifft somit auch auf ›Die Rose von Ernstthal‹ zu, die bereits ab Oktober 1874 erschien. Heinrich Münchmeyer kannte wohl diese Erzählung, als er Karl May besuchte und ihm die Redakteurstelle anbot.
»Was den ›Beobachter an der Elbe‹ betrifft, dessen Redaktion ich übernommen hatte, so sah ich gleich mit dem ersten Blick, daß er verschwinden müsse. Münchmeyer war so vernünftig, dies zuzugeben.«[16]
Mays Angaben sind auch hier korrekt:
»Da unser Blatt eine ungeahnt rasche Verbreitung
über alle Gaue Deutschlands gefunden hat und in Folge dessen der
gegenwärtige Titel desselben sich als nicht mehr bezeichnend erweist, so
sieht die Verlagshandlung sich veranlaßt, mit Beginn des nächsten
Jahrganges dasselbe unter dem Namen ›Deutsches Familienblatt‹ erscheinen
zu lassen.«[17]
Der neue Redakteur Karl May erkannte sogleich, dass der ›Beobachter‹
verschwinden müsse, weil »mit diesem Blatte in einer Weise manipuliert und
den Lesern Sand in die Augen gestreut wurde, die [man] nicht anders als
mit dem Worte ›Schwindel‹ bezeichnen konnte. Dieses Blatt hiess nämlich
nur für hier bei uns ›Der Beobachter an der Elbe‹. Für Wien, Köln,
Frankfurt usw. wurde es ›Der Beobachter an der Donau, am Rhein, an der
Mulde, an der Tauber‹ usw. genannt.«[18]
In der Tat sind Parallelausgaben des ›Beobachters‹
erhalten geblieben, die vom Titelkopf der einzelnen Nummern abgesehen
inhaltlich identisch waren. Möglicherweise befürchtete May wegen dieser
Mogelpackung juristische Konsequenzen. Darüber hinaus dürfte der Vertrieb
vieler Titelkopfvarianten langfristig zu aufwendig gewesen sein.
Am 16. März 1875 erschien im Börsenblatt für den deutschen Buchhandel eine
Annonce, in der »auf antiquarischem Wege eine Anzahl das Berg-, Hütten-
und Maschinenwesen behandelnder Bücher und Zeitschriften« zu kaufen
gesucht wurde.[19]
Mays Vorarbeiten für die belehrende Zeitschrift ›Schacht und Hütte‹
begannen somit gleich zu Beginn seiner Redakteurtätigkeit. Das eigentliche
Nachfolgeblatt des ›Beobachters‹ war jedoch wie erwähnt das ›Deutsche
Familienblatt‹.
Hainer Plaul nennt als wichtige Quelle eine Mitteilung der Dresdner Polizeidirektion, dass »im Laufe des dritten Quartals« der ›Beobachter an der Elbe‹ eingestellt worden war, folglich die beiden neuen Blätter Anfang September starteten. Ferner nennt Plaul gewichtige Indizien, dass der ›Beobachter‹ ab etwa Ende Mai 1875 zweimal wöchentlich, Sonnabend und Mittwoch, erschien.[20] Diese Angabe lässt sich exakt überprüfen. Bis zur Nummer 17 heißt es im Titelkopf des Beobachters: »Dieses Blatt erscheint jeden Sonnabend […]«, ab Nummer 18 schließlich: »Dieses Blatt erscheint jede Woche […]«.[21] Da man nicht ohne Grund den Titelkopf ändert, den Sonnabend entfernt, ist hier die Zäsur – Nummer 19 erschien offenkundig am Mittwoch, dem 28. April 1875. Man kann dies leicht errechnen: Der 2. Jahrgang startete am Samstag, dem 2. Januar 1875. Der Rhythmus einmal, ab Anfang Mai zweimal wöchentlich, ergibt, dass die Nummer 52 am Samstag, dem 28. August 1875, erschienen sein dürfte. Zeitgleich wurde zur Ansicht eine Woche vor dem regulären Start die erste Nummer vom ›Deutschen Familienblatt‹ ausgegeben.
Diese Datierung wurde zwischenzeitlich angezweifelt, weil der 1. Jahrgang des ›Beobachter an der Elbe‹ einen redaktionellen Hinweis enthält, der zu Irritationen geführt hat.[22] In einer Briefkasten-Mitteilung wird in der 38. Ausgabe des 1. Jahrgangs (12. September 1874) der Beginn des 2. Jahrgangs zum 1. Oktober 1874 angekündigt. Demnach hätte mit der Nummer 41 des laufenden 1. Jahrgangs parallel wöchentlich der 2. Jahrgang erscheinen müssen, womit bis zum Jahresende 13 Ausgaben vorgelegen hätten. Man besann sich dann jedoch anders, wofür es eine plausible Erklärung gibt. Sehr wahrscheinlich war der neue eindrucksvolle Titelkopf mit der barocken Dresdner Stadtansicht bereits entworfen. Beim 1. Beobachter-Jahrgang gab es hingegen keine Grafik mit regionalem Bezug. Der ›Beobachter‹ war also überall entlang der Elbe zuhause, was mit dem Dresdner Titelkopf nicht mehr galt. Der 2. Jahrgang sollte überregional unter verschiedenen Titeln als »1. Jahrgang« verbreitet werden. Eine Vielzahl von Titelkopfvarianten, nicht nur mit Fluss-Bezug, mussten hierfür erstellt werden, was sich offensichtlich bis Anfang Oktober 1874 nicht mehr verwirklichen ließ:
»Zur gefälligen
Beachtung.
Mit Nr. 53 schließt der erste Jahrgang des ›Beobachter an der Elbe‹. Der
erfreuliche Erfolg, den unser Blatt in dem ersten Jahre seines Bestehens
aufzuweisen hat, veranlaßt uns, den zweiten Jahrgang in veränderter
Gestalt herauszugeben. […] Wir laden hiermit alle [sic!] Freunde unseres
Blattes zum Abonnement auf den zweiten Jahrgang ein, und wollen diejenigen
Abonnenten in Dresden, welche vom neuen Jahre ab das Blatt ins Haus
gebracht zu haben wünschen, uns durch Postkarte davon in Kenntniß zu
setzen.«[23]
Der neue Jahrgang startete wie angekündigt Anfang Januar 1875, wie sich auch aus einem Vermerk im Vierteljahrs-Catalog der Hinrichs’schen Buchhandlung, erstes Heft, Januar bis März 1875, laut Hainer Plaul ableiten lässt. Er weist ferner auf die Währungsangabe hin: »Im Kopf der Nr. 1 des 2. Jahrgangs des›Beobachters‹ ist die Einzelnummer in der neuen Währung ausgepreist […]. Und diese neue Währung (Reichswährung) wurde in Sachsen am 1.1.1875 eingeführt. Es mag ja tatsächlich der Plan bestanden haben, den 2. Jahrgang mit dem 1. Oktober 1874 beginnen zu lassen. Aber wie die Schlussanzeige auf S. 400 des 1 Jahrgangs belegt, hat man dieses Vorhaben wieder aufgegeben. Auch hier trifft zu: die letzte Ansage ist die gültige, weil sie die erste korrigiert.«[24]
Ein Start des 2. ›Beobachter‹-Jahrgangs im Oktober 1874 mit zahlreichen Parallelausgaben (mindestens 15 sind bekannt[25]) – als 1. Jahrgang – vertrieben, hätte zumindest bei einigen Titelköpfen nur nach 3 Monaten ab Januar 1875 eine andere Währungsangabe erforderlich gemacht. Nachzügler, die den ›Beobachter‹ erst 1875 abonnierten, hätten 13 Ausgaben mit einer veralteten Währung in ›Neugroschen‹ erhalten, somit wäre ein Neudruck erforderlich gewesen. Dieser Aufwand wird gewiss nicht betrieben worden sein. Ein vorzeitiger Start im Oktober 1874 hätte darüber hinaus bedeutet, dass Mays Nachfolge-Blätter ›Deutsche Familienblatt‹ und ›Schacht und Hütte‹ erst ab Oktober 1875 erschienen wären. Diverse redaktionelle Texte in den ›Gewerblichen Notizen‹ von ›Schacht und Hütte‹ weisen jedoch eindeutig auf einen Start Anfang September 1875 hin.[26]
Bereits vorher erschien vollständig ›Das Buch der
Liebe‹, wie Frank Werder gut begründet annimmt.[27]
Vermutlich ab Juli 1875 wurde die ›Wissenschaftliche Darstellung der
Liebe‹ alternativ als Abonnement wöchentlich in 26 Lieferungen ausgegeben.
Karl May dürfte das Sammelwerk ab Ende März verfasst bzw. zusammengestellt
haben, als er vorübergehend nicht in Dresden sein durfte.
Eine zeitnahe Auslieferung war unerlässlich, um einem möglichen Verbot
zuvorzukommen. Zwar kostete eine Lieferung 50 Pfennige, ein damals recht
stolzer Preis. Es war jedoch dem Abonnenten freigestellt, in welchen
Zeiträumen er die Lieferungen bezog. Es gab Abonnementslisten, auf denen
die Leserwünsche vermerkt wurden – eine wöchentliche Abnahme war keine
Bedingung.[28]
Ein rasches Erscheinen ist auch deshalb anzunehmen, weil ›Das Buch der
Liebe‹ Mays ›Geographische Predigten‹ teilweise in einer früheren Form
enthält.[29] Erwähnenswert ist in
diesem Zusammenhang eine Hausdurchsuchung, die am 23. Februar 1876 im
Verlag Münchmeyer stattfand. Es wurde in Sachen ›Venustempel‹ (Geschichte
der Prostitution und ihrer Entstehung) ermittelt. In den ›Dresdner
Nachrichten‹ vom 25. Februar 1876 wird hierbei auch das Nachfolgewerk
›Buch der Liebe‹ erwähnt.[30] Da
May nach seinem Zuchthausaufenthalt bis zum 2. Mai 1876 unter
Polizeiaufsicht stand, ist es mehr als unwahrscheinlich, dass noch weitere
Teile veröffentlicht worden wären, wenn das Werk nicht längst vorgelegen
hätte. Das durfte er als Autor und Redakteur nicht riskieren, weil er
nicht wissen konnte, wie die sächsischen Behörden nach der
Hausdurchsuchung abschließend reagierten.
»Vor mir schämte er [Münchmeyer] sich über diese sittenpolizeiliche Maßnahme gegen ihn. Ich sollte nichts davon wissen, sollte es wenigstens erst dann erfahren, wenn es vorüber sei. […] Er war überzeugt, daß ich die Polizei auf keinen Fall belügen würde, wenn sie auf den Gedanken käme, sich bei mir zu erkundigen.«[31]
Für Karl May, der unter Polizeiaufsicht stand, hätte eine Falschaussage fatale Folgen haben können, und dies wusste Münchmeyer. Für seine Leistungen als Redakteur der drei neu gegründeten Blätter, hatte May Weihnachten 1875 ein Klavier geschenkt erhalten.[32] Gemeint waren hier: ›Schacht und Hütte‹, ›Deutsches Familienblatt‹ und ›Das Buch der Liebe‹. Zum letztgenannten Titel konnte und wollte er sich in späteren Jahren nicht mehr bekennen.
»In der Stickluft dieser [damaligen] geistigen Atmosphäre wurde eine Sexualaufklärung im Stil des Hauses Münchmeyer schon als Angriff auf die Grundlagen der Sittlichkeit und der abendländischen Kultur überhaupt angesehen, und da in diesen Kreisen und dem weiteren Anhang auch prominente Gegner Karl Mays anzutreffen waren (die Bekämpfung der ›Schundliteratur‹ gehörte auch zu den selbst gewählten Aufgaben dieses Vereins), ist es durchaus verständlich, daß er sich auf keinen Fall zu seiner Mitarbeit am ›Buch der Liebe‹ bekennen konnte. Vielmehr mußte er gezwungenermaßen mit den Wölfen heulen und seinerseits das Banner der Sittlichkeit möglichst hoch halten, z. B. indem er Hermann Cardauns in der Beurteilung der ›abgrundtiefen Unsittlichkeiten‹ der Münchmeyer-Romane noch zu übertreffen versuchte.«[33]
Karl May nannte im Zusammenhang mit dem 1875 geschenkten Klavier deshalb nicht ›Das Buch der Liebe‹, sondern das von ihm gegründete Unterhaltungsblatt ›Feierstunden am häuslichen Heerde‹, das erst ab September 1876 erschien, nachdem er bereits seine Redakteurstelle gekündigt hatte:
»Man machte mir nämlich, um mich an die Firma zu binden, den Vorschlag, die Schwester der Frau Münchmeyer zu heiraten. Man lud, um dies zu erreichen, meinen Vater nach Dresden ein. Er durfte zwei Wochen lang als Gast bei Münchmeyers wohnen und bekam vom Vater der Frau Münchmeyer die Brüderschaft angetragen. Das bewirkte grad das Gegenteil. Ich sagte ›nein‹ und kündigte, denn nun verstand es sich ganz von selbst, daß ich nicht bleiben konnte, zumal es um diese Zeit war, daß ich über jenen Streich, den man der Dresdener Polizei gespielt hatte, das Nähere erfuhr.«[34]
May erhielt vermutlich im Juli 1876 die Anklageschrift wegen einer angenommenen Mitarbeit am Venustempel. Ferner angeklagt waren Münchmeyers Bruder Friedrich als Herausgeber und etwas später wohl auch Otto Freitag, der tatsächliche Redakteur des Venustempels. In dieser Situation drängte Pauline Münchmeyer, die Frau des Verlegers, Karl May zur Ehe mit ihrer Schwester Minna Ey. Damit war das Ende der Redakteurzeit besiegelt. Noch während der vierteljährlichen Kündigungszeit wurde May freigesprochen. Er hatte mit seinem ›Buch der Liebe‹ unsittliche Stellen abgemildert.[35]
»Als das Vierteljahr vorüber war, zog ich von Münchmeyers fort, doch nicht von Dresden. Die Trennung von der Kolportage tat mir nicht im geringsten wehe. Ich war wieder frei, schrieb einige notwendige Manuskripte […]«[36]
Mit »notwendige Manuskripte« ist der Roman ›Der beiden Quitzows letzte Fahrten‹ gemeint, den May, obwohl er nicht mehr Redakteur bei Münchmeyer war, noch eine Zeitlang schrieb, weil der hierfür vorgesehende Autor Friedrich Axmann schwer erkrankte und dann verstarb.
»Meine Stellung bei Münchmeyer habe ich nach ungefähr einem Jahre gekündigt, weil man mir durchaus die Minna Ey als Frau aufdrängen wollte und mir eine derartige Kuppelei zuwider war.«[37]
Diese Aussage Mays ist bedeutsam, da sie über den Zeitpunkt Aufschluss gibt, wann May die Münchmeyer-Redaktion verlassen hat. Pauline Münchmeyer, die Frau des Verlegers, gab an:
»[…] May [war] für meinen Mann wohl etwa ein Jahr tätig.«[38]
Vergleicht man beide Aussagen, so geht daraus eindeutig hervor, dass May bereits 1876 seine Redakteurstelle aufgegeben hatte und nicht, wie bisher allgemein angenommen, im Jahr 1877.[39] Hierzu eine Äußerung Mays über ein Wiedersehen im Spätsommer 1882:
»Auf einem Spaziergange vom böhmischen Bahnhof her
kamen wir an die damalige Rengersche Restauration. […] Es gab im Garten
nur einen einzigen Gast. Der sass mit dem Rücken gegen uns, den Kopf tief
auf den Tisch gebeugt, in beide Hände gestützt, wie in recht schweren
Sorgen. Sonderbar! Das war – – – der ›Heinrich‹! Ich schlich mich hin,
legte ihm von hinten her die Hände über die Augen und fragte ihn, wer ich
sei. Er erkannte mich an der Stimme; ich hatte sie nicht verstellt.
Nach sechs Jahren!«[40]
Nach sechs Jahren, im Jahre 1882, ergibt zurückgerechnet 1876. Eine weitere Bemerkung Mays ist in diesem Zusammenhang interessant:
»Ich war damals Redacteur bei Münchmeyer gewesen, hatte aber diese Stelle niedergelegt, weil ich absolut die Schwester seiner Frau heirathen sollte, […] Ich hatte auf dem Jagdweg gewohnt und zog von da nach der Pillnitzer Straße […] Von hier aus besuchte ich häufig meine Eltern und Geschwister in Hohenstein-Ernstthal. […] Ich war schon fünfunddreißig Jahre alt und hatte nicht die Absicht, mich an eine Frau zu binden.«[41]
Karl May hatte, als er auf dem Jagdweg bei Münchmeyer wohnte, demnach noch keine Beziehung mit seiner späteren Frau Emma Pollmer. Seine Altersangabe ist nicht ganz korrekt. Er war noch nicht fünfunddreißig Jahre alt, denn als er Emma höchst wahrscheinlich im November 1876 kennen lernte, fehlten nur knapp 4 Monate bis zum vollendeten Lebensjahr. Als er Pfingsten 1877 seine Heiratsabsichten äußerte, war er freilich 35 Jahre alt. Bereits zum Jahresende 1876 kam man sich näher:
»Diese Weihnacht entschied über mich, wenn ich mich auch nicht sofort verlobte. Ich hatte ja Zeit. Diese Zeit verbrachte ich meist auf Reisen, bis ich mich zu Pfingsten wieder in der Heimat einstellte, […]«[42]
Auch Emma erwähnt später die entscheidende Jahreszahl 1876:
»Meinen geschiedenen Ehemann lernte ich ungefähr 1876 in Hohenstein-Ernstthal kennen, und zwar in meiner Familie daselbst.«[43]
Da dieses Kennenlernen nicht vor Mays Ausscheiden aus der Münchmeyer-Redaktion stattgefunden haben kann[44], kommt hier der Monat November in Betracht. Denn es gibt Indizien, in welchem Monat Karl May seine Redakteurstelle kündigte, und wann sein Nachfolger, Dr. Heinrich Goldmann, das Ruder übernahm. Anfang August 1876, hatte May als Redakteur eine Fortsetzung zum historischen Roman ›Fürst und Junker‹ angekündigt, der von Friedrich Axmann verfasst worden war:
»Denjenigen Lesern des ›deutschen Familienblattes‹,
welche sich mit den späteren Lebensschicksalen Dietrichs von Quitzow bis
zu seinem Tode bekannt zu machen wünschen, dürfte die Nachricht nicht
unwillkommen sein, daß der Autor dieses Thema zum Gegenstande eines ebenso
fesselnden, wie ergreifenden Romans: ›Dietrichs von Quitzow letzte
Fahrten‹ gewählt hat, welcher in Nummer 20 der diesjährigen ›Feierstunden
am häuslichen Heerde‹, einer im Münchmeyerschen Verlage erscheinenden
belletristischen Zeitschrift, beginnen wird.«[45]
Der angekündigte ›Quitzow‹-Roman startete früher als geplant in Nummer 10
der ›Feierstunden‹ unter dem Autorennamen ›Karl May‹. Wie bereits erwähnt,
konnte der inzwischen schwer erkrankte Friedrich Axmann die ›Fürst und
Junker‹-Fortsetzung nicht mehr selbst verfassen; er starb am 20. November
1876 an Lungentuberkulose. Robert Ciza hat über das lange Zeit unbekannte
Sterbedatum berichtet[46].
Die Nummer 15 (November 1876) enthielt keine ›Kurfürst‹-Fortsetzung, und in der darauf folgenden Nummer 16 stammen bereits Textpassagen von Dr. Heinrich Goldmann, der den Roman weiterschrieb, was stilistisch nachweisbar ist.[47] Wenn man berücksichtigt, dass Goldmann zuvor 14 Nummern lesen musste, um ohne nennenswerte Handlungsbrüche Fortsetzungen schreiben zu können, darf der Anfang November 1876 für den Beginn seiner Tätigkeit als Redakteur sicher angenommen werden. Das bedeutet: Karl May schied Ende Oktober als Redakteur aus. Demnach muss er ein Vierteljahr zuvor im Juli gekündigt haben. Aus diesem Grund erschien auch kein 2. Jahrgang von ›Schacht und Hütte‹.
Im August 1876 war offensichtlich noch kein geeigneter Ersatz in Sicht, niemand wie May, der prägnante Aufsätze verfassen und die Redaktionsrubrik ›Allerlei‹ moderieren konnte. ›Feierstunden am häuslichen Heerde‹, zunächst noch von May redigiert, war dagegen ein anspruchslos gestaltetes Blatt.
In den letzten Tagen seiner Redakteurzeit, im Oktober 1876, begann May mit dem ›Quitzow‹. Er schrieb diese »notwendigen Manuskripte«, um vermutlich Münchmeyer einen Gefallen zu tun, denn mit ihm persönlich ging er nicht im Streit auseinander. Goldmann konnte sich nicht so schnell in die Materie einarbeiten, um sofort beides – die angekündigte ›Fürst und Junker‹-Fortsetzung sowie den ›Kurfürst‹ – schreiben zu können. Karl May half deshalb mit ›Der beiden Quitzows letzte Fahrten‹ vorübergehend aus. Bis Jahresende 1876 dürfte genügend Manuskriptvorrat entstanden sein, der bis März 1877 reichte.
Möglicherweise wollte May seinen ›Quitzow‹ zunächst selbst beenden. Atmosphärische Störungen nahmen ihm wohl die Lust zum Weiterschreiben:
»[…] meine Vaterstadt berührend, wurde ich als Zeuge auf das dortige Amtsgericht geladen und erfuhr, daß Freytag, der Verfasser, und Münchmeyer, der Verleger des »Venustempels«, wegen dieses Schandwerkes kürzlich bestraft worden seien. Das hatte man mir verschwiegen. Wie froh war ich, nicht in den Bezirk dieses Venustempels hineingeheiratet zu haben!«[48]
Eine erneute Vernehmung nach der Redakteurzeit im November 1876 ist durchaus möglich, denn am 8. Dezember 1876 fand eine Berufungsverhandlung gegen Friedrich Münchmeyer und seinen Drucker Wilhelm Gleißner statt, die allerdings mit einem Freispruch endete.[49]
Mit der Nummer 29 (17. März 1877) der ›Feierstunden‹ wurde der ›Quitzow‹-Roman von Dr. Goldmann fortgeführt,[50] der wenig später am 9. Mai 1877 unerwartet starb:
»Während der Bearbeitung des Romanes ›Das Testament
des großen Kurfürsten‹ ereilte den ersten Verfasser desselben, Herrn
Friedrich Axmann, mitten im Schaffen und im ersten Mannesalter, bei
Fortsetzung des Romanes in Nr. 16 dieses Blattes, der unerbittliche Tod. –
Herr Dr. Heinrich Goldmann übernahm mit Nr. 17 die Weiterbearbeitung, aber
auch auf diese Kraft in der rüstigen Arbeit und im jüngsten Mannesalter
die kalte Hand des Todes plötzlich eisern sich niederlegte und ihn nach
dort, wo nur ein geistiges Leben waltet, rief. – Beiden Verstorbenen
widmet die Redaction ein ehrendes Andenken.
Durch diese Todesfälle ereignete es sich, daß das Erscheinen
der Schlußfortsetzungen des erwähnten Romanes in einigen der letzten
Nummern dieses Blattes unterbrochen werden mußte, bis der neue Verfasser
die Weiterberarbeitung […] entsprechend wieder begonnen und ausgeführt.«[51]
Für Heinrich Münchmeyer, der als Autor dieses Textes genannt wird, kann das Geschäftsjahr 1877 nur unerfreulich ausgefallen sein. Offensichtlich waren viele Abonnenten verärgert. Sowohl das ›Deutsche Familienblatt‹ als auch die ›Feierstunden am häuslichen Heerde‹ wurden im September 1877 eingestellt.
Inzwischen war Karl May als Redakteur für die ›Frohe Stunden‹ beim Verlag Bruno Radelli in Dresden tätig. Nur wenige Jahre später war er ein erfolgreicher Schriftsteller. Davon sollte auch Münchmeyer profitieren. Karl May bescherte ihm mit seinem ›Waldröschen‹ (1882–1884) gewaltige Umsätze.
Karl May als Redakteur.
Nicht nur die Zeitdauer von Mays Redakteurzeit wurde bislang falsch
gedeutet – auch seine Wohnquartiere stiften Verwirrung. In seiner
Prozessschrift ›Ein Schundverlag‹ schreibt Karl May:
»Als ich in Dresden ankam [8. März 1875], war es um die Mittagszeit [...] Er [Münchmeyer] zeigte mir die Geschäftsräume, und dann ging ich, um mir eine Wohnung zu mieten. Ich fand eine passende, die in derselben Strasse lag. Dass ich gleich anfangs bei Münchmeyers in einem ›Stübchen‹ untergebracht worden sei, wie aus reinem Mitleid, und »eine Art von Gehalt« bezogen habe, ist eine doppelte Lüge!«[52]
Und später in ›Mein Leben und Streben‹:
»Als ich nach Dresden kam, nahm ich mir zunächst ein möbliertes Logis, doch stellte mir Münchmeyer sehr bald mehrere Zimmer als Redaktionswohnung zur Verfügung, und ich kaufte mir die Möbel dazu.«[53]
May, der zu diesem Zeitpunkt unter Polizeiaufsicht stand, erwähnt hier nicht, dass er aufgrund unerlaubten Entfernens aus seiner Heimatstadt wenige Tage später aus Dresden ausgewiesen worden war, wenn auch nur vorübergehend. Dieses Ereignis übergeht er in seiner Selbstbiographie, auch im ›Schundverlag‹ – beide Dresden-Aufenthalte schmelzen bei Karl May zu einer Einheit zusammen. Dies wird in der Sekundärliteratur nicht genügend beachtet, denn Hainer Plaul meint zum ›Schundverlag‹-Zitat:
»Eine ›Witwe Vogel‹, wohnhaft am Jagdweg, konnte bislang allerdings nicht nachgewiesen werden.«[54]
Die von Plaul genannte »Witwe Vogel« wurde von Karl May jedoch nicht im ›Schundverlag‹, sondern – soweit bekannt – nur einmal 1908 vor Gericht erwähnt:
»Ich wohnte zunächst in Dresden privatim am Jagdweg bei einer Frau verw. Vogel.«[55]
Plaul setzt offenbar voraus, dass May sowohl im März als auch ab August 1875 dasselbe Quartier in Dresden bezogen habe. Doch ist diese Annahme wirklich zwingend? Demnach müßte das Quartier monatelang unbewohnt geblieben oder zum passenden Zeitpunkt wieder frei geworden sein. Ist dies wahrscheinlich?
Im ›Schundverlag‹ deuten Mays Angaben, wie erwähnt, eindeutig auf den Jagdweg:
»[...], und dann ging ich [am 8. März 1875], um mir eine Wohnung zu mieten. Ich fand eine passende, die in derselben Strasse lag.«
In den Dresdner Nachrichten, Nr. 57 vom 26. Februar 1875, S. 4, findet sich folgendes Inserat:
»Eine Stube ist zu vermiethen an zwei Personen Jagdweg Nr. 6, 3 Tr. T. M.«
Diese Annonce erscheint nur einmal in diesem Zeitraum. Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit handelt es sich hier um Mays erstes Dresdner Wohnquartier, denn 1875 gab es im Jagdweg nur 20 Hausnummern, davon waren laut Adressbuch die Nummern 4, 5, 9, 10, 11, 13 Baustelle. Und Nummer 14 war die Adresse des Münchmeyer-Verlags, ab 1881 nach einer Neunummerierung die Nummer 7.
In ›Mein Leben und Streben‹ macht May keine genauen Angaben zum »möblierten Logis«, und was vor Gericht die Witwe Vogel betrifft, so heißt es etwas ungenau »am Jagdweg«. Doch was bedeutet am Jagdweg? Wohnte May ab August 1875 im Jagdweg oder in der Nähe des Jagdwegs?
Bislang richtete sich die Forschung ausschließlich auf den Jagdweg, wo eine Witwe Vogel nicht gemeldet war. Wenn nun die Witwe Vogel nicht im Jagdweg wohnte, muss am Jagdweg somit ›in der Nähe von‹ bedeuten. Ich bat deshalb den Hobby-Genealogen Harald Mischnick die Dresdener Adressbücher aus jener Zeit einzusehen. Im Bereich Jagdweg gab es damals nur zwei Witwen, die Vogel hießen. Beide wohnten 1875 zunächst in der Annenstraße:
Vogel, Auguste Ernestine, Ingenieurswitwe
Vogel, Emma Ros., Apothekerswitwe
Von der Apothekerswitwe Emma Ros. Vogel ist bekannt, dass sie als Hauseigentümerin der Annenstraße 33 diverse Wohnräume vermietet hat; die Ingenieurswitwe Auguste Ernstine Vogel lebte dagegen mit ihrem erwachsenen Sohn zusammen.
Wohl spätestens im Frühsommer des Jahres 1875 wechselten beide Witwen ihre Wohnquartiere. Die Apothekerswitwe hatte ihr Haus verkauft und zog in die Falkenstraße 4, II. Stock, die Ingenieurswitwe in die Poliergasse 13, III. Stock. Die genauen Umzugstermine sind nicht mehr zu ermitteln, da die Dresdner Meldezettel nicht erhalten sind. Laut Adressbuch war die Wohnung in der Falkenstraße um Ostern frei geworden, in der Poliergasse bereits Anfang 1875.
Sowohl die Falkenstraße als auch die Poliergasse befanden sich damals westlich vom Böhmischen Bahnhof, heute Hauptbahnhof. Da Emma Ros. Vogel bereits in der Annenstraße Wohnräume vermietet hatte, liegt es nahe, dass sie es auch in der Falkenstraße tat. Die andere Witwe scheidet aus, weil sie wie erwähnt mit ihrem Sohn zusammenlebte. Das Quartier Falkenstraße 4 befand sich allenfalls acht Fußminuten vom Jagdweg entfernt in unmittelbarer Nähe von Rengers Restauration, in der Münchmeyer und May gemeinsam verkehrten.
In Mays Erzählung ›Ein Dichter‹ findet Richard Forster »Wohnung mit guter Kost« bei einer reichen Witwe. »Dann begab er sich zum Buchhändler und Druckereibesitzer, welcher zugleich Herausgeber der hiesigen Morgen- und Abendpost war und ihn mit Auszeichnung empfing.«[56]
Eine deutliche Anspielung: Münchmeyer war Buchhändler und Druckereibesitzer. Die Witwe Vogel ist zweifellos authentisch, noch dazu es keinen vernünftigen Grund gibt, weshalb May diesen Namen vier Jahre vor seinem Tod vor Gericht erfunden haben sollte. Und es spricht alles dafür, dass Emma Ros. diese Witwe Vogel war. Im dritten Stock der Falkenstraße 4 lebte die Witwe des Dresdner Komponisten Hühnerfürst, den May in seinem Kolportageroman ›Der Weg zum Glück‹ erwähnte.[57] Wer mag hier an einen Zufall glauben?
Acht Fußminuten vom Jagdweg entfernt – nicht in Sichtweite! Was kann dort alles passieren? So wird es Pauline Münchmeyer gesehen haben, als sie darauf drängte, dass Karl May in den Jagdweg 14 zog. Wie wir wissen, hatten ihre Kuppelversuche keinen Erfolg. Karl May mochte ihre Schwester Minna Ey nicht.
Es gab also zwei Wohnquartiere, bevor Karl May in das Verlagsgebäude Münchmeyers zog.[58] Im März 1875 lebte er bis zu seiner Ausweisung aus Dresden höchst wahrscheinlich im Jagdweg 6, im Sommer einige Wochen bis Ende August 1875 bei Emma Ros. Vogel in der Falkenstraße 4.
Eine Bibliographie veranschaulicht den aktuellen
Stand der Forschung von Karl Mays Redakteurzeit:
Bibliographie
der Werke Karl Mays
Neue Sonntags-Post, 1. Jahrgang 1875 (digitale Kopie)
Anmerkungen
[1]
Karl May: ›Die Liebe des Ulanen‹. In: Deutscher Wanderer, 8. Band,
Dresden 1883, Lieferung 1, S. 11.
[2] Karl May: ›Ein
Schundverlag‹, Privatdruck, Dresden 1905, S. 280.
[3] Karl
May: ›Mein Leben und Streben‹, Freiburg [1910], S. 181.
[4] Hainer
Plaul: ›Redakteur auf Zeit. Über Mays Aufenthalt und Tätigkeit von Mai
1874 bis Dezember 1877‹. In: Jb-KMG 1977, Hamburg 1977, S. 140.
[5]
Robert Ciza
fand in der Grazer Vorstadt-Zeitung, Nr. 124 vom 18. 11. 1875,
unter dem Titel ›Vom Leben zum Tode durch den Strang‹ einen Hinweis auf
die Hinrichtung des 27 Jahre alten Knechts Anton Leitner, der in der
Nacht vom 13. zum 14. 3. 1875 seinen früheren Dienstherrn
Johann Pfennicher in räuberischer Absicht ermordete. Das Urteil wurde am
Dienstag, den 16. 11. 1875, um 8 Uhr früh in der Strafanstalt
Karlau vollstreckt.
[6] ›Mein
Leben und Streben‹, wie Anm. 3, S. 181.
[7]
Albert Hellwig: ›Die kriminalpsychologische
Seite des Karl-May-Problems‹. In: ›Karl-May-Jahrbuch 1920‹, S. 201.
[8]
Es handelt sich um die Erzählungen (nach
heutigem Wissensstand Erstveröffentlichungen): ›Eleanor‹ von Mary Dobson
und ›Aus dem Leben eines Detective‹ von Friedrich Axmann. – Die ›Neue
Sonntags-Post‹ befand sich im Nachlass von Karl Serden (1928–1999). Ich
danke herzlich der Familie Serden, die mir dieses Forschungsmaterial
anvertraute, das ich der Karl-May-Stiftung zur Bewahrung übergab.
[9] Robert Ciza: Die
mitgenommenen Manuskripte. Eine Mär von Karl May? In: Wiener
Karl-May-Brief 3–4/2018, S. 4.
[10]
›Ein
Schundverlag‹, wie Anm. 2, S. 280.
[11] Vgl. das Faksimile ›Anzeige, der Zeitschriften
betreffend‹. In: ›Unter den Werbern. Seltene Originaltexte Band 2‹,
Reprint der Karl-May-Gesellschaft (KMG), Hamburg 1986, S. 302.
[12] Vgl. Gabriele Scheidt: ›Der Kolportagebuchhandel
(1869–1905) – Eine systemtheoretische Rekonstruktion‹, Stuttgart 1994,
Fußnote 303, S. 223. Ferner: Ralf Harder: ›Karl
May und seine Münchmeyer-Romane. Eine Analyse zu Autorschaft und
Datierung‹, ›Ein Rettungsengel‹.
[13] Vgl. Hainer Plaul: ›Illustrierte KARL MAY
Bibliographie‹, Leipzig 1988, S. 15.
[14] Vgl. Siegfried Augustin: Einleitung zum KMG-Reprint
›Frohe Stunden‹, Hamburg 2000, S. 14.
[15] Vgl. Hainer Plaul, wie Anm. 12, S. 7.
[16] ›Mein Leben und Streben‹, wie Anm. 3, S. 183.
[17] Werbeanzeige, in: ›Der Beobachter an der Elbe‹.
Unterhaltungsblätter für Jedermann, 2. Jg., Dresden 1875.
[18] ›Ein Schundverlag‹, wie Anm. 2, S. 282.
[19] Vgl. Hainer Plaul, wie Anm. 4, S. 154.
[20] Staatsarchiv Dresden, Min. d. Innern-Nr. 3757, S.
70 u. S. 71 b. Vgl. Hainer Plaul, wie Anm. 4, S. 158.
[21] Die Unterschiede im Titelkopf können im KMG-Reprint
›Der Beobachter an der Elbe‹, Hamburg 1996, S. 134 u. 137, überprüft
werden.
[22] Vgl. Wolfgang Hermesmeier / Stefan Schmatz: Die
Elbbeobachter-Story. Teil 1: Wie quetscht man zwei Jahre in
einundzwanzig Monate? In: Karl May & C0, Nr. 126, November 2011, S.
20–27. Obwohl belastbare Indizien und Fakten vorliegen, dass der 2.
Beobachter-Jahrgang Anfang Januar
1875 startete, sehen die Autoren die redaktionelle Mitteilung im 1.
Jahrgang, Nr. 38, als Beleg für einen Start zum 1. Oktober 1874. Sie
sind der Auffassung, der spätetere Abonnenten-Aufruf sei lediglich an
»Alt-Abonnenten« gerichtet, die sich einen Doppelbezug ab Oktober 1874
nicht leisten konnten. Sie verweisen auf die Nachbestellmöglichkeit
älterer Ausgaben, die im Münchmeyer-Verlag üblich war. In der
Schlussanzeige »Zur gefälligen Beachtung« ist jedoch von einer möglichen
Nachbestellung überhaupt nicht die Rede. Auch richtet sich die Anzeige
an »alle [sic!] Freunde unseres Blattes«, somit nicht nur an »Alt-Abonnenten«.
[23] Werbeanzeige im 1. Jahrgang des ›Beobachter
an
der Elbe‹, Dresden 1874, Nr. 50–53, S. 400, 408, 416 und 424.
[24] Hainer Plaul: ›Falsche Elbbeobachtung?‹ (Leserpost). In: Karl May
& C0, Nr. 128, Mai 2012, S. 16.
[25] Vgl. https://www.karl-may-wiki.de/index.php/Der_Beobachter_an_der_Elbe_(M%C3%BCnchmeyer)
[26] Vgl. Zeitchronik der
Jahre 1874–1876 (6.11.1875 u. 18.12.1875).
[27] Frank Werder wird seine Erkenntnisse im
Editorischen Bericht zum ›Buch der
Liebe‹ in der historisch-kritischen Ausgabe ›Karl Mays Werke‹
veröffentlichen.
[28] Vgl. Ralf Harder, wie Anm. 11, ›Die
Sclaven des Ehrgeizes‹. Ferner: ›Der Kolportagehandel. Praktische
Winke für die Einrichtung und den Betrieb der Kolportage in
Sortimentsgeschäften von Friedr. Streissler‹. Leipzig-Reudnitz 1887, S.
9ff.
[29] Diese Auskunft erhielt ich von Hermann Wohlgschaft,
der sich intensiv mit den ›Geographischen Predigten‹ und dem ›Buch der Liebe‹
beschäftigt hat. Vgl. Hermann Wohlgschaft: ›Karl May und die Evolutionstheorie Quellen –
geistesgeschichtlicher Hintergrund – zeitgenössisches Umfeld‹.
In: Jb-KMG 2003, Husum 2003, S. 189–243.
[30] Vgl. die Faksimiles der ›Dresdner Nachrichten‹. In: Gernot
Kunze: Kommentarband zum ›Buch der Liebe‹, KMG-Reprint, Hamburg 1988/99,
S. 35f.
[31] ›Ein
Schundverlag‹, wie Anm. 2, S. 293.
[32] Vgl. ›Ein Schundverlag‹, wie Anm. 2, S. 302f.
[33] Vgl. Gernot Kunze, wie Anm. 30, S. 33.
[34] ›Mein Leben und Streben‹, wie Anm. 3, S. 186.
[35] Vgl. den streng vertraulichen Brief Adalbert
Fischers an den Justizrat Dr. Felix Bondi vom 5. Juli 1905,
wiedergegeben im Kommentarband zum ›Buch der Liebe‹, wie Anm. 29, S. 227.
[36] ›Mein Leben und Streben‹, wie Anm. 3, S. 186.
[37] Zitiert nach Rudolf Lebius: ›Die Zeugen Karl May
und Klara May‹, Berlin-Charlottenburg 1910, S. 121.
[38] Ebd., S. 79.
[39] »[…], so daß May de facto erst Ende Januar oder
spätestens Mitte Februar 1877 aus dem Verlag H. G. Münchmeyer
ausscheiden konnte. Ende Februar, dies geht aus einem Briefentwurf Mays
an die Redaktion der Fliegenden Blätter in München vom
23. 2. 1877 hervor, zeichnete er jedenfalls schon unter seiner
neuen Anschrift: Dresden, Pillnitzer Straße 72, I.« (Hainer Plaul, wie
Anm. 4, S. 187.) Vgl. auch Fritz Maschke: ›Karl May und Emma Pollmer.
Die Geschichte einer Ehe‹. Bamberg 1972, S. 6.
[40] ›Ein Schundverlag‹, wie Anm. 2, S. 328f.
[41] Karl May: ›Frau Pollmer, eine psychologische
Studie‹, Manuskriptseite 807ff. Faksimile der Handschrift in: Karl May,
Prozeß-Schriften 1, Bamberg 1982.
[42] ›Mein Leben und Streben‹, wie Anm. 3, S. 191.
[43] Zitiert nach Rudolf Lebius, wie Anm. 37, S. 44.
[44] Vgl. Fritz Maschke, wie Anm. 39, S. 6. – Maschke
sah die »aufkommende Liebe Karls zu Emma« in der Erzählung ›Leilet‹
(September 1876) gespiegelt. Das ist nicht möglich, da May noch nicht in
der Pillnitzer Straße lebte. Das fast völlige Ignorieren von Mays
›Pollmer-Studie‹ verleitete Maschke sehr oft zu dürftigen
Forschungsergebnissen. Emma erscheint frühestens im ›Quitzow‹
gespiegelt, eventuell als Rose am Güntersberg: »Irgend eine Unsicherheit
über die Art und Weise, wie sie seiner Werbung zu begegnen habe, fühlte
sie nicht und konnte die Antwort ruhig dem Vater überlassen, welcher,
wie sie wußte, ganz andere Absichten mit ihr hegte und also wohl jetzt
keinen Entschluß fassen werde, der ihrem Wunsche zuwider sei.«
[Feierstunden, S. 275.].
[45] Deutsches Familienblatt, 1. Jahrgang 1875/76, Heft
49, S. 770.
[46] Das von Peter Krassa in der Broschüre biblos, Wien
1997, S. 190f., angegebene Sterbedatum »15. August 1875« ist falsch.
Nach beweiskräftigen Ermittlungen von Robert Ciza, Wien. Er nannte den
20. November 1876 als tatsächliches Sterbedatum und den Tag der
Bestattung am 23. November 1876 (Recherche Hans-Dieter Steinmetz). Vgl.
Robert Ciza: ›Der
Tod eines Schriftstellers. Ergänzendes zu Friedrich Axmann‹. In: ›Karl-May-Welten VI‹, Bamberg/Radebeul 2021, S. 97–107, insbesondere S.
100.
[47] Karl May ist eindeutig nicht der Verfasser.
Goldmann bevorzugte den apostrophierten Genitiv, auch einzelne Wörter
(namentlich, indeß) und Wendungen (»knurrte er«, anstelle von: erwiderte
er, murmelte er, sagte er. Bei Axmann heißt es häufig »murrte«), alles
Eigenheiten, die in Mays Erzähltexten selten auftauchen.
[48] ›Mein Leben und Streben‹, wie Anm. 3, S. 186.
[49] Vgl. Gernot Kunze, wie Anm. 30, S. 34f.
[50] Möglicherweise
stammen
bereits einige Textpartien aus den Nummern 27 und 28 von Heinrich
Goldmann. Vgl. Joachim Biermann: ›Wer war Dr. Goldmann?‹ In: M-KMG 74,
November 1987, S. 44. Ferner: Harald Mischnick: ›Ein verräterischer
Buchstabe. In: M-KMG 119, März 1999, S. 28f.
[51] Deutsches
Familienblatt,
2. Jahrgang 1876/77, Heft 52, S. 832.
[52] ›Ein
Schundverlag‹,
wie Anm. 2, S. 281.
[53] ›Mein
Leben und Streben‹, wie Anm. 3, S. 183.
[54] Vgl.
Hainer
Plaul, wie Anm. 4, S. 210, Anm. 169.
[55] Zitiert nach Rudolf Lebius, wie Anm. 37, S. 121.
[56] ›Ein
Dichter‹, in: All Deutschland! Illustrirtes Hausblatt, Göltz u. Rühling,
Stuttgart 1879, 3. Jg., Nr. S. 526 u. 539.
[57] ›Der
Weg zum Glück‹, Dresden 1886–88, S. 179.
[58] Die
Redaktionsanschrift und somit die Anschrift Karl Mays war »Dresden,
Jagdweg 14. I.«. Vgl. ›Allerlei‹, in: ›Schacht und Hütte‹, Dresden
1875, Nr. 4, S. 32.